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07.06.2016 | Fahrzeugsicherheit | Interview | Online-Artikel

"Das beste HMI ist jenes, das ein Nutzer überhaupt nicht wahrnimmt"

verfasst von: Michael Reichenbach

6 Min. Lesedauer

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Interviewt wurde:
Dipl.-Psych. Stefanie Eßers

Seit April 2015 ist Stefanie Eßers Director EMEA Core Engineering and Research bei der Takata AG. Von Berlin aus leitet sie die Bereiche Vorentwicklung und Forschung.

In puncto Insassenschutz sind kleine Fahrerinnen genauso sicher wie große Männer, sagt Stefanie Eßers von Takata. Wie zudem die perfekte HMI gestaltet sein muss, erklärt sie im Interview.

ATZ_Springer Professional: Sie forschten in einem Projekt mit dem Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) für einen besseren Schutz kleiner Fahrerinnen. Wie kann deren Sicherheit bei einem Frontalunfall verbessert werden?

Eßers: Schon vor fünf Jahren konnten wir in unserer Studie wichtige Erkenntnisse in einem dreistufigen Vorgehen gewinnen. Denn bislang gab es den Verdacht, dass besonders kleine Menschen vorne nicht so gut geschützt seien wie der Durchschnitt oder große Leute. Mit unserer intensiven Auswertung von Unfallstatistiken erlangten wir Verständnis über die Crashszenarien. Darauf baute eine Feldstudie auf, bei der wir uns genau angeschaut haben, in welcher Haltung sehr kleine Personen im Vergleich zu mittelgroßen vor dem Steuer ihres eigenen Autos sitzen: Wie stellen sie ihren Sitz ein im Vergleich zu den Vorschriften in der FMVSS 208? Im dritten Schritt folgten Computersimulationen, um das Unfallgeschehen besser nachvollziehen zu können.

Was waren die Ergebnisse für die Praxis bei diesen 5-%-Frauen?

Der Verdacht konnte durch unser Projekt korrigiert werden. Denn kleine Personen sind genauso gut geschützt wie mittelgroße Personen. Aber es sind gerade die kleinen zierlichen Frauen, die eben meist "nur" den kleineren Zweitwagen in der Familie fahren. Der Effekt anderer Untersuchungen, dass kleine Frauen öfter und stärker bei Unfällen verletzt werden, rührt also daher, dass sie überproportional häufig in Fahrzeugen sitzen, die nicht das High-End-Rückhaltesystem eingebaut haben, wie man es im Erstfahrzeug der Mittel- und Oberklasse wiederfindet.

Welche Schlussfolgerungen gab es noch?

Nichtsdestotrotz haben wir festgestellt, dass die Kopfposition der kleinen Frauen im Schnitt 8,5 cm weiter hinten liegt, als es das FMVSS-Protokoll vorschreibt. Diese Differenz ist für das Unfallgeschehen eine interessante Information, weil es beim Energieabbau auf jeden Zentimeter zwischen Kopf und Airbag ankommt. Das auf der Straße oft zu sehende Phänomen, dass eine Frau ganz nah am Lenkrad sitzt, um noch an die Pedale zu kommen, deckt das Protokoll schon heute gut ab. Wir stellten außerdem bei den Kleinfahrzeugen fest, dass die starken Verletzungen an Intrusionen liegen, also an Verschiebungen der Lenksäule und der Instrumententafel.

Muss der FMVSS-Standard also um 8,5 cm geändert werden?

Wir untersuchten Frauen, die kleiner als 165 cm Körpergröße waren. Der verwendete FMVSS-Dummy ist mit 151 cm noch etwas kleiner, von daher ist eine Änderung nicht zwingend. Wir von Takata haben auf eine Standardänderung bei der FMVSS nur einen begrenzten Einfluss, auch mit dem GDV zusammen. Trotzdem waren unsere Ergebnisse für die Projektpartner und die Branche sehr aufschlussreich.

Kindersitze leisten heute eine Menge. Warum fallen in Verbrauchertests auch immer noch welche durch? Zehn waren beim letzten ADAC-Test 2015 mangelhaft.

Die teilweise mangelhaften Noten sind verursacht durch strengere und erweiterte Bewertungskriterien. Durch die gesetzlichen Vorschriften ist ein Grundstandard an Crashsicherheit und Vorgaben sichergestellt, die – vermute ich – alle Sitze auch erfüllen. Aber ein Test für den Verbraucherschutz deckt weit mehr ab: Hier kommen neben erhöhten Sicherheitsanforderungen auch Punkte wie Schadstoffbelastung der Bezüge, gutes Handling und der Sitzkomfort für das Kind hinzu. Bei unseren Zulieferern setzen wir zum Beispiel per Oekotex-Zertifizierung sehr stark darauf, dass die Kindersitze schadstofffrei sind.

Welche Techniktrends sehen Sie bei der Interaktion zwischen Fahrer und Automobil aufkommen?

Wir haben hier drei Haupttrends. Der eine ist, dass die Bildschirm- und Head-up-Display-Technik immer präsenter wird. Sie entwickelt sich tendenziell in Richtung Augmented Reality. Und die Consumer-Elektronik des Endkunden mit ihren Touchoberflächen findet immer mehr Einzug in die Pkws. So wie man die Bedienung von seinem Smartphone kennt, erwarten Endkunden auch entsprechende Bedienelemente in ihrem Fahrzeug. Wir entwickeln gerade Schaltelemente mit Touchfunktion, die OEMs nun auch auf die Multifunktions-Lenkradschalter übertragen wollen. Aus ergonomischer Sicht sehe ich rein kapazitive Bildschirm-Systeme als sehr schwierig an, weil dann das Phänomen des sogenannten Affenarms sehr schnell auftreten kann. Während des Fahrens schwankt man mit der Hand über dem Display und hat Schwierigkeiten, das richtige Feld zu treffen.

Wie lauten die anderen beiden HMI-Trends?

Der andere ist die Gestensteuerung, was aber eher als Annäherungsfunktion zu verstehen ist: Bewege ich den Finger in Richtung Mittelkonsole, bekomme ich gleich vergrößert die Funktion dargeboten, der ich mich nähere. So ermöglichen wir bei Vibrationen des Autos eine größere Treffsicherheit der Schaltfläche, die man tatsächlich ansteuern möchte. Und der dritte ganz wesentliche Trend ist für mich als Psychologin die Sprachsteuerung, die dank Cloud Computing wesentlich leistungsfähiger und zuverlässiger wird, bei deren Entwicklung wir aber als Takata nicht aktiv sind.

Wie muss aus Psychologensicht die perfekte Mensch-Maschine-Schnittstelle, das optimale HMI, gestaltet sein?

Dies ist eine schöne Frage. Das beste Interface für mich ist jenes, das ein Nutzer überhaupt nicht mehr wahrnimmt. Das wäre eine Schnittstelle, die ganz stark an das natürliche Interagieren des Menschen angelehnt ist. Hierzu zählt das Konzept des virtuellen Beifahrers, wo man durch intelligente Algorithmen und gute Kenntnis der Situation außen, aber auch durch Infos aus dem Innenraum ideal auf den Fahrer eingehen kann. Das System gibt dann je nach Situation und Aufmerksamkeitsgrad Assistenz hinzu oder nimmt sie zurück.

Takata hatte in letzter Zeit Schwierigkeiten mit weltweiten Airbag-Rückrufen. Was lernen Sie daraus für neue Produkte und Entwicklungsprozesse?

Wir arbeiten kontinuierlich und jeden Tag an der Verbesserung unserer Prozesse und Produkte. Bauen wir beispielsweise in unserem Werk in Freiberg eine neue Montagelinie auf oder um, implementieren wir unmittelbar auch die identifizierten Verbesserungen. Um als Unternehmen insgesamt Best-in-Class-Prozesse sicherzustellen, haben wir zudem im vergangenen Jahr ein unabhängiges Qualitätssicherungspanel einberufen, das unter anderem unsere Entwicklungs- und Produktionsverfahren untersucht hat. Die identifizierten Verbesserungen setzen wir aktuell um beziehungsweise planen sie umzusetzen. Mit unserer etablierten Produktsicherheitsgruppe und der Takata-Qualitätsinitiative haben wir darüber hinaus unsere Unternehmenskultur rund um Qualitätsaspekte gestärkt.

Sie sind ein Unternehmen mit japanischer Philosophie und Tradition. Was läuft in den Projekten dort besser als in Europa, Korea, China und den USA – technisch und menschlich?

Ja, wir sind zwar ein japanisches Unternehmen, es ist aber global aufgestellt. Ich habe seit einiger Zeit weltweite Verantwortung im Forschungsbereich und kann sagen, dass ich es immer als sehr befruchtend erlebt habe, wie die Regionen zusammenarbeiten. Es gibt gute Herangehensweisen, die man in den USA erlebt, aber auch praktische Arbeitsansätze aus Japan, die wir hier in Europa übernehmen. Das läuft in einer Wechselseitigkeit, es fällt schwer, eine Region besonders herauszuheben.

Frau Eßers, ich danke für das informative Gespräch.

Mehr zum Interview können unsere Leser der ATZ 7/8-2016 entnehmen, die am 8. Juli 2016 erscheinen wird.

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Quelle:
Automobilergonomie

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