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29.05.2015 | Fahrzeugtechnik | Interview | Online-Artikel

"Bei Euro NCAP spielt Sensorfusion eine immer größere Rolle"

verfasst von: Michael Reichenbach

8:30 Min. Lesedauer

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ATZ hat im Interview mit dem Continental-Experten Ralph Lauxmann darüber gesprochen, wann Notbremsassistent und ACC zum Standard werden, wie ehrgeizig die Euro-NCAP-Roadmap ist und welche Vorteile Vehicle-to-X und kooperative Funktionen mit sich bringen.

ATZ: Herr Lauxmann, ABS und ESP sind mittlerweile Standard, das eine als Selbstverpflichtung, das andere gesetzlich. Wann werden EBA-Notbremsassistent und ACC-Abstandshaltesystem dazu?

Lauxmann: In allen neuen Typen bei schweren Lkw sind der EBA sowie der Spurhalteassistent ja schon seit Ende 2013 vorgeschrieben, das ist eine gesetzliche Vorgabe bei der Zulassung. Aber beim Pkw ist dies noch nicht so und auch nicht in Sicht. Der Druck, diese Systeme bei jedem Auto in Serie zu haben, entsteht beim Pkw durch Verbraucherschutzorganisationen wie NCAP, die für diese Art Sicherheitssysteme Punkte vergeben. Meistens ist der Ansporn durch diese Organisationen deutlich höher und schneller als über ein Gesetz. Und das nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Wir orientieren uns nicht daran, ob das nun Gesetz wird oder nicht. Die Einführung von neuen Sicherheits- und Komfortsystemen wie EBA und ACC wird zudem von vielen Seiten wie Verbänden, OEMs und Zulieferern sowie ADAC und Versicherern beeinflusst.

Wer hat bei den NCAPs weltweit die schärfsten Regeln?

Euro NCAP in Europa beziehungsweise in der EU ist oft zusammen mit dem US-amerikanischen NCAP der Vorreiter. China und Japan/Südkorea sowie der Latin NCAP orientieren sich an diesen Ratings, die wir hier auf dem Kontinent treiben. Die asiatischen und die südamerikanischen Länder lassen ihre regionalen Gegebenheiten einfließen. Sie unterscheiden sich an den Punkten, die nicht so einen großen Einfluss nehmen. Denn die Hauptausprägung ist auf allen Kontinenten gleich. Wichtig ist, dass es überhaupt diese Regularien gibt. Und der Lkw mit EBA und Spurhalteassistent zwingt den Pkw dazu, hier bald nachzuziehen. Aber wir sind der Zulieferer, nicht der Automobilhersteller, der letztendlich den Weg entscheidet.

Wie sieht der weitere Weg für EBA und ACC bei Lkw und Pkw aus?

Momentan sind der weitere Ausbau und die Verbreitung solcher Systeme für Pkw stark von NCAP-Organisationen getrieben. Wir sind gerade in einer Änderungsphase, wo sich die NCAP-Gremien stärker auf Unfallvermeidungsthemen mit aktiven Assistenten fokussieren, als in Richtung Weiterentwicklung passiver Systeme nach dem Crash zu gehen. Das gilt vor allem für verletzliche Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger und Zweiradfahrer, aber auch im innerstädtischen Verkehr. Das Sternesystem von Euro NCAP ist ja gerade in diese Richtung mit neuen Assistenzfunktionen ausgeweitet worden, wie es die Euro NCAP Roadmap bis ins Jahr 2020 vorsieht. So etwas berücksichtigt beispielsweise die Lkw-Gesetzgebung derzeit überhaupt nicht, muss sie auch nicht, weil dort ganz andere Schadensmechanismen ablaufen.

Der damalige Euro-NCAP-Präsident, Andre Seeck von der Bast, betonte für den Pkw, dass NCAP die "Wurst immer nur so hoch hängt", wie es gerade von der technischen Lösungen her geht. Wie ehrgeizig ist die Roadmap?

Ich denke, das wird schon sehr sportlich, die Themen alle bis 2020 zu erfüllen. Die großen Detektionsleistungen und dann auch die schnellen Gesamt-Signallaufzeiten zu realisieren, zum Beispiel damit die erforderlichen Bremswege eingehalten werden, sind nicht so trivial, aber erreichbar.

... ein zu lascher Standard nützt ja keinem ...

Ich sage ja nicht, dass der Standard schlecht ist, ganz im Gegenteil. Die Zielsetzungen sind schon erreichbar. Nur, man muss jetzt mehr tun, als einzelne Komponenten zu betrachten, ein Signal zu senden und zu bremsen. Nun geht es wirklich darum, die Komponenten als System zu begreifen und zusammenzustellen. Das ist die Herausforderung. Schlussendlich sind die Autohersteller schon eine Art freiwilliger Selbstverpflichtung eingegangen, dadurch dass sie auch die NCAP-Prüfszenarien akzeptieren, dafür Sterne zu bekommen und sich bewerten lassen und sie im Entwicklungsprozess anwenden.

Welches Umdenken bedingen die neuen Euro-NCAP-Regularien in den Entwicklungsabteilungen?

Ein Umdenken findet nicht statt, weil wir die technische Expertise haben, sowohl Komponenten als auch Systemverbunde zu entwickeln. Wir fokussieren uns zunehmend stärker auf das Thema Systems Engineering, das wir dem OEM auch zur Verfügung stellen. Bei Euro NCAP spielt Sensorfusion eine immer größere Rolle, um fünf Sterne zu erreichen. Es gilt deshalb, das Optimum aus dem Systemverbund herauszuholen. Wenn wir uns heute Signallaufzeiten anschauen von der sicheren Objektdetektion bis zum Bremseneingriff, sind oft die Latenzzeiten noch zu optimieren. Und das können Sie nicht an der Einzelkomponente. Umzudenken ist nicht notwendig, wir denken schon in diese Richtung und berücksichtigen das auch. Die Arbeitsstrukturen haben wir dazu angepasst. Wir müssen den Kunden umfassend beraten, auch wenn er nur einen einzelnen Sensor kauft, um zu erklären, wie sich dieser Sensor in einem System verhält.

Welche Vorteile hat ein Notausweichassistent gegenüber dem EBA?

Das System kann sich beim Ausweichen später entscheiden als bei einer Notbremsung. Und wenn die Bremse nicht mehr funktionieren sollte oder der Bremsweg nicht mehr ausreicht, kann man den Notausweichassistenten nutzen, damit das Fahrzeug um das Hindernis herumgefahren wird. Es wird nicht ein Entweder/Oder werden, sondern es wird etwas Additives sein. Wobei die Funktion so sein wird, dass der Fahrer beim Ausweichmanöver unterstützt wird - das ist kein automatischer Spurwechsel-Vorgang. Das Lenkrad wird eine Momentenführung übernehmen. Das Lenken wird ein bisschen leichter in die eine Richtung und etwas schwerer in die andere gehen, sodass der Fahrer sicher geführt wird, er die Aktion aber noch überstimmen kann.

Wann wird das eigenständige, systeminitiierte Ausweichen auf eine andere Fahrspur kommen?

Es wird kommen, nicht erst mit dem vollautomatisierten Fahren, sondern in Teilschritten schon vorher. Wesentlich ist, dass es eine systemische Aufgabe zu lösen gilt. Die vielen Kompetenzfelder müssen dazu intelligent vernetzt werden. Wir sind uns heute noch nicht sicher, ob wir mit der heute an Bord befindlichen Sensorik die Komplexität der Aufgabe in jeder Situation lösen können. Zum Beispiel die Kamera: Bei Dunkelheit haben andere Sensoren wie ein Radar durchaus Vorteile. Man kann nicht sagen: Bei Tag funktioniert der Ausweichassistent und bei Nacht nicht. Dann ist die Sensorfusion erforderlich, Radar und Laser in unterschiedlicher Ausprägung müssen zur Kamera hinzukommen.

Zum Thema Vehicle-to-X: Welche Technik wird für kooperative Funktionen genutzt?

Möglich machen dies günstige Transponder in Schulranzen oder Handy, sodass dann jene schwachen Verkehrsteilnehmer Daten mit dem Auto austauschen können, die sonst keine Kommunikation haben. Es bleibt spannend zu sehen, wie sich dies aus dem Forschungsstadium ausrollen wird. Wenig förderlich für die Verbreitung von Sicherheitstechnik war in 2009 die Abwrackprämie. Die angeschafften Kleinwagen waren zwar günstig, hatten die aktuellen Sicherheitssysteme aber leider nicht an Bord. Wenn man nun bedenkt, dass diese Autos zehn oder 15 Jahre im Feld sind, entsprechen diese teilweise ohne ESC ausgestatteten Fahrzeuge nicht den heute gängigen Sicherheitsanforderungen. Aber für die CO2-Emission war die Prämie förderlich. Zu begrüßen sind Ankündigungen von einzelnen Herstellern, dass ihre Autos mit Techniken für die Fahrzeug-zu-Fahrzeug-Kommunikation ausgerüstet werden, um in den nächsten Jahren mit ihren Fahrzeugen der Vision Zero, dem Ziel von null Unfalltoten, näher zu kommen. Es muss dabei aber eine Möglichkeit geben, dass sich Fahrzeuge verschiedener Hersteller untereinander unterhalten können. Die Protokolle sind dafür technisch aller Voraussicht nach schon die gleichen. Und wenn dann immer weitere OEMs nachziehen, sind wir schnell in einer breiten Vollausrüstung. Die kooperativen Funktionen werden aber nicht Kamera oder Radar ablösen, sondern wie beim Linksabbiegen an der Kreuzung oder beim elektronischen Bremslicht ergänzen.

Welche Funktion aus Proreta 3 können Sie sich als erste in Serie vorstellen?

Grundsätzlich diente dieses Forschungsprojekt mit der TU Darmstadt nicht einer konkreten Produktentwicklung, sondern für neue Konzepte der Assistenz und Sicherheit. Die gewonnenen Ergebnisse müssen erst einmal in Algorithmen und Hardware umgesetzt werden, dass sie ein Fahrzeugleben überdauern. Heutige Forschungsfahrzeuge können schon selbst an Ampeln halten und wieder losfahren sowie an Kreuzungen abbiegen - aber all die dafür benötigte Rechenleistung steckt noch auf großen PCs. Die beiden Konzepte Sicherheitskorridor und Manöverautomation würde ich mir sehr bald in Serie wünschen. Insbesondere der fahrerinitiierte Spurwechsel auf Autobahnen erscheint bereits ab 2020 realistisch. In komplexeren Szenarien, wie dem Abbiegen an Ampelkreuzungen, ist dagegen aufgrund der größeren Anforderungen an die Umfelderfassung von einem deutlich späteren Serienstart auszugehen.

Viele Komponenten konkurrieren miteinander, der deutsche OEM sucht sich das Beste bei jedem Zulieferer für sein System zusammen. Wird das Cherry Picking, der Kauf einer Einzelkomponente, abnehmen, wenn durch die Komplexität der Systemgedanke im Vordergrund stehen muss?

Das ist unsicher. Die Frage ist eher, wohin entwickelt sich ein OEM? Der übliche Ablauf ist, dass er dem Endkunden erstmalig am Markt eine Komponente anbieten möchte, die gewisse neue Inhalte und Funktionen hat. Hierüber differenzieren sich die Hersteller untereinander ab. Wenn diese Phase vorbei ist, übernimmt der Zulieferer, damit der OEM wieder die Möglichkeit hat, sich auf neue Dinge zu fokussieren. Je nachdem, wie schnell dieser Prozess durchlaufen wird, bin ich fest davon überzeugt, dass es auf das System-Know-how ankommt, diese Komponenten sinnvoll zu vernetzen - und das werden wir beisteuern. Diese Leistung des Zulieferers muss dann auch bezahlt werden, egal ob es um Softwareintegration oder die Serviceleistung beim Harmonisieren, Homologieren und Zertifizieren geht. Egal, ob der OEM eine Komponente oder ein Gesamtsystem von uns kauft: Das ist immer ein Teil unserer Serviceleistung.

Herr Lauxmann, ich bedanke mich für das Gespräch.

Zur Person

Dipl.-Ing. Ralph Lauxmann (Jahrgang 1964) leitet seit Januar 2015 bei Continental in Frankfurt/Main den Bereich Systems & Technology in der Division Chassis & Safety und ist Mitglied der Geschäftsführung.
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