Viele Kreditinstitute haben immer noch mit den Nachwirkungen der großen Finanzkrise zu kämpfen. Heinz-Werner Rapp erklärt im Interview mit Springer Professional, wie die Wissenschaft mithilfe des "Cognitive-Finance-Konzepts" künftige Krisen besser voraussagen will.
Springer Professional: Die traditionellen Modelle der Kapitalmarktforschung haben darin versagt, die Finanzkrise vorherzusehen. Woran liegt das Ihrer Meinung nach am ehesten?
Heinz-Werner Rapp: Die traditionellen Modelle der Wirtschafts- und Kapitalmarkttheorie stammen aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts und basieren auf zwei Grundthesen: Mit Blick auf Märkte ist dies die Markteffizienz-Hypothese, mit Blick auf Marktteilnehmer die These rationalen Verhaltens (Idealbild des "Homo oeconomicus“). Beide hängen eng zusammen, reflektieren jedoch ein antiquiertes Weltbild. Märkte sind nach dieser Sichtweise (weitgehend) effizient und streben einen stabilen Gleichgewichtszustand an; Marktteilnehmer bilden stets rationale Erwartungen und agieren berechenbar. Beide Annahmen sind völlig unrealistisch. Sie lassen keinen Raum für irrationale Risiken, exzessive Spekulation oder psychologisch bedingte Verhaltensfehler, durch die sich Marktkrisen typischerweise auszeichnen. Große Finanzkrisen wie 2000 bis 2010 sind im Verständnis der orthodoxen Modelle weder denkbar noch möglich. Entsprechend schwer können sie rückblickend erklärt werden. Damit erübrigt sich auch die Frage nach der Vorhersehbarkeit von Marktkrisen anhand dieser Modelle.
Was sind die grundlegenden Annahmen des "Cognitive Finance“-Konzepts und was sind die größten Unterschiede zu den traditionellen Modellen der Kapitalmarktforschung?
Im Gegensatz zur orthodoxen Kapitalmarktforschung unterliegt dem Cognitive Finance-Konzept ein realistischeres Welt- und Menschenbild. Marktakteure haben menschliche Verhaltensweisen. Sie machen systematische Fehler, sind durch persönliche Erinnerungen und Erfahrungen geprägt und zeigen eklatante Schwächen im Informations- und Entscheidungsprozess. Ihre kognitiven Defizite und Verhaltensanomalien sind Teil der Realität und damit auch machtvolle Treiber des Anlegerverhaltens und der Dynamik an realen Märkten. Aus diesen Einsichten entsteht ein völlig neues Bild der Kapitalmärkte: Diese sind nicht länger eine abstrakte Black Box, sondern reflektieren zu jeder Zeit den Stand zahlloser individueller Entscheidungs-, Adjustierungs- und Adaptionsprozesse unvollkommener menschlicher Marktteilnehmer. Damit verändern sich auch bisherige Perspektiven der Kapitalmarktforschung: Märkte sind dann keine banalen Austauschprozesse im Sinne der Gleichgewichtstheorie, sondern hochdynamische komplexe adaptive Systeme, die nur durch Ansätze der Komplexitätsforschung sinnvoll erklärt werden können.
Bei welchen anderen Wissenschaften bedient sich das Konzept und worin liegt der Vorteil dieses interdisziplinären Modells?
Das Cognitive Finance-Konzept folgt einigen zentralen Aussagen der Verhaltensökonomie (Behavioral Finance), wird aber durch neueste Ergebnisse der Kognitionsforschung und der Neurowissenschaften ergänzt und stark erweitert. Diese innovativen Disziplinen ermöglichen einen unverstellten Blick auf den Menschen und auf menschliches Verhalten. Bei der Betrachtung realer Kapitalmärkte werden Grundsätze der Komplexitätstheorie angewendet, wodurch reale Marktdynamik (Zyklen, Trends, Blasen, Crashs etc.) sehr gut erklärt und modelliert werden kann. Die aus der Kombination dieser Ansätze gewonnenen Erkenntnisse sind extrem ergiebig und zeigen große Realitätsnähe. Sie werden deshalb das alte Paradigma der Kapitalmarktforschung nachhaltig verändern.
Ist es aus Ihrer Sicht besser, die traditionellen Modelle mit dem "Cognitive Finance"-Konzept zu kombinieren, um die Realität möglichst exakt abzubilden oder sollte das neue Modell die alten komplett ersetzen und warum?
Das Prinzip wissenschaftlichen Fortschritts setzt voraus, dass überholte Paradigmen verworfen und durch neue, bessere Theorien und Modelle ersetzt werden. Eine sinnvolle Weiterentwicklung der Kapitalmarktforschung muss deshalb tradierte Sichtweisen überwinden und neue Erkenntnisse zulassen, selbst wenn diese dem vorherigen Wissensstand widersprechen. Zwar wäre eine Integration alter und neuer Theorien grundsätzlich möglich; aufgrund der konträren Annahmen zu "Menschenbild" und "Marktmodell" scheint dies jedoch im vorliegenden Fall extrem schwierig. Die Entwicklung einer "Neuen Kapitalmarkttheorie“, auf Grundlage zentraler Erkenntnisse der Verhaltensökonomie, der Kognitionsforschung, der Neurowissenschaften und der Komplexitätstheorie dürfte der bessere Weg sein. Der neuartige Cognitive Finance-Ansatz des Feri Cognitive Finance Institute ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.