Eine Frage, welche häufig gestellt wird, lautet: Welches Ziel verfolgt Sahra Wagenknecht mit ihrer neuen Partei? Das Bündnis Sahra Wagenknecht verfolgt eine komplexe Strategie, die Elemente sowohl einer „Blackmail-Partei“ als auch einer „Koalitionspartei“ miteinander vereint. Diese Begriffe, die Giovanni Sartori (1976) in seiner Analyse von Parteiensystemen prägte, bieten einen prägnanten theoretischen Rahmen, um das politische Vorgehen des Bündnisses zu entschlüsseln. Laut Sartori zeichnet sich ein „Blackmail-Potenzial“ durch die Fähigkeit aus, den politischen Diskurs zu beeinflussen und strategischen Druck auf andere Parteien auszuüben, ohne zwingend an einer Regierungsbeteiligung interessiert zu sein. Ein „Koalitionspotenzial“ hingegen ist bestrebt, in Regierungsverantwortung zu treten, sofern ihre Bedingungen und Programme respektiert werden.
Es bleibt eine Herausforderung, das BSW aufgrund seines jungen Alters und den sich dadurch entfaltenden Dynamiken, adäquat zu klassifizieren. Dies wird umso komplexer bei Betrachtung der unterschiedlichen Signale, die durch die Parteiführung und auch Gliederungen der Partei ausgesendet werden. Dies gilt auch hinsichtlich der Frage, ob sich die Partei als künftiger Koalitionspartner andient oder eine nicht-regierende Oppositionspartei bleiben will. Das „Koalitionspotenzial“ zeigt sich grundsätzlich an der Bereitschaft, in Koalitionsgespräche einzutreten und politische Verantwortung zu übernehmen, wenn dies mit den eigenen Zielen vereinbar ist. Andererseits zeigt der Ausstieg aus den Koalitionsverhandlungen in Sachsen das „Blackmail-Potenzial“ der Partei: Es wird deutlich, dass Wagenknecht und ihr Bündnis nicht bereit sind, ihren Hauptmobilisierungsfaktor, die Ukraine-Russland-Thematik, zugunsten eines Machtgewinns zu verwässern. Das BSW steht zweifelsohne vor einem Dilemma: Hätte man sich nicht an Regierungen in Brandenburg oder Thüringen beteiligt, wären beide Bundesländer politisch kaum regierbar geworden – schon das Beispiel der schwarz-roten Minderheitsregierung in Sachsen zeigt, wie sich die Lage in ostdeutschen Bundesländern immer weiter zuspitzt. Allerdings bedeutet ein Eintritt in eine Regierung gleichzeitig auch, Kompromisse schließen zu müssen – für eine neu gegründete Partei, die noch um ihr eigenes Profil ringt, nicht immer zwangsläufig zielführend. Wagenknecht selbst benannte diese Herausforderung am Morgen nach der Bundestagswahl.
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Die geopolitische Dimension, insbesondere die Frage nach einem möglichen Frieden in der Ukraine, hat das politische Gelegenheitsfenster für das BSW vermutlich negativ beeinflusst. Der wiederholt von US-Präsident Donald Trump geforderte und möglicherweise zu erzwingende Frieden könnte das BSW wertvolle Stimmen gekostet haben, da sich mit der Annahme einer baldigen Befriedung nicht erfolgreich mobilisieren lässt. Keine Partei hat den Krieg in der Ukraine derart zum Bestandteil der eigenen Partei-DNA gemacht und sich gleichzeitig derart exponiert als Stimme der Friedensbewegung inszeniert.
Es gibt erste Anzeichen dafür, dass Wagenknecht, die immer gegen alle Widerstände weiterhin aktiv geblieben ist, auch nach dieser Niederlage nicht kampflos aufgeben wird. Es ist durchaus im Bereich des Denkbaren, dass Wagenknecht trotz des vorerst enttäuschenden Wahlergebnisses weiterhin als prägende Figur in der deutschen Politik agieren könnte. Fraglich ist, ob sie dies als Parteifunktionärin machen wird oder wieder vermehrt in der Rolle als öffentliche Intellektuelle aufgeht, die sie ohnehin zuletzt noch als Mitglied der Linken eingenommen hat.
Der Wahlerfolg des Bündnis Sahra Wagenknecht steht und fällt zweifellos mit ihrer Persönlichkeit und Führungskompetenz (Wurthmann & Wagner, 2025). Sie bleibt auch am Tag nach der Wahl das unbestrittene Zentrum der Partei – und ihre Vision prägt die politische Richtung des gesamten Projekts. Dabei bleibt ihre politische Reichweite nicht nur auf die Bundesebene beschränkt. Wagenknecht verfügt weiterhin über bestehende Einflusskanäle, insbesondere über die in den Bundesländern an den dortigen Landesregierungen beteiligten Landesverbände sowie über die Abgeordneten im Europaparlament. Dies könnte ihr helfen, weiterhin als eine einflussreiche Figur innerhalb des politischen Diskurses zu wirken, auch wenn das BSW auf Bundesebene nicht den erhofften Durchbruch im ersten Anlauf erzielt hat.
Das BSW sorgt nicht nur in Deutschland, sondern auch auf internationaler Ebene für erheblichen Aufruhr. Besonders bemerkenswert ist die mögliche Inspiration, die es für andere politische Bewegungen dargestellt haben könnte. So gründete sich im Frühjahr 2025 in Großbritannien die Gruppierung „Blue Labour“, eine konservative Abspaltung der Labour-Parteifraktion, die durchaus als ein Echo auf Wagenknechts politische Ausrichtung gedeutet werden kann. Obwohl das BSW auf Bundesebene nicht den parlamentarischen Durchbruch erzielen konnte, hat es zumindest Aufmerksamkeit auf die sogenannte „linkskonservative“ Repräsentationslücke gelenkt – eine Leerstelle, die das BSW mit seiner eigenen politischen Plattform zu füllen versucht. Dies zeigt, auch wenn das BSW auf nationaler Ebene keine Repräsentantinnen und Repräsentanten im Parlament hat, so hat es dennoch die Fähigkeit, den politischen Diskurs maßgeblich und sogar international zu beeinflussen – und das ist, wenn man so will, die eigentliche Funktion einer Blackmail-Partei. Nicht unähnlich ist es auch der AfD nach ihrem Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl 2013 ergangen. Vier Jahre später, im Jahr 2017, gelang der AfD dann doch noch der Einzug, was möglicherweise auch für das BSW ein Lichtschein am Horizont sein kann. Dies gilt umso mehr, da das BSW derzeit Abgeordnete in drei Landesparlamenten sowie im Europaparlament sitzen hat und an zwei ostdeutschen Landesregierungen beteiligt ist.
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Es bleibt abzuwarten, ob Wagenknecht selbst oder einer ihrer Vertrauten das Bündnis in Zukunft führen wird, um sich den Herausforderungen der politischen Landschaft zu stellen. Jedenfalls zeigt das gesamte Experiment, dass das BSW, auch wenn es mit Rückschlägen konfrontiert ist, keineswegs als politischer Akteur von geringer Bedeutung abgetan werden kann. Die bis heute stehenden Wahlerfolge bleiben ein exemplarisches Beispiel dafür, dass das deutsche Parteiensystem auch in Zukunft vor neuen Veränderungen stehen wird. Das letzte Wort über die Zukunft des Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit und seiner Gründungsvorsitzenden Sahra Wagenknecht ist damit sicherlich noch nicht gesprochen.
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