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Open Access 2025 | OriginalPaper | Buchkapitel

10. Fallbearbeitung

verfasst von : Konstantin Rink

Erschienen in: Digitale Werkstätten

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Der Fachbeitrag untersucht die Bedeutung von Berichten in der Sozialen Arbeit und deren Rolle bei der Konstruktion sozialer Wirklichkeit. Es wird gezeigt, wie Berichte als Grenzobjekte fungieren und durch verschiedene Praktiker:innengemeinschaften sequenziell erstellt werden. Dabei wird die Spannung zwischen Exaktheit und Vagheit in der Dokumentation thematisiert, die zu Konflikten in der Praxis führen kann. Der Beitrag analysiert die verschiedenen Phasen der Fallbearbeitung, von der Vorbereitung über das Entwicklungsgespräch bis hin zur Validierung des Berichts. Besonders hervorgehoben wird die Rolle digitaler Artefakte, wie des Entwicklungsberichts, und deren Einfluss auf die Dokumentationspraxis. Es wird deutlich, dass die Erstellung von Berichten ein komplexer Prozess ist, der von Machtstrukturen und der Zusammenarbeit verschiedener Akteure geprägt ist. Der Text zeigt auf, wie die Perspektive der Adressaten oft marginalisiert wird und wie digitale Tools die Dokumentation und Fallbearbeitung beeinflussen. Die Analyse der Fallbearbeitung als Heuristik ermöglicht ein tieferes Verständnis der Prozesse und Herausforderungen in der Sozialen Arbeit.
„Es gibt keine Herstellung von In-formation [sic] ohne eine Kaskade solcher Trans-formationen [sic]“ (Latour 2016: 257)
Im Kontext einzelfallbezogener Hilfen spielt die Schriftlichkeit in Form von Berichten eine wichtige Rolle, insbesondere im Hinblick auf Fragen der Fallkonstruktion. Diese Konstruktionsleistung kondensiert in den verschiedenen Formaten und Formen von Dokumentation: in Formularen, Assessmentbögen, Protokollen und Berichten. Hierbei strukturiert die spezifische Form der Dokumentation den Inhalt mit. Entsprechend stellt Blandow (2004) fest: „Form und Inhalt sind gerade beim Dokumentieren eng aufeinander bezogen. Das auf einem Formular vorgegebene Schema für einen Hilfeplan, zum Beispiel, entscheidet schon wesentlich darüber, was dokumentiert werden soll, auch über die erwartete Gewichtung, über Nebensächliches und Hauptsächliches“ (ebd.: 43). In diesem Zusammenhang resümiert Merchel (2018), dass alle Formen pädagogischer Dokumentation soziale Wirklichkeit konstruieren. Akten, Berichte, Beschreibungen etc. sind das „Ergebnis selektiver, zum Teil interessenbezogener und auf die Legitimation von Handlungen ausgerichteter Wahrnehmung und Situationsinterpretation“ (Merchel 2018: 22). Insofern kann es für Fachkräfte in der Praxis durchaus gute Gründe für schlechte Akten geben (Garfinkel 1967). Denn eine hohe Präzision der Dokumentation erzeugt, „dass jener Grad an Vagheit verloren geht, der erforderlich ist, um – bei nicht vorhersehbaren und nicht planbaren Anlässen – das eigene Handeln rechtfertigen zu können [Hervorh. im Original]“ (Studer/Hildenbrand 2000: 123). Das Spannungsfeld zwischen einem Zwang zur Exaktheit und einer gewissen Vagheit ruft Konflikte hervor, die in empirischen Untersuchungen der Sozialen Arbeit bereits zum Gegenstand geworden sind (u. a. Ley 2021).
Im Folgenden geht es sekundär um die Frage, was in den Berichten dokumentiert wird, als primär um die Formierungspraxis eines Berichtes. Aus dieser Perspektive wird ersichtlich, dass die Erstellung von Berichten ein sequenzielles Verfahren ist, an dem zum Teil heterogene Praktiker:innengemeinschaften arbeiten. Die Funktion von Berichten ist nicht auf die Erfüllung eines einzelnen Auftrages beschränkt (Bowker/Berg 1997: 529). „It must be able to do all these jobs at once for all those who work with it […] To borrow the vocabulary of information science, we can say that the medical record needs to guarantee interoperability“ (ebd.).
In der Abfassung von Berichten findet „mithin eine Objektivierung und Standardisierung von Wirklichkeit“ statt (Nadai 2015: 244). Dass sich in Berichten eine Standardisierung von Wirklichkeit vollzieht, wurde in der Forschung zu Sozialer Arbeit schon herausgestellt (Schütze 1996). Allerdings wurden sowohl der komplexe Herstellungsprozess als auch die Handlungsträgerschaft der Artefakte selbst in der sozialarbeiterischen Forschung bislang weitgehend unberücksichtigt. Neben den Inhalten ist es auch relevant, den Weg der Berichte zu untersuchen und zu verstehen, wie die Produktion abläuft und welchen Beitrag die als aktiv verstandenen Artefakte leisten. „Sequentiell ist eine solche Analyse, insofern sie den Moment-für-Moment-Charakter der Produktion von Fällen in den Blick nimmt und insbesondere auch die Zwischenprodukte und deren (Nicht-)Gebrauch im Konstruktionsprozess mit einbezieht“ (Nadai 2015: 245).
Ergebnis eines solchen Konstruktionsprozesses in Form von Beichten ist die Materialisierung eines Falls. „Der ‚Fall‘ soll ferner als ein Prozess konzipiert werden, der in erheblicher zeitlicher Ausdehnung von verschiedenen beteiligten Personen allmählich entwickelt wird“ (Bergmann et al. 2014: 10). In organisationalen Kontexten sind mehrere Praktiker:innengemeinschaften an der Generierung und Bearbeitung eines Falls involviert. „Ihre jeweiligen Beiträge sind in der Regel aufeinander bezogene, sequenziell organisierte Operationen in einem Interaktionszusammenhang, in dessen Verlauf der Fall als ein über die Zeit ablaufender Selektions-, Verdichtungs- und Formierungsprozess entsteht“ (Bergmann 2014: 27). Diese Form ist durch eine Reihe von Merkmalen charakterisiert, die sie von dem alltäglichen Prozess der Fallformierung unterscheiden. Erstens wird sie über mehrere Gemeinschaften hinweg vollzogen und zweitens ist sie in verschiedenen Medien dokumentiert. Berichte sind dabei „nicht einfach nur eine passiv mitlaufende Protokollierung der Progression des Falls“ (ebd.), sondern partizipieren an der Formierung mit. Im Sinne Bergmanns (2014) können unterschiedliche Sequenzen einer Fallbearbeitung differenziert werden: „Herrichten“, „Zurichten“ und „Konservieren“ (Bergmann 2014: 29 ff.). Auf diese Prozesssicht soll bei der Analyse der Fallbearbeitung als Heuristik zurückgegriffen werden1.
Vor dem Hintergrund der vorliegenden Forschungsfrage und des Untersuchungsgegenstandes soll im Weiteren die Kategorie Fallbearbeitung analysiert werden. Hierbei wären innerhalb der Werkstätten durchaus unterschiedliche Anknüpfungspunkte in Form von digitalen Artefakten möglich gewesen. Neben dem im Folgenden fokussierten digitalen Grenzobjekt ‚Entwicklungsbericht‘ existierten in den Werkstätten noch weitere Formen von Berichten. In ihrer Sequentialität und ihrem Fertigungsprozess unterscheiden sie sich allerdings nur in Nuancen von dem Entwicklungsbericht. In der vorliegenden Kategorie soll demnach allein der Entwicklungsbericht als digitales Grenzobjekt im Rahmen der Cyberinfrastruktur zur Geltung kommen. Der Entwicklungsbericht nimmt in der Cyberinfrastruktur und in der Arbeit unterschiedlicher Praktiker:innengemeinschaften einen zentralen Stellenwert ein und durchläuft einen fortwährenden Herstellungsprozess. Im Rahmen der sequenziellen Analyse wird Macht als ein relationales Phänomen berücksichtigt, da sich in den Aushandlungen zeigt, welche Informationen für den jeweiligen Fall von Relevanz sind.
Bevor ich in die unterschiedlichen Prozessschritte des Entwicklungsberichtes eintauche, möchte ich zunächst das Artefakt analysieren (Abschnitt 10.1). Im Anschluss werde ich mit Hilfe einer prozessualen Sichtweise auf Fallbearbeitung drei Phasen unterscheiden: Die Praxis des Herrichtens (Abschnitt 10.2), die Praxis des Zurichtens (Abschnitt 10.3) und am Ende die Praxis des Konservierens bzw. Validierens des Berichtes (Abschnitt 10.4). Am Ende dieses Kapitels folgt ein Zwischenfazit (Abschnitt 10.5).

10.1 Entwicklungsbericht – Artefaktanalyse

Abbildung 10.1
Digitale Oberfläche des Entwicklungsberichtes, Eingangsmaske.
(Quelle: Feldprotokolle, Eigene Darstellung)
Da das Artefakt aus zwei digitalen Oberflächen besteht, wobei die zweite Oberfläche die zentrale ist, werde ich beide gemeinsam beschreiben. Die erste Abbildung (Abb. 10.1) bildet den Einstieg bzw. den Zugang, der durchschritten werden muss, um zum eigentlichen Bericht zu kommen. Im Anschluss an Smith (2001: 160) sind Vorlagen wie die nachfolgend abgebildeten mehr als einfach nur Behälter. „Texts (or documents) are essential to the objectification of organizations and institutions and to how they exist as such. […] Exploring how texts mediate, regulate and authorize people’s activities expands the scope of ethnographic method beyond the limits of observation“ (Smith 2001: 160). Mit der Artefaktanalyse soll neben der Darstellung der Vorlage auch der Raum für eine Analyse geöffnet werden, die danach fragt, inwieweit das digitale Artefakt, die mit ihr verkoppelten Praktiken mitstrukturiert.
Struktur der Oberfläche: In der ersten Abbildung (Abb. 10.1) ist eine Oberfläche zu sehen, die hauptsächlich aus einem hellblau unterlegten Kasten besteht. Darin befinden sich Informationen zu den Adressat:innen. Dazu gehören Anrede, Namen, Status, Geburtsdatum, Wohnort, Abteilung, Werkstatt, Kostenträger. All diese Informationen werden, wie die rote Notiz an der rechten Seite des blassblauen Kastens verrät, in den Bericht automatisch übernommen, sobald eine Vorlage ausgewählt wurde. Die Felder zur Auswahl der Vorlage und zur Auswahl des Namens befinden sich in einem separaten Bereich. Bei der Personensuche muss ein Name gesucht werden. Dies erfolgt mit Hilfe von Vorschlägen: Je nach Eingabe der Anfangsbuchstaben schlägt das Programm Namen vor. Bei der Vorlagenauswahl handelt es sich um Drop-down-Menüs mit acht verschiedenen Vorlagen. Farblich hervorstechend ist die rote Schrift mit dem Hinweis >Automatisch übertragen<. Von dieser Zwischenstation wird der Nutzende direkt zu einer der Vorlagen weitergeleitet.
In der zweiten Abbildung (Abb. 10.2) ist die digitale Vorlage für den Entwicklungsbericht zu sehen. Die Vorlage hat das Format A4. Die Hintergrundfarbe ist weiß. Am oberen Rand des Blattes befindet sich die Überschrift. Vor dem weißen Hintergrund heben sich die Tabellen und Zeilen ab, die stellenweise grau eingefärbt sind. In den beiden obersten Tabellen werden Daten wie Wohnort oder Name vom Programm automatisch eingefügt. In diesen Tabellen sind die Begriffe, die die Kategorien bilden, grau hinterlegt. Dahinter befinden sich die freien Felder, die vom Programm automatisch ausgefüllt werden. In der oberen der beiden Tabellen finden sich zwei Spalten. Die erste Spalte ist für die Stammdaten der Adressat:innen vorgesehen, wohingegen die zweite Spalte ein großes Freifeld mit der Überschrift >Aktenzeichen Kostenträger< beinhaltet. Die zweite Tabelle enthält Daten zur Werkstatt, zu Ansprechpartner:innen sowie zum Arbeitsbereich der Klient:in.
Nach den oberen beiden Tabellen folgen drei grau hinterlegte Felder mit Nummerierung und Bezeichnung:
1.
>Darstellung des aktuellen Hilfebedarfes<
 
2.
>Wesentliche Veränderungen seit der Aufnahme im Arbeitsbereich bzw. gegenüber letzten Berichtszeitraum<
 
3.
>Darstellung der Hilfeplanung und Ziele<
 
Unter den Feldern befinden sich Freifelder, in denen der Text eingetragen werden kann. Beim Ausfüllen der Freifelder wandern die anderen Elemente der Vorlage nach unten; insofern ist die Größe variabel. Aus einer A4-Seite können so zwei oder drei Seiten werden, je nach Umfang des Textes.
Abbildung 10.2
Digitale Oberfläche des Entwicklungsberichtes, Vorlage.
(Quelle: Feldprotokolle, Eigene Darstellung)
Unter den drei Freifeldern befindet sich erneut eine Tabelle mit zwei Spalten. Die erste Spalte ist für das Datum vorgesehen. Die zweite Spalte ist mit >Stempel der Einrichtung< beschriftet. Hinter dieser Beschriftung befindet sich ein langes, rechteckiges Freifeld, das Platz für den jeweiligen Stempel lässt. Im untersten Bereich erstreckt sich ein größerer grauer Bereich mit einem Text und mehreren Ankreuzfeldern. In dem Text wird aus Sicht der Adressat:innen erklärt, dass sie den Bericht zur Kenntnis genommen haben und dass gegebenenfalls dazu Stellung genommen werden kann. Das erste Ankreuzfeld sagt aus: >Von der Möglichkeit der Stellungnahme wird Gebrauch gemacht<. Die drei folgenden Ankreuzfelder konkretisieren, wie von der Stellungnahme Gebrauch gemacht wird, und zwar:
  • >siehe Anlage<
  • >wird nachgereicht<
  • >wird vorbehalten<
Alle drei aufgeführten Ankreuzfelder sind im juristischen bzw. formellen Sprachduktus.
Grenzziehungen und allgemeine Bedeutung: Die Abgrenzung des vorliegenden Artefakts zeigt sich in dem vorgeschalteten Interface. Zunächst gehört die Kategorie >Berichte schreiben< allgemein in den Rehabilitationsprozess. Die Zuordnung zu einem rehabilitativen Kontext wird durch verschiedene Merkmale deutlich. So zielt der Bericht auf die Darstellung eines Hilfeprozesses ab, weist ein Aktenzeichen auf, das einen Bezug zum Kostenträger aufzeigt, und adressiert in der Überschrift >behinderte Menschen<.
Bei dem vorliegenden Artefakt handelt es sich um eine schriftliche Zusammenfassung wesentlicher Veränderungen und Entwicklungen innerhalb eines Berichtszeitraums der Adressat:innen. Im Bereich Sozialer Arbeit werden Entwicklungsberichte auch in Kindertagesstätten oder in Jugendhilfeeinrichtungen verfasst. Entwicklungsverläufe sollen zu einem bestimmten Moment dargestellt werden. Der vorliegende Bericht zielt darauf ab, einen Fall gegenüber dem Kostenträger darzustellen, wie es an der Oberfläche der Vorlage ersichtlich ist. Seine Relevanz liegt folglich weniger im Inneren der Werkstätten als in seiner Umwelt. Schon in der ersten Tabelle, am rechten Rand, taucht ein Extra-Feld für das Aktenzeichen des Kostenträgers auf. Der untere Abschnitt belegt zudem die Legitimationsfunktion des Artefaktes: Die Adressat:innen bekunden den Entwicklungsbericht zur Kenntnis genommen und etwaige Stellungnahmen abgegeben zu haben.
Entwicklungsberichte können als Instrumente bei den Leistungserbringern eingesetzt werden, um die Teilhabeplanung zu bewerkstelligen. Die Leistungserbringer sichern durchgehend das Verfahren (§ 19 SGB IX). Vergleichend zur Gesamtplanung kann „eine eigenständige detailliertere, vertiefte und v. a. prozessual entlang des Unterstützungsprozesses angelegte Auseinandersetzung mit den Bedarfen der leistungsberechtigten Person erfolgen“ (Röh/Spindler 2020: 90). Gleichzeitig legt die Einschätzung der Entwicklung eine Grundlage, um Maßnahmen zu planen, die die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit erhalten, entwickeln, erhöhen oder wiedergewinnen sollen und dabei die Persönlichkeit weiterentwickeln (§ 219 Abs. 1 SGB IX). Als Teil der Leistungen für die Adressat:innen sind im Arbeitsbereich arbeitsbegleitende Maßnahmen „zur Erhaltung und Verbesserung der im Berufsbildungsbereich erworbenen Leistungsfähigkeit und zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit“ (§ 58 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX) vorgesehen. Die Bedeutung des digitalen Artefakts liegt allgemein in seiner Einbindung in ein Netzwerk aus weiteren Artefakten, die der Planung von Zielen sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Fähigkeiten und der Persönlichkeit dienen. Als Leistung sollen Werkstätten individuelle Teilhabepläne erstellen, in denen die Ziele gemeinsam mit den Personen auf Grundlage des Gesamtplans (§ 121 SGB IX) erarbeitet, überprüft und weiter fortgeschrieben werden. Im Rahmen der Werkstattbeschäftigung werden neben anderen Zielen insbesondere die Aspekte der persönlichen Entwicklung betont. Das Artefakt dient der Dokumentation und damit der Visualisierung dieser Entwicklung zu einem spezifischen Zeitpunkt.
Des Weiteren bezieht sich der Bericht auf einen abgegrenzten Zeitraum. Unter Punkt 2 wird dazu aufgefordert, Veränderungen im zeitlichen Verlauf zu dokumentieren. Der Fokus des vorliegenden Entwicklungsberichts liegt demnach auf dem Vergleich des aktuellen Zustands mit einem früheren Zeitpunkt. Da das Artefakt jedoch keine zeitlichen Vorgaben macht, bleibt offen, welcher Zeitraum erfasst werden soll.
Organisationsinterne und externe Komparistik: In den Werkstätten existiert eine Vielzahl an Vorlagen. Ein Vergleich zeigt, dass nur bei wenigen eine so starke Orientierung am Kostenträger vorgefunden werden kann wie bei dem vorliegenden Artefakt. Eine Besonderheit des Entwicklungsberichtes stellt die juristische Klausel des Stellungnehmens dar.
Im Vergleich zu anderen Entwicklungsberichten, die in diversen Kontexten – wie etwa in Kindertageseinrichtungen – Anwendung finden, fällt die Offenheit der Felder im vorliegenden Bericht besonders ins Auge. Die dort zum Einsatz kommenden Berichte untergliedern sich in der Regel in verschiedene Kategorien, wie etwa Sprache, Motorik oder soziale Kompetenzen. Während in dem vorliegenden Artefakt allgemein von >Entwicklung< gesprochen wird und somit den berichtserstellenden Personen offenlässt, welche Facetten einer Person konkretisiert werden, selektieren Entwicklungsberichte in Kindertagesstätten die Eintragungen und kategorisieren die Entwicklungen nach Persönlichkeitsmerkmalen.
Reflexion zum Artefakt und Rückbezug zur Forschungsfrage: Das digitale Artefakt ist eine Vorlage für einen Entwicklungsbericht. Die Vorlage ist in drei Teile unterteilt: >Aktueller Hilfebedarf<, >Wesentliche Veränderung< und >Darstellung Ziele und Maßnahmen<, womit das Ausfüllen vorstrukturiert wird. Dadurch entsteht eine Selektion, welche Informationen geschrieben werden können und vor allem, wo sie ihren Platz finden. Wie von den drei Kategorien vorgegeben, soll das Artefakt einen Prozess nachzeichnen, indem ein aktueller Zustand mit einem vergangenen in Beziehung gesetzt wird.
Aus praxisanalytischer Perspektive müssen Entwicklung und Zeitlichkeit erst erzeugt werden. „What is more, development is a performative term; it is not only a scientific concept but a directed and organized everyday semiotic-material practice in educational institutions. It does not represent reality but is a way of creating it. Development is a relation“ (Kontopodis 2007: 16). Eine Vielzahl von menschlichen und nicht-menschlichen Partizipanten „enables, supports, and stabilizes ‚development‘“ (ebd.). Das Artefakt definiert mit seinem Feld >Berichtszeitraum< einen Anfangs- und Endzeitpunkt, innerhalb dessen eine Entwicklung verortet werden kann. Es produziert folglich eine bestimmte Zeitlichkeit. Entwicklung ist nicht ohne Temporalisierung zu denken, ohne eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander in Relation zu setzen. Ein zentraler Aspekt des Artefaktes, auf den Niewöhner (2008) in einem anderen Zusammenhang aufmerksam gemacht hat, liegt in der Konstruktion eines linearen, zeitlichen Verlaufs, der am Körper der Adressat:innen festgemacht ist. Basierend auf dem Vergleichszeitpunkt wird eine Relationierung des Adressaten bzw. der Adressatin mit dem aktuellen Entwicklungsstand vorgenommen, was eine Linearität impliziert. Entwicklungsverläufe stellen sich demnach als Resultat heterogener Praktiken dar, die in Wechselwirkung mit materiellen und räumlichen Arrangements stehen. Artefakte, wie das vorliegende, sind an dieser Konstruktion beteiligt und tragen zur Herausbildung spezifischer Zeitordnungen bei. Gleichzeitig ist das Artefakt plastisch genug, um vielfältige Entwicklungsrealitäten zuzulassen.
An der Bearbeitung des Artefaktes sind ganz unterschiedliche Partizipanten zu ganz verschiedenen Zeitpunkten und Orten eingebunden. Im Grunde genommen sind es Kaskaden von Zeitpunkten, an denen das Artefakt bearbeitet wird. Demzufolge möchte ich den Reifungsprozess (Latour 2016) bzw. den sequenziellen Formierungsprozess (Bergmann 2014) des Artefaktes sichtbar machen.

10.2 Herrichten des Wissens – Entwicklungsgespräch

Der Reifungsprozess des Entwicklungsberichts setzt mit dem Herrichten des Fallwissens ein, wobei kein eindeutiger Ursprung auszumachen ist, da es sich nicht um ein isoliertes Ereignis handelt, sondern um eine Abfolge von regelmäßigen Iterationen. Als Herrichten werden in Anlehnung an Bergmann (2014) Praktiken bezeichnet, die in Relation zum Entwicklungsbericht stehen und in denen entweder unmittelbar oder vermittelt Informationen gesammelt und präpariert werden. Eine der für das Untersuchungsfeld charakteristische Praktik des Herrichtens bildet das sogenannte Entwicklungsgespräch. Die Entwicklungsgespräche finden in unterschiedlichen personellen Konstellationen und in räumlichen Arrangements statt. Bei der nachfolgenden, längeren Sequenz habe ich Paula, die Sozialarbeiterin, bei ihrer Arbeit begleitet. Gemeinsam sitzen wir in ihrem Büro. Die Praxis des Herrichtens gliedert sich in weitere Tätigkeiten, die ich im Folgenden separat rekonstruieren möchte.
Vorbereitung

                  Die Zeit verrinnt vor sich hin, Paula sitzt vor dem Schreibtisch, und schon blickt sie wieder auf die Uhr und bemerkt, dass das Treffen in der Werkstatt A gleich ansteht. Ich blicke zu ihr herüber und frage nach, ob sie „etwas vorbereitet hat“. „Nö“ entgegnet sie mir. „Der letzte Bericht ist knapp 4 Jahre her, das bringt nichts, den mitzunehmen“ meint sie zu mir. (Beobachtung _28042022, Pos. 5)
                
Die beschriebene Sequenz zeigt Paula in ihrem Büro, während sie Aufgaben am Computer erledigt. Ihr Blick auf die Uhr sowie ihre Bemerkung, dass „das Treffen ansteht“, lassen auf eine Erwartungshaltung schließen. Auf die Frage, ob sie sich auf das anstehende Entwicklungsgespräch vorbereitet habe, antwortet sie verneinend. Sie entscheidet sich in der vorliegenden Sequenz gegen die Mitnahme des vorangegangenen Berichtes und bezeichnet diesen als unbrauchbar. In Kombination mit ihrer Aussage „knapp 4 Jahre her“ lässt sich ableiten, dass der alte Bericht als abgeschlossen und das in ihm enthaltene Wissen von Paula als veraltet markiert wird. In der Sequenz wird eine Diskontinuität zwischen veralteten und neuen Entwicklungsberichten durch Paula erzeugt. Zur Vorbereitung auf das Gespräch greift sie auch nicht auf andere archivierte Berichte oder Dokumentationen zurück. Generell lässt sich für die Sequenz feststellen, dass Paula ohne jegliche Notizen oder Dokumentation in das anstehende Entwicklungsgespräch geht.
Das Entwicklungsgespräch
Nach der Vorbereitung findet ein sogenanntes Entwicklungsgespräch statt. Vor einem Entwicklungsgespräch waren viele Arbeitsschritte nötig, damit alle Beteiligten zu einer festgelegten Uhrzeit am selben Ort zusammenkommen konnten. Wie in Abschnitt 7.​4.​1 erläutert, nutzen die Mitarbeitenden des Sozialdienstes und der Werkstattgruppen die Verlaufsdokumentation, um passende Termine zu vereinbaren. Die Besprechung von Terminvorschlägen erfolgt in Team-Sitzungen und wird anschließend in das digitale Artefakt ‘Verlaufsdokumentation‘ eingetragen. Auf diese Weise werden die Vorschläge für alle Gruppenmitarbeiter:innen sichtbar. Es ist mit einer Zeitspanne von mehreren Wochen zu rechnen, bis ein für alle beteiligten Parteien adäquater Termin gefunden ist.
Abgesehen vom hohen Koordinationsaufwand bergen Gespräche mit mehreren Praktiker:innengemeinschaften ein hohes Maß an Unsicherheit. Dies wird auch durch die nachfolgende Sequenz deutlich. An einigen Stellen kennen sich die Personen nur vom Telefon- oder E-Mail-Verkehr, oder es tauchen unangekündigte Personen auf. Die folgende Sequenz, die ich zur besseren Lesbarkeit in kleinere Episoden unterteilt habe, beschreibt ein Entwicklungsgespräch. Das Gespräch ist ein Teil des Formierungsprozesses des Entwicklungsberichts und wird unter diesem Aspekt betrachtet. In dem Gespräch tragen die Beteiligten ihr Wissen zusammen, was die Basis für die spätere Zurichtung und Konservierung des Berichtes bildet.

                  Mit Paula fahre ich in einem Dienstwagen in die Werkstatt A. Dort angekommen holen wir Richard, einen Mitarbeiter, aus seinem Gruppenraum ab. Als wir gerade zum Konferenzraum gehen wollen, treffen wir am Eingang auf zwei weitere Personen, die Paula ansprechen und fragen, ob wir an dem Gespräch für Herrn X (Adressat) teilnehmen würden. Paula bejaht und führt alle zum Konferenzraum. In der Mitte des Raumes steht eine trapezförmige Tischformation. Jeder sucht sich einen Platz. „Vielleicht stellen wir uns kurz vor“ moderiert Paula das Treffen unverzüglich an. Als Allererstes stellt sich Herr P aus dem Wohnbereich vor. Er ist, wie er meint, der Bezugsbetreuer von Herrn X. „Ich bin Teilhabemanagerin“ meint Frau Y, die neben ihm sitzt und die wir am Eingang trafen. Anschließend stelle ich mich als Forscher vor, dann Paula und im Anschluss Richard. Während Richard sich vorstellt, legt Paula ihr A4-großes Moleskine-Notizbuch vor sich hin, schlägt es mittels des im Buchrücken verankerten Lesezeichenbändchen an einer Stelle auf – die Seite war leer – und führt ein, dass eine „Arbeitszeitreduktion nötig ist“. Sie eröffnet damit den Diskussionsraum. Herr P pflichtet ihr bei und spricht von der Problematik der geänderten Fahrzeiten. Noch bevor er weiterreden kann, fällt ihm Frau Y ins Wort. Sie schimpft über die neuen Fahrzeiten vom Kostenträger und dass diese für „Autisten schwierig sind“. „Gerade für Herrn X ist es eine Tortur“ fügt sie hinzu. Sie berichtet, wie er im Wohnbereich viel früher aufstehen muss, die Mitarbeiter kaum Zeit haben, ihn anzuziehen, und die Wohnsituation sich deutlich verschlechtert habe. „Ich höre da raus“, fasst Paula es zusammen, „dass sie eher die zeit am Nachmittag ideal fänden“ fragt sie in die Runde. „Wenn das ginge, wäre das super“ beantwortet die Managerin. Paula erklärt die drei neuen Modelle des Kostenträgers. Frau Y und Herr P stimmen freudig in das Nachmittagsmodell ein. „Dann brauchen wir ein Attest vom Arzt, was bei Ihnen kaum ein Problem sein dürfte, denn die Ärztin ist mit im Wohnen“ meint Paula. Herr P pflichtet ihr bei. Frau Y neben ihm macht sich fleißig Notizen. (Beobachtung_15022022, Pos. 17)
                
Aus der Sequenz geht zunächst hervor, dass das Gespräch nicht in Paulas Büro, sondern in einer weiter entfernt gelegenen Werkstatt stattfindet. Um den Ort zu erreichen, muss sie zunächst einen Dienstwagen nehmen. Als Sozialdienstmitarbeiterin hat Paula Zugang zu einem Dienstwagen und einem Laptop. Durch die Digitalisierung der Arbeitsmittel kann sie mit einer WLAN-Verbindung von jeder Werkstatt aus arbeiten, wobei sie über die notwendigen Ressourcen und das Know-how verfügen muss. Im Kontext des Zur-Werkstatt-Fahrens wird Paulas Mobilität durch allokative Ressourcen, wie beispielsweise den Dienstwagen, ermöglicht. Die Verteilung der allokativen Ressourcen in den Werkstätten ist dabei als höchst ungleich zu bezeichnen, wobei die Ressourcen erst in der Anwendung eine strukturierende Wirkung entfalten.
Der Sozialdienst verfügt über ein hohes Maß an Mobilität und Wissen im Vergleich zu den anderen Gesprächsbeteiligten. Einerseits ist Paula der Dreh- und Angelpunkt der verschiedenen Gemeinschaften und wird von Frau Y (Teilhabemanagerin), Herrn P (Wohnmitarbeiter) und Richard als zentrale Ansprechperson adressiert. Andererseits scheint Paula in der Sequenz Themen anzusprechen, zu denen die anderen Beteiligten nur in eingeschränktem Maße fähig sind. Sie moderiert das Gespräch und leitet die jeweiligen Themen ein. Jeder stellt sich nacheinander vor und kommuniziert dabei seine Zugehörigkeit zu einer spezifischen Gemeinschaft im Plenum. Paula lenkt das Gespräch auf die Arbeitszeitreduktion des Adressaten X. Die thematische Eröffnung von Paula ist weitgehend unstrukturiert, da sie lediglich das grobe Thema benennt. Wie Bergmann (2014) ausführt, ist der Modus des Herrichtens „noch nicht darauf angelegt, sogleich zu einer Fallgestalt zu führen, in der Regel ist das Resultat zunächst nur eine lose Aggregation von Detail“ (ebd.: 30).
Aus der Perspektive des Beobachters bleibt in der Sequenz unklar, aus welcher Perspektive das Thema eingebracht wird: Ob aus der Sicht des Sozialdienstes oder der Klienten. Unabhängig davon ist festzustellen, dass es sich in der Sequenz erneut um eine Repräsentation handelt, da Herr X nicht an dem Entwicklungsgespräch partizipiert und somit als „Implicated Actor“ (Clarke 2012: 87) in der Praxis agiert. Implicated Actors werden „konzipiert, repräsentiert und möglicherweise auch zum Ziel der Tätigkeit jener anderen“ (ebd.). Die drei Beteiligten Paula, Richard und Herr P, welche den Adressaten repräsentieren, sind Mitglieder desselben Wohlfahrtsverbandes. Herr P ist in einer Wohngruppe tätig. Frau Y, die Teilhabemanagerin, ist extern tätig. Teilhabemanager:innen können
„bei der Gesamtplanung als ‚Person des Vertrauens‘ (§ 117 SGB IX) auftreten, wenn der Mensch mit Unterstützungsbedarf es wünscht. Er/sie wird bei der Fortschreibung des Gesamtplans als Vertretung des Leistungserbringers einbezogen. Die Kommunikation zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer gehört zu seinen/ihren Aufgaben. Grundsätzlich besteht die Herausforderung für das Teilhabemanagement darin, sich an den Interessen des Menschen mit Behinderung zu orientieren und für die entsprechende Unterstützung im Alltag zu sorgen und andererseits mit den finanziellen, personellen und organisationalen Barrieren auf Seiten des Leistungserbringers umzugehen“ (Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft 2021: 67).
Insbesondere am Anfang der Szene nimmt Frau Y die Perspektive des Adessaten ein. Sie erläutert die Schwierigkeiten, die entstanden sind, als die Abfahrtszeiten des Fahrdienstes durch den Kostenträger geändert wurden. Dabei adressiert sie sich selbst als Repräsentantin des Adressaten. In dieser Szene tritt sie jedoch nur als eine von mehreren Repräsentant:innen des Adressaten auf, denn sowohl Herr P als auch Richard positionieren sich ebenfalls als Repräsentanten.
Der Entwicklungsbericht blieb, wie die vorangestellte Szene gezeigt hat, unbeachtet. Hiermit unterscheidet sich das Vorgehen von den Teamsitzungen, wie sie in Abschn. 7.​4 beschrieben und analysiert wurden. In Teamsitzungen dient das beteiligte, digitale Artefakt als ko-konstitutiv und strukturgebend, während in dem Entwicklungsgespräch von Paula das leere A4-Buch als Zwischenmedium ausgewählt wurde. Ihre Aufmerksamkeit gilt sodann auch dem Plenum und nicht, wie in den Teamsitzungen, der Protokollierung. Anstatt direkt in das Entwicklungsgespräch in das digitale Artefakt ‚Entwicklungsbericht‘ zu schreiben, wählt Paula einen Zwischenschritt über ihr schwarzes A4-Buch.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Beteiligten in dieser Sequenz induktiv Informationen über den Adressaten sammeln und den Fall damit anreichern. Es werden Besonderheiten zum Adressaten zusammengetragen, ohne dass Paula in die Ausführungen der Beteiligten eingreift. Nach dem Austausch über die Reduktion der Arbeitszeit und Paulas Erläuterungen zum Fahrdienst kommt die Gruppe zu dem Schluss, dass eine Reduktion befürwortet werden sollte. Die Verantwortlichkeiten für die anstehenden Arbeitsaufgaben, wie beispielsweise das Attest, bleiben am Ende der Diskussion allerdings noch ungeklärt. Stattdessen lenkt Paula die Diskussion in eine andere Richtung.

                  Direkt im Anschluss bindet Paula Richard das erste Mal mit ein. Er saß bislang ruhig am Tisch und gab keinen Ton von sich. „Welche Veränderung hast du wahrgenommen“ erkundigt sich Paula bei ihm. Richard erzählt mit leicht stotternder Stimme, als ob er aufgeregt wäre, dass der Adressat sich mit einer anderen Beschäftigten angefreundet habe. „Was macht er eigentlich bei ihnen“ unterbricht Frau Y Richard. „Wie meinen Sie das, welche Arbeitsaufträge oder sonst so“ fragt Richard nach. „Ach alles, auch sonst so“ wirft ihm Frau Y an den Kopf. Richard, sichtlich verunsichert, setzt den Bericht über Herrn X fort. Frau Y macht sich auf einem weißen A4-Blatt zwischendurch Notizen; ebenso Paula in ihrem A4-Notizheft. Herr P fädelt sich ab und an in den Bericht ein und erzählt von den Vorlieben des Herrn X. Gleiches tut Frau Y. Alle drei erzählen sich anschauliche und belustigende Geschichten, was Herr X mag und was nicht. Bei dem Thema Laktoseintoleranz verweilen alle plötzlich länger. Zusammen diskutieren sie, ob überhaupt eine Laktoseintoleranz bestünde. Richard zweifelt deutlich daran, dass der Adressat nach dem normalen Mittagessen in den letzten Wochen kaum Probleme hätte. Er „führt jeden Tag ab“ meint er. „Gibt es eigentlich von dem zentraler Catering laktosefreies Essen“ fragt er in die Runde. Herr P ergreift schnell das Wort. Bei ihnen im Wohnen bestellen sie immer laktosefrei, das „geht auch in der [Name Großküche]“. In AsTro haben sie die Möglichkeiten. „In unserem Programm kann ich nur das normale Essen bestellen. Da muss ich mal bei der [Name Großküche]anrufen“ meint Richard. „Aber wenn Herr X jeden Tag abführt, dann besteht vielleicht keine laktoseintoleranz. Wir sehen nur in unserem System ‚Hat 3 Tage nicht abgeführt‘. Dann rufen wir in der Werkstatt an und hören, hier führt er jeden Tag ab“. Kurz tritt Stille ein. Paula ergreift das Wort und will die Runde beenden. „Gibt es noch Fragen, Anmerkungen“. Keine. Umgehend beschließt Paula die Sitzung mit den weiteren Arbeitsschritten. Als Sozialdienst brauche sie ein Attest wegen der Fahrzeiten. Das müsse organisiert werden. Herr P und Frau Y stimmen ihr zu und signaliseren, dass sie sich darum kümmern würden. Paula gibt allen am Ende noch mit auf dem Weg, dass sie den Bericht nach Abschluss an alle schicken würde. (Beobachtung_15022022, Pos. 18)
                
Nach einer Erörterung der Thematik bezüglich der Reduzierung der Arbeitszeit und dem Austausch von Informationen wird die Moderation des Gespräches von Paula fortgeführt und eine offene Frage an Richard gerichtet, welche Veränderungen er wahrgenommen hat. Bislang hatte sich Richard nicht in das Gespräch eingebracht. Er berichtet aus dem Arbeitsalltag des Adressaten, als er plötzlich von Frau Y unterbrochen wird. Frau Y bringt Richard mit der Frage „Was macht er eigentlich bei Ihnen?“ aus dem Erzählfluss. Überrascht von dem Einwurf fragt er zunächst bei Frau Y nach, worauf die Frage im Kern zielt. Frau Y entgegnet ihm, dass sie sich für „alles“ interessiert. Die Fragestellung zielt auf das Wissen des Gruppenmitarbeiters über die betreffende Person ab, was durch die von Frau Y während der Beantwortung durch Richard vorgenommene Notiz unterstrichen wird. Frau Y übernimmt dadurch auch für einen kurzen Moment die Moderation, indem sie zunächst Richard in seinem Erzählfluss unterbricht und dann eine offene Frage stellt.
In dieser Sequenz wird erkennbar, dass keiner der menschlichen Partizipanten ihre Sichtweise gegen konkurrierende durchsetzen kann, sondern dass es sich auf der materiellen Ebene des Geschehens um einen losen Austausch über den Adressaten handelt. Außer Paula positionieren sich alle als Repräsentanten des Adressaten und berichten über ihren jeweiligen Alltag mit ihm. Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang Frau Y, die in ihrer Funktion als Teilhabemanagerin keinen Berufs- oder Wohnalltag des Adressaten mitgestaltet. Richard und Herr P tragen fallbezogenes Wissen in die Diskussion ein, wobei sich herausstellt, dass dieses Wissen selektiv ist, wie die Diskussion über die Laktoseintoleranz zeigt. Herr P postuliert, dass beim Adressaten eine Laktoseintoleranz vorzuliegen scheint und berichtet, dass der Adressat in der Wohneinrichtung teilweise über einen Zeitraum von mehreren Tagen keine Defäkation zeigt. Demgegenüber erläutert Richard, dass der Adressat in der Werkstatt jeden Tag abführt und sie deswegen nicht von einer Laktoseintoleranz ausgehen. Hierin konkretisiert sich, dass beide Repräsentanten lediglich einen zeitlichen Ausschnitt vom Alltag des Adressaten erleben. Auf der Grundlage des zeitlichen Zuschnitts manifestieren sich bei den beiden Beteiligten divergierende Einschätzungen bezüglich des Adressaten. Hierbei tritt der Adressat nicht als ganze Person in Erscheinung, sondern „nur bruchstückhaft entsprechend den Relevanzstrukturen der behandelnden Institutionen“ (Nadai 2012: 156).
Die Art und Weise der Interaktion zwischen den Beteiligten während des Entwicklungsgespräches legt nahe, dass die Funktion in dem Austausch von Informationen und in der Sammlung von Erkenntnissen liegt. Keiner der menschlichen Partizipanten stellt die Ausführungen der anderen in Frage. Während es im ersten Teil der Besprechung um ein konkretes Anliegen ging – die Notwendigkeit einer Arbeitszeitreduktion – ist der Modus Operandi in der zweiten Hälfte der Besprechung das offene Sammeln von Alltäglichkeiten und Vorkommnissen im Hinblick auf den Adressaten.
Auffällig beim Austausch der Beteiligten ist, dass sie die Veränderungen am Körper des Adressaten festmachen. Richard berichtet, wie oft der Adressat Stuhlgang hat, welche Nahrung er zu sich nimmt und ob er an Laktoseintoleranz leidet. Anstatt die gesamte körperliche Entwicklung zu thematisieren, konzentrieren sich alle auf die Intoleranz, die anhand der Ausscheidungen festgestellt bzw. in Frage gestellt wird. In der Sequenz materialisiert sich das körperbezogene Wissen, über das Richard und Herr P in Bezug auf den Adressaten verfügen. Sie verfügen über die Kenntnis der Frequenz und Zeitpunkte, zu denen der Adressat ausscheidet, sowie der manifesten Veränderungen. Diese Erkenntnisse sind nur durch eine kontinuierliche Überwachung des Klientenkörpers im Alltag zu erlangen. Dass „Dann rufen wir in der Werkstatt an“ verdeutlicht zudem, dass der Adressatenkörper auch Gegenstand direkter telefonischer Kommunikation zwischen Wohneinrichtung und Werkstatt ist2. In dem Entwicklungsgespräch erscheint der Körper fragmentiert, er taucht allein in seinen einzelnen Facetten, wie der Ausscheidung, auf (Nadai 2012: 156). In Konvergenz zur linearen und zeitlichen Entwicklung, die die materiellen Eigenschaften des Artefaktes nahelegen, tauschen die Beteiligten Informationen über eine temporäre, körperliche Veränderung miteinander aus; ohne jedoch auf das Artefakt sprachlich zu referieren.
Insgesamt diskutieren die Beteiligten einerseits den körperlichen Entwicklungsprozess – zumindest in Hinsicht auf dessen Laktoseintoleranz – des Adressaten und tauschen andererseits Anekdoten über dessen Alltag aus. Paula interveniert in das Erzählen nicht moderativ, fertigt gelegentlich Notizen an und beendet die Sitzung nach einigen Minuten plötzlich, ohne dass ein Konsens unter den Anwesenden über die Entwicklung zustande gekommen wäre. Veränderungen werden zwar dargestellt, aber kaum miteinander zu aggregierten Aussagen in Übereinstimmung gebracht. Im Sinne von Star (2004) stellt ein Konsens unter den Personen auch keine notwendige Bedingung dar, um erfolgreich zu kooperieren. Für heterogene Welten ist „Konsens […] für Kooperation und für erfolgreiches Arbeiten nicht notwendig“ (Star 2004: 66). Obwohl oder gerade weil die sozialen Welten der Anwesenden voneinander abweichen (der Adressat befindet sich mit Herrn P im Wohnbereich und mit Richard in der Werkstatt) und das Wissen über die Bereiche der jeweils anderen kaum vorhanden ist, ist eine Kooperation der Anwesenden ohne Konsens möglich (Star 2004: 69). Sie können das, weil, wie Star treffend feststellt, sie „Objekte schaffen, […] die plastisch genug sind, um sich an die lokalen Bedürfnisse und constraints der sie verwendenden Parteien anzupassen, aber auch robust genug, um eine gemeinsame translokale Identität zu bewahren“ (ebd.). In dieser Sequenz nimmt das digitale Artefakt die Funktion eines impliziten Akteurs ein. Es ist dabei kein adressierter Gegenstand, sondern lediglich ein impliziter, der allen Anwesenden bekannt ist. Paula bemerkt am Ende selbst, dass alle den Bericht erhalten würden. Welche Rolle das Artefakt in den einzelnen Praktiker:innengemeinschaften spielt, wie er angepasst oder verwendet wird, das lässt sich in der nachfolgenden Analyse rekonstruieren – ausgeschlossen davon ist jedoch der Wohnbereich, den ich im Rahmen der Untersuchung nicht begleiten konnte.

10.3 Zurichten – oder das Verfassen des Berichtes

In der weiteren Analyse wird dem Artefakt in seinem Fertigungsprozess gefolgt. Bislang liegen vorangegangene Versionen des Berichtes über den Adressaten sowie die Vorlage vor. Anstatt auf die unausgefüllte Vorlage zurückzugreifen, entstehen die neuen Berichte zumeist aus den älteren. Demgemäß findet die unausgefüllte Vorlage nur selten Anwendung, da bei der Mehrheit der Adressat:Innen mindestens ein älterer Bericht vorliegt. Verantwortlich für die Erstellung des Berichtes ist der Sozialdienst. Die Aufgabe des Sozialdienstes umfasst das Abtippen des Berichts und die Weiterleitung an die Werkstattgruppe. Sobald die Werkstattgruppe den überarbeiteten Bericht an den Sozialdienst zurückgibt, wird dieser von dort an alle Beteiligten weitergeleitet. In der oben dargelegten Szene sind dies der Wohnbereich und die Teilhabemanagerin. Schließlich wird der Bericht am Ende an den Kostenträger gesendet.
Nachdem die Analyse des Entwicklungsgespräches gezeigt hat, wie die Verhandlung über den Adressaten stattfindet, welche Themen im Fokus stehen und wie die Entwicklung des Klientenkörpers diskutiert wird, soll nun der nächste Schritt in dem Formierungsprozess untersucht werden. Das letztendliche Produkt ‚Entwicklungsbericht‘, der dem Kostenträger zugesandt wird, ist das Resultat von vielen Übersetzungen, an deren Ende die verschiedensten Zwischenschritte, wie der Weg über das Notizbuch, unsichtbar gemacht werden. „This is a unit of analysis describing the transformations and use of representations over time that result from this central tension, considered both with respect to technical information content and work organization“ (Star 1995: 91). Der Fall repräsentiert sich in den Formulierungen des Berichtes. Für Einrichtungen wie den Werkstätten sind Berichte laut Lau und Wolff (1981) „normierte Chiffren für Realität: Als solche kann man sie weiterleiten, ohne Mißverständnisse befürchten zu müssen“ (ebd.: 202). Für die empirische Forschung handelt es sich um „Fiktionen“ (ebd.: 208). Es geht bei den Formulierungen, die Paula in der folgenden Szene vornimmt, nicht um Attribute wie ‚richtig‘ oder ‚falsch‘. „Ihre relative Bedeutung liegt in der Tatsache begründet, dass sie ‚gelten‘“ (ebd.). Aufgrund der besseren Lesbarkeit soll die Szene in einzelnen Episoden dargestellt und analysiert werden. Paula befindet sich in ihrem Büro Aufgrund der Abwesenheit von Terminen zu dieser Tageszeit ergibt sich ein freier Zeitslot, der von Paula für die Formulierungen des Berichts genutzt wird.

                Paula hängt in ihrem Bürostuhl mit der Tasse Kaffee in der Hand vor dem Bildschirm, neben sich ihr schwarzes A4-Buch und sinniert vor sich hin. „Boah, Konstantin, ich habe keinen Bock“ mault sie den Bildschirm an. Dann zieht sie sich an den Schreibtisch heran, löscht einen Satz des alten Berichtes und lässt sich wieder nach hinten fallen. „Dieser Bericht, was da drin steht“ bemerkt sie. „Wieso, was denn“ frage ich nach. „Der ist von einem früheren Sozialarbeiter und der schreibt sowas wie ‚Will gerne abnehmen, hat aber Probleme, Nein zu sagen, wenn es um den Nachschlag oder Süßes geht‘. Das kann der doch nicht schreiben“. Demonstrativ zieht sie sich wieder an den PC heran und löscht den Satz. Anstatt zu wachsen, schrumpft der Bericht immer weiter. Schritt für Schritt werden einzelne Sätze gelöscht, aber keinen neuen ergänzt. Nach knapp 10 Minuten, in denen sich ein Schlürfen am Kaffee und das Löschen von Sätzen abwechseln, bleibt ein rudimentärer Korpus von einzelnen Einleitungssätzen übrig. (Beobachtung_28042022, Pos. 5)
              
Eine mögliche Strategie zur Erstellung des Berichts könnte darin bestehen, auf den älteren Bericht zurückzugreifen, der in der Szene zuvor als „veraltet“ bezeichnet wurde. Ein Großteil der Sätze, die im alten Bericht auftauchen, löscht und verwirft Paula. Als Begründung wird angeführt, dass die Sätze nicht für einen Entwicklungsbericht geeignet sind. Hieran verdeutlicht sich, dass es zwischen den Sozialarbeiter:innen keinen Standard gibt, was als relevant gilt und welche Formulierungen in einen Bericht gehören. Ihr Vorgänger hat Dinge geschrieben, die Paula als deplatziert oder unrelevant markiert: Ein Satz wie „will gerne abnehmen, hat aber Probleme Nein zu sagen“ klassifiziert sie als „Das kann der doch nicht schreiben. Es kann festgehalten werden, dass Paula ohne ein implizites Verständnis von richtiger Dokumentation nicht in der Lage wäre, eine solche Bewertung abzugeben. Daraus lässt sich ableiten, dass sie gegenüber dem Entwicklungsbericht eine normative Haltung besitzt. Aufgrund seiner materiellen Beschaffenheit erlaubt das Artefakt eine heterogene Dokumentationsweise und bietet durch seine Offenheit und Plastizität den menschlichen Partizipanten Freiraum für die Formulierungen. Die Offenheit als Affordanz wird von Paula einerseits mit hervorgebracht und andererseits als Herausforderung erlebt. Mit ihrem praktischen Know-how entscheidet sie in Auseinandersetzung mit dem älteren Bericht, was des neuen Berichtes würdig ist. Hierbei ist eine besondere Kompetenz gefordert, die es Paula ermöglicht, ihre Erinnerungen an das Entwicklungsgespräch, die Notizen und den alten Bericht zu integrieren und so eine „narrative Logik“ (Bergmann 2014: 30) zu schaffen.
Von der Materialität des Artefaktes aus ist die Darstellung einer Entwicklung vorstrukturiert. In dem alten Bericht lässt sich die Beschreibung einer zeitlichen Veränderung erahnen. Diese Veränderung wird, wie schon an dem Entwicklungsgespräch zuvor, am Adressatenkörper – „Will gerne abnehmen, hat aber Probleme Nein zu sagen“ – festgemacht und hergestellt. In der Auseinandersetzung mit dem alten Bericht findet ein Zwiegespräch zwischen Paula und dem Artefakt statt: Der alte Bericht gibt Sätze vor, die von Paula einzeln geprüft und gegebenenfalls verworfen werden. Während das Entwicklungsgespräch mit mehreren menschlichen Partizipanten stattfand, bleibt ihr in der situativen Praxis allein der alte Bericht, neben ihren Notizen, als Ko-Partizipant. Allerdings scheint die Zusammenarbeit zwischen Paula und dem Artefakt problematisch zu sein, was durch das Hadern und Pausieren angezeigt und von der Aussage „keinen Bock“ unterstrichen ist. Dass sie mit ihren eigenen Formulierungen hadert, zeigt sich in der anschließenden Episode.

                Paula fläzt weiter in ihrem Bürostuhl und blickt für einen kurzen Moment in ihr schwarzes Buch und starrt auf den Bildschirm. „Ich weiß echt nicht, was ich schreiben soll“ bemerkt sie. Gedankenversunken minimiert sie den Bericht, geht auf einen Ordner und öffnet eine Word-Datei mit Satzbausteinen, die in Entwicklungsberichten verwendet werden können. Sie scrollt langsam nach unten. Für jede der drei Spalten in dem Bericht gibt es ein entsprechendes Äquivalent im Satzbauzettel. Sie scrollt bis zur zweiten Spalte und liest. Nach wenigen Sekunden wechselt sie wieder zum Bericht und tippt einen Satz. Erneut lehnt sie sich zurück und nimmt einen Schluck Kaffee. Wir kommen ins Gespräch über ein anderes Thema. Der Bericht liegt brach; für weitere 10 Minuten. Erst dann tippt sie wieder an einem Satz herum. Rhythmisch macht sie Pause und setzt dann ihren mühsamen, angestrengten Schreibprozess fort. Für nicht einmal fünf Sätze braucht sie knapp 30 Minuten. Zugegeben, zwischendurch unterhalten wir uns über Nebensächliches. Wie sie mir erklärt, kommen ihr die Sachen „Plump“ oder „banal“ vor. Sie „weiß nicht, was sie zu den Beschäftigten schreiben soll“. Es geht noch einige Minuten so weiter, bis Paula in allen Spalten etwas geschrieben hat. Sie klickt auf Speichern (Beobachtung_28042022, Pos. 5)
              
Paula ringt in der Sequenz damit, passende Formulierungen zu finden, die sie in das digitale Artefakt eintragen kann. Die Tatsache, dass sie ihren Bildschirm fixiert, in regelmäßigen Abständen Pausen einlegt und dabei ratlos wirkt, deutet darauf hin, dass es für sie eine Herausforderung darstellt, angemessene Formulierungen zu finden und eine adäquate Narration über den Adressaten zu konzipieren. Durch ihre fläzende Körperhaltung positioniert sie sich weit weg vom Bildschirm und vom geöffneten Bericht, womit sie eine Distanz zwischen sich und dem digitalen Artefakt performativ herstellt. Diese Distanzierung materialisiert sich auch in ihren sprachlichen Äußerungen: Die geschriebenen Sachen kommen ihr „plump“ und „banal“ vor. Darin konkretisiert sich, dass sie eine normative Vorstellung von einem guten Bericht hat.
Obwohl es in der Einrichtung keine formalisierten Regeln für die Erstellung des Entwicklungsberichtes gibt, ist es für Paula wichtig, dass dieser ihren impliziten Anforderungen entspricht. Die Tatsache, dass es keine verbindlichen Regeln für die Erstellung des Berichts gibt, wird durch die Satzbausteine deutlich, die Paula in der Mitte der Sequenz verwendet. Die Satzbausteine bieten Hilfestellungen, definieren jedoch nicht, welche Inhalte gefordert oder verboten sind. Wie in der Artefaktanalyse deutlich wurde, gibt das digitale Artefakt ‚Entwicklungsbericht‘ – abgesehen von drei Überschriften – keine Strukturierung der Narration vor. Die Spalten sind in ihrer Materialität interpretationsoffen und können von den Nutzenden situativ angepasst werden. Es liegt in Paulas Verantwortung und Know-how, einen Bericht zu erstellen, der ihren impliziten Normvorstellungen entspricht. Um dies zu erreichen, greift sie auf Formulierungshilfen zurück. Die von Paula zur Hilfe gezogenen Formulierungshilfen können sodann als Forminvestitionen betrachtet werden.
„Der Begriff Forminvestition betont die Behandlung von Menschen und Dingen in Formen, welche dazu dienen, sie durch die Herstellung von Äquivalenzen auf einer gewissen Ebene der Allgemeinheit zu halten. In solchen Fällen werden allgemeine Charakterisierungen, Klassifikationen und Standards in materiellen Begrifflichkeiten auf der Basis von kostspieligen Operationen vorgenommen, die Menschen oder Dingen Formen verleihen und – um einen gewissen Preis – spätere Koordinierungen, die auf diesen formvollendeten Wesen beruhen, erleichtern“ (Boltanski/Thévenot 2014: 21, Fußnote 3).
Die abstrakte Beschreibung von Boltanski und Thévenot bietet wichtige Anknüpfungspunkte für technografische Studien wie diese. Paula greift auf eine Forminvestition zurück, anstatt sich mit der Unbestimmtheit des Berichts auseinanderzusetzen. Die Formulierungshilfen enthalten Satzbausteine, die die Sozialarbeiter:innen gesammelt und zusammengestellt haben. Diese Satzbausteine haben sich im Laufe der Jahre bewährt, da sie zu keinem Zeitpunkt von den Kostenträgern beanstandet worden sind. Insofern handelt es sich bei den Sätzen um bewährtes Wissen, „das als Ergebnis vorhergehender Prüfungen angesehen werden kann“ (Potthast 2001: 553). „Wissen wird so auf der Ebene des Unternehmens formatiert und zu In-Formation, es ist damit nicht mehr im Besitz einzelner Akteure“ (Diaz-Bone 2009: 272). Die vorliegende Formulierungshilfe stellt eine Forminvestition dar, da eine vorangegangene Investition – in Form der Arbeitszeit von Sozialarbeiter:innen – erforderlich war, die sich der Erstellung widmen mussten und folglich Ressourcen dafür aufwendeten. Alle Mitarbeitenden des Sozialdienstes haben Zugang zu diesen Formulierungshilfen.
Die Forminvestition kann von den menschlichen Partizipanten genutzt werden, um die Unbestimmtheit und Offenheit des Berichts zu reduzieren. Anstatt das eigene Know-how zu aktivieren und den Bericht in eine narrative Logik zu bringen, delegiert Paula zumindest teilweise ihre Tätigkeit des Berichterstellens an diesen nicht-menschlichen Partizipanten. Zur Veranschaulichung der Formulierungshilfen möchte ich einige dieser Sätze darstellen. Diese beziehen sich ausschließlich auf die erste Spalte >Darstellung des Hilfebedarfes< (siehe Abschnitt 10.1):
  • Unterstützung beim Einhalten der Arbeitszeiten
  • Unterstützung bei der Wahrnehmung der Pausenzeit
  • Unterstützung bei durchzuführenden Arbeiten
  • Unterstützung bei der Regulierung des hohen Gesprächsbedarfes
  • Unterstützung bei der Mittagsversorgung
  • Unterstützung bei der Integration in die Arbeitsgruppe
(Quelle: Auszug aus dem Artefakt „Formulierungshilfen Entwicklungsbericht“)
Die Spalte >Darstellung des Hilfebedarfes< ist in dem digitalen Artefakt ‘Entwicklungsbericht‘ offen formuliert, sodass es in dem Artefakt keine weiteren Hinweise, Richtlinien oder Leitplanken gibt, wie und in welchem Umfang der Hilfebedarf geschildert werden soll. Zur Unterstützung nutzt Paula nun die Formulierungshilfen. Obwohl sie weiterhin ihr Wissen nutzen muss, um eine narrative Logik zu formulieren, bieten ihr die Formulierungshilfen Anregungen und Orientierungspunkte. Sie können mittels Copy-and-Paste in den digitalen Bericht eingefügt und anschließend individualisiert werden. Obgleich die Praxis mittels der zur Verfügung stehenden Formulierungshilfen in eine Ordnung gebracht wird, ist an ihrer Produktion ein komplexes Gefüge beteiligt, in dem Paula aufgrund ihres Wissens und ihrer Rolle eine exponierte Stellung innehat. Im Rahmen des Entwicklungsgespräches wurde die Gruppe als Einheit betrachtet, während die Erstellung des Berichts eine individuelle Aufgabe für Paula darstellte. Es mangelt ihr an einem Dialogpartner, mit dem sie den Bericht gemeinsam verfassen kann. Die bereitgestellten Formulierungshilfen sind in diesem Kontext nicht in der Lage, diese Lücke zu schließen.
Es wird an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen, was für ein Wissen in dem digitalen Artefakt gelandet ist und welche Narration konstruiert wurde. Dies wird erst in der nachfolgenden Sequenz deutlich. Bislang wurden bereits mehrere Schritte zur Formierung unternommen: Im Rahmen des Entwicklungsgesprächs haben die Beteiligten Informationen zusammengetragen, die durch die Veränderungen im Alltag des Adressaten identifiziert werden konnten. Der Bericht wurde im Anschluss von Paula allein in den Räumlichkeiten des Sozialdienstes verfasst, wobei sie auf die Formulierungshilfen zurückgriff. Am Ende der dargestellten Szene liegt ein Bericht vor, der jedoch noch nicht seine endgültige stabile Form erreicht hat und weiterbearbeitet wird. Mit der folgenden Analyse will ich dem Bericht weiterfolgen und die vielen kleinen Schritte betrachten, mit denen Informationen immer wieder neu übersetzt und stabilisiert werden (Gießmann 2017: 163).

10.4 Konservieren und Validieren des Berichtes

„Mit dem Konservieren wird der Fall gegen weitere Bezweiflung und abweichende Lesarten abgedichtet, um von hier die nächsten Schritte der Fallprozessierung einzuleiten“ (Bergmann 2014: 31). Nachdem in den vorangestellten Praktiken die zunehmende inhaltliche Ausgestaltung des digitalen Artefakts rekonstruiert werden konnte, schließt sich eine weitere Praktik an, in der das Artefakt integriert ist. Hierbei handelt es sich um eine Konservierungspraktik, das heißt, die Fallformulierungen werden durch den Adressaten validiert und dadurch die Lesarten stabilisiert. Der Bericht mit seiner Falldarstellung erfährt damit eine Schließung.
Die nachfolgende Sequenz ereignete sich an einem Tag, an dem Richard mit mir im Büro saß. Richard hatte ein paar Tage zuvor den Adressaten darüber informiert, dass dieses Gespräch auf beide zukommt, und mich zu dem Gespräch eingeladen.

                Auf dem Bildschirm sehe ich das Hauptmenü des Programmes. Richard ist eingeloggt. Er klickt in der Sparte Rehabilitation auf ein Unterfeld um mit einem weiteren Klick zu dem Bericht durchzudringen. Dann druckt er sich die angezeigte Seite aus, faltet das Blatt in der Mitte und gibt das Kommando zum Losgehen. Hanno, mit dem das Gespräch stattfinden soll, steht schon an der Bürotür und erwartet uns. Wir verlassen den Gruppenraum und Richard führt uns schnellen Schrittes in einen der Konferenzräume(Beobachtung_14072021, Pos. 12)
              
Die Sequenz beginnt mit der Vorbereitung auf ein Reflexionsgespräch zwischen Richard und Hanno. Inhalt des anstehenden Gespräches ist das Artefakt mit seinem Inhalt. Die Vorbereitung erfolgt in einem Gruppenbüro einer Werkstatt. Richard sitzt allein vor dem Computer und nutzt seine Zugriffsrechte, um Einblick in das Artefakt zu bekommen. Dadurch ist ihm bereits vor dem eigentlichen Gespräch möglich, die Inhalte zu lesen. Bevor das Gespräch stattfindet, druckt er den Bericht als Vorbereitung aus. Ähnlich wie in anderen Praktiken zuvor, zeigt sich, dass Hanno von dieser Vorbereitung ausgeschlossen ist. Hanno wartet vor dem Büro auf Richard, während dieser sich den Bericht ausdruckt. Die Faltung des gedruckten Artefakts exkludiert Hanno und alle anderen Außenstehenden. Von außen ist keine Zeile mehr lesbar. Dies resultiert in einer Diskrepanz zwischen Richard, der vorbereitet ist und über spezifisches Wissen hinsichtlich der Artefaktinhalte verfügt, und Hanno, für den das Artefakt eine Blackbox darstellt. In diesem Moment befindet sich Hanno in einer paradoxen Situation: Einerseits ist er aufgrund der Offenlegung seiner körperlichen Veränderungen in der vorliegenden Berichterstattung eingeschlossen, andererseits ist er aufgrund seiner fehlenden Zugänglichkeit zu diesen Informationen ausgeschlossen.
Für das Gespräch wählt Richard einen anderen Ort als das Gruppenbüro. Eine Räumlichkeit abseits des normalen Gruppenalltags wird gewählt. Die beiden Beteiligten müssen die Gruppe verlassen und sich zu einem als Konferenzraum adressierten Raum begeben.

                An der rechten Seite des Raumes steht ein gigantischer Fernseher, der an der Wand montiert ist. Auf einem schmalen Tisch davor ein Laptop. Beide sehen aus wie neu. Wir setzen uns an die Tischformation, die ein Trapez bildet. Hanno zuerst, Richard daraufhin ihm gegenüber. Ich sitze an der Stirnseite und kann auf beide blicken. Richard packt seinen gefalteten Zettel aus der Hosentasche und blickt starr darauf (Beobachtung_14072021, Pos. 12).
              
Die Platzierung der Körper fällt als Erstes auf. Anstatt nebeneinander zu sitzen und den Bericht gemeinsam zu betrachten, nimmt Richard eine gegenüberliegende Position zu Hanno ein. Durch diese Sitzanordnung ist es für Hanno unmöglich, einen Einblick in den Bericht zu bekommen. Die technischen Möglichkeiten in Form des Fernsehers und Laptops, die eine Transparenz hätten schaffen können, bleiben ungenutzt. Stattdessen liegt das Artefakt in analoger Form vor und wird nur für Richard sichtbar ausgebreitet, wodurch eine Exklusivität erzeugt wird. Richard entscheidet selbst, welche Teile er aus dem Bericht herausnimmt. Durch die gegenüberliegenden Sitzpositionen entsteht eine spezifische Körper-Artefakt-Raum-Ordnung, die Hanno von dem Artefakt und dessen Inhalt ausschließt.

                Dann beginnt Richard das Gespräch damit, dass er gestern zusammen mit Paula den Text nochmal durchgegangen ist und ihn heute „gemeinsam mit ihm durchgehen“ will. Der Bericht ist so strukturiert, dass in der obersten Spalte Name, Geburtsdatum und Geburtsort vermerkt waren. In der Zeile danach, die den weitaus größten Teil bildet, ist ein Freifeld, in dem sich ein langer Text befindet (Beobachtung_14072021, Pos. 12).
              
Interessant ist zunächst der erste Teil der Sequenz. Richard berichtet davon, dass er zusammen mit der Sozialarbeiterin den Bericht durchgegangen ist. Diese Aussage impliziert nicht, dass beide den Bericht gemeinsam verfasst haben und ihn Wort für Wort gegenseitig überprüft haben. Eine solche Praxis findet sich weder in den Feldprotokollen noch in den Interviewtranskriptionen. Mit der vorliegenden Aussage wird ein spezifisches Szenario adressiert: Wie bereits dargelegt, wurde der Bericht von Paula in ihrem Büro verfasst. Der Entwurf wurde gespeichert und anschließend, wie von verschiedenen Seiten bestätigt wurde, eine E-Mail an Richard geschrieben, in der mitgeteilt wurde, dass ein Entwurf des Berichts abgespeichert vorliegt. Im Anschluss kontrollierte Richard diesen Entwurf in seiner digitalen Form und gab Rückmeldungen an die Sozialarbeiterin. Dies bedeutet, dass die Sozialarbeiterin und die Gruppenmitarbeiter:innen autonom von verschiedenen Orten aus an dem Bericht gearbeitet und sich im Anschluss über die Formulierungen ausgetauscht haben. Charakteristisch für ein Grenzobjekt ist die sukzessive Arbeit verschiedener Akteure in verteilten Räumen und zu verteilten Zeitpunkten.
Vor dem Hintergrund dieser Prozedur wird deutlich, dass die Formulierungen weiter stabilisiert wurden. Der Berichtsentwurf wurde Richard zur Verfügung gestellt und von ihm vor dem eigentlichen Reflexionsgespräch mit Hanno kontrolliert. Die Formulierungen wurden validiert und gegebenenfalls angepasst. In dieser ersten Konservierungspraxis spielt die Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit der Formulierungen eine wichtige Rolle. Richard berichtet über den Kontakt mit der Sozialarbeiterin bezüglich des Berichts. Hanno war zu keinem Zeitpunkt in das Verfahren involviert und wird sprachlich nicht als Partizipant adressiert. Aufgrund seiner fehlenden Beteiligung und des fehlenden digitalen Zugriffs auf die Informationen konnte Hanno weder auf das Ergebnis noch auf die Erstellung des Berichts aktiv Einfluss nehmen. Er wurde während der gesamten Erstellung von anderen repräsentiert und diente als Objekt, über das im Artefakt Informationen zusammengetragen wurden.
Diese spezifische Form der Adressierung setzt sich in der räumlich-körperlichen Anordnung fort. Richard entscheidet, was er für Hanno sichtbar macht und wie er ihn in die Reflexion integriert. Allerdings bedeutet dies nicht, dass Hanno über die gesamte Zeit hinweg lediglich passiv ist. Vor dem Hintergrund der praxissoziologischen Heuristik, die dieser Arbeit zugrunde liegt, soll auch für Momente der Widerständigkeit und des Entzugs sensibilisiert werden. Genau dieser Widerstand gegen die Adressierung Richards wird im weiteren Verlauf deutlich.

                Als Erstes nimmt sich Richard die große Freizeile mit dem darin enthaltenen Text vor. Die erste Zeile klingt wie ein Schlag. „Hanno hat eine geistige Behinderung und eine Epilepsie“. Stille. Der Satz schwebt durch den Raum. Hanno schüttelt ablehnend und vehement den Kopf. Richard versucht den Satz als Reaktion auf Hannos Ablehnung zu rechtfertigen. Es sei doch „eine Tatsache“, dass er eine Epilepsie habe, meint er. Stille. Richard fährt mit dem Bericht fort (Beobachtung_14072021, Pos. 12).
              
Zunächst wird in der Szene ersichtlich, welche exponierte Rolle dem Artefakt in dem Gespräch performativ zukommt und hervorgebracht wird. Richard bindet es als Strukturmoment in die Praxis mit ein, indem er es Satz für Satz vorliest. Dadurch erhält das Gespräch den Charakter einer Validierung. Es hat – zumindest in seiner Materialität – die Funktion, das Artefakt und dessen Inhalte zu beglaubigen. Die Validierung verläuft jedoch nicht wie ein Dialog zwischen Gleichberechtigten, stattdessen übernimmt Richard die Führung und verliest, vergleichbar mit einem Gerichtsprozess, die Anklageschrift.
Die Inhalte des Artefakts, zumindest das, was Richard bis hierher vorgelesen hat, adressieren Hanno als „geistig Behinderten“. Bei dieser Adressierung spielt die Zugehörigkeit zu Kategorien der Humandifferenzierung (Hirschauer 2014) eine wesentliche Rolle. Hanno wird als behindert klassifiziert, was im Rahmen einer WfbM paradox anmutet. Denn um in einer WfbM zu arbeiten, müssen bereits an anderen Stellen Klassifikationsprozesse stattgefunden haben, die Hanno als ‘behindert‘ etikettieren. Warum taucht also diese Humandifferenzierung an dieser Stelle abermals auf? Ist das nicht eine erforderliche Bedingung, um in diesem Setting arbeiten zu können?
Die Antwort ergibt sich aus der Leserschaft der Artefaktinhalte. Der Bericht wird weder von den Adressat:innen mitgeschrieben, noch ist er für die Adressat:innen selbst geschrieben. Wie in Abschnitt 10.1 dargelegt, orientiert sich das Artefakt an den Kostenträger der Werkstätten. Dies zeigt sich in der Materialität und dem Inhalt des Artefaktes. Der Bericht richtet sich somit nicht an einen spezifischen Leser wie Hanno, sondern an den impliziten und unbekannten Lesern im jeweiligen Kostenträger, denen die ICD-Klassifikation des Adressaten vor Augen geführt wird.
Hanno wehrt sich gegen die Klassifikation und die an ihn gerichtete Adressierung, indem er vehement den Kopf schüttelt. Sein Kopf-Schütteln kann als eine Form der Subversion charakterisiert werden. Subversionen, sprich das Unterwandern, vollziehen sich in teils unauffälligen Formen des Negierens, Ignorierens, Infragestellens oder auch Ironierens von Adressierungen bzw. von Praktiken (Bröckling 2007: 46 f.). Richard verteidigt den Satz und verweist darauf, dass seine Behinderung eine „Tatsache“ sei. Für Richard ist Hannos Behinderung eine körperliche Gegebenheit, die nicht zur Disposition steht.
Das Artefakt und dessen Inhalte produzieren in Relationierung zu Richard und dessen Handlung eine spezifische, „geistig behinderte“ Körperlichkeit. Es wird ein Wissen über den Körper hergestellt, das als Tatsache in Erscheinung tritt und als nicht revidierbar markiert wird. Obwohl beide in diesem Punkt divergierende Standpunkte vertreten, werden keine Veränderungen am Inhalt des Berichts vorgenommen. Richard lässt den Satz stehen, wodurch die „Tatsache“ weiter stabilisiert wird. Hannos Versuch, seine geistige Behinderung in Frage zu stellen, scheitert an der Faktizität des Geschriebenen in Verbindung mit Richards Verteidigung. Es besteht letztendlich lediglich die Möglichkeit der Scheinpartizipation. Diese Ordnung setzt sich im weiteren Gespräch fort.

                Zeile für Zeile liest Richard den Text vor. Hanno hört aufmerksam zu, nickt ab und an, ansonsten bleibt er stumm. So lange, bis Richard eine Zeile aus dem Bericht vorliest. Richard berichtet, dass er und die Sozialarbeiterin der „Einschätzung“ sind, dass Hannos „Arbeitsleistungen schlechter geworden“ sei. Hier fällt Hanno ins Wort und widerspricht. Hanno insistiert, dass er gerne neue Inhalte macht“ und sich lieber die abwechslungsreiche „Kerzenproduktion“ zurückwünsche. Doch der Einwurf wird pariert mit dem bekannten „Das ist eine Tatsache“. Kurze Stille tritt ein. Richard lenkt dann aber doch teilweise ein und notiert sich, ganz unten auf dem Blatt, mit einem Sternchen an den gedruckten Text angeheftet, zwei kurze Sätze, die er laut, während er sie schreibt, vorliest. In den beiden ergänzten Sätzen geht es um den Bedarf, neue Arbeitsinhalte zu erlernen und auszuführen. Hanno nickt während des Schreibens zustimmend. Wort für Wort spricht Richard die Sätze aus. Danach liest Richard noch zwei weitere Zeilen vor. Nach 12 Zeilen ist Schluss. Gemeinsam gehen wir in den Gruppenraum bzw. das Büro. Richard setzt sich umgehend an den PC und schreibt eine Mail an die Sozialarbeiterin mit der Ergänzung.(Beobachtung _14072021, Pos. 12).
              
Erneut lässt sich erkennen, dass das Artefakt in seiner Materialität von Richard als strukturgebend hervorgebracht wird. Er weicht keine Sekunde lang von den Inhalten des Artefaktes ab, geht Zeile für Zeile die Inhalte durch und wartet ab, wie Hanno reagiert und welche Kommentare er zu dem Geschriebenen gibt. Im Zusammenspiel mit Richards Moderation und der Positionierung der Körper erhalten die Formulierungen in dem Bericht eine Robustheit und Stabilität. In der Sequenz taucht erneut die Figur der „Tatsache“ auf. Dieses Mal geht es nicht um Hannos Behinderung, sondern um seine schlechtere Arbeitsleistung. Anhand des Satzes „Arbeitsleistung ist schlechter geworden“ wird sichtbar, dass die Inhalte des Artefakts eine zeitliche Veränderung im Hinblick auf das Individuum und dessen Körper produzieren. Hannos Arbeitsleistung entspricht nicht mehr dem, was er – ohne eine konkrete zeitliche Angabe zu geben – früher geleistet hat. Anstelle eines externen Vergleichskriteriums agiert Hanno hier selbst als Vergleichshorizont und Vergleichsobjekt. Allerdings erfolgt diese Einschätzung nicht durch ihn selbst, sondern durch die Sozialarbeiterin und Richard. Hanno wehrt sich gegen diese Bewertung, doch zunächst ist sein Widerspruch gegen die Stabilität der „Tatsache“ aussichtslos.
Kurz darauf erkennt Richard die Berechtigung von Hannos Anliegen an, gibt dem Widerspruch Raum und markiert den entsprechenden Satz mit einem Sternchen. Allerdings reformuliert er den Inhalt nicht, sondern ergänzt ihn lediglich. Das typografische Zeichen in Form eines kleinen fünf- oder sechsstrahligen Sterns dient als Anmerkung und Verweis auf eine Fußnote, die normalerweise am Ende des Textes oder der Seite erscheint. In diesem Fall befindet sich das entsprechende Gegenstück zum Stern im Text am unteren Rand des Artefakts. Aus Sicht der materiellen Eigenschaften ist es nicht vorgesehen, Anmerkungen oder Kommentare in dem Artefakt zu machen oder Ergänzungen jenseits der Felder vorzunehmen. Richard greift daher auf einen Workaround zurück und notiert am Ende des Artefakts zwei Zeilen, die er später in den Bericht einfügen wird. Die Formulierung des ursprünglichen Inhalts wird nicht verändert und bleibt erhalten. Durch Beibehaltung der ursprünglichen Formulierungen wird der Text stabilisiert und Widerstände, die in den Gesprächen auftraten, ausgeschlossen. Das Ergebnis ist eine kohärente Narration, die von abweichenden Lesarten befreit wurde und die Stimmen der einzelnen Partizipanten ausgelöscht hat. Das Artefakt spielte dabei eine ko-konstitutive Rolle, denn es existieren keine Felder, mit denen die Vielstimmigkeit des Formierungsprozesses hätte abgebildet werden können. Am Ende taucht allein die Sozialarbeiterin als zurechenbare Autorin auf, welche den Bericht an den Kostenträger weiterleitet.
Der Charakter der Validierung ändert sich im Verlauf des Gesprächs nicht mehr grundlegend. Beide gehen Zeile für Zeile durch den Inhalt und am Ende bleibt jede Zeile unverändert bestehen. Die einzige zusätzliche Information ist, dass Hanno „gerne neue Inhalte lernt“. Die Adressierungen als geistig behindert oder als jemand mit nachlassender Arbeitsleistung bleiben weiterhin bestehen. Zudem ist es bemerkenswert, dass erneut Richard die Sätze bestimmt und ihren Inhalt und Wortlaut festlegt. Er übernimmt die Schreibführung, liest simultan sein Geschriebenes vor und weist Hanno die Rolle des Zuhörers zu. Obwohl diese Praxis eine Transparenz in Bezug auf die Informationen schafft, bleiben die Anmerkungen durch Richard vermittelt – er übersetzt sie in das Artefakt. Die späteren Verarbeitungsschritte, wie das Einpflegen der neuen Sätze und weitere Aushandlungen zwischen Richard und der Sozialarbeiterin, bleiben für die Adressat:innen unsichtbar und unzugänglich. Richard gibt die Ergänzungen an Paula weiter, die sie in den Bericht einpflegt, bevor er an den Kostenträger gesendet wird.

10.5 Zwischenfazit zur Fallbearbeitung

Die Literatur zur Erstellung von Berichten und zur Konstruktion von Fällen in der Sozialen Arbeit beleuchtet vor allem die Professionellen in ihrer Dokumentationstätigkeit (Nadai 2012). Verfolgt man die Produktion von Berichten im zeitlichen Verlauf und über die diversen Stationen ihrer Formierung hinweg, zeigt sich jedoch, dass eine Vielzahl von Partizipanten daran beteiligt ist. Insgesamt ist das Artefakt als boundary object das Ergebnis einer vielstimmigen Produktion. „Die Vielstimmigkeit der Textproduktion in der Arbeitsverwaltung bedeutet nicht, dass alle Stimmen gleichermaßen Gehör finden“ (Nadai 2015: 255). In den analysierten Formierungspraktiken artikulieren sich zahlreiche Stimmen, jedoch gelingt es nur einer geringen Anzahl, in dem digitalen Artefakt repräsentiert zu werden.
Besonders bemerkenswert ist, dass der Adressat nahezu keinen Anteil an der Formierung hatte. Mit wenigen Ausnahmen ist er lediglich passives Objekt externer Be- und Zuschreibungen. „Auf die begrenzten Chancen der Klienten, ihre Perspektive in den Akten geltend zu machen, weil sie weder die entsprechenden Codes beherrschen noch direkten Zugriff auf die Dokumente haben, wird in der Sozialen Arbeit immer wieder hingewiesen“ (ebd.). Dieser Befund von Nadai (2015) spiegelt sich in den vorliegenden Daten wider. Der Position des Adressaten wird wenig Raum zugesprochen. In den kurzen Momenten, in denen er Widerstand gegenüber den Formulierungen und der Fallbeschreibung einwendet, gelingt es dem Gruppenmitarbeiter, mittels der Nutzung des Verschriftlichen und des Artefaktes, eine Konformität herzustellen. „Individuals are known as ‚cases‘ under the interpretative aegis of their records“ (Smith 1984: 70). Von dem Augenblick ihrer Erschaffung an und im Zuge ihrer Stabilisierung fungieren die Inhalte des Artefaktes als Tatsachen. Vor allem in der Validierung hat sich verdeutlicht, dass die Perspektive des Adressaten nicht dieselbe Gewichtung hat im Vergleich zu dem Gruppenmitarbeiter. Abweichenden Ansichten zu den bereits stabilisierten Formulierungen wurde mit der Objektivität der Fallbeschreibungen begegnet. Im Verlauf seiner Formierung erlangte der Bericht eine Robustheit, die in der Vernetzung mit anderen menschlichen und nicht-menschlichen Partizipanten gegenüber Zweifeln erhaben macht. Am Ende stehe die narrative Logik eines Falls, die die Polyphonie des Formierungsprozesses nicht widerspiegelt.
Diese Stabilisierung vollzog sich aber auch entlang von weiteren Hierarchien und Ungleichheiten. Denn nicht allein der Adressat blieb bei den Formulierungen ausgeschlossen, auch das zu Beginn des Kapitels dargestellte Entwicklungsgespräch fand so keinen Eingang in das Artefakt. Die Aussagen der Repräsentanten, die gemeinsam über den Fall reflektierten und sich austauschten, mussten durch das Nadelöhr der Sozialarbeiterin und der Formulierungshilfen. Sowohl der menschliche als auch der nicht-menschliche Partizipant fungierten als Übersetzer der Aussagen der an dem Gespräch Beteiligten und überführten diese in das Artefakt. Generell sind Fallbearbeitungen durch „amalgamierte Formen“ (Bergmann 2014: 430) gekennzeichnet, wobei es eine Frage von Macht ist, wer welche Formulierungen eintragen kann und welche Positionen adressiert werden. Den Gruppenmitarbeiter:innen kommt als Partizipanten die Rolle zu, den bereits verfassten Bericht gegenzulesen und gegebenenfalls Anmerkungen oder Ergänzungen vorzuschlagen. Die finale Formulierung obliegt aber am Ende dem Sozialdienst. Hier gelingt es der Sozialarbeiterin demnach, eine Deutungshoheit zu erzeugen und sich gegenüber anderen Praktiker:innengemeinschaften zu behaupten. Dabei können die Sozialarbeiter:innen Kompetenzen und Ressourcen aktivieren, die sie in die Lage versetzen, ihre Deutungen durchzusetzen.
Ein zentrales, organisationales Können stellt der Umgang mit dem Artefakt sowie dessen in situ produzierter Offenheit dar. Die Materialität des Artefakts spielt in der Vernetzung mit räumlich-materiellen Arrangements und den situativen Praktiken eine ko-konstitutive Rolle. Die in den Praktiken prozessierte Offenheit und Flexibilität knüpft die Erstellung an spezifische Kompetenzen, über die die Akteure verfügen müssen. Es bedarf daher eines sehr spezifischen, organisationalen Wissens, über das nur einige wenige in den Einrichtungen verfügen. Entgegen anderslautenden Annahmen ist mit der digitalen Materialität keineswegs eine automatisierte Standardisierung verbunden – es handelt sich nicht automatisch um „Hilfepläne per Mausklick“ (Kreidenweis 2005). Tatsächlich handelt es sich bei dem digitalen Artefakt um ein Grenzobjekt, das von konkreten Akteuren in konkreten Kontexten aktiviert und an die jeweiligen Bedürfnisse und Sichtweisen angepasst werden muss. Ley (2021) kommt zu dem Schluss, dass die Nutzung von Software „unweigerlich Gestaltungszwänge auf die ‚Anwender*innen‘ ausübt“ und gleichzeitig „Aneignungsspielräume eröffnet“ (ebd.: 84). Im Zuge der Aneignung von Software durch die Nutzenden kommt es zur Erfindung neuer, idiosynkratischer Regeln und zur Auslotung sowie gegebenenfalls Überschreitung von Grenzen. Wie gezeigt werden konnte, nutzen die Sozialarbeiter:innen die Spielräume, die mit dem Artefakt performativ hervorgebracht werden. Zugleich bedurfte es der Unterstützung weiterer Partizipanten, um mit der Offenheit umgehen zu können und sie zu bearbeiten.
Digitale Artefakte sind nicht von sich aus mit Eigenschaften versehen. Was sich aufgrund der digitalen Materialität eröffnet, ist, dass die digitalen Berichte und die in ihnen zusammengefassten Informationen „unbegrenzt reduplizierbar“ sind und nahezu „ohne Transformationskosten und fast ohne Zeitverlust“ (Reichmann 2022: 117) weitergeleitet werden können. Grundsätzlich können mehrere Partizipanten gleichzeitig an den Berichten arbeiten, „und zwar in einer Form, in der nicht Personen, sondern miteinander verkoppelte Fachsoftwaresysteme“ (ebd.) miteinander kommunizieren. In dem Untersuchungsfeld handelt es sich nicht um mehrere Systeme und auch die Kommunikation unter Personen ist keineswegs obsolet. Dennoch prozessiert und transmittiert das digitale Artefakt die Information nahezu ohne Zeitverlust. Daneben identifizieren Autor:innen, etwa Reichmann (2022), eine Vielzahl von Transformationen, die sich aus dem Übergang von Analogen zu Digitalen ergeben. Hierzu zählen unter anderem die stärkere Formalisierung und Steuerung, die das eigene Ermessen der Fachkräfte mehr als im Analogen einschränkt (ebd.: 123). Zusätzlich dazu bemerkt Reichmann (2022), dass Berichte und Dokumentationstexte Vorgänge gewichten, bewerten und zielgerichtet fokussieren, was in digitalen Tools weitaus erheblicher als in Papierform der Fall ist (ebd.: 122).
Diese und weitere Differenzen zwischen Analog und Digital tauchen im Diskurs Sozialer Arbeit und Dokumentation immer wieder als Präsupposition auf. Implizit folgen sie einer technikdeterministischen Sichtweise, die der digitalen Berichtserstellung qua Eigenschaften der Artefakte spezifische Wirkungen und Folgen zuschreibt. Doch inwiefern der Einsatz digitaler Artefakte mit einer verstärkten Etikettierung einhergeht, ist weniger eine „Frage technischer Vorgaben und Möglichkeiten, sondern weitaus stärker abhängig von der Realisierung eines fachlich begründeten Dokumentationskonzeptes, einer darauf bezogenen Qualifizierung und wie bewusst und reflektiert die Professionellen sich mit Funktionen und Folgen der Dokumentation auseinandersetzen“ (Ley 2021: 87). Es handelt sich um eine praktische und empirische Frage, wie mit digitalen Berichten umgegangen wird. Aus der Materialität allein lassen sich eben keine Affordanzen deduktiv ableiten. Zudem ist die scharfe Grenzziehung zwischen dem Digitalen und dem Analogen äußerst fragwürdig. Diese Grenzen verwischen stellenweise. Berichte werden ausgedruckt, wieder ins Digitale übertragen und erneut ausgedruckt; was besonders eindrücklich auch in dem vorliegenden Material zu sehen ist.
Auffällig ist jedoch, und hier lässt sich Reichmann (2022) zumindest stellenweise beipflichten, eine gewisse Konvergenz zwischen Cyberinfrastrukturen und Neuen Steuerungsmodellen. In dem dargestellten Kapitel 7 bis 10 haben sich spezifische Formationen gezeigt, die nicht nur in diesen Praktiken, sondern in dem gesamten Konglomerat aus Praktiken im Zusammenhang mit der Cyberinfrastruktur spezifischen Regelmäßigkeiten gehorchen – dazu gehört auch eine Steuerungsordnung. Es gilt nun (Kap. 11) sich diesen Regelmäßigkeiten analytisch zu widmen.
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Fußnoten
1
Eine vergleichbare, prozessuale Sichtweise auf Fallbearbeitung hat Büchner (2018c) vorgelegt. Sie differenzierte in ihrer Studie Der organisierte Fall zwischen Splitting the Case, Keeping the Case, Sorting the Case, Switching the Case und Filing the Case. Ihr Schwerpunkt lag allerdings weniger – abgesehen von dem von ihr sogenannten Modul Filing the Case – auf der Einbindung von und dem Umgang mit (digitalen) Artefakten im Rahmen der Fallbearbeitung, als in einer allgemeinen Exploration der organisationalen Strukturierung von Fallbearbeitung.
 
2
Die Kommunikation zwischen Werkstatt und Wohneinrichtungen konnte ich auch an derer Stelle beobachten. Dort existierte ein sogenanntes „Stuhlbuch“, in dem täglich dokumentiert wurde, wann und wie oft die Person Stuhlgang hatte.
 
Metadaten
Titel
Fallbearbeitung
verfasst von
Konstantin Rink
Copyright-Jahr
2025
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-47994-7_10

    Marktübersichten

    Die im Laufe eines Jahres in der „adhäsion“ veröffentlichten Marktübersichten helfen Anwendern verschiedenster Branchen, sich einen gezielten Überblick über Lieferantenangebote zu verschaffen.