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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

2. Fallbeispiele zum Integritätsmanagement

verfasst von : Patrick S. Renz, Bruno Frischherz, Irena Wettstein

Erschienen in: Integrität im Managementalltag

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Das Kapitel stellt typische Dilemmas im Unternehmensalltag als Fallbeispiele vor. Jedes Dilemma wird vorgestellt, mit einem konkreten Beispiel illustriert und anschließend mit Hilfe von Spannungsfeldern analysiert.
Die Fallbeispiele sind nach den drei Bereichen des Integritätsmanagements geordnet. Im Bereich „Prinzipien“ werden folgende Fallbeispiele vorgestellt: Korruption, Bestechung, Schmiergelder; Geschenke und Gefälligkeiten; Lobbying und Parteienfinanzierung; Transparente Produktinformation; Faire Preispolitik; Diskriminierung bei der Rekrutierung; Gleichberechtigung; Religiosität am Arbeitsplatz.
Im Bereich „Prozesse“ werdenfolgende Fallbeispiele vorgestellt: Zulieferkette; Umstrittene Aufträge; Auftragsvergabe: das billigste Angebot; Produktequalität und -sicherheit; Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz; Informelle Kanäle; Leistungsmessung und Leistungsbeurteilung; Faire Lohnsysteme; Entlassung.
Im Bereich „Menschen“ werden folgende Fallbeispiele vorgesellt: Persönliche Überzeugungen; Hintergedanken – Hidden Agendas; Whistleblowing; Loyalität gegenüber dem Unternehmen; Reaktion auf Fehlverhalten; Alkoholproblem; Mobbing; Sexuelle Belästigung.
Zu jedem Fallbeispiel werden Vorschläge zur Lösung und zum Vorgehen formuliert sowie Hintergrundinformationen und weiterführende Links und Literatur aufgeführt.
Das Ziel des zweiten Kapitels ist es, typische Dilemmas im Unternehmensalltag als Fallbeispiele vorzustellen, zu analysieren und Lösungsvorschläge zu diskutieren.

2.1 Übersicht zu den Fallbeispielen

Die Fallbeispiele sind nach den drei Bereichen „Prinzipien“, „Prozesse“ und „Menschen“ gegliedert (vgl. Abb. 2.1).
Die Fallbeispiele werden nun einzeln vorgestellt, erläutert und mit einem konkreten Beispiel illustriert. Anschließend werden ethische Spannungsfelder mit Hilfe der anerkennungs- und diskursethischen Leitideen aus Kap. 1 analysiert. Die Praxistipps zum Vorgehen orientieren sich an den fünf Schritten des allgemeinen Ablaufschemas. Zu den einzelnen Schritten werden wichtige Bemerkungen eingeführt und die Fallbeispiele mit Hinweisen zum Hintergrund und weiterführenden Informationen abgerundet.

2.2 Fallbeispiele zum Bereich „Prinzipien“

2.2.1 Korruption, Bestechung, Schmiergelder

Transparency International definiert Korruption als den Missbrauch einer anvertrauten Machtstellung zu privatem Nutzen (Transparency International, o. J.). Folgende Formen werden unterschieden:
  • Aktive Bestechung (wer eine Amtsperson besticht)
  • Passive Bestechung (eine Amtsperson lässt sich bestechen)
  • Vorteilsgewährung und Vorteilsannahme (unerlaubte Vorteile, Geschenke)
  • Schmiergelder (auch speed money, facilitation payments, grease money) zur Beschleunigung bürokratischer Vorgänge
  • Der materielle Vorteil
  • Der immaterielle Vorteil
  • Ungebührende Vorteile bzw. Geschenkannahmen
  • Spenden (zur Gewinnung eines rechtswidrigen Einflusses auf Entscheidungen)
  • Vetternwirtschaft (auch Filz oder Günstlingswirtschaft) (Nutzen von privilegierten Beziehungen zu Lasten des Gemeinwohls oder der Gleichbehandlung)
  • Betrug/Veruntreuung zu privatem Nutzen
Vor allem für im Ausland tätige Unternehmen ist Korruption ein Problem. Sie stehen auf den internationalen Märkten unter großem Druck. Oft hängt viel davon ab, ob man eine Bewilligung innert nützlicher Frist erhält, ein Produkt rechtzeitig vermarktet werden kann oder eine bestimmte Ausschreibung gewonnen wird. Korruption ist aber auch im Inland ein Thema. Wie entscheidet sich ein Unternehmen, wenn sich in einer solchen Situation jemand anbietet, gegen verdeckte Zahlungen oder Geschenke zu helfen?
War Korruption früher ein Kavaliersdelikt, das kaum geahndet wurde, ist sie heute national wie international in vielen Gesetzgebungen verboten (Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), o. J.-b).
Fallbeispiel
Thomas, Verkaufsleiter eines mittelgroßen Industrieunternehmens, ist für die Einführung eines neuen Produkts im Ausland verantwortlich. Als Voraussetzung für den Marktzutritt schreiben einige Länder eine staatliche Bewilligung vor, wobei das Verfahren bis zum Erhalt dieser Zulassung normalerweise ein Jahr in Anspruch nimmt. „So lange können wir auf keinen Fall warten! Die Konkurrenz schläft schließlich nicht!“ meinte sein Chef, als Thomas ihm die Problematik schilderte. Von einem früheren Kollegen, der nun bei der Konkurrenz arbeitet, hat Thomas gehört, dass mit einer Zahlung von 25.000 Dollar das Produkt innerhalb weniger Wochen die Zulassung erhält. Was soll er nun tun?
Analyse des Spannungsfeldes und Leitideen
Korruption, Bestechung und Schmiergelder sind meist geregelt in internen Kodizes oder Mitarbeitenden-Richtlinien. Gleichzeitig sind es je nach Land mehr oder weniger stark geahndete Offizialdelikte. In der schweizerischen Gesetzgebung ist die Bestechung einer ausländischen Amtsperson ein Straftatbestand. Korruption ist also im Allgemeinen weder legitim noch legal (Mangel an D2, sowie auch D4).
Auch in notorisch hochkorrupten Ländern ist das Schmieren von bürokratischen Prozessen nicht legitim. Dies kann bis zur Grundsatzentscheidung führen, ob man überhaupt in diesem Land Geschäfte machen will oder nicht. Es gibt einige Beispiele prominenter Unternehmen, die sich aus korrupten Ländern zurückgezogen haben. Das zeigt den Wunsch nach legitimem Handeln (D2), auch öffentlich vertretbar (D4). Eventuell könnte man hier gar von rechtlich politischer Anerkennung (R2) sprechen, die man sich selbst in diesem Fall zuspricht, oder welche abhanden geht, wenn man wie die anderen auch einfach korrumpiert (vgl. Abb. 2.2).
Praxistipps zum Vorgehen
Eine verantwortliche Organisation müsste Korruption immer wieder thematisieren (Schritt 1 und Schritt 5) und ihr energisch begegnen. Geschieht dies nicht oder sind die Führungssignale ambivalent, sind Tür und Tor für „Organismus-zersetzendes“ Verhalten offen. Auch für Einzelfälle gibt es keine „saubere“ Lösung, außer aus dem entsprechenden Geschäft auszusteigen oder sich allenfalls im Verbund mit anderen Unternehmen zu outen. Im Sinne eines Proxy-Diskurses (D3) und um öffentlich gerade zu stehen entschieden sich japanische Unternehmen im hochkorrupten Bangladesch vor einigen Jahren für folgendes Vorgehen: Jährlich publiziert eine neutrale Stelle (z. B. die Botschaft) einen Bericht „Korruptionszahlungen in Bangladesch“, der die gesammelten Daten der angeschlossenen Firmen für einzelne Dienstleistungen auflistet: Zum Beispiel musste für eine neue Telefonleitung eine bestimmte Summe bezahlt werden. Dergestalt wird firmenintern Korruption nicht unter den Tisch gewischt, sondern die Daten werden gesammelt; das Unternehmen übernimmt gegen außen (D4) eine gewisse Verantwortung.
Korruption wird oft auch delegiert, jedoch nicht offiziell. Z. B. indem vorgesetzte Personen Untergebenen zu verstehen gibt, sie sollen die Bestechungsgelder halt zahlen, aber sie wissen dann nichts davon. Oder Zahlungen werden über lokale Vermittlungspersonen abgewickelt. Beides sind keine ethisch korrekten Varianten.
Hintergrund
Korruptionsindizes: Transparency International gibt drei Indizes heraus. Der Corruption Perceptions Index (CPI) klassifiziert die Situation in verschiedenen Ländern bezüglich der von der Zivilbevölkerung wahrgenommenen Korruption. Im Global Corruption Barometer (GCB) wird ersichtlich, welche Institutionen am häufigsten Schmiergeld fordern oder von den Bürgern als am meisten von Korruption betroffen angesehen werden. Der Bribe Payers Index (BPI) misst schließlich die Angebotsseite der Korruption. Er untersucht, aus welchen führenden Exportländern Unternehmen bereit sind, Bestechungsgelder im Ausland zu bezahlen (Transparency International, o. J.). Zur Überprüfung der eigenen Geschäftspraktiken bietet Transparency International eine Checkliste an (Transparency International Schweiz & Brot für alle, 2010).
Weiterführende Information

2.2.2 Geschenke und Gefälligkeiten

Ein edles Olivenöl zu Weihnachten, eine Einladung zum Nachtessen im 5-Sterne-Restaurant, ein Give-Away an der Konferenz: Geschenke und Gefälligkeiten sind im Geschäftsalltag weit verbreitet. Der Umgang damit variiert in verschiedenen Unternehmens- und Landeskulturen stark. Amerikanische Unternehmen fahren hier oft eine Null-Toleranz-Strategie. In Europa hingegen sieht man in kleineren Aufmerksamkeiten kein Problem. Ethische Fragen tauchen da auf, wo aufgrund von Geschenken und Gefälligkeiten eine Befangenheit droht oder die Unternehmensregeln diesbezüglich nicht klar sind.
Fallbeispiel
Kurz nach der Dienstags-Sitzung klingelt Rons Telefon. Ein Lieferant, mit dem er schon seit längerer Zeit zusammenarbeitet, ist am anderen Ende der Leitung. Er lädt Ron und seinen Team-Kollegen „zur Feier der bald 5-jährigen“ Zusammenarbeit zu einem Wochenende nach Monaco ein. Er habe noch Tickets für ein Formel-1-Rennen erhalten und dachte, dass ihnen dies gefallen könnte. Natürlich würde Ron vieles dafür geben, live an einem Rennen in Monaco dabei sein zu können. Er weiß aber auch, dass gemäß Compliance-Richtlinie die Annahme eines solchen Geschenkes nicht erlaubt ist. Andererseits war doch sein Chef auch vor ein paar Monaten mit Kunden zum Skifahren in St. Moritz. Zudem hat Ron Angst, den guten Kunden vor den Kopf zu stoßen und verstockt zu wirken, würde er mit Verweis auf ihre Compliance-Richtlinien ablehnen. Was soll er tun?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Persönliche Geschenke im beruflichen Kontext sind sehr komplex. Die Instrumente der Spannungsfelder und der Leitideen erweisen sich dabei durchaus als hilfreich. Es können drei Ebenen unterschieden werden: eine persönliche, die berufliche und die gesellschaftliche Ebene. Die Ebenen sind nicht unabhängig, die Unterscheidung ist aber für die Analyse hilfreich. Auf der persönlichen Ebene kann man sich als Mensch ob eines Geschenkes freuen (R1), kommt dabei aber (hoffentlich) in Konflikt mit eigenen Wertvorstellungen, zumindest mit dem Problem, durch Geschenke zunehmend erpressbar und abhängig zu werden (D2) und nicht mehr als freier Mensch agieren zu können (R1). Auf der beruflichen Ebene stehen Richtlinien, Erwartungen an Professionalität und allfällige verwerfliche Vorbilder einander gegenüber (D1, D2). Auf der gesellschaftlichen Ebene wirkt die lokale Kultur möglicherweise erschwerend, falls Geschenke geben und nehmen zum guten Ton gehören (R3). Gleichzeitig ist es eine Tatsache, dass korrupte Praktiken zunehmend bekannt und geahndet werden (D4) (vgl. Abb. 2.3).
Praxistipps zum Vorgehen
So vielschichtig die Analyse, so komplex auch das Vorgehen. Das Wichtigste im Umgang mit Geschenken und Gefälligkeiten ist, diese überhaupt als solche wahrzunehmen und sich die Komplexität zu vergegenwärtigen (Schritt 1). Im betrieblichen Kontext muss dies mit langfristigen Maßnahmen (Schritt 5) einhergehen. Compliance Richtlinien alleine reichen nicht; Trainingsprogramme, periodischer Austausch mit Best-Practices (wie machen es andere?) oder mit externen Spezialisten sind empfehlenswert.
Grundsätzlich würde man von Beschenkten erwarten, dass sie die Situation durch kommunikatives Verhalten klären (D1 und D2). Ist dies nicht möglich, weil Vorgesetzte selbst Geschenke annehmen, könnte man eine differenzierte Verantwortung eines Betroffenen erwarten. Dies kann unterstützt werden, falls Hotlines, Compliance Officer oder dergleichen existieren (D4), an welche sich eine betroffene Person anonym wenden kann.
Eine interessante Empfehlung, um die verschiedenen Ebenen gezielt anzugehen, liefert Transparency International: Eine Organisation soll ihre entsprechenden Compliance Richtlinien auch auf dem Internet publik macht. Dadurch können Mitarbeitende unterstützt und geschützt werden: Diese können bei Erhalt eines Geschenkes zwar ihrer persönlichen Freude Ausdruck verleihen, gleichzeitig aber auch auf die öffentlich zugängliche Richtlinie verweisen und das Geschenk dankend ablehnen.
Weiterführende Information

2.2.3 Lobbying und Parteienfinanzierung

Der Begriff Lobbying bezeichnet eine Form der Interessenvertretung in der Politik, mit der Interessensgruppen versuchen, meist durch persönliche Kontakte, das Gesetzgebungsverfahren zu beeinflussen. Die Lobbying-Arbeit wurde für große Unternehmen in den vergangenen Jahren immer wichtiger. Ethische Dilemmas entstehen aus der Intransparenz der Beziehungen zwischen Lobbyisten und Politiker/innen sowie aus eventuell daraus resultierenden Gegenleistungen und Geldzahlungen (Crane & Matten, 2010, S. 504).
Fallbeispiel
Kurt ist verantwortlich für Public Relation in seiner Firma. Soeben hat er erfahren, dass in einem halben Jahr die Volksabstimmung stattfinden wird, welche die Weiterführung eines Produktionsverfahrens in seinem Unternehmen verhindern würde. Dass dieses aus Sicht der Umweltbelastung nicht unumstritten ist, begreift er auch, hat sich aber nie dazu geäußert. Nun leitet er das Lobbying-Projekt, welches die Initiative bekämpft. Hierzu wurde ein großes Sonderbudget freigegeben, womit aber auch ein Teil des Produktionsverfahrens umgestellt werden könnte. Vor der nächsten Teamsitzung trägt Kurt nun konzeptionelle Ideen zusammen: Sollen sie sich auf profilierte Parteien fokussieren oder auch Amtsträger angehen? Wie würden sie diese von ihren Anliegen überzeugen? Sollten sie öffentlich auftreten?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Lobbying kann ethische Dilemmas auf verschiedensten Ebenen beinhalten, analog zum früheren Fallbeispiel Korruption. Lobbying gegenüber Amtspersonen zu betreiben sei eine legitime Aktivität, denn freier Zugang zur Regierung sei eine wichtige Angelegenheit von öffentlichem Interesse. Dies schreibt der kanadische Verhaltenskodex für Lobbyisten (OCL-CAL, o. J.). Der Umgang der kanadischen Regierung mit Lobbying wird als Best-Practice eingestuft. Aber bereits die obige Begründung ist problematisch: Der ins Feld geführte „freie Zugang zur Regierung“ ist dann nicht mehr so frei, wenn er prioritär den lauter schreienden oder lobbyierenden Organisationen offen ist. Legales Lobbying im Sinne von „gesetzlich zugelassen“ meint noch lange nicht ethisch legitim, z. B. von allen betroffenen Gruppen abgesegnet.
Entsprechende Lobbying-Gesetze und Richtlinien können legale Ansprüche festhalten. Die diskursethischen Leitideen bieten zusätzlich eine differenzierte Handhabe zur Beurteilung der Legitimität von spezifischen Lobbying-Aktivitäten. Das Unternehmen handelt ethisch korrekt, wenn seine Interessenvertretung mit legitimen Mitteln geschieht, also nicht mit Bestechung oder unlauterer Einflussnahme. Zentral dabei ist, dass ein Unternehmen tatsächlich das grundsätzliche Interesse hat (D2), Lobbying nur mit rechtfertigbaren Mitteln und für rechtfertigbare Zwecke einzusetzen. Von einem verantwortungsvollen Unternehmen würde auch erwartet, dass es seine Interessen offenlegt (D4) und allfällige Parteifinanzierungen transparent macht – auch, um auf der anderen Seite nicht zur Bestechung anzuleiten. Eine interne offene und legitimierende Kommunikation (D1 und D2) könnte helfen, Sinn und Verhältnismäßigkeit von Lobbying zu prüfen (vgl. Abb. 2.4).
Praxistipps zum Vorgehen
Um Lobbying legitim einzusetzen, muss sich jedermann der Brisanz von Lobbying gewahr werden und dessen Grauzonen und Verhaltenskodizes kennen. Im konkreten Fall hat dies mit Bewusstwerdung zu tun (Schritt 1), langfristig mit der Einführung von Lobbying-Best-Practices oder Richtlinien (Schritt 5).
Wie ethisch reflektiert und legitim eine geplante Lobbying-Aktion ist, könnte eine schonungslose interne Diskussion zeigen. Dabei muss darauf geachtet werden, dass sich alle frei und machtfrei äußern können. Möglicherweise kommen da auch persönlich divergierende Meinungen von Mitarbeitenden zu Tage (Schritt 3). Wenn das Unternehmen wirklich interessiert ist, auf ethische und legitime Art zu lobbyieren, nimmt es genau diese Meinungen als wichtige Gradmesser für die Legitimität des geplanten Lobbyings.
Hintergrund
Die Extraction Industry Transparency-Initiative (EITI) stellt ein interessantes Instrument dar, um illegitimes Lobbying zu unterbinden. Dabei verpflichten sich die beteiligten Unternehmen, sämtliche Zahlungen an Länder ihrer Produktionsstätten offenzulegen. Die beteiligten Länder ihrerseits publizieren ihre erhaltenen Zahlungen. Dergestalt können Zahlungsströme verfolgt werden, und der Korruption von lokalen Regierungsangestellten und Amtsträgern wird ein Riegel vorgeschoben.
Weiterführende Information

2.2.4 Transparente Produktinformation

Dass die Kundin oder der Kunde grundsätzlich das Recht auf wahrheitsgetreue Information über ein Produkt oder eine Dienstleistung hat, wird wohl niemand abstreiten. Auch zahlreiche Gesetze legen dieses Recht auf Information zum Schutz des Kunden fest. Trotzdem ist dieser Bereich sehr anfällig für ethische Dilemmas. Wenn beispielsweise der sachliche Nutzen einer Neuentwicklung nicht ausreicht, um dem Produkt zum Markterfolg zu verhelfen, wird das Produkt mit Fokus auf dessen emotionalen Nutzen vermarktet. Die Frage ist dann, inwiefern die Marketingabteilung mit dieser Vermarktung den Kunden täuscht. Themen wie die Vermarktung des Produktes, Informationen zum Produkt auf der Verpackung, Verkaufstechniken usw. können im Alltag viele ethische Fragen aufwerfen und haben in der Vergangenheit zu einigen großen Skandalen geführt.
Fallbeispiel
Ein Kunde verlangt in Pias Apotheke ein Medikament, für das in den letzten Wochen viel Werbung gemacht wurde. Das Medikament ist sehr teuer und für die Bedürfnisse des Kunden wären andere Produkte besser geeignet. Pia macht den Kunden darauf aufmerksam, dass evtl. noch andere Medikamente in Frage kommen würden. Der Kunde beharrt jedoch auf diesem einen Produkt. Pia könnte den zusätzlichen Kundenfranken gut gebrauchen, der Kunde jedoch gibt Geld aus für nichts. Soll Pia dem Kunden das teure Medikament verkaufen, obwohl es ihm wahrscheinlich nichts nützen wird?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Die Grenze zwischen Lifestyle, Wellness und Medizin ist fließend geworden. Doch ein Lifestyle-Produkt ist kein Medikament. Die Kunden erwarten bei einem Medikament einen medizinischen, keinen symbolischen Nutzen. Wenn der symbolische Nutzen des Produkts grösser ist als der sachliche, darf das Produkt nicht als medizinisches Produkt verkauft werden. Placebo-Produkte sind eine Täuschung der Kunden. Das Verkaufspersonal hat dem Kunden gegenüber eine Informationspflicht (D2, D4). Das Fachpersonal steht insbesondere durch seinen Wissensvorsprung der Kundin oder dem Kunden gegenüber in der Verantwortung (D3) (vgl. Abb. 2.5).
Praxistipps zum Vorgehen
Eine ehrliche und transparente Informationspolitik sollte Grundlage von Marketinganstrengungen sein, besonders im Bereich der Medizin (D1) (Schritt 1). Die Marketingabteilung oder das Verkaufspersonal darf sich nicht zu Täuschungen hinreißen lassen, um den Absatz zu steigern (Schritt 3). Falls es sich bei einem Medikament um ein Lifestyle- oder Wellness-Produkt handelt, sollte es auch als solches vermarktet und verkauft werden (Schritt 4). Dies setzt aber eine andere Positionierung des Produktes voraus (Schritt 5).
Weiterführende Information
  • →Fallbeispiel: 2.2.5. Faire Preispolitik
  • →Fallbeispiel: 2.3.4. Produktequalität und -sicherheit

2.2.5 Faire Preispolitik

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Interessen von Produzenten und Konsumenten in Sachen Preis auseinanderdriften. Probleme entstehen dann, wenn z. B. aufgrund eines Monopols oder eines unumgänglichen Bedürfnisses der Konsumentinnen und Konsumenten nach einem Medikament der Preis durch den Markt nicht automatisch auf ein Gleichgewicht festgesetzt wird. In einem solchen Fall ist es dem Unternehmen möglich, überrissene Preise zu verlangen. Weiter können aber auch Preisabsprachen oder undurchsichtige Preisversprechungen (vgl. z. B. die riesige Anzahl an Handyabonnements) gegenüber den Kundinnen und Kunden sowie rücksichtslos tiefe Preisfestsetzungen (Preisdumping) gegenüber dem Konkurrenten ethische Fragen aufwerfen (Crane & Matten, 2010, S. 255–359).
Fallbeispiel
Jason ist Verkaufsleiter im Bereich der Medizinaltechnik. Als er vor vier Jahren neu in diese Branche eingestiegen ist, war er überrascht, wie hoch die Margen sind, die dem Kunden verrechnet werden können. Inzwischen hat er sich daran gewöhnt. Margen von 500 % sind keine Seltenheit. Jasons Firma konzipiert ihre Produkte so, dass sie nicht mit den Produkten anderer Hersteller kompatibel sind. Ihre Kundinnen und Kunden müssen also bei kaputten Teilen oder Neuanschaffungen zwangsläufig wieder bei ihnen einkaufen. Wenn nachgefragt wird, wie diese hohen Preise zu rechtfertigen sind, wird stets geantwortet, dass der gesamte Gewinn in die Forschung und Entwicklung fließt. Doch Jason weiß, dass ein großer Teil davon für Marketing- und Werbezwecke verwendet wird. Manchmal stört es ihn, dass er eine solche Preispolitik vertreten muss und überlegt sich, ob es auch anders ginge.
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Schwer nachvollziehbare oder öffentlich kaum erklärbare Preismodelle stellen für die Firma selbst wie auch für die Mitarbeitenden ein Dilemma mit zahlreichen ethischen Aspekten dar. Auch von forschungsintensiven Branchen wie der Medizinaltechnik oder der Pharmabranche dürfen sowohl Kundinnen und Kunden als auch die Öffentlichkeit Fairness erwarten. Werden solche Erwartungen nicht erfüllt, so steht die Glaubwürdigkeit auf dem Spiel: Die Firma eignet sich einen Ruf von Intransparenz, Abzockerei und Unfairness an – manchmal auch ungerechtfertigt. Gefühlt überhöhte Preise oder unverständliche Gewinnspannen sind ebenfalls mit einem guten Ruf nicht vereinbar; es fehlt der Firma an Legitimation (D2), insbesondere auch am Willen zur Legitimation. Möglicherweise muss die Firma in Vorlauf gehen und proaktiv allfällige Fragen vorweg nehmen (im Sinne eines Proxydiskures – D3) und grundsätzliche Preisüberlegungen möglicherweise via Webseite oder in Preisverhandlungen (öffentlich) zugänglich machen (D4). Dem Ruf, die Kundinnen und Kunden über den Tisch zu ziehen, haftet auch der Mangel an, dass diese als wichtige Gruppe nicht anerkannt werden (R3).
Mitarbeitende, welche überhöhte Preise gegenüber Kunden „verkaufen“ müssen, werden direkt oder indirekt zum systematischen Lügen angehalten (Mangel an D2). Dies kann auch sehr subtil sein, indem alle wissen, dass die Preise eigentlich überhöht sind, dies aber niemand anspricht. Dies ist dann ein großes ethisches Dilemma, wenn gleichzeitig eine Respektkultur eingefordert wird. Da kann sich Mitarbeitende wie z. B. Jason nicht wirklich ernst genommen fühlen (R1); wie soll er dem Unternehmen auch in anderen Dingen vertrauen können? Derartige Situationen sind auch Ausdruck davon, dass Mitarbeitende nicht als wichtig geschätzt werden (R3) (vgl. Abb. 2.6).
Praxistipps zum Vorgehen
Mitarbeitende können nur vorsichtig versuchen, auf diese Dilemmasituation aufmerksam zu machen (Schritt 1, als Ausdruck von D1). Falls nichts geschieht, kündigen ethisch reflektierte Mitarbeitende früher oder später, innerlich oder auch wirklich. Ein Unternehmen ist gut beraten, seine Pricing-Position grundsätzlich so zu entwickeln, dass gefühlt hohe Preise von innen und außen nachvollziehbar sind (Schritt 5). Damit können Mitarbeitende für den Kundenkontakt entsprechend instruiert werden. Es ist auch nicht abwegig, dass eine Organisation ein Pricing-Positionspapier öffentlich zugänglich macht oder in Benchmarking-Zirkeln zur Diskussion stellt.
Weiterführende Information

2.2.6 Diskriminierung bei der Rekrutierung

Mit „Diskriminierung“ ist hier ein ethisches Dilemma im Kontext der Rekrutierung neuer Mitarbeitenden angesprochen. Bewerbungskandidaten können bei der Personalauswahl z. B. aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihres Alters oder einer Behinderung diskriminiert werden. Das kann sowohl bewusst als auch unbewusst geschehen. Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft oder des Geschlechtes ist rechtlich verboten. Allerdings ist es schwierig, diese Diskriminierung überhaupt festzustellen und die Opfer haben kaum Möglichkeiten, sich zu wehren. Eine weitere Variante unfairer Behandlung von Bewerbungskandidaten ist die Bevorzugung Einzelner aufgrund persönlicher Beziehungen oder Kontakte. Eine professionelle Rekrutierung erfolgt mittels Stellen- und Anforderungsprofilen. Ausschlaggebend für den Entscheid sind dann die fachlichen und persönlichen Kompetenzen der Kandidatinnen und Kandidaten.
Fallbeispiel
Julie ist zuständig für die Rekrutierung von Praktikantinnen und Praktikanten. Die Praktikumsstellen in ihrem Unternehmen gelten als Sprungbrett für eine vielversprechende Karriere. Dementsprechend beliebt sind die raren Plätze. Soeben hat Dario ihr einen Stapel mit neu eingegangenen Bewerbungen gebracht. Zuoberst liegt ein Dossier, mit einer Notiz der Sekretärin des CEO versehen. Dario verdreht ihr gegenüber die Augen. Sie solle sich doch bitte kurz bei ihm melden, steht da drauf. Am Telefon erklärte der CEO Julie, dass der Sohn eines Freundes sich für ein Praktikum bewerbe. Der Vater mache sich Sorgen um seinen Sohn und er sei ihm noch einen Gefallen schuldig. Julie schaut sich das Dossier an und bemerkt, dass der Sohn zwar eine gute Ausbildung hat, aber ansonsten in der Vergangenheit sehr wenig Initiative zeigte. Sie hätte viele andere, bessere Bewerbungen auf ihrem Tisch. Was soll sie tun?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Der CEO darf seine hierarchische Position nicht ausnützen, um private Interessen durchzusetzen. Dies ist ein Hinweis auf fehlendes Interesse an legitimem Handeln (D2). Eine professionelle Personalrekrutierung geschieht aufgrund von sachlichen Kriterien. Dabei soll es weder Bevorzugung noch Benachteiligung geben. Eine Diskriminierung ist je nach Motiv ein Verstoß gegen die Leitideen R2 oder R3. Julie soll sich für die Chancengleichheit der Kandidatinnen und Kandidaten einsetzen und beim CEO intervenieren, auch wenn die Chance für einen Erfolg eher klein ist. Dies entspricht einer professionellen Haltung. Die Entscheidungskriterien und die Entscheidung selbst sollten grundsätzlich offen gelegt werden können (D4) (vgl. Abb. 2.7).
Praxistipps zum Vorgehen
Die Einmischung des CEOs in den Rekrutierungsprozess ist ein Machtmissbrauch. Zunächst muss es den Beteiligten bewusst werden, dass eine solche Bevorzugung eine indirekte Diskriminierung bedeutet (Schritt 1). Es ist dann die Aufgabe der Personalverantwortlichen, auf einem transparenten Rekrutierungsprozess zu bestehen (Schritt 3). Alles andere wäre mangelnde Professionalität. Die Auswahl unter den Kandidatinnen und Kandidaten soll aufgrund von Stellenprofilen und nachvollziehbaren Kriterien geschehen. Letztlich ist es auch im Interesse des Unternehmens, die besten Mitarbeitenden auszuwählen (Schritt 5).
Hintergrund
Was hierzulande exotisch anmuten mag, ist in anglophonen Ländern bereits die Regel: Der anonyme Lebenslauf. Diese Massnahme wird oft als „die“ Antwort auf Diskriminierungen bei der Rekrutierung von Arbeitskräften genannt. Beim anonymen Lebenslauf wird Name, Adresse, Nationalität, Alter und Geschlecht sowie das Foto aus dem Bewerbungsdossier gelöscht. Infolgedessen können die HR-Verantwortlichen nur die Ausbildung/Qualifikation sowie die wichtigsten Erfahrungen für die ausgeschriebene Stelle in der Phase des Screenings der Dossiers berücksichtigen. In Deutschland untersagt ein Gesetz seit 2006 die Angabe von Informationen zu Alter, Geschlecht und ethnischer Herkunft in den Bewerbungsunterlagen. In der Schweiz wurden bisher Versuche unternommen, um den anonymen Lebenslauf einzuführen. Der anonyme Lebenslauf ist aber noch nicht Pflicht (Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB) & Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB), 2011).
Weiterführende Information

2.2.7 Gleichberechtigung

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO (Art. 1) (United Nations, 1948). Gleichberechtigung bezeichnet also die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, unabhängig z. B. von ihrem Geschlecht, ihrer Nationalität, ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Religion. Im betrieblichen Kontext wird mit diesem Begriff aber oft die Gleichstellung von Mann und Frau angesprochen. Seit 1981 enthält die Schweizerische Bundesverfassung eine spezifische Bestimmung zur Gleichberechtigung der Geschlechter: „Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit.“ Seit Juli 1996 ist in der Schweiz das Gleichstellungsgesetz in Kraft, das jegliche Form der Diskriminierung im Erwerbsbereich verbietet. Trotzdem zeigt die Lohnstatistik, dass Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen immer noch eine Tatsache sind. In einzelnen Branchen haben Frauen das Prinzip gleicher Lohn für gleiche Arbeit auch schon vor Gericht durchgesetzt.
Fallbeispiel
Der Leiter der Entwicklungsabteilung wird pensioniert. An der Kadersitzung ist man sich einig, dass man die Stelle intern besetzen möchte. Es gibt zwei Kandidaten, die für die Nachfolge in Frage kommen: Joris, ein ehrgeiziger 29-jähriger Ingenieur, der vor zwei Jahren in die Firma gewechselt hat, und Inga, eine 33 Jahre alte langjährige wissenschaftliche Mitarbeiterin. Inga geht davon aus, dass sie die Stelle erhalten wird, da sie von allen Mitarbeitenden die meiste Erfahrung hat, kürzlich erfolgreich den MBA abschloss und stets von ihrem direkten Chef gefördert wurde. Kurt, der oberste Chef, tut sich schwer mit dieser Nachfolgeentscheidung. Rein fachlich gesehen wäre Inga seine erste Wahl. Doch während des letzten Meetings hat ein Kollege Kurt gesteckt, dass Inga vor drei Monaten geheiratet hat: „Man weiß ja, was das heißt …“ meinte er noch verschwörerisch. Inga ist klar besser qualifiziert für den Job als Abteilungsleiterin als Joris. Doch könnte er es sich nicht leisten, in einem halben Jahr wieder aufs Neue jemanden zu suchen, würde Inga nun bald schwanger werden. Wie soll sich Kurt entscheiden?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Wenn ein Unternehmen Interesse an legitimem Handeln hat, darf es keine Benachteiligung aufgrund des Geschlechtes geben (D2). Normalerweise geschieht die Benachteiligung von Frauen nicht offen oder sie wird anders begründet. Denn gemäß Gesetz besteht ein Diskriminierungsverbot (R2). Das Problem liegt wohl häufiger darin, dass weitere Gründe gesucht werden, um bei einer Beförderung ein Schwangerschaftsrisiko zu vermeiden. Umso wichtiger ist es, dass sich Personalverantwortliche dieser Tatsache bewusst sind. Ein Personalentscheid sollte grundsätzlich auch öffentlich vertretbar sein (D4) (vgl. Abb. 2.8).
Praxistipps zum Vorgehen
Die Grundlage zur Lösung des Dilemmas ist der Wille, nicht zu diskriminieren (Schritt 1). Eine mögliche Schwangerschaft darf kein Grund für die Nicht-Beförderung einer kompetenten Mitarbeiterin sein (Schritt 2 und 3). Es wäre auch falsch nach weiteren Gründen zu suchen, um sie nicht zu befördern. Die Überprüfung der Beförderungspraxis kann verdeckte Benachteiligung sichtbar machen. Im Falle einer Schwangerschaft soll das Unternehmen eine Stellvertretungslösung suchen und organisieren (Schritt 4). Um den Frauenanteil im Kader zu erhöhen sind mittlerweile einige Unternehmen und Behörden dazu übergegangen, Frauen bei gleicher Qualifikation den Vorzug zu geben oder gar Frauenquoten einzuführen. In beiden Fällen ist es wichtig, die Regeln für eine Einstellung offen zu legen.
Hintergrund
Ob die Lohngleichheit – d. h. gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit – zwischen Mann und Frau eingehalten wird, können Arbeitgebende mit einer einfachen Standortbestimmung ihrer Lohnpolitik selbst überprüfen. Die Software dazu heißt Logib und wurde vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) entwickelt. Logib ist geeignet für Unternehmen mit mindestens 20 Mitarbeitenden. Grundlage für die Berechnung sind Qualifikations-, Lohn- und Arbeitsplatzdaten der Mitarbeitenden. Auf der folgenden Homepage des EBG kann die Software und eine genauere Beschreibung gratis heruntergeladen werden (Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG), o. J.).
Weiterführende Information

2.2.8 Religiosität am Arbeitsplatz

Muslime, die fünf Mal am Tag in Richtung Mekka beten, Christen, die fasten, Christlich Orthodoxe, die ihre Feiertage an einem anderen Datum feiern, Juden, die am Samstag keine Überstunden machen wollen – die Religion von Mitarbeitenden betrifft in vielfacher Form den Arbeitsalltag in Unternehmen. Nicht nur in international tätigen Unternehmen können sich dadurch vielerlei ethische Fragen ergeben. Religionsfreiheit ist zwar ein Grundrecht; für die Ausübung von religiösen Praktiken an der Arbeitsstelle ist aber das Wohlwollen des Managements nötig. Zudem können gewisse religiöse Praktiken auch für Irritationen unter Andersgläubigen sorgen. Es ist im Interesse aller Unternehmen, wenn Menschen mit unterschiedlichen Konfessionen am Arbeitsplatz friedlich zusammenarbeiten und sich gegenseitig wertschätzen.
Fallbeispiel
Susanna arbeitet in einem großen internationalen Finanzunternehmen als Leiterin der Personalabteilung. Das Unternehmen beschäftigt Mitarbeitende aus der ganzen Welt und rühmt sich seiner toleranten, offenen und weltbürgerlichen Kultur. Vor zwei Tagen hat eine Gruppe von vier Mitarbeitenden sie angefragt, ob es nicht möglich wäre, ihnen einen ruhigen Raum für ihre fünf täglichen Gebete zur Verfügung zu stellen. Susanna ist sich nicht sicher, wie sie mit der Anfrage umgehen soll. Selbstverständlich sollen verschiedene Religionen in ihrem internationalen Unternehmen gelebt werden können. Andererseits hat sie Angst, Mitarbeitende anderer Religionszugehörigkeit vor den Kopf zu stoßen, wenn sie den vier Muslimen für ihre Gebete einen Raum zur Verfügung stellt. Was soll Susanna tun?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Religiosität ist ein sehr persönliches Anliegen vieler Menschen und niemand darf aufgrund seiner Konfession diskriminiert werden (R2). Ein eigener Raum für religiöse Praktiken an der Arbeitsstelle ist sicher ein besonderes Zeichen der sozialen Wertschätzung (R3). Die Realisierung eines solchen Gebetsraumes ist deshalb begrüßenswert und der Raum kann das gegenseitige Verständnis zwischen den Kulturen fördern (D1). Allerdings darf er nicht zu zusätzlichen Diskriminierungen führen, sondern sollte verschiedenen Konfessionen und deren religiösen Praktiken offen stehen (D4). Hier wird auch gegenseitige Toleranz unter den Religionen verlangt (vgl. Abb. 2.9).
Praxistipps zum Vorgehen
Zunächst sollten die Bedürfnisse der Interessierten abgeklärt werden (Schritt 1). Sofern ein geeigneter Raum zur Verfügung steht, sollte er für die Ausübung verschiedener religiöser Praktiken und Konfessionen offen stehen (Schritt 3). Dazu sollten unter Mitarbeit der Interessierten die Nutzungsregeln ausformuliert werden, so dass sich die Konfessionen nicht gegenseitig stören. Ein solcher Gebetsraum kann zu einem Ort des Kulturkontakts und des friedlichen Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Konfessionen werden (Schritt 5).
Weiterführende Information

2.3 Fallbeispiele zum Bereich „Prozesse“

2.3.1 Zulieferkette

Auch in einer komplexen, globalen Wirtschaft trägt ein Unternehmen Verantwortung dafür, woher Produkte und Komponenten kommen und wie diese hergestellt werden. Die Zulieferkette (Supply Chain) sollte nach ethisch reflektierten Kriterien zusammengestellt werden – sie wird damit wichtiger Bestandteil integrer Unternehmensführung (Maak & Ulrich, 2007, S. 268). Bei der Stakeholderanalyse eines Unternehmens sind nicht nur die strategischen Anspruchsgruppen zu identifizieren, die einen Einfluss auf das Unternehmen haben. Dieses trägt auch eine Mitverantwortung für ethische Anspruchsgruppen, die zwar keinen Einfluss, aber trotzdem legitime Ansprüche an das Unternehmen haben. Dazu gehören beispielsweise Mitarbeitende in Zulieferbetrieben in Entwicklungsländern: die Achtung der Menschenwürde, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen, existenzsichernder Lohn, sanitäre Einrichtungen, gerechte Erholungszeiten resp. Ferien. International agierende Unternehmen haben deshalb die Pflicht, ihre Zulieferkette zu kontrollieren, Zulieferer über ethische Anforderungen zu informieren, allenfalls zu sanktionieren oder nicht konforme Zulieferer zu wechseln.
Fallbeispiel
Barbara ist seit sieben Jahren im Einkauf eines großen Industrieunternehmens tätig. In den letzten Jahren hat der Konkurrenzkampf in der Branche stark zugenommen. Jeder versucht, noch günstiger zu produzieren als der andere. Vor drei Monaten wurde Barbara zur Chefin Einkauf ernannt. Nun liegt es an ihr, zu entscheiden, ob die elektronischen Komponenten aus China eingekauft werden oder ob man sich für den inländischen, aber teureren Lieferanten entscheidet. Sie weiß um die schlechten Arbeitsbedingungen bei ihrem Zulieferer in China und möchte diese „Sklavenhaltung“, wie sie es nennt, auf keinen Fall unterstützen. Andererseits ist sie sich bewusst, dass sie auf gute Preise im Einkauf angewiesen ist, um später im harten Preiskampf bestehen zu können. Wie soll sie sich entscheiden?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Die Zulieferkette gehört zum Verantwortungsbereich eines Unternehmens. Wenn es Interesse an legitimem Handeln hat, muss es seinen Verantwortungsbereich auf die Zulieferkette ausdehnen (D2). Auch wenn die Mitarbeitenden nicht direkt Angestellte des Unternehmens sind, beeinflusst es durch Preisgestaltung und Anforderungen an Sicherheit und Gesundheit die Lebensbedingungen der Mitarbeitenden der Zulieferbetriebe. Menschenrechte gelten unabhängig von der Herkunft, Nationalität, dem Geschlecht oder Alter der Mitarbeitenden. Die Firma darf deshalb nicht von Verstößen gegen Menschenrechte oder Arbeitsrechte ihrer Zulieferer profitieren und muss die Respektierung der Menschenrechte auch in der Zulieferkette verlangen und durchsetzen (R2) (vgl. Abb. 2.10).
Fährt eine Firma eine Billiglohnstrategie, nimmt sie allfällige schlechte Arbeitsbedingungen aus Billiglohnländern in Kauf. Dies kann im Konflikt stehen mit einem Mission Statement oder Werterahmen, in welchem sich die Firma explizit zu sozialer Verantwortung bekennt, oder mit der öffentlichen Erwartung an verantwortliche Unternehmensführung und nicht zu überschreitende Grenzen im Konkurrenzkampf.
Praxistipps zum Vorgehen
Das Unternehmen müsste sich proaktiv mit diesem Spannungsfeld auseinandersetzen (Schritt 1). Ansonsten entsteht der Eindruck, dass man nicht hinschauen und die eigenen Absichten nicht legitimieren will (D2); man will auch keine Verantwortung übernehmen (D3). Bei ethischen Problemen in der Zulieferkette müssen sich Entscheidungsträger als erstes über die Verletzungen informieren und diese beurteilen (Schritt 2 und 3). Zusätzlich sollten sie auch Reputationsrisiken abschätzen. Als Massnahme kann eine Firma Beschaffungsrichtlinien erstellen, die ethische Zusatzkriterien bei der Beschaffung festlegen (Schritt 4). Als nächstes sollte sie die verschiedenen Stakeholder wie Zulieferbetriebe, Mitarbeitende oder Kunden und Kundinnen über die Beschaffungsrichtlinien informieren und diese auch durchsetzen. Eventuell brauchen die Zulieferbetriebe bei der Umsetzung der Richtlinien Unterstützung in der Form von Schulung und Anleitung. Bei besonders kritischen Produkten und Komponenten ist auch ein firmeninternes, ethisches Controlling sinnvoll. Längerfristig kann sich ein integres Unternehmen auch für die Entwicklung von Branchenstandards engagieren (Schritt 5).
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2.3.2 Umstrittene Aufträge

Auftrag ist Auftrag! Gilt das immer? Ein Auftrag kann aus politischen, ökologischen, sozialen oder kulturellen Gründen umstritten sein. Produkte und Dienstleistungen können einen negativen Einfluss auf Umwelt und Gesellschaft haben: unverhältnismäßige Staudämme, Atomkraftwerke, Windanlagen in Wohngebieten, Rohstoffminen, Agrobusiness etc. In einzelnen Bereichen existieren entsprechend rigorose Vorgaben oder internationale Vereinbarungen: Für große Infrastrukturprojekte wie Staudämme oder Rohstoffminen müssen sogenannte „Human Rights Impact Assessments“ durchgeführt werden. Die Praxis zeigt, dass dies unterschiedlich ernsthaft angegangen wird. Mit gewissen Ländern, z. B. Nordkorea, kann entsprechend internationaler Sanktionen nur begrenzt gewirtschaftet werden.
Die Entscheidung, ob ein umstrittener Auftrag angenommen oder mit einem umstrittenen Kunden zusammengearbeitet wird, kann vielerlei ethische Fragen aufwerfen. Das Zünglein an der Waage ist die Frage, wie intensiv ein Unternehmen seine Tätigkeit ethisch reflektiert und sich z. B. mit Sozial- und Umweltverträglichkeit auseinandergesetzt hat.
Fallbeispiel
Pavels Unternehmen produziert Turbinen für Staudämme. Vor einiger Zeit wurde er angefragt, ob er an einem Projektmandat für das riesige Staudamm-Projekt in Usbekistan Interesse hätte. Das Projekt ist politisch sehr umstritten: Der Einstau mehrerer Täler könnte wichtiges kulturelles Erbe zerstören, was von mehreren NGOs vehement kritisiert wird. Für Pavels Unternehmen wäre jedoch ein Auftrag in dieser Größenordnung sehr wichtig. Das Geschäft lief schlecht in letzter Zeit und Pavel hatte schon befürchtet, Mitarbeitende entlassen zu müssen. Die Zerstörung des Kulturerbes tut ihm leid, aber schließlich ist es bei solchen Aufträgen immer dasselbe: „Nehmen wir den Auftrag nicht an, tut das ein Anderer!“ Soll Pavel den Auftrag annehmen oder besser ablehnen?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Es wird davon ausgegangen, dass es sich nicht um ein grundsätzlich umstrittenes Produkt handelt (wie z. B. Personenminen). Existieren in einer Turbinenproduktion keine klaren Vorgaben seitens der Führung, wie sie sozialen und ökologischen Ansprüchen gerecht werden will, so kann nicht von einer legitimen Produkterstellung gesprochen werden (Mangel an D2 bezüglich Ansprüchen aus CSR-Sicht). Manchmal ist auch die Grenze zum Illegalen nahe, insbesondere wenn internationale Gesetzesunterschiede ausgenutzt werden.
Auf der spezifischen Ebene mangelt es primär am Willen, die Legitimität des Projektes auszuloten und sicherzustellen (D2). Eigentlich erkennt das Unternehmen die Ansprüche von beeinträchtigten Gemeinschaften oder der Umwelt (Mangel an R2 und R3) nicht an. Eine öffentliche Auseinandersetzung – im Sinne eines Multi-Stakeholder-Dialogs oder mit entsprechenden Quasi-Diskursen (D3 und D4) – sucht man im Fallbeispiel vergeblich (vgl. Abb. 2.11).
Praxistipps zum Vorgehen
Die Frage, ob ein umstrittener Auftrag angenommen werden soll oder nicht, ist wohl keine einmalige, auftragsspezifische Frage, sondern wiederholt sich in einem entsprechenden Unternehmen immer wieder. Zwar muss der Einzelfall gelöst werden, aber es geht eigentlich um die Grundsatzfrage. Dies entspricht dem Schritt 5 im Ablaufschema (Maßnahmen für langfristige Lösungen). Fragen von Umwelt- und Sozialverträglichkeit sollten primär und aus normativer Perspektive gelöst werden.
Im konkreten Einzelfall muss das Unternehmen unter anderem selbst den Kontext beurteilen und sich ein Bild dazu machen. Hierzu braucht es wahrscheinlich den Kontakt und einen Dialog mit verschiedenen Interessegruppen (Schritt 2, im Sinne eines Multi-Stakeholder-Dialogs). Je mehr dies auch öffentlich und transparent gemacht wird (im Sinne eines Public Binding), desto höher die Glaubwürdigkeit des Unternehmens. Möglicherweise entscheidet sich dieses für begleitende Maßnahmen zur Minimierung negativer Auswirkungen – und je ernstgemeinter, desto legitimer das Projekt. Eine gezielte öffentliche Berichterstattung kann auch sehr sinnvoll sein.
Aus Sicht globaler Gerechtigkeit stellt sich v. a. in Großprojekten letztlich die Frage, unter welchen Umständen es legitim ist, eigene Arbeitsplätze zu erhalten und gleichzeitig die Erwerbsgrundlagen von Hunderten anderer Personen zu beeinträchtigen.
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2.3.3 Auftragsvergabe: das billigste Angebot

Heutzutage werden Aufträge oft basierend auf einer Ausschreibung vergeben. So unterliegen Aufträge, die von der öffentlichen Hand vergeben werden, zumeist Submissionsgesetzen. Die Aufträge müssen ausgeschrieben und nach bestimmten Kriterien vergeben werden. Bei derartigen Submissionskriterien, wie auch bei privaten Ausschreibungen, stellt sich die Frage, welches die „richtigen“ Kriterien zur Auftragsvergabe sind. Insbesondere fragt sich, ob der Preis als einziges Kriterium gerechtfertigt ist oder ob noch andere Kriterien zum Tragen kommen sollten.
Fallbeispiel
Luca ist Maschinenbau-Ingenieur. Das Unternehmen, in dem er tätig ist, hat sich am letzten Strategie-Workshop einmal mehr für nachhaltiges Wirtschaften ausgesprochen. Dies möchte Luca eigentlich auch bei der Planung seiner Projekte berücksichtigen. Doch die Kriterien, die bei der Projektvergabe durch private oder öffentliche Hand zum Tragen kommen, lassen das nicht zu. Wenn er inländische Komponenten für seine Projekte verwendet, werden sie zu teuer und können bei der Auftragsvergabe nicht gegenüber den Projekten der Konkurrenz bestehen. Als Kriterium bei der Projektvergabe zählt oft nur der Preis. Andere Kriterien, z. B. wie nachhaltig ein Projekt ist, werden nicht berücksichtigt. Seit Luca diese Erfahrung gemacht hat, lächelt er nur noch zynisch, wenn wieder einmal das Thema Nachhaltigkeit in seinem Unternehmen zur Sprache kommt. „Alles leere Worte“, denkt er. Was soll Luca tun?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Nachhaltigkeit ist zum Modewort geworden, welches in kaum einem Geschäftsbericht fehlt. Die drei Aspekte ökonomisch, ökologisch und sozial haben sich als Dimensionen von Nachhaltigkeit grundsätzlich durchgesetzt, allerdings ist die Konkretisierung trotz entsprechender Vorschläge und Standards noch sehr dispers. Höchstwahrscheinlich bestehen auch innerhalb eines Unternehmens divergierende Vorstellungen, wie Nachhaltigkeit zu verstehen ist. Ein Unternehmen tut gut daran, sich mit dem Begriff und dessen Bedeutung für den eigenen Kontext bewusst auseinanderzusetzen (D1). Möglicherweise müssen dann auch gewisse Prozesse anpasst werden, um langfristigen Perspektiven, ökologischen und sozialen Anliegen gerecht zu werden (D2). Eine Vorgabe, sich konsequent für das billigste Angebot zu entscheiden, ist mit nachhaltigem Wirtschaften nicht vereinbar: In diesem Fall kann das Handeln aus Sicht der Nachhaltigkeit, insbesondere bezüglich ökologischer und sozialer Interessen, nicht als legitim bezeichnet werden (Mangel an D2).
Nimmt man Nachhaltigkeit ernst, kann und will man möglicherweise nicht mehr jeden Auftrag verfolgen; eine interne Nachhaltigkeitsdebatte festigt gleichzeitig eine schlagkräftigere Organisation, wo Vorstellung und Handlung nicht in zynischer Weise auseinanderdriften (vgl. Abb. 2.12).
Praxistipps zum Vorgehen
Eine strategische Vorgabe, nachhaltig zu wirtschaften, und operative Prozesskriterien wie Auswahlkriterien in einem Beschaffungsprozess sind auf völlig verschiedenen Verantwortungsebenen angesiedelt. Es ist somit gut möglich, dass man von einer allfälligen Diskrepanz nichts weiß, es sei denn die Geschäftsführung hat entsprechende Vorgaben gemacht, alle Prozesse und Kriterien auf Strategiekonformität zu überprüfen. Wahrscheinlicher ist es, dass die Problematik „von unten“ aufgegriffen wird (im Sinne von D1). Nun kommt es darauf an, ob der Führungswille wirklich existiert (Schritt 1), derartige Dilemmas (nachhaltige Strategie vs. eindimensionale Vergabekriterien) aufzugreifen und bewusst und in breiter Diskussion Lösungen zu erarbeiten.
Ob man eine Billig-Strategie oder eine differenziertere Strategie wählt, ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht eine Grundsatzentscheidung. Aus wirtschaftsethischer Sicht ist es dann fundamental, die Konsequenzen auszudiskutieren und in der längerfristigen Positionierung zu verankern (Schritt 5).
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2.3.4 Produktequalität und -sicherheit

Natürlich soll ein neues technisches Produkt möglichst qualitativ hochstehend und sicher sein. Auf der anderen Seite soll die Entwicklung und Produktion des Produkts möglichst wenig kosten. Um den Konsumenten zu schützen, wurden Gesetze geschaffen, welche die Entwicklung, die Produktion, den Verkauf, den Gebrauch und die Entsorgung regeln. Trotzdem können in diesem Spannungsfeld viele ethische Fragen auftauchen. Die Risikobeurteilung für ein neues Produkt beruht normalerweise auf zwei Faktoren: dem Schadensausmaß und der Eintrittswahrscheinlichkeit. Diesem Risiko wird dann der Aufwand gegenübergestellt, das Risiko zu beheben oder zu mildern. Dass technische Maßnahmen zur Verhinderung von Unfällen unumgänglich sind, ist unbestritten – dass sie sehr teuer sein können, aber ebenso. Fachpersonen tragen hier eine spezielle ethische Verantwortung, weil sie am besten die bestehenden Sicherheitsrisiken einschätzen können.
Fallbeispiel
Evas Job ist eine Gratwanderung. Sie ist Projektleiterin in der Entwicklung von Software, die Autofahrerinnen und Autofahrer beim Lenken ihres Fahrzeuges unterstützen soll. Als Softwareentwicklerin weiß sie, dass kaum eine Software fehlerfrei ist. Als Projektleiterin weiß sie aber auch, dass das Testen der Software viel Zeit und Geld verschlingt. Von der Qualität der Software hängt es aber letztlich ab, ob das ganze System sicher ist. Ein Versagen könnte zu tödlichen Unfällen führen. Durch modulares und iteratives Testen versucht sie, das Fehlerrisiko möglichst gering zu halten. Trotzdem wird es immer ein Restrisiko geben und die Frage bleibt, ob man überhaupt mit der Wahrscheinlichkeit von schweren Unfällen rechnen darf.
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Die Gesundheit von Menschen ist eines der höchsten Güter; Produkte in sicherheitskritischen Bereichen müssen mit besonderer Sorgfalt hergestellt werden. Häufig wird die Größe des Risikos aus dem Schadensausmaß und der Eintrittswahrscheinlichkeit berechnet. Die Quantifizierung von menschlichem Leid erscheint hier fast zynisch. Auch ist damit noch nichts über die Verteilung des Risikos und des Schadens ausgesagt. Profite zu privatisieren und Risiken zu sozialisieren ist auf jeden Fall keine ethische Grundhaltung (D2). Die Gewinne von Unternehmen stehen unter Legitimitätsvorbehalt: Die Sicherheit und Gesundheit gehen vor (R2) (Schritt 3). Fachpersonen tragen bei sicherheitskritischen Produkten und Anwendungen eine besondere Verantwortung, da sie als Experten einen Wissensvorsprung besitzen und Risiken genauer einschätzen können (D3). Wenn Unternehmen mit ihren Produkten Risiken eingehen, müssten diese auch öffentlich vertretbar sein. Den Medien kommt hier als kritische Öffentlichkeit eine wichtige Funktion zu (D4) (vgl. Abb. 2.13).
Praxistipps zum Vorgehen
Der erste Schritt in Richtung Produktqualität und Produktsicherheit besteht im bewussten Umgang mit den Risiken, die mit einem Produkt verbunden sind (Schritt 1). Für die Einschätzung des Risikos ist das Fachwissen von Experten notwendig. Die einfache Berechnung des Risikos aus Schadensausmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit ist abhängig von der Einschätzung dieser beiden Faktoren. Auch wenn ein Unternehmen ein professionelles Risikomanagement eingerichtet hat, bleiben Einzelpersonen für ihre Entscheide persönlich verantwortlich. Dies betonen mehrere Ethik-Codizes von Ingenieursverbänden (Schritt 3). Es bleibt ihrem Gewissen überlassen, ob sie beispielsweise bei unverantwortlichen Produktionsvorgaben diese umsetzen, ignorieren oder übergeordnete Stellen resp. gar die Öffentlichkeit informieren. Unternehmen, die sicherheitsrelevante Produkte herstellen, benötigen auf jeden Fall ein professionelles Risikomanagement, das Sicherheitsvorgaben in Produktionsprozesse implementiert (Schritt 5).
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2.3.5 Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz

Ungünstige Arbeitsbedingungen, ob organisatorischer, ergonomischer, physikalischer, biologischer oder chemischer Art, können gesundheitliche Beschwerden hervorrufen. Gute Arbeitsbedingungen hingegen schaffen physisches und psychisches Wohlbefinden und steigern die Motivation und die Arbeitsleistung (Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), o. J.-a). Ethische Dilemmas tauchen dann auf, wenn ein Unternehmen zu wenig für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz tut oder wenn Maßnahmen durch Kosten-Nutzen-Überlegungen zurückgestellt werden. Rechtlich ist die Situation allerdings klar: Das Unternehmen ist für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz verantwortlich. Gesundheit ist ein Menschenrecht und Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Deshalb ist die Gesundheit und Sicherheit von Mitarbeitenden auch Bestandteil von internationalen Arbeitsnormen.
Fallbeispiel
Magnus ist Produktionsleiter in einem kleinen Industrieunternehmen. Heute Morgen ist er vom CEO gebeten worden, ein neues Produktionsverfahren, das die Konkurrenz schon vor einigen Jahren eingeführt hat, für den Einsatz in ihrer Firma zu prüfen. In Magnus’ Produktionskette werden Stahlprodukte hergestellt. Als Legierungselement wird Blei eingesetzt, welches als toxisches Element gilt. Magnus macht sich schon seit Längerem Sorgen, ob die Sicherheitsvorkehrungen für die Mitarbeitenden in der Produktion ausreichend sind. Schließlich hantieren sie tagtäglich mit dem giftigen Blei. Das neue Produktionsverfahren würde diesen Kontakt im Legierungsverfahren auf ein Minimum reduzieren. Aber die dazu benötigten Geräte sind sehr teuer und der momentane Markt für Stahlprodukte nicht der beste. „Bisher ging es ja auch gut“, denkt er sich und rät dem CEO mit ungutem Gefühl von der teuren Investition ab.
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Die Gesundheit von Menschen ist eines der höchsten Güter und ausdrücklich in der Erklärung der Menschenrechte erwähnt (R2). Das Unternehmen trägt Verantwortung für die Gesundheit und Sicherheit der Mitarbeitenden am Arbeitsplatz, da diese die Produktionsverfahren nicht selbst wählen können (D3). Es muss deshalb die Produktionsverfahren nach bestem Wissen und Gewissen einrichten, um die Gesundheit der Arbeitnehmenden zu schützen, auch wenn dadurch höhere Kosten entstehen. Es gehört zu den Aufgaben von Unternehmen, Gewinn zu machen, allerdings stehen die Aufgaben unter einem Legitimitätsvorbehalt (D2). Bei Güterabwägung gehen die pflichtenethischen Ansprüche, wie der Schutz der Gesundheit, vor. Erst dann dürfen folgenethische Überlegungen wie Nützlichkeit und Kosten in Rechnung gestellt werden (vgl. Abb. 2.14).
Praxistipps zum Vorgehen
Die Mitarbeitenden in der Produktion zählen zu den wichtigsten Anspruchsgruppen eines Unternehmens. Wenn Unternehmen ihre Verantwortung professionell wahrnehmen, ermitteln sie regelmäßig mögliche Gefahrenpotentiale für ihre Anspruchsgruppen (Schritt 1). Sobald das Unternehmen von gefährlichen Arbeitsbedingungen Kenntnis hat, muss es handeln. Wenn die Gefahr nicht beseitigt werden kann, muss es die Arbeitnehmenden über die Gefahren informieren (Schritt 3). Haben Arbeitnehmende durch gefährliche Produktionsverfahren körperliche Schäden erlitten, so müssen sie dafür entschädigt werden. Wenn technische Alternativen zu gefährlichen Produktionsverfahren existieren, so ist das Unternehmen dazu verpflichtet, diese auch einzusetzen (Schritt 4).
Hintergrund
„Friendly Work Space®“ ist ein Qualitätslabel der Gesundheitsförderung Schweiz. Es zeichnet Unternehmen aus, welche Maßnahmen zur Optimierung der betrieblichen Rahmenbedingungen erfolgreich umsetzen und betriebliches Gesundheitsmanagement als Bestandteil des Unternehmensmanagements betrachten. Die Labelvergabe erfolgt aufgrund von Qualitätskriterien, die von führenden Schweizer Unternehmen zusammen mit der Gesundheitsförderung Schweiz entwickelt wurden. Ein Selbsttest sowie mehr Information zum Label und zum konkreten Vorgehen sind auf der Homepage der Gesundheitsförderung Schweiz zu finden (Gesundheitsförderung Schweiz, o. J.).
Weiterführende Information

2.3.6 Informelle Kanäle – am Dienstweg vorbei

Die meisten Unternehmen verfügen über ein Organigramm oder Regelungen zum Dienstweg, welche als bindend abgesegnet wurden. Die tatsächliche Kommunikation erfolgt aber über andere, oft persönliche Verbindungen. Informelle Kanäle werden auch inoffizielle oder bilaterale Kanäle genannt; man lernt etwas auf dem Latrinenweg, aus der Gerüchteküche, über den Flurfunk (poetischer auf Englisch: through the grapevine). Ein Integritätsproblem besteht dann, wenn Personen in der Organisation wiederholt bis systematisch informelle Kanäle anstelle von offiziellen Wegen nutzen.
Fallbeispiel
Soeben hat die gesamte Belegschaft eines größeren Alters- und Pflegezentrums vom obersten Chef das angepasste Organigramm erhalten. Wie jedes Mal wurde im E-Mail darauf hingewiesen, dass dieses bindend sei und die Kommunikationswege unbedingt eingehalten werden sollen. Sofia schmunzelt vor sich hin. Jedes Jahr das gleiche Lied. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass viele Kanäle existieren, die nichts mit diesen „offiziellen“ Wegen zu tun haben. Sie glaubt, dass das Unternehmen gar nicht funktionieren würde, hätte man nicht diese bilateralen Kanäle. In der Kaffeepause und auf den Gängen werden weit wichtigere Informationen ausgetauscht als an den offiziellen Sitzungen. Sofia findet es nur komisch, dass der Chef einerseits diese informellen Kanäle billigt und fördert und andererseits jährlich dieses Organigramm mit ausgestrecktem Zeigefinger verschickt. Soll sie ihren Chef darauf ansprechen?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Existieren klare Weisungen zum Dienstweg oder gibt es ein Organigramm, dann verhält sich jemand ethisch nicht korrekt, wenn er oder sie regelmäßig informelle Kanäle nutzt, um an Informationen zu kommen oder Dinge zu beeinflussen. Man umgeht damit fahrlässig oder bewusst Vorschriften oder Erwartungen. Vorgesetzte oder Mitarbeitende gehen wahrscheinlich davon aus, dass man sich an die offiziellen Kanäle hält.
Wer systematisch informelle Kanäle nutzt, legt kein Interesse an den Tag, legitim zu handeln (D2 wird verletzt). Aus pragmatischer Sicht würde man aber – in unseren Breitengraden – dafür plädieren, dies nicht so streng zu sehen. Aus ethischer Perspektive kann dem zugestimmt werden in dem Masse, wie bei Nutzern informeller Kanäle eine differenzierte Verantwortung (D3) feststellbar ist, zum Beispiel, indem diese laufend klarstellen (und darum bemüht sind), woher und weshalb sie im Besitz gewisser Informationen sind. Dies stellt ein erstes Spannungsfeld dar: Organigramm vs. bilaterale Kanäle nutzen.
Ein zweites Spannungsfeld liegt vor, wenn Verantwortungsträger die Informalität selbst fördern: Einerseits erlassen sie Regeln, fördern aber gleichzeitig aktiv oder passiv, dass diese umgangen werden. Bei solchem fast schizophrenen Führungsverhalten fehlt es am Interesse, legitim zu handeln (D2): Die verantwortungstragende Person könnte die Regeln schlicht aussetzen. Darunter versteckt sich aber auch eine Art Zynismus sowie, aus ethischer Sicht, ein Mangel an Respekt gegenüber den Untergebenen (R3): Diese werden – mit derartigem Handeln – nicht in ihrem für die Unternehmung konstitutiven Wert geschätzt. Die fehlbare Verantwortungsperson scheint sich auch über Führungsrollen zu mokieren: Untergebene (wie vielleicht auch die Person selbst) verlieren den Glauben an die Leadership der Organisation, lähmender Zynismus macht sich breit (vgl. Abb. 2.15).
Praxistipps zum Vorgehen
Jemand in der Organisation müsste eine derartige Diskrepanz einmal ansprechen. Möglicherweise sind sich viele im Unternehmen dieser Diskrepanz gar nicht bewusst. In diesem Fall reicht es, dies zu thematisieren. Lösungen könnten dahin gehen, Richtlinien abzuschaffen, informelle Kanäle zu offizialisieren oder ein Organigramm realen Gegebenheiten anzupassen.
Schwieriger wird es, falls der Wille fehlt, etwas zu ändern, die Diskrepanz zwischen formellen Vorgaben und informellen Kanälen groß ist und die Mitarbeitenden bereits zynisch reagieren. Verantwortungsträger müssten merken, dass eine derartige Situation ineffizient ist und der Glaubwürdigkeit schadet (Schritt 1). Möglicherweise hilft eine grafische Darstellung der inoffiziellen Linien auf dem Organigramm (vgl. Abb. 1.​4). Untergebene (wie im Fallbeispiel Sofia) könnten (im Sinne von D1) die Situation mit Vorgesetzten vorsichtig ansprechen. Ändert sich nichts, dann muss das entweder ertragen oder das Problem an die nächsthöhere Stufe eskaliert werden.

2.3.7 Leistungsmessung und Leistungsbeurteilung

Mit welchen Kriterien soll die Leistung eines Mitarbeitenden gemessen werden? Werden diese Kriterien den Leistungen aller Mitarbeitenden gerecht? Wenn nicht, wie sollen die Leistungen sonst verglichen werden? Die faire Beurteilung der Arbeitsleistung wirft zahlreiche Fragen auf. Sie tauchen beispielsweise dann auf, wenn das Gefühl entsteht, die standardmäßig verwendeten Messkriterien erfassten die Leistung von Mitarbeitenden nicht in ihrer Ganzheit bzw. würden ihrer Komplexität nicht gerecht. Arbeitsleistung ist nicht immer einfach messbar und vergleichbar. Die Leistungsmessung kann verschiedene Kriterien umfassen, sowohl harte wie Umsatz oder Vertragsabschlüsse als auch weiche wie Einsatz oder Kooperationsbereitschaft. Eine ausgewogene Beurteilung umfasst unterschiedliche Perspektiven, z. B. die Sicht der Mitarbeitenden, der vorgesetzten Person, der Arbeitskollegen und -kolleginnen oder auch von Außenstehenden. Grundlegend ist, dass die Kriterien und das Vorgehen der Beurteilung von Mitarbeitenden für alle Beteiligten transparent sind.
Fallbeispiel
Die jährlichen Mitarbeitenden-Gespräche stehen an. Im vergangenen Jahr wurde von der HR-Abteilung ein neues Beurteilungssystem eingeführt, welches die Vergleichbarkeit der Leistung der Mitarbeitenden verbessern soll. Gian hat als Vorbereitung auf die Gespräche für jeden seiner Mitarbeitenden einen solchen Beurteilungsbogen ausgefüllt. Heute steht das Gespräch mit Sarah auf dem Programm. Gian hat ein ungutes Gefühl. Das neue Beurteilungssystem ist nicht mehr so ausführlich wie das frühere und er wird den Eindruck nicht los, dass er Sarahs Leistung damit nicht gerecht wird. Sarah schneidet im neuen System viel schlechter ab als ihre Kolleginnen und Kollegen, obwohl sie gute Arbeit leistet. Der „Outcome“ ihrer Arbeit ist einfach nicht so gut messbar wie der ihrer Kolleginnen und Kollegen. Doch das HR lässt aus Effizienzgründen keine zusätzlichen Beurteilungen zu. Was soll Gian tun?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Zu einer verständigungsorientierten Einstellung gehört sicherlich, dass das Vorgehen und die Kriterien für die Leistungsbeurteilung offen gelegt werden. Die Mitarbeitenden haben ein Anrecht auf eine faire Beurteilung ihrer Leistung (D2). Ein Feedback zu ihren Leistungen bietet ihnen auch die Möglichkeit, ihre Leistungen zu verbessern und sich selber weiter zu entwickeln. Insofern ist eine Leistungsbeurteilung sowohl im Interesse des Unternehmens als auch der Mitarbeitenden. Das Gesetz schreibt vor, dass beispielsweise Arbeitszeugnisse wohlwollend formuliert werden (R2). Eine sorgfältige Beurteilung der Leistung ist gleichzeitig auch eine Wertschätzung der Arbeitsleistung (R3). Wenn die verwendeten Beurteilungsinstrumente die wesentlichen Aspekte der Leistung nicht erfassen, sollten sie angepasst werden. Im Fallbeispiel sollte Gian darauf bestehen, dass er das standardisierte Beurteilungssystem durch Zusatznotizen ergänzen kann, um der Arbeitsleistung von Sarah gerecht zu werden (vgl. Abb. 2.16).
Praxistipps zum Vorgehen
Eine faire Beurteilung der Arbeitsleistung sollte die Richtschnur sein (Schritt 1). Heute erfolgt eine professionelle Leistungsbeurteilung meist aus unterschiedlichen Perspektiven, beispielsweise aus Sicht der Mitarbeitenden selber, der vorgesetzten Personen, der Kollegen und Kolleginnen, der Partnerinnen oder Kunden. Ein einfaches, standardisiertes Beurteilungsraster kann die Leistung niemals so exakt erfassen wie eine 360 Grad-Beurteilung. Insofern bedeutet ein sorgfältiges Beurteilungsverfahren auch eine Wertschätzung der geleisteten Arbeit (R3). Die Selbst- und Fremdbeurteilung wird dann im jährlichen Mitarbeitenden-Gespräch abgeglichen (Schritt 3). Zudem sollten die Kriterien und Ziele der Beurteilung im Vornherein klar sein. Eine zweckmäßige Hilfe für die Formulierung von Zielen ist das Akronym SMART, wonach Ziele spezifisch (s), messbar (m), akzeptiert/aktionsorientiert (a), realistisch (r) und terminiert (t) zu formulieren sind. Am Ende eines Mitarbeitenden-Gesprächs unterzeichnen Vorgesetzte und Mitarbeitende gegenseitig die Protokollnotizen, um ihr gegenseitiges Einverständnis zu bekräftigen (Schritt 4). Die Kriterien und das Beurteilungsverfahren sollten zudem von Zeit zu Zeit überprüft und gegebenenfalls angepasst werden (Schritt 5).
Weiterführende Information
  • →Fallbeispiel: 2.4.5. Reaktion auf Fehlverhalten
  • →Fallbeispiel: 2.2.7. Gleichberechtigung

2.3.8 Faire Lohnsysteme

Der „faire“ Lohn und die Lohnverteilung innerhalb eines Unternehmens sind nicht erst seit der Boni-Diskussion Quelle vieler Unsicherheiten. Ein fairer Lohn sollte mindestens den Leistungen des Mitarbeitenden entsprechen, die Stellenanforderungen berücksichtigen, marktkonform sein, im Rahmen der Unternehmensmöglichkeiten liegen sowie Recht und Ethik nicht verletzen. Auch wenn ein Lohn diesen Anforderungen entspricht, können ethische Dilemmas das Lohnsystem betreffend im Unternehmen auftauchen.
Fallbeispiel
Im Fachbereich von Marco arbeiten zwei Mitarbeitende eng zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Der eine ist knapp 60 Jahre alt, erfahren, aber nicht mehr in der Stimmung, noch groß etwas zu bewegen. Der andere ist 30 Jahre alt und stets Feuer und Flamme, wenn etwas Neues ansteht. Die beiden kommen gut miteinander aus. Nur einmal im Jahr, wenn das jährliche Lohngespräch ansteht, sieht das anders aus. Der Jüngere fühlt sich unfair behandelt. Er beklagt sich dann jeweils bei Marco, es sei unfair, dass er, nur, weil er zu Zeiten des großen Sparens eingestellt worden sei, so viel weniger verdiene als der andere. Schließlich mache er gute Arbeit und bemühe sich stets, den Fachbereich voranzubringen. Marco steht jedes Jahr vor derselben Schwierigkeit: Er muss dem Mitarbeiter Recht geben. Aber das Lohnsystem ist zu unflexibel und die möglichen Lohnentwicklungen zu klein, um den Unterschied in der Leistung abbilden zu können. Was soll er tun?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Lohn ist eine finanzielle Entschädigung für eine Arbeitsleitung. Das Gefühl von Fairness beim Nehmen und Geben sitzt tief in uns und „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gilt weithin als Grundsatz für einen gerechten Lohn. Lohnunterschiede müssen gerechtfertigt werden können (D2). Es gibt durchaus akzeptable Gründe für ungleichen Lohn, wie beispielsweise unterschiedliche Anforderungen an die Arbeit, Berufserfahrung oder unterschiedliche Leistungen. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt allein ist allerdings ein schlechtes Kriterium für unterschiedliche Löhne. Ein faires Lohnsystem brauchte Transparenz nicht zu scheuen und sollte die Kriterien für die Einstufung klar darlegen können (D4). Gesetzlich verboten sind Lohnunterschiede allein aufgrund des Geschlechtes, obwohl diese in der Praxis immer noch häufig der Fall sind (R2). Der Lohn ist eine Form der sozialen Anerkennung für geleistete Arbeit und häufig auch ein wichtiger Bestandteil der Arbeitsmotivation (R3). Im Interesse eines guten Arbeitsklimas sollten Unternehmen ein faires und transparentes Lohnsystem einrichten (vgl. Abb. 2.17).
Praxistipps zum Vorgehen
Als erstes muss ein Unternehmen erkennen, dass unbegründete, individuelle Lohnunterschiede eine ernstzunehmende Ursache für Unzufriedenheit unter Mitarbeitenden sind (Schritt 1). Diskriminierung nach Geschlecht ist gar verboten. Wie die Analyse der Spannungsfelder zeigt, müssen Lohnunterschiede gerechtfertigt werden können, z. B. durch Anforderung, Qualifikation oder Leistung (D2). Im vorliegenden Fallbeispiel sind vielleicht das Alter und die Erfahrung als Kriterien plausibel, anderenfalls tatsächlich ein Begründungsnotstand bestünde (Schritt 3). Da das Problem im Einzelfall und im Nachhinein kaum zu lösen ist, ist es für das Unternehmen umso wichtiger, möglichst rasch eine klare Lohnpolitik zu entwickeln, die transparent gemacht wird (D4) (Schritt 5). Eine faire Lohnpolitik sollte zumindest drei Faktoren berücksichtigen: Anforderungen, Leistung und Marktsituation. Zusätzlich kann das Lohnsystem durch Lohnbänder und Lohnklassen mit klaren Zuordnungskriterien transparent gemacht werden. Zahlreiche Branchenverbände und auch Bundesstellen bieten zudem auf ihren Webseiten Empfehlungen für faire Löhne an.
Weiterführende Information

2.3.9 Entlassung

Sehr schnell sieht man sich im Falle von bevorstehenden Entlassungen mit ethischen Dilemmas konfrontiert: Wen soll man entlassen? Diejenige, die die besten Chancen hat auf dem Arbeitsmarkt, oder denjenigen, der dem Unternehmen am wenigsten bringt? Wie sollen die Entlassungen ausgestaltet sein? Wie werden die Entlassungen erklärt in Anbetracht der Summen, die für externe Berater bezahlt wurden? Unternehmen müssen sich Veränderungen im Umfeld anpassen und oft sind Umstrukturierungen und auch Entlassungen die Folge davon. Obwohl Arbeit gegen Lohn auf einem Vertag auf Zeit beruht, ist die Arbeit für viele Mitarbeitende weit mehr als nur eine Erwerbsquelle. Für sie bedeutet Arbeit auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und sie ist ein selbstverständlicher Teil ihres Lebens. Auch wenn Entlassungen manchmal unvermeidbar sind, so gehört eine menschenwürdige Abwicklung einer Entlassung zum Minimum, was Mitarbeitende von ihren Unternehmen erwarten dürfen. Sie ist Ausdruck der Wertschätzung auch in schwierigen Momenten.
Fallbeispiel
Die strategische Neuausrichtung im Bereich Großkunden ist eine längst überfällige und sinnvolle Sache. Anna weiß jedoch, dass dies große Veränderungen für ihre Abteilung nach sich ziehen wird. Die Neuausrichtung bedingt eine Neubeurteilung der Stellenprofile und -prozente. Die Analyse hat klar gezeigt, dass Annas Abteilung im Sekretariat über zu viele und in der Projektleitung über zu wenige Stellenprozente verfügt. Zusammen mit ihrem Chef hat sich Anna entschieden, dass wohl oder übel eine der beiden Sekretariatsstellen gestrichen werden müssen. Anna hat die Wahl zwischen einer jüngeren, flexibleren, jedoch etwas unerfahrenen Sekretärin und einer langjährigen älteren Mitarbeiterin, die „weiß, wie der Laden läuft“, aber nicht mehr große Lust an Veränderungen zeigt. Anna fühlt sich zerrieben zwischen einer Entscheidung zum Wohle der Mitarbeiterin und einer erfolgreichen Weiterentwicklung der Abteilung. Was soll sie tun?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Für die Mitarbeitenden ist es eine schmerzliche Erfahrung, plötzlich überflüssig zu sein, vor allem, wenn sie sich vorher voll und ganz mit ihrer Arbeit identifiziert haben. Insbesondere, wenn Unternehmen Loyalität von ihren Mitarbeitenden verlangt haben, bedeutet eine Kündigung für die Mitarbeitenden den Bruch eines Vertrauensverhältnisses (R1, R3). Im vorliegenden Fallbeispiel sollte Anna vor einem Entscheid abklären, welche Möglichkeiten einer Beschäftigung in einer anderen Abteilung oder einer Umschulung für die Sekretärinnen bestehen. Wenn eine Entlassung trotzdem unvermeidbar ist, muss das Unternehmen eine offene Kommunikation betreiben, die Kriterien für die Kündigung offenlegen und die Betroffenen bei der Suche nach einer Lösung unterstützen (D1, D4) (vgl. Abb. 2.18).
Praxistipps zum Vorgehen
Personalverantwortliche sollten sich der existenziellen Bedeutung der Arbeit für die Mitarbeitenden bewusst sein (Schritt 1). Sehr wichtig ist bei einer Entlassung eine überlegte Informationspolitik. Es stellt sich die Frage, wer wann über welche Kanäle informiert wird. Der GAU der internen Kommunikation tritt dann ein, wenn Mitarbeitende über informelle Kanäle oder über die Medien von Umstrukturierungen und Entlassungen in ihrem Unternehmen erfahren. Dies ist ein klarer Mangel an einer verständigungsorientierten Einstellung (D1). Gerade in Krisensituationen haben die Mitarbeitenden ein großes Bedürfnis nach Informationen aus erster Hand, die gleichzeitig auch zuverlässig sind (D4). Bei einer größeren Anzahl von Entlassungen sind zudem strengere gesetzliche Vorgaben wie z. B. die Erstellung eines Sozialplans einzuhalten. Die direkt Betroffenen, Gewerkschaften oder auch Standortgemeinden sollen möglichst bei der Lösungssuche beteiligt werden (Schritt 3). Dies erfordert von Führungskräften Klugheit und Mut. Führungsqualitäten zeigen sich nicht zuletzt in schwierigen Situationen.
Weiterführende Information

2.4 Fallbeispiele zum Bereich „Menschen“

2.4.1 Persönliche Überzeugungen

Gewissenskonflikte (im Arbeitskontext) sind ethische Dilemmas, welche Mitarbeitende zumeist mit sich selbst austragen. Sie entstehen daraus, dass sich die eigene Überzeugung zum Beispiel nicht oder nur begrenzt mit den Geschäftsprinzipien oder den kommerziellen Interessen des Unternehmens vereinbaren lassen. Soll man aus persönlicher Sicht wichtige ökologische Kriterien berücksichtigen oder muss dem Unternehmen gegenüber loyal gehandelt werden, da dieses durch ökologisches Handeln finanzielle Nachteile erleiden würde? Sollen von Zulieferfirmen Tiefstpreise verlangt werden, was dem Unternehmen einen guten Gewinn ermöglicht, obwohl dies dem eigenen Gefühl von Fairness widerspricht?
Fallbeispiel
Matthias arbeitet im Kundendienst. Vor Kurzem ist das Unternehmen, für welches er arbeitet, infolge der steigenden Mietpreise vom Stadtzentrum aufs Land gezogen. Da die meisten Kundinnen und Kunden im Stadtzentrum ansässig sind, konnte Matthias früher viele Besuche per Tram und Bus erledigen. Heute geht das nicht mehr. Matthias’ Unternehmen hat die Finanzierung von Zug-Abonnements seiner Außendienstmitarbeitenden gestoppt und stattdessen mehr Firmenwagen gekauft. Nun wird erwartet, dass sowohl lange wie auch kurze Strecken mit dem Auto zurückgelegt werden. Matthias geht das gegen den Strich. Er engagiert sich privat stark für den Umweltschutz und kann diese neue Praxis nur schwer mit seinem Gewissen vereinbaren. Andererseits versteht er auch die Beweggründe des Unternehmens. Was soll er tun?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Es ist Ausdruck einer offenen Gesellschaft, wenn Gewissenskonflikte thematisiert werden können. Im Arbeitskontext kann es aber auch hierzulande heikel sein, eine andere persönliche Überzeugung zu thematisieren und eigene Weltanschauungen legitimieren zu wollen (D2). Mit Unterzeichnung des Arbeitsvertrags akzeptiert man eine Unterstellung und die Weisungsbefugnis der Vorgesetzten. In fortschrittlichen Gesellschaften werden Angestellte aber als Menschen geachtet (R1) und nicht einfach als Produktionsfaktoren oder Maschinen.
In einem Großteil von Organisationen gibt es wahrscheinlich keine Gefäße, wo grundlegende Gewissenskonflikte machtfrei und ohne Angst vor Konsequenzen offengelegt werden können (ein Mangel an D4). Wenn die Kultur einer Organisation Gewissenskonflikte der Mitarbeitenden gar nicht zulässt, werden Andersdenkende marginalisiert (R3); der Wert und das Potential von Diversität und Befähigung wird verkannt.
Der oder die Einzelne muss allenfalls differenzierte Verantwortung übernehmen (D3), falls kein Stellenwechsel möglich ist: Sich mit der Situation abfinden und Freude daran haben, wenn im Kleinen Dinge verbessert werden können (vgl. Abb. 2.19).
Praxistipps zum Vorgehen
Gewissenskonflikte erfordern ein sehr hohes Maß an ethischer Kompetenz. Der wichtigste Schritt bei Gewissenskonflikten ist es, sich zu sensibilisieren und zu engagieren (Schritt 1). In vielen Fällen sind gewichtige Gewissenskonflikte kaum lösbar, außer, indem man eine andere Stelle sucht oder den Konflikt in einer Übergangszeit aushält. Meist müssen Gewissenskonflikte alleine gelöst werden, also im Quasi-Diskurs mit sich selbst (gemäß D3). Fortschrittliche Unternehmen, die stark auf Diversität (R3) und Mitarbeitenden-Befähigung setzen und damit Mitarbeitende ermutigen, ihre Gewissenskonflikte aktiv einzubringen, sind eher die Ausnahme. Eine Tendenz in diese Richtung ist aber gerade mit zunehmend flacheren Hierarchien erkennbar. Unternehmen sind gut beraten, sich (im Sinne von Schritt 5: Weiterentwicklung der Organisation) Möglichkeiten zu überlegen, von Ombudsstellen bis zur monatlichen Thematisierung von Spannungsfeldern, so dass Gewissenskonflikte konstruktiv eingebracht werden können.
Exkurs
Dieses Fallbeispiel zeigt eine interessante Nuance zwischen Resignieren und Aushalten. Ist ein Stellenwechsel unmöglich, kann von außen schnell der Eindruck entstehen, die Person habe resigniert und ihre Werte denjenigen der Firma angepasst. Das wäre in der Tat kein Ausdruck von ethisch reflektiertem Handeln. Ein Akt des „Aushaltens“ deutet aber auf einen anderen, ethisch wichtigen Aspekt hin: Ethische Dilemma muss man manchmal aktiv „erdauern“ oder mit sich herumtragen, d. h. man ändert an der Situation im Moment nichts, aber ist sich bewusst, dass das auf Dauer nicht geht und dass dies im Widerspruch zu eigenen Werten steht. Man hält aus, indem man das Dilemma auch immer wieder vor Augen hat und in stiller Abwägung (D3) merkt, dass man im Moment noch keine andere Alternative hat. Das kann Schwerarbeit sein, ist aber Ausdruck ethischer Reflektion – demgegenüber ist Resignation die „bequemere“ Variante, die letztlich aber auch unser Menschsein einschränkt (R1).
Weiterführende Information
  • →Fallbeispiel: 2.4.4. Loyalität gegenüber dem Unternehmen

2.4.2 Hintergedanken – Hidden Agendas

Bei Hintergedanken, verdeckten Absichten oder „hidden agendas“ geht es darum, dass jemand seine wahren Absichten oder Ziele verdeckt hält, man dies aber nicht erwarten würde. Der Oxford English Dictionary definiert Hidden Agendas als „verdeckte oder unausgesprochene Absicht hinter dem vordergründigen Ziel einer Handlung“. Das heißt, die Person mit verdeckten Absichten lässt andere bewusst im Irrglauben ob der wahren eigenen Zielsetzung.
Verdeckte Absichten sind insbesondere brisant, wenn sie innerhalb einer Organisation über längere Dauer verfolgt werden. Hidden Agendas zwischen Organisationen hingegen oder beispielsweise zwischen einem Versicherungsbroker und potenziellen Kundinnen und Kunden sind normal und quasi Teil der Spielregeln – man lässt sich nicht einfach in die Karten schauen (also eigentlich gar nicht mehr „hidden“ im Sinne von hintergründigen Absichten).
Fallbeispiel
Tom ist erfolgreicher Anlageberater in einer mittelgroßen Bank und genießt seit Jahren das Vertrauen von zahlreichen Kundinnen und Kunden. Auch als Mitarbeiter ist er ein allseits geschätzter Kollege. Neben dem Vertrauen der Kundinnen und Kunden hat er sich auch ein großes Wissen über das Anlagegeschäft aufgebaut. Insbesondere hat er selbst ein Excel-Tool entwickelt, das Daten aus unterschiedlichen Quellen zusammenzieht und in aggregierter Form übersichtlich darstellt. Das Tool ist vor allem für den Vergleich von Offerten für verschiedene Anlageprodukte sehr hilfreich. Andrea, seine Vorgesetzte, wünscht sich, dass auch andere Anlageberater von Toms Wissen profitieren können. Doch Tom weicht aus und sagt, dass es zu aufwändig sei, all das Wissen zu dokumentieren und für die interne Schulung sei er nicht zuständig. Zeit sei zudem Mangelware. Andrea wundert sich über Toms Reaktion. Will er sein Wissen für sich behalten oder hat er gar vor, sich als Berater selbständig zu machen? Soll ihn Andrea zur Rede stellen?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Bereits der Begriff „verdeckte“ Absichten drückt aus, dass die agierende Person bewusst schummeln will. Dies zeugt weder von einer kommunikationsorientierten Einstellung (D1) noch vom Willen, die beabsichtigten Ziele im Zweifelsfall zu legitimieren (D2). Aus Sicht organisationaler Integrität ist das Problem nicht die unterschiedliche Zielsetzung; unterschiedliche Ziele existieren immer, wenn mündige Menschen miteinander zusammenarbeiten. Das Problem liegt darin, dass eigene Ziele bewusst und über längere Zeit mit vordergründigen und angeblichen Motivationen verdeckt werden.
Dies ist dann gravierend und Ausdruck bewusst bösen Willens, wenn seitens der Organisation sowohl Klärungsgefäße (offene Türen, Meetings) existieren und gar noch eine Kultur des Vertrauens gefördert wird, die handelnde Person aber ihre verdeckten Absichten dennoch weiterverfolgt. Im Prinzip mangelt es dieser Person auch an Respekt gegenüber ihren Führungspersonen (R1 und R3). Das für gute Zusammenarbeit grundlegende, gegenseitige Vertrauen ist nicht gegeben oder es wird untergraben.
Hintergedanken sind aus diskursethischer Perspektive ein Grundübel, widersprechen sie doch den Anliegen aus D1 und D2 im Kern (vgl. Abb. 2.20).
Praxistipps zum Vorgehen
Personen davon abzubringen, verdeckte Absichten zu verfolgen, ist eine große Herausforderung, denn es ist letztlich eine Frage der Zusammenarbeitskultur. Aber eine Organisation kann langfristig nicht gut funktionieren, wenn alles Vereinbarte doppelbödig ist. Der Erfolg von Organisationen steht und fällt damit, wie ehrlich man zusammenarbeitet.
Das Wichtigste im Umgang mit Hidden Agendas ist der Schritt 1, die Sensibilisierung bzw. sensibilisiert sein. Denn Hidden Agendas sind quasi als Grundbaustein in vielen ethischen Dilemmas anzutreffen: in informellen Kanälen, in der Korruption, im Lobbying. Hidden Agendas können auch zu einer verdeckten, strategischen Opposition führen. Sie können die Zusammenarbeit in einem Team blockieren oder, noch schlimmer, das Team instrumentalisieren. Schlussendlich werden Personen mit Hidden Agendas wahrscheinlich auch Organisationsentwicklungsmaßnahmen behindern – diese würden ja ihre Machenschaften langfristig verhindern.
Führungsverantwortliche müssen rigoros gegen verdeckte Absichten innerhalb der eigenen Organisation vorgehen. Davon hängt auch die eigene Glaubwürdigkeit ab. Möglicherweise müssen langfristige Maßnahmen getroffen werden, d. h. die Organisation muss entwickelt werden (Schritt 5). Das Ausbügeln einzelner Vorfälle mit Schritt 2 bis 4 kann nur als Anschauungsmaterial und Exempel dienen.
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  • →Fallbeispiel: 2.4.4. Loyalität gegenüber dem Unternehmen

2.4.3 Whistleblowing

Ein „Whistleblower“ deckt unethische oder illegale Praktiken innerhalb einer Organisation gegenüber Vorgesetzten oder der Öffentlichkeit auf. Whistleblowing kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Werden bei einzelnen Kollegen oder Kolleginnen unethische oder illegale Handlungen beobachtet, dann kann sich der Whistleblower zunächst an die Vorgesetzten wenden. Wird auf diese Weise keine Lösung erreicht oder handelt es sich um ein unethisches Verhalten der Unternehmensleitung selbst, bleibt nur noch der Weg an die Öffentlichkeit. Durch das „Verpfeifen“ bei den Medien oder Behörden erzeugt der Whistleblower öffentlichen Druck, der die Organisation zum Handeln zwingt (Göbel, 2017, S. 198 ff.). In der Gesetzgebung sind Whistleblower meist noch ungenügend geschützt; sie gehen unter Umständen hohe Risiken ein und werden als Nestbeschmutzer bezeichnet. Wenn auch absurd anmutend könnten Whistleblower stattdessen als „Retter der Integrität“ gefeiert werden.
Fallbeispiel
Nach der Montagmorgen-Sitzung wird Christian von seinem direkten Vorgesetzten zurückgehalten und gefragt, ob er noch einen Moment Zeit für eine kurze Besprechung hätte. Christians Chef erzählt ihm im Vertrauen von einer verzwickten, aber verständlichen Situation mit einem Partnerunternehmen. Er verlangt von Christian, dass er diesem externen Partner eine größere Zahlung zusichert. Als Christian ihn darauf ansprach, dass dies nicht in Einklang mit dem Gesetz stehe, machte sich sein Chef über ihn lustig und meinte, dass man, um Erfolg zu haben, schon mal die Augen verschließen müsse. Christian weiß aber, dass derartige Zusagen vom obersten Chef vor einigen Tagen ausdrücklich abgelehnt worden waren. Nun steht er vor einem Loyalitätsdilemma. Soll er den Auftrag seines direkten Vorgesetzten ausführen oder diesen beim obersten Chef verpfeifen?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Ein Whistleblower hat eine illegale, illegitime oder seiner Meinung nach illegitime Aktion beobachtet, welche nach seinem Gutdünken nicht mit einem spezifischen Gesetz oder Richtlinien übereinstimmt (D2). Einen allfälligen Zweifel könnte er allenfalls im Gespräch klären (D1).
Ethisch reflektierte Whistleblower zeichnen sich dadurch aus, dass sie grundlegend bereit sind, sich für Recht und Gerechtigkeit einzusetzen und dass sie auch die Legitimität ihrer eigenen Aktion kritisch hinterfragen (D2): Geht es wirklich nicht darum, jemandem oder dem Unternehmen eins auszuwischen oder als Star der Presse aufzutreten? Hat er oder sie bereits alle verfügbaren Möglichkeiten genutzt, um auf einen Missstand aufmerksam zu machen? Nicht selten (und nachvollziehbar) kommt ein potentieller Whistleblower im Selbstgespräch (D3) zum Schluss, dass das Risiko für Repressalien zu hoch ist. Oft geht es auch auf der emotionalen Ebene um eine Abwägung, inwiefern man „dazu gehören“ oder sich absetzen will (R1, R3), Gefahr läuft, ausgelacht zu werden etc. Vor allem in kleineren Firmen existieren auch keine Meldestellen, wo Anliegen anonym und vertraulich gemeldet werden können (D4) (vgl. Abb. 2.21).
Praxistipps zum Vorgehen
Allfällige Whistleblower müssen genau abwägen, welche Risiken sie eingehen, und sich auch mit ihrer eigenen Motivation auseinandersetzen. Dann sind unbedingt zuerst interne Kanäle zu nutzen vor einem Gang an die Presse.
Organisation empfiehlt sich, eine Anlaufstelle für Mitarbeitende, wie z. B eine Ethik-Hotline oder Ethik-Beauftragte, einzurichten. Auch kleine Organisationen können gemeinsam mit anderen z. B. über ein Anwaltsbüro eine anonyme und vertrauliche Meldestelle für Fehlverhalten einrichten (Renz & Böhrer, 2012, S. 45).
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2.4.4 Loyalität gegenüber dem Unternehmen

Loyal ist, wer eine Instanz (z. B. den Staat oder den Vorgesetzten) respektiert. Auch Vertragstreue, Redlichkeit, nach Treu und Glauben handeln sind Synonyme von Loyalität. Wie weit ist man als Mitarbeitende dem Unternehmen gegenüber zu Loyalität verpflichtet? Was geht vor: das eigene Wohl oder dasjenige des Unternehmens?
Mit dem Arbeitsverhältnis wird nicht nur eine Vertragsbeziehung zwischen Unternehmen und Mitarbeitenden hergestellt, sondern oft auch der Grundstein zu einer langjährigen persönlichen Beziehung gelegt. Nicht nur aus vertraglicher Bindung, sondern auch, indem nach Treu und Glauben gehandelt wird, entsteht Loyalität. Geraten Mitarbeitende in ein Loyalitätsdilemma gegenüber dem Unternehmen, kann das darum vielerlei ethische Fragen aufwerfen.
Fallbeispiel
Simone ist seit zwei Jahren als Angestellte in einem kleineren Unternehmen tätig. An einem Donnerstagnachmittag ruft Simones Chef sie in sein Büro und erzählt ihr, dass ein großer Kunde, für welchen Simone zuständig war, soeben sämtliche Verträge gekündigt habe. Der Chef machte auf Simone einen sehr bedrückten Eindruck. Sie weiß, dass es um die Firma nicht zum Besten steht, und ohne diesen wichtigen Kunden wird es nun noch schwieriger werden. Zurück im Büro klingelt ihr Telefon. Der besagte Kunde ist am Apparat und bietet ihr eine hervorragende Anstellung in seinem Unternehmen an. Nur müsse sie sich bis Ende der Woche entscheiden, sagt er. Nun ist Simone im Dilemma. Ein Arbeitskollege hatte vor zwei Wochen gekündigt. Wenn sie nun auch noch kündigen würde, wäre niemand mehr da, der eine neue Arbeitskraft einarbeiten könnte. Sie kann ihr Unternehmen nicht einfach so im Stich lassen. Andererseits ist das Angebot sehr verlockend. Wie soll sie sich entscheiden?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Derartige Dilemmas sind meist Ausdruck eines guten Anstellungsverhältnisses. Wahrscheinlich wurde beiderseits über die Jahre auch immer mehr eingebracht als vertraglich geregelt und verlangt. Dem Unternehmen liegt möglicherweise wirklich das Wohl der Mitarbeitenden am Herzen. Je stärker diese Bande, desto schwieriger ein Ausstieg. Je schwächer diese Bande, desto einfacher, ja erlösender fällt ein Ausstieg. In guten Verhältnissen dürfte man eine offene Kommunikation erwarten (D1): „Ich habe ein sehr spannendes Angebot erhalten, weiß aber, dass dies die Organisation kurzfristig in Schwierigkeiten bringen könnte. Können wir allenfalls über verschiedene Szenarien diskutieren, welche auch meinen Wunsch nach Veränderung aufnehmen (falls dieser existiert)?“ Wenn das Unternehmen die angestellte Person als Mensch mit Bedürfnissen und Dynamiken anerkennt (R1), welche wie alle das Recht hat, sich in der heutigen Gesellschaft zu verändern und weiterzuentwickeln (R2), dann sollte einer guten Auseinandersetzung nichts im Wege stehen. Gleichzeitig sind auch hinter dem Unternehmen Personen, welche sich emotional betroffen fühlen dürfen (R1). Oft spielt in derartigen Gedanken auch die Treue zu den Kolleginnen und Kollegen und Anerkennung als gutes Team eine Rolle (R3).
Je kritischer oder ambivalenter hingegen das bestehende Arbeitsverhältnis auf der emotionalen Ebene ist, desto mehr reduziert sich die Loyalität auf die vertraglich vereinbarten Elemente. Das ist dann auch legitim und vertretbar (D2), wobei man das wohl mit sich selbst ausmachen muss (D3). In einer derartigen Situation handeln jene professionell (und ethisch reflektiert), welche Loyalitätskonflikte nicht ausnutzen, um der anderen Seite zu schaden (vgl. Abb. 2.22).
Nicht diskutiert wurde die Ebene des abwerbenden Großkunden. Dieser handelt nämlich gar nicht legitim. Ob man bei einer Organisation mit derartigen Werten glücklicher würde, ist zweifelhaft.
Praxistipps zum Vorgehen
Bei wirklich guten Arbeitsverhältnissen muss eine wirklich „einvernehmliche Lösung“ das Ziel sein. Möglicherweise ist das Unternehmen erfreut oder froh, wenn sich für seine Mitarbeitenden schöne Entwicklungsmöglichkeiten bieten, sofern er diese nicht anbieten kann. Oder beide Seiten bieten zumindest Hand für eine gute Übergangslösung (Schritt 3 und 4). Zuerst müssen aber die möglichen Befindlichkeiten eingeschätzt werden, um sich der Tragweite bewusst zu werden (Schritt 1). Bei guten Verhältnissen gehört unbedingt ein offenes Gespräch dazu, welches die Ansprüche und Befindlichkeiten beiderseits thematisiert (Schritt 2). Erst so kann man in einer derart heiklen Situation konstruktiv nach Lösungen suchen.
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  • →Fallbeispiel: 2.4.1. Persönliche Überzeugungen

2.4.5 Reaktion auf Fehlverhalten

Viele Unternehmen haben ausformulierte Verhaltensregeln oder gehen implizit von solchen aus. Die Szenarien von Verstößen gegen solche Verhaltensrichtlinien sind zahlreich: Die Firmen-Software wird kopiert, der Stundenrapport gefälscht, das Internet für privates Surfen missbraucht oder im Druckerraum trotz Verbot geraucht. Werden solche Situationen beobachtet, können vielerlei ethische Fragen auftauchen. Sollen Mitarbeitende ihre Vorgesetzten informieren oder lieber zuerst ihre Kolleginnen und Kollegen in einem persönlichen Gespräch darauf ansprechen? Die Antwort kann je nach Firmengröße und -kultur verschieden ausfallen. In großen internationalen Unternehmen erwartet man normalerweise, dass das Fehlverhalten direkt den Vorgesetzen gemeldet wird und dass diese Maßnahmen ergreifen. In kleineren und mittleren Unternehmen, in denen sich die Mitarbeitenden auch persönlich kennen, ist Verpfeifen normalerweise verpönt. Petzen kann das Vertrauen der Mitarbeitenden untereinander und somit das Arbeitsklima nachhaltig stören. Trotzdem kann das Fehlverhalten nicht einfach hingenommen werden.
Fallbeispiel
Nils ist zusammen mit Christoph und drei weiteren Arbeitskollegen in einer Auto-Werkstatt tätig. Heute Morgen hat Nils bereits zum dritten Mal beobachtet, dass Christoph während der Arbeitszeit an seinem eigenen Auto gearbeitet hat, anstatt Aufträge zu erledigen. Für solche Arbeiten ist eigentlich der monatliche „Schrauber-Samstag“ gedacht. Dann dürfen die Angestellten die Werkzeuge und Anlagen des Betriebes verwenden, um eigene Fahrzeuge zu reparieren. Nils ist es nicht Recht, Christoph zu verpfeifen. Andererseits beklagen sich alle über die vielen Überstunden, die geleistet werden müssen, weil das Team mit der Arbeit nicht nachkommt. Soll Nils zum Werkstattchef gehen und von Christophs Tun erzählen?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Das Spannungsfeld besteht in doppelter Hinsicht. Einerseits verstößt Christophs Fehlverhalten gegen interne Verhaltensregeln und kann deshalb nicht einfach hingenommen werden (D2). Andrerseits stellt sich die Frage, wie der Kollege, Nils, angemessen reagieren soll. Verpfeifen unter Kollegen ist verpönt, aber einfach wegzuschauen, ist ebenfalls nicht korrekt. Eine verständigungsorientierte Einstellung verlangt, dass Nils Christoph direkt auf sein Verhalten anspricht (D1). Insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen stellt dies das erwartete Verhalten unter Kolleginnen und Kollegen dar. Es entspricht auch der sogenannten Goldenen Regel: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Die meisten Menschen wünschen sich wohl, dass sie zuerst auf ihr Fehlverhalten aufmerksam gemacht werden, bevor es offiziell sanktioniert wird (vgl. Abb. 2.23).
Praxistipps zum Vorgehen
Die Sensibilisierung besteht in diesem Fallbeispiel darin, dass sich die Mitarbeitenden des Fehlverhaltens bewusstwerden und dieses nicht als Kavaliersdelikt bagatellisieren (Schritt 1). Bei der Analyse des Spannungsfeldes spielt auch die Höhe eines allfälligen Schadens für die Firma oder für Dritte eine Rolle. Wenn Mitarbeitende angemessen reagieren wollen, sollen Sie das Fehlverhalten von Kolleginnen und Kollegen direkt ansprechen (D1) (Schritt 3). Der Angeschuldigte erhält dann die Möglichkeit, sein Verhalten zu ändern und einen allfälligen Schaden wieder gut zu machen. Wiederholt der Angeschuldigte sein Fehlverhalten trotz der Ermahnung, so bleibt wohl nur, dies über den offiziellen Dienstweg dem Vorgesetzten zu melden. Das Unternehmen sollte Verhaltensrichtlinien explizit in der Weiterbildung schulen und Zweifelsfälle in der Anwendung ansprechen und klären (Schritt 5).
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2.4.6 Alkoholproblem

Ist Alkohol- und Drogenkonsum Privatsache? Muss die Alkoholfahne von Kolleginnen und Kollegen den Vorgesetzten gemeldet werden? Alkoholprobleme sind keine Bagatellen, sondern Grund genug, hinzuschauen und Herausforderungen inklusive ethische Dilemmas in diesem Bereich ernst zu nehmen.
Fallbeispiel
Erich gehört zum „harten Kern“ der Firma. Er ist schon seit 15 Jahren im Kundendienst tätig und hat seinen Job immer sehr gut gemacht. Vor einigen Monaten hat er sich von seiner Frau getrennt. Seinen Arbeitskolleginnen und -kollegen ist aufgefallen, dass er seither vermehrt nach Alkohol riecht. Anfänglich haben sie noch Sprüche gemacht: „Der Erich macht das richtig: Abend für Abend in den Ausgang gehen, Frauen kennen lernen und das Singleleben genießen!“ Doch langsam machen sie sich auch Sorgen. Seine Arbeit verrichtet er nach wie vor gut. Aber sie haben Angst, dass es noch schlimmer werden könnte und dann auch die Kunden Erichs Alkoholfahne riechen könnten. Sollen sie etwas tun, z. B. ihren Chef informieren?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Mitarbeitende, die Drogen oder übermäßig viel Alkohol konsumieren, erfüllen wahrscheinlich die Erwartungen gemäß Arbeitsvertrag, Stellenprofil oder sonstigen Anweisungen längerfristig nicht: Ihre Handlung ist illegitim (D2) und wirkt sich auf die Leistung aus, stellt allenfalls gar ein Sicherheitsrisiko dar. Dies direkt anzusprechen (D1), ist für Kollegen und Kolleginnen eine Herausforderung. Soll dem Kollegen oder der Kollegin Respekt gezollt werden (R1) oder soll jemand auf ein vermutetes Alkoholproblem angesprochen werden oder soll – eventuell nach Abwägung verschiedener Standpunkte (D3) – die Personalabteilung kontaktiert werden? Möglicherweise ist man auch entnervt, dass jemand eine Sonderbehandlung erhält (R2) und man selbst zusätzliche Arbeit leisten muss. Letzteres, falls nicht einvernehmlich lösbar, wäre seitens des Unternehmens oder seitens des fehlbaren Kollegen auch ein Mangel an Legitimation (D2) (vgl. Abb. 2.24).
Praxistipps zum Vorgehen
Das Alkoholproblem einer Kollegin oder eines Kollegen wird wohl primär die anerkennungsethische Ebene betreffen, sei es ihm oder ihr gegenüber als Individuum (R1) oder möglicherweise aus Sicht einer gesellschaftlichen Verantwortung (R3). Zuerst (Schritt 1) sollte deshalb der Betroffenheit Gehör gegeben werden. Im konkreten Fall müssen aber spezifische Lösungen gesucht werden (Sicherheitsfragen, Umgang mit der Leistungseinbuße etc.), welche es erfordern, im direkten Kontakt oder – wahrscheinlicher – über eine Personalabteilung das Gespräch zu suchen (im Sinne von D1, D2 und D3).
Ob man im Schritt 5 (Organisationselemente anpassen für den langfristigen Erfolg) sinnvolle Maßnahmen ergreifen kann, ist fraglich. Vielleicht ist eine innerbetriebliche Präventionskampagne angebracht.
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2.4.7 Mobbing

Die International Labour Organization (ILO) definiert Mobbing als eine Form von systematischer kollektiver Gewalt, die eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter psychologischen Schikanen aussetzt, zum Beispiel durch andauernde negative Bemerkungen oder Kritik, Isolation, Verbreitung von Klatsch oder durch Lächerlich-Machen der betroffenen Person. Obwohl derartige Praktiken an der Oberfläche als kleinere und einzelne Aktionen erscheinen mögen, können sie ernsthafte Folgen haben (Chappell & Di Martino, 2006, S. 21).
Fallbeispiel
Johannes ist neu in der IT-Abteilung. Er hat von seinem früheren Chef, der heute im besagten Unternehmen im Kader tätig ist, von der vakanten Stelle erfahren. Er freute sich sehr darauf, da ihm ein Projekt versprochen wurde, das genau seinen Interessen und Fähigkeiten entsprach. Besagtes Projekt war tatsächlich sehr spannend, doch mit den Kolleginnen und Kollegen hatte er Mühe. Am Anfang dachte er noch, dass es sich einfach um eine sehr eingeschworene Gruppe handelt, die etwas Zeit braucht. Doch es wurde je länger, je schlimmer. Am Kaffeeautomat spricht niemand mit ihm und bei der Arbeit erntet er nur zynische Kommentare und abfällige Bemerkungen. Ein Kollege einer anderen Abteilung meinte einmal zu ihm, dass halt Tim, ein Team-Kollege, sich ursprünglich für Johannes Job beworben habe. Seit gestern überlegt sich Johannes sogar, ob er nicht wieder künden sollte. Denn als er nach dem Mittagessen an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, traf ihn fast der Schlag: Sein Computer lief und zahlreiche Porno-Seiten waren geöffnet! So kann das nicht weiter gehen, das ist ihm das Projekt nicht wert. Johannes schildert die Situation seinem Abteilungsleiter. Doch was soll dieser nun tun?
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Mobbing kann jeden treffen, auch wenn er oder sie keinen Anlass dazu gibt. Mobbing ist ein ernsthaftes Problem, das von Vorgesetzten und Personalverantwortlichen erkannt und angegangen werden muss. Betroffen sind durch Mobbing alle Mitarbeitenden, nicht nur das Mobbingopfer. Vorgesetzte dürfen nicht wegschauen und haben für die Bekämpfung von Mobbing die Verantwortung zu übernehmen. Bei Mobbing wird einer Person die emotionale Anerkennung verweigert (R1) und sie wird vom Team abgelehnt und ausgeschlossen (R3). Die fehlende Wertschätzung drückt sich bei Mobbing auch im Kommunikationsverhalten aus. Neben der offiziellen Kommunikation findet beim Mobbing oft inoffizielle Kommunikation statt, bei der das Mobbingopfer zum Gegenstand von boshaften Gerüchten oder gar Streichen wird (D1). Diffamierung ist die gezielte Verleumdung von Personen, um ihr Ansehen und ihren Ruf zu schädigen. Das Unternehmen ist rechtlich verpflichtet, Arbeitnehmende vor Schädigung zu schützen, auch wenn die Aggression von anderen Mitarbeitenden ausgeht (R2). Ein weiteres Mobbingverhalten ist die Kommunikationsverweigerung, bei der das Opfer aus der alltäglichen oder beruflichen Kommunikation ausgeschlossen wird (D2) (Abb. 2.25).
Praxistipps zum Vorgehen
Als erstes muss allen Beteiligten klar werden, dass eine integre Organisation Mobbing nicht toleriert. Vorgesetzte sollen diese Botschaft offiziell verkünden, allenfalls Sanktionen androhen und auf Mobbingfälle gezielt reagieren (Schritt 1). Für Mobbingopfer ist es ratsam, Vorfälle in einem Tagebuch zu notieren, so dass diese später rekonstruiert werden können. Bei Mobbingverhalten ist zunächst ein geleitetes Gespräch zwischen den Beteiligten und dem Mobbingopfer sinnvoll. In gravierenden Fällen ist ein externer Coach beizuziehen (Schritt 3). Als längerfristige Maßnahme soll die Organisation eine interne oder externe Ansprechperson benennen, an die sich Mobbingopfer wenden können und die den Vorwürfen nachgeht (Schritt 5). Auch eine Weiterbildung zum Thema Mobbing kann die Sensibilität für Mobbing stärken und die ernsthafte Absicht der Organisation, dagegen vorzugehen, unterstreichen.
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2.4.8 Sexuelle Belästigung

Gemäß dem Staatssekretariat für Wirtschaft SECO fällt unter den Begriff sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz „jedes Verhalten mit sexuellem Bezug oder auf Grund der Geschlechtszugehörigkeit, das von einer Seite unerwünscht ist und das eine Person in ihrer Würde verletzt. “ (Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) & Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG), 2016, S. 3). Konkret bedeutet dies z. B., dass anzügliche oder zweideutige Bemerkungen zum Aussehen der oder des Mitarbeitenden gemacht werden, sexistische Bemerkungen oder Witze fallen, pornografisches Material vorgezeigt wird oder es zu unerwünschtem Körperkontakt kommt. Es gibt eine einfache Regel, um zu beurteilen, ob es sich bei einem beobachteten Verhalten um einen harmlosen Flirt oder einen Vorfall von sexueller Belästigung handelt: Die Absicht der belästigenden Person ist nicht ausschlaggebend, sondern, ob die betroffene Person dieses Verhalten als erwünscht oder unerwünscht empfindet.
Fallbeispiel
Als Chloé vor drei Monaten neu in der Verkaufsabteilung angefangen hat, wunderte sie sich noch, warum ihre Vorgängerin einen so tollen Job nach so kurzer Zeit schon wieder aufgegeben hat. Jetzt weiß sie, warum. Eine Kollegin einer anderen Abteilung hat sie gestern am Kaffee-Automaten gefragt, wie sie denn mit „unserem Don Juan“ zu Recht käme. Da wurde ihr bewusst, dass es offenbar nicht nur ihr so ging. Angefangen hatte alles ganz harmlos. Ihr Chef, eigentlich ein netter Typ, hatte ihr Komplimente gemacht für ihren Kleidungsstil. Sie freute das sehr, da sie am Anfang unsicher war, ob sie sich für die Verkaufsabteilung richtig kleidete. Etwas später hatte er sie „zur Feier des ersten überstandenen Monats“ zum Nachtessen eingeladen. Ihr war das etwas unangenehm – so allein mit ihrem Chef. Aber sie dachte, dies sei in der Firma so üblich. Seit das mit den nächtlichen SMS begonnen hat, weiß sie jedoch nicht mehr, was sie tun soll. Praktisch jede Nacht schreibt er, dass er sie vermisse und nicht einschlafen könne ohne sie. Ihr ist das peinlich. Eigentlich gefällt ihr der Job, aber sie weiß nicht mehr, wie sie ihrem Chef begegnen soll.
Analyse der Spannungsfelder und Leitideen
Sexuelle Belästigung besteht auch dann, wenn die Konfliktsituation nur von einer Person wahrgenommen wird. Sie ist ein Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht einer Person und verletzt die psychische Integrität und auch die Würde der Person (R1, R2). Im Fallbeispiel nutzt der Chef seine Vorgesetztenfunktion, um seine eigenen Interessen zu verfolgen. Dies ist ein Machtmissbraucht und widerspricht dem legitimen Verhalten (D2). Auch wenn sexuelle Belästigung für ihn selbst oder für die Umgebung als normales Verhalten gilt, darf sie nicht einfach toleriert werden. Das Opfer der sexuellen Belästigung soll sich dagegen wehren. Dazu braucht es aber auch institutionelle Unterstützung (vgl. Abb. 2.26).
Praxistipps zum Vorgehen
Zunächst ist es wichtig, dass das Opfer der sexuellen Belästigung Klarheit schafft, d. h., dass es deutlich macht, dass das Verhalten unerwünscht und nicht akzeptabel ist. Dies ist ein erster Schritt zur Bewusstmachung des Sachverhalts beim Täter (Schritt 1). Wenn die Belästigungen trotzdem nicht aufhören, soll das Opfer die Ablehnung klar deklarieren und die Vorfälle notieren. Das Opfer kann dann Beschwerde bei der Personalabteilung einreichen und diese auch begründen (Schritt 3). Um Opfer institutionell besser vor sexueller Belästigung zu schützen, kann ein Unternehmen auch ausdrücklich einen Eskalationsweg, z. B. eine Meldestelle, einrichten, die den Vorwürfen nachgeht. Dies ist vor allem dann hilfreich, wenn Vorgesetzte sexuell belästigen (Schritt 5).
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Literatur
Zurück zum Zitat Crane, A., & Matten, D. (2010). Business ethics: Managing corporate citizenship and sustainability in the age of globalization (3. Aufl.). Oxford University Press. Crane, A., & Matten, D. (2010). Business ethics: Managing corporate citizenship and sustainability in the age of globalization (3. Aufl.). Oxford University Press.
Zurück zum Zitat Göbel, E. (2017). Unternehmensethik: Grundlagen und praktische Umsetzung (5., überarb. u. akt. Aufl.). UVK Verlagsgesellschaft mbH. Göbel, E. (2017). Unternehmensethik: Grundlagen und praktische Umsetzung (5., überarb. u. akt. Aufl.). UVK Verlagsgesellschaft mbH.
Zurück zum Zitat Maak, T., & Ulrich, P. (2007). Integre Unternehmensführung: Ethisches Orientierungswissen für die Wirtschaftspraxis. Schäffer-Poeschel. Maak, T., & Ulrich, P. (2007). Integre Unternehmensführung: Ethisches Orientierungswissen für die Wirtschaftspraxis. Schäffer-Poeschel.
Zurück zum Zitat Renz, P. S., & Böhrer, N. (2012). Niederlassungen führen: Mit Subsidiary Governance zum Erfolg. Springer Gabler. Renz, P. S., & Böhrer, N. (2012). Niederlassungen führen: Mit Subsidiary Governance zum Erfolg. Springer Gabler.
Metadaten
Titel
Fallbeispiele zum Integritätsmanagement
verfasst von
Patrick S. Renz
Bruno Frischherz
Irena Wettstein
Copyright-Jahr
2023
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-66227-4_2