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27.05.2022 | Fahrzeugtechnik | Interview | Online-Artikel

"Die Trommelbremse ist wieder eine interessante Lösung"

verfasst von: Michael Reichenbach

5:30 Min. Lesedauer
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Im Interview begründet Dr. Hans-Jörg Feigel von Continental, warum es kein übergreifendes Betriebssystem für E/E-Architekturen hinweg geben wird und wie die Trommelbremse wieder interessant werden könnte. 

ATZ _ Springer Professional: Herr Dr. Feigel, stetig steigt die Zahl der Funktionen in einem Pkw und damit die Anzahl der Steuergeräte. Wie kann eine Zentralisierung in der E/E-Architektur mit High-Performance-Computern helfen, Verflochtenheit und Entwicklungsaufwand zu verringern?

Feigel: Heute wird die Komplexität im Wesentlichen durch das Zusammenspiel und die Abhängigkeiten der einzelnen Softwarefunktionen in den verschiedenen Steuergeräten bestimmt. Zukünftige Anforderungen, wie etwa die schnelle Aktualisier- und Erweiterbarkeit von Fahrzeugfunktionen, lassen sich in dieser verteilten E/E-Architektur nur sehr aufwendig umsetzen. Der neue Ansatz einer zentralisierten E/E-Architektur hat das Ziel, die steigende Komplexität und den immer größer werdenden Entwicklungsaufwand besser beherrschbar zu machen. Er überträgt hierfür viele Konzepte, die wir heute bereits aus der IT-Welt kennen, auf das Fahrzeug und sein Ökosystem. Diese sind zum Beispiel eine serviceorientierte Architektur, eine Virtualisierung und die dynamische Funktionsallokation. Die Entkopplung der Funktionssoftware von der darunterliegenden Elektronik- sprich Hardwarearchitektur durch Einführung von standardisierten und gemanagten Schnittstellen ist hierbei ein zentrales Element. Damit ist die Entwicklung skalierbarer Fahrzeugplattformen möglich – unabhängig vom Fahrzeugsegment, mit flexiblen Ausstattungsvarianten bei hoher Qualität, reduzierten Kosten und innovativen Features. 

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In der Fahrwerksentwicklung wird häufig auf systemische Ansätze und Simultaneous Engineering zurückgegriffen. Für erfolgreiche Produkte aus Mechanik, Elektronik und Software arbeiten viele Fachdisziplinen unter einem Dach zusammen. Im ATZ-Interview spricht Dr. Hans-Jörg Feigel von Continental darüber, warum all diese Teile perfekt aufeinander abgestimmt sein müssen und wie die Entwicklungsstufen der Bremse hin zu einem trockenen System aussehen.

Und wie kann der Aufwand verringert werden?

Ein Grundkonzept der neuen E/E-Architekturen ist die Kapselung von spezifischen Eigenschaften der Sensoren und Aktuatoren durch eine standardisierte Abstraktionsschicht in der Softwarearchitektur. Dies ermöglicht die Entwicklung von generischen, von der Hardware unabhängigen Funktionen, die auf einem zentralen Rechner ausgeführt werden können. Durch den reduzierten Aufwand bei der Abstimmung, Integration und Validation ist eine schnellere Entwicklung und Erweiterung von Fahrzeugfunktionen machbar.

Müsste dieser Ansatz nicht einheitlich über alle OEMs und Zulieferer sein, um große Schlagkraft zu erzeugen? Wie einfach wird die Entwicklungsarbeit dann tatsächlich werden, kinderleicht?

Im Gegensatz zur heutigen Computertechnik gibt es im Automobilbereich hierfür noch keine herstellerübergreifenden Standards. Abhängig vom Kunden gibt es verschiedene Ausprägungen und Evolutionsstufen der neuen E/E-Architektur. Um unser Funktionsportfolio einfach in diese verschiedenen Varianten integrieren zu können, arbeiten wir intensiv daran, dieses portabel und partitionierbar zu machen und flexibel anpassbare Sicherheits- und Rückfallkonzepte zu entwickeln. Ist diese Hürde genommen, wird die Weiter- und Neuentwicklung von Funktionen einfacher, aber sicherlich nicht kinderleicht werden.

Wann wird es für das Betriebssystem für die Zentralrechner eine Einheitlichkeit über alle OEMs hinweg geben? Wer bestimmt, wie es aussieht? Wer darf es liefern: Apple, Bosch, Continental oder ZF?

Das zukünftige Betriebssystem ist heute für viele OEMs ein wichtiger Baustein zur Differenzierung und Systembeherrschung. Daher erwarte ich hier aktuell keine Entwicklung eines übergreifenden, einheitlichen Betriebssystems. Das heißt aber nicht, dass die Fahrzeughersteller in Zukunft alles selbst entwickeln werden. Tatsächlich werden bereits heute Standards wie Autosar, Linux oder Android, die auch zum Unterbau der zukünftigen Betriebssysteme gehören, von vielen Fahrzeugherstellern in der Serie eingesetzt. Hier spielen Zulieferer auch zukünftig eine wichtige Rolle. Die übergeordneten Systemarchitekturen mit ihren einheitlichen Schnittstellen zwischen Funktionssoftware und Middleware, zwischen Fahrzeug und Cloud und den zugehörigen Werkzeugen und Entwicklungsumgebungen sind sehr umfangreich und können nur in der Zusammenarbeit verschiedener Firmen erfolgreich realisiert werden. Darum arbeiten wir aktiv bei Initiativen wie SOAFEE, Eclipse Software Defined Vehicle Working Group und Autosar mit, um gemeinsam Lösungen zu erarbeiten und entsprechende Softwarebausteine und -pakete anbieten zu können.

Sie setzen im Pkw-Bereich nach langer Pause wieder auf eine Trommelbremse bei Neufahrzeugen. Zum Beispiel im Elektroauto VW ID.3 an der Hinterachse. Welche Widerstände mussten bei den Experten überwunden werden, die oft noch die Nachteile aus dem VW Käfer im Hinterkopf hatten?

Das initiale Konzept für unsere neue Generation der Trommelbremse mit integrierter Parkbremse entstand bereits im Jahr 2012. Der ursprüngliche Fokus lag auf der Entwicklung einer kostengünstigen Lösung für Fahrzeuge im A- und B-Segment. Die Erweiterung des Konzepts auf die deutlich höheren Anforderungen von elektrifizierten Fahrzeugen mit bis zu 3,5 t Gesamtgewicht war ein wichtiger Meilenstein. Weitere Entwicklungsschritte waren die Verbesserungen des elektromechanischen Aktuators für die Parkbremse und die weitere Optimierung des benötigten Bauraums trotz gestiegener Bremsleistung. Diese kontinuierliche Weiterentwicklung erfolgte in engem Austausch mit unseren Kunden. Dies schuf das notwendige Vertrauen in unser neues Produkt.

Diese Anwendung erfolgte an der Hinterachse. Sie forschen aber auch an der Trommelbremse für die Vorderachse. Welche Fortschritte gibt es, die Trommelbremse dort einzusetzen?

Generell ist der Einsatz einer Trommelbremse auch an der Vorderachse technisch möglich, im Vergleich zur Hinterachse werden jedoch deutlich höhere Bremsmomente benötigt. Aufgrund des begrenzten Bauraums und der thermischen Belastung hat hier eine Scheibenbremse mit steigendem Fahrzeuggewicht einen größer werdenden Vorteil. Mit unserer auf dem Duo-Servo-Prinzip basierenden Trommelbremse können wir ein größeres Bremsmoment erreichen und das Einsatzgebiet auf schwerere Fahrzeuge erweitern. Konstruktionsbedingt ist die Trommelbremse anfälliger für das Schiefziehen des Pkw als eine Scheibenbremse. Dies wird aber erst bei höheren Geschwindigkeiten relevant. Damit ist sie an der Vorderachse eine interessante Option für kleinere Fahrzeuge und neue Fahrzeugkonzepte wie zum Beispiel People Mover.

Wie positiv haben OEM-Kunden in Europa, den USA und China die Wiedergeburt der Trommelbremse aufgenommen?

Die Reaktionen der Kunden sind regional unterschiedlich. Generell gibt es anfangs immer gewisse Vorbehalte, da die Trommelbremse bei vielen mit dem Bild einer veralteten Technologie verknüpft ist. Gerade in Europa hat unsere Überzeugungsarbeit Früchte getragen, und die Kunden stehen dem Konzept offener gegenüber. Auch für einige US-amerikanischen Kunden ist der Einsatz von Trommelbremsen vorstellbar. Aufgrund der im Schnitt deutlich schwereren Fahrzeuge muss hier die Systemauslegung individuell betrachtet werden. Auf der Hinterachse ist die Trommelbremse in den meisten Fällen darstellbar. Auf der Vorderachse können wir höchstwahrscheinlich nicht das ganze Fahrzeugspektrum bedienen. Aus unserer Sicht ist die Trommelbremse wieder eine interessante Lösung, die wir derzeit aktiv mit unseren Kunden diskutieren.

Herr Dr. Feigel, haben Sie vielen Dank für den aufschlussreichen Dialog.

Mehr vom Interview können Sie in der ATZ 6/2022 lesen.

Veranstaltungshinweis: chassis.tech plus 2022

Auf dem 13. Internationalen Münchner Fahrwerk-Symposium chassis.tech plus wird Dr. Hans-Jörg Feigel am 5. Juli 2022 eine Keynote zum Thema "Die Zukunft des Chassis – Evolution oder Revolution?" halten.

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