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Open Access 2020 | OriginalPaper | Buchkapitel

2. Forschungsstand

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Zusammenfassung

Beim RKG handelt es sich angesichts seines über 300-jährigen Bestehens von 1495 bis 1806 um einen historischen Gegenstand, der empirisch primär in das Untersuchungsfeld der Frühen Neuzeit und der (Rechts-)Geschichte fällt. Entsprechend der interdisziplinären Anlage verorte ich das Interesse an der Organisationsförmigkeit des RKG innerhalb der Forschungsstände zweier Disziplinen. Dabei frage ich nach dem Stand einer historisch interessierten und gesellschaftstheoretisch angeleiteten Organisationssoziologie einerseits und einer organisationssoziologisch informierten RKG-Forschung andererseits.
Beim RKG handelt es sich angesichts seines über 300-jährigen Bestehens von 1495 bis 1806 um einen historischen Gegenstand, der empirisch primär in das Untersuchungsfeld der Frühen Neuzeit und der (Rechts-)Geschichte fällt. Entsprechend der interdisziplinären Anlage verorte ich das Interesse an der Organisationsförmigkeit des RKG innerhalb der Forschungsstände zweier Disziplinen. Dabei frage ich nach dem Stand einer historisch interessierten und gesellschaftstheoretisch angeleiteten Organisationssoziologie einerseits und einer organisationssoziologisch informierten RKG-Forschung andererseits. Als zentrale Leerstelle innerhalb der soziologischen Organisationsforschung identifiziere ich erstens Fragen zur historischen Organisationsbildung von (Rechts-)Organisationen (Abschn. 2.1). Zweitens trifft die Untersuchung der Ausdifferenzierung des RKG als einer formalen Organisation und deren Strukturbesonderheiten innerhalb der historischen RKG-Forschung auf ein organisationssoziologisches Theoriedefizit (Abschn. 2.2).

2.1 Desiderata einer gesellschaftstheoretisch interessierten Organisationsforschung

Der Befund in diesem Abschnitt ist, dass die Frage nach der Organisationsbildung des RKG und den Strukturmerkmalen einer organisierten Rechtsprechung am Gericht innerhalb der soziologischen Organisationsforschung auf zwei zentrale Forschungslücken stößt: Ein erstes Desiderat betrifft die Einsicht, dass mit dem RKG ein empirischer Fall vorliegt, der den gesellschaftstheoretischen Konsens hinterfragt, nach dem Organisationen ein Produkt der modernen Gesellschaft sind (Abschn. 2.1.1). Mit der Gegenwartsorientierung der Soziologie werden Fragen nach der Entstehung von Organisationen in vormodernen Kontexten ausgeblendet. Als zweites Desiderat innerhalb der Organisationsforschung markiere ich das Fehlen von Untersuchungen zu (historischen) Rechtsorganisationen. In der Rechtssoziologie dominieren dagegen mikrosoziologische Perspektiven. Empirisch-konzeptionelle Zugänge zur systematischen Erforschung des historischen Verhältnisses von Organisation, Verfahren und Profession wurden bislang nicht entwickelt (Abschn. 2.1.2).

2.1.1 Historische Organisationsbildung

Die Unbestimmtheit hinsichtlich des Zusammenhangs von Organisation und Gesellschaft lässt sich auf eine eigentümliche Arbeitsteilung in der Organisationsforschung zurückführen: In dieser werden Fragen danach, wie Organisationsbildung und gesellschaftliche Differenzierung zusammenhängen, aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Aus einer organisationsbezogenen Sicht liegt der Schwerpunkt auf empirischen Fallstudien, in denen die formalen und informalen Binnenstrukturen einzelner Organisationen in der Gegenwart und jüngeren Zeitgeschichte konkretisiert werden. Die Wahl genuin organisationstheoretischer Denkmittel führt dabei weitgehend dazu, dass Fragen zur „Gesellschaftlichkeit ihres Gegenstandes“ (Tacke 2001a, 11, Herv. i. O.) marginalisiert werden. Die empirischen Kontexte der Ausdifferenzierung einer konkreten Organisation sind eine unbestimmte Residualkategorie geblieben. Kennzeichnend für eine gesellschaftsbezogene Sicht innerhalb der Organisationsforschung sind demgegenüber Arbeiten, welche die Gesellschaft als primäre Referenzeinheit wählen und sich der Bedeutung von Organisationen weitgehend im Plural widmen. Dabei besteht umgekehrt die Gefahr, dass die besonderen Strukturausprägungen einer Organisation unspezifisch bleiben.
Gemeinsam ist beiden Zugriffsweisen, dass sie die empirische Entstehung ihres Gegenstandes unbeantwortet lassen. In ihrer Selektivität tendiert jede der beiden Perspektiven dazu, ihre analytische Referenz – Organisation auf der einen und Gesellschaft auf der anderen Seite – zu überschätzen. Entweder erscheinen Organisationen durch gesellschaftliche Funktionskontexte durchgängig vorstrukturiert oder Organisationen werden als die treibende Kraft funktionaler Differenzierung postuliert.1 In der Konsequenz gibt es kaum Arbeiten, welche die Dichotomie von „Organisationsanalysen ohne Gesellschaft“ einerseits und „Gesellschaftsanalysen ohne Organisation“ andererseits überbrücken (Tacke 2001a, 7 f.; siehe auch Luhmann 1978a, 6; Schimank 1994, 240–524; Drepper 2003, 14 ff.; Tacke/Drepper 2018, 11 ff.). Mit der Trennung von organisations- oder gesellschaftsbezogenen Perspektiven ist dabei das Risiko verbunden, Differenzierung als einen kontinuierlichen Prozess der Ausbildung bruchloser Ordnungsebenen zu verstehen. Wie genau sich aber organisatorische und gesellschaftliche Ausdifferenzierungsprozesse bedingen, bleibt theoretisch und empirisch weitgehend unklar.
Zwei Annahmen, so mein Argument, haben dazu beigetragen, dass ein Brückenschlag zwischen organisations- und gesellschaftsbezogenen Zugängen ein Desiderat geblieben ist, wodurch eine genuin historisch interessierte und gesellschaftstheoretisch informierte Organisationsforschung zur Herausforderung geworden ist.2 (a) Dazu zählt erstens die angesprochene gesellschaftstheoretische Prämisse eines komplementären Bedingungsverhältnisses von gesellschaftlicher und organisatorischer Differenzierung. (b) Zweitens erschwert ein Strukturbegriff von Organisation, dass historische Organisationsphänomene in ihrer besonderen Eigenlogik sowie in ihrer Abgrenzung zu anderen Formen gesellschaftlicher Interaktion und Kooperation (z. B. Gruppen, Bewegungen, Netzwerke) trennscharf genug erfasst werden können.
(a) Zur unklaren Komplementarität von Organisationsbildung und gesellschaftlicher Differenzierung
Dass es einer historisch-soziologischen Organisationsforschung an Vorlagen fehlt, ist kein Zufall, denn die Existenz von Organisationen in nicht funktional differenzierten Kontexten erschließt sich aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive nicht selbstverständlich. Organisationen und ihre Verbreitung werden vielmehr als Errungenschaft einer modernen Gesellschaft gesehen. Die Prämisse eines komplementären Bedingungsverhältnisses3 von Organisation und Gesellschaft findet sich bereits in den klassischen Theorien sozialer Differenzierung in vielfältiger Ausprägung. Insbesondere Karl Marx, Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber haben die verschiedenen Formen und Inhalte der Trennung von Arbeit und Haushalt auf der Basis von Geldwirtschaft beschrieben. Die Entstehung von Organisationen wird dabei mit dem Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise verknüpft. Vordringlich ist dabei ein relativ eng gekoppeltes Verständnis von Gesellschaftsentwicklung und Organisationsbildung.
Implizite und explizite Anschlüsse an Max Webers Rationalisierungs- und Bürokratisierungsthesen finden sich in den verschiedenen Varianten des Strukturfunktionalismus und Neoinstitutionalismus. Neben Webers prominenter Analyse der okzidentalen Gesellschaftsentwicklung hebt der Strukturfunktionalismus nach Parsons die Ausweitung von Organisationen als „evolutionäre Universalien“ (1964, 348) hervor. Im Vergleich zum Strukturfunktionalismus begreift der Neoinstitutionalismus die Verbreitung von Organisationen weniger über ihre Funktion, die diese für die Gesellschaft übernehmen. Dass moderne Gesellschaften mit Organisationen durchsetzt sind, sei vielmehr Resultat eines globalen strukturellen Angleichungsprozesses. Als Ursache und Folge einer institutionellen Isomorphie zwischen Organisationen, Professionen und ihren Feldern einerseits sowie der gesellschaftlichen Umwelt andererseits gelten die höhere Legitimität positivistischer Rationalitätsmodelle und die universalistischen Normen einer westlichen Weltkultur (vgl. Meyer/Rowan 1977; DiMaggio/Powell 1983).
Die soziologische Systemtheorie begreift die Ausdifferenzierung von Organisation ebenfalls über deren Funktion für die moderne Gesellschaft. Sie versucht allerdings, das Bedingungsverhältnis zwischen der Ausdifferenzierung von Organisations- und gesellschaftlichen Funktionssystemen von beiden Seiten her zu bestimmen. In Bezug auf die Ausdifferenzierung von Organisationen und die besonderen Leistungen, die diese für die Gesellschaft übernehmen, werden keine (gemeinsamen) normativen Bestandsfunktionen oder übergreifenden Maßstäbe an formale Rationalität vorausgesetzt. Vielmehr stehen die unterschiedlichen Autonomieverhältnisse sozialer Systeme und die Ausbildung funktional-äquivalenter, kontingenter Strukturalternativen im Fokus (vgl. Luhmann 1971, 90 ff.; 1978a, 41).
Theoriegeschichtlich ist an dieser Stelle relevant, dass Luhmann in seinem Spätwerk die Ausarbeitung der Theorie der Gesellschaft (z. B. 1984; 1997) – und damit vor allem die Beschreibung der einzelnen Funktionssysteme – ins Zentrum gerückt hat. Seine Organisationssoziologie mit den beiden Hauptbänden „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ (1999a) sowie „Organisation und Entscheidung“ (2006) macht hingegen nur einen vergleichsweise geringen Teil aus. Die Binnenstrukturen formalisierter Sozialsysteme erscheinen dabei hinreichend bestimmt (Tacke 2010, 354 f.; Tacke/Drepper 2018, 75 ff.). Die einzelnen Anschlussbeiträge zum Verhältnis von „Organisation und gesellschaftliche[r] Differenzierung“ (Tacke 2001c) fallen entsprechend gesellschaftsbezogen aus. In Armin Nassehis „Skizze einer Organisationssoziologie in gesellschaftstheoretischer Absicht“ (2002) wird das „Verhältnis von Gesellschaft und Organisation aus der Sicht von Organisationen“ (ebd., 445) beispielsweise explizit offen gelassen. Eine genuin organisationsbezogene Perspektive auf den Zusammenhang von Organisation und Gesellschaft wird als Leerstelle markiert (vgl. Apelt et al. 2017, 10). Eine Integration von Organisations- und Gesellschaftstheorie und damit das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft ist „unausgearbeitet“ (Tacke 2001a, 11 f.), „nicht wirklich geklärt“ (Nassehi 2002, 444) bzw. „unausgeglichen“ (Tyrell 2008, 58) geblieben (siehe auch Nollmann 1997, 66 f.; Lieckweg/Wehrsig 2001, 39). Letztlich wurden mit der Entstehung der Organisationssoziologie als eigener Subdisziplin (siehe Tacke 2015a) zentrale Fragen nach der empirischen Genese ihres Gegenstandes an den Rand gedrängt.
So unterschiedlich die systemtheoretische Organisationssoziologie und der an die klassische Bürokratietheorie angelehnte Neoinstitutionalismus in ihren epistemologischen Grundannahmen sind, gemeinsam ist ihnen die Ableitung, dass sich organisierte Sozialformen erst in der Moderne als zentraler Systemtypus durchgesetzt haben. Vergleicht man die zentralen Aussagen über das Verhältnis von organisatorischer und gesellschaftlicher Differenzierung innerhalb der Organisationssoziologie jedoch genauer, so erscheinen diese weitgehend als Zirkelschlüsse. Im Sinne einer petitio principii wird in den unterschiedlichen Theorievarianten formuliert, dass Organisationen mit der Ausbildung bürokratischer (Staats-)Verwaltungen, von Armeen, Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Vereinen und Parteien entstanden seien, in denen die Mitglieder nicht mehr als ganze Person mit allen Rollenbezügen inkludiert waren.
Aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive heißt es umgekehrt bei Luhmann, dass Organisationen eine „im wesentlichen neuzeitliche Errungenschaft“ (Luhmann 1972c, 248) sind, die erst vor dem Hintergrund eines Primats funktionaler Differenzierung aufkommen (vgl. Luhmann 1972d, 144; 1978a, 5; 1997, 827; 2014, 21). Im Unterschied zu Interaktions- und Gesellschaftssystemen, die universale Systembildungen sind und sich konstituieren, wenn sich Menschen begegnen, stellen Organisationen damit den „späteste[n] und voraussetzungsreichste[n] Typus sozialer Systeme“ (Luhmann 2014, 14) dar. Historisch wird der Übergang von ständischen bzw. stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften zur funktional differenzierten (Welt-)Gesellschaft auf die „Sattelzeit“ um 1770 bis 1850 datiert (vgl. Koselleck 1972, XV; Luhmann 1984, 577; Kauppert/Tyrell 2014, 165 f.). Einschlägige Forschungen, die sich mit Organisationen vor der Französischen Revolution auseinandersetzen, nehmen wiederum eine gesellschaftsbezogene Perspektive auf das Verhältnis von Organisation und Gesellschaft ein. Sie lassen sich oft selbst als historische Quelle lesen (z. B. Eisenstadt 1958, 1959, 1963, 1964; Mayntz 1963; Coleman 1974; Kieser 1987, 1989; Etzioni 1961; Coser 1974, 2015; Fligstein 1990; Perrow 1967, 1991, 2002). Die behandelten Gegenstände – seien sie in der Antike oder im Mittelalter angesiedelt – werden dabei als „Prototypen“, „Vorgänger“ und „Vorformen“ formaler Organisation bezeichnet, in denen organisationsähnliche oder äquivalente Strukturaspekte beobachtet werden.
Mit derartigen gesellschaftstheoretischen Apriorisierungen ist ein nahezu unbeachtetes Problem der Organisationsforschung verbunden, nämlich dass sie bereits jene gesellschaftlichen Strukturbedingungen – das heißt die (massenhafte) Genese und Existenz von Organisationen sowie eine funktional differenzierte Gesellschaft – voraussetzen, die ihren Gegenstand historisch bedingen. Wenngleich das Verhältnis von funktionaler Differenzierung und Organisationsbildung als Tendenzaussage formuliert wird, wirkt diese forschungspraktisch im Sinne einer Art Modernitätsprämisse. Dabei läuft hinsichtlich des Verhältnisses von Organisation und Gesellschaft bei Analysen „moderner“ Organisationen ein latentes Verständnis von funktionaler Differenzierung als theoretischer Normalverlauf der Gesellschaft bzw. als Normalumwelt organisierter Sozialsysteme mit. Bei dieser theoretischen Grenzziehung wird allerdings eine empirische These forschungspraktisch wie ein Axiom behandelt. Demgegenüber ist durchaus vorstellbar und ebenso begründet worden, dass funktionale Differenzierungen und Entdifferenzierung (lokal) gleichzeitig auftreten und sich Organisationen in unterschiedlichen Funktionssystemen ungleichmäßig ausdifferenzieren können (siehe z. B. Luhmann 1995c). Die Hinweise auf die Existenz von formalen Organisationen vor dem Einsetzen eines weltgesellschaftlichen Primats funktionaler Differenzierung sind allerdings Randbemerkungen geblieben und haben in der Organisationsforschung keinen systematischen Anschluss erfahren.
Gleichwohl gibt es systemtheoretisch angeleitete Studien, die sich historischen Übergangsphänomenen widmen – jedoch ohne dabei die hier aufgezeigte Komplementaritätsprämisse zu problematisieren. Eine gesellschaftstheoretische Argumentationsebene nehmen hier die Arbeiten von Rudolf Stichweh (1987, 1991) ein. In seiner Habilitationsschrift argumentiert Stichweh beispielsweise, dass sich Universitäten als eine dritte „Universalitätsidee“ entwickelten – neben den älteren Funktionsbereichen von Kirche und Staat. Universitäten werden als „Korporationen“ im Sinne von gemeinrechtlichen „Personenverbänden“ (Stichweh 1991, 32) verstanden, die – ähnlich wie im Handwerk – an der Ausbildung von Lehrlingen für die stufenweise Aufnahme in die eigene Einrichtung orientiert waren. Die Entwicklung zu einer „Lehrorganisation“ setzte dagegen erst im 16. Jahrhundert ein (vgl. ebd., 47, 307 f.; Arlinghaus 2018, 36 ff.). Im Vordergrund steht in dem Band die Frage nach der Ausdifferenzierung einer funktionalen Wissenschaft in der frühmodernen europäischen Gesellschaft. Ein dezidiert organisationssoziologisches Repertoire wird von Stichweh nicht entfaltet.
Als ebenfalls historisch interessierte und systemtheoretisch informierte Studien zu Übergangsphänomenen einzelner Funktionsbereiche lassen sich in dieser Richtung zudem jüngere Beiträge – bezeichnenderweise Dissertationen bzw. Abschlussarbeiten – erwähnen, z. B. über die Umstellung vom „Dienen zum Dienstleisten“ (Schröder 2010), zur „Soziologie des Pharmazeutischen“ (Henkel 2011), über die „Genese der autonomen Kunst“ (Krauss 2012), über die Entwicklung des „Kanonischen Rechts“ (Hecke 2017) zu einem auf die Kirche begrenzten Organisationsrecht oder zur Trennung von staatlichen und privaten Versicherungsorganisationen (Linke 2020). Im Unterschied zu dem hier gewählten Zugriff auf das Bezugsproblem der Organisationsbildung des RKG sind die Arbeiten auf der Ebene der Gesellschaft angesiedelt; sie behandeln Organisationsphänomene im Plural.
Die hier vorgelegte Untersuchung geht davon aus, dass es empirisch und theoretisch nicht ausgeschlossen ist, dass es Organisationen – wenngleich in einer geringeren Verbreitung – bereits in stratifizierten Gesellschaften gegeben hat. Als Ausgangslagen für die Ausdifferenzierung von Organisationen lassen sich gesellschaftliche Problemlagen identifizieren, in denen bestimmte soziale Strukturverhältnisse existenziell infrage gestellt und kollektive Entscheidungen nachgefragt werden. Als solche Konstellationen werden beispielsweise Kriege, Krisen und ähnliche übergreifende Konflikte angesehen, in denen der grundlegende Differenzierungsmodus einer (Welt-)Gesellschaft unterlaufen wird (vgl. z. B. Kruse 2015). Für die Gegenwart bzw. jüngere Vergangenheit können an dieser Stelle einzelne Studien erwähnt werden, die Organisationen in solchen Staaten behandeln, die nicht dem Idealbild einer funktional differenzierten Gesellschaft entsprechen (z. B. Neves 2006, 2012; Holzer 2006, 2007, 2015; Kühl 2014, 2015; siehe auch Gruber/Kühl 2015). In diesen zeitgeschichtlich angesiedelten Beiträgen stehen die formalen und informalen Strukturausprägungen im Vordergrund und weniger die (historischen) gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen für die Ausdifferenzierung von Organisationen. Wie sich Organisationen aber ausgebildet haben und welche konkreten gesellschaftlichen Problemlagen sowie Ausprägungen funktionaler Differenzierung dabei hinreichend für die jeweilige Genese einer Organisation waren, ist nicht näher bestimmt worden.
Mit Blick auf eine historisch interessierte und gesellschaftstheoretisch angeleitete Organisationsforschung, die ihre räumlich-zeitliche Fixierung auf die westliche Moderne aufgibt, sei noch auf das Feld der Historischen Soziologie hingewiesen. In dieser wird betont, dass es weder in methodischer noch in theoretischer Hinsicht Erfahrungsgegenstände gibt, die als solche soziologisch oder historisch sind (vgl. Lepsius 1976, 119 ff.; siehe auch Weber 2016 [1920], 100 ff.; Lipset 1958; Abrams 1982, 3; Braudel 1982, 458 f.; Welskopp 2015a, 203; Goldthorpe 1991; Gould 2019). Mit ihrem spezifischen Forschungs- und Vergleichsinteresse an langfristigen, teils syn-, teils diachronen Wandlungsprozessen und (Dis-)Kontinuitäten erscheint die Historische Soziologie für Studien über die konkreten Strukturumstellungen in und durch Organisation zunächst potenziell prädestiniert.
In dieser Forschungsrichtung haben Organisationen als eigener Gegenstandsbereich im Sinne einer eigenlogischen Sozialform allerdings bislang kaum eine theoretische Fundierung erfahren. Zwar gibt es eine Fülle an empirisch wie auch konzeptionell reichhaltigen historischen Arbeiten zu Organisationsphänomenen, die eine beachtliche soziologische Informiertheit aufweisen. Lässt man das unüberschaubare Material der älteren Verwaltungsgeschichte beiseite und zieht nur die jüngeren Forschungen seit der Nachkriegszeit heran, lassen sich beispielweise der Historical Institutionalism, die Business History, die Historische Industriesoziologie oder die neuere Verwaltungsgeschichte nennen. Ähnlich wie in historisch-soziologischen Monumentalwerken (z. B. von Norbert Elias, Shmuel N. Eisenstadt, Charles Tilly, Immanuel Wallerstein, Michael Mann oder Theda Skocpol) sind diese Forschungen nicht im engeren Sinne organisationssoziologisch angeleitet; der Begriff Organisation wird nicht systematisch operationalisiert. Die Leitkategorien heißen vielmehr Staat, Bürokratie, Herrschaft, Macht oder Institution. Darüber hinaus erscheinen umgekehrt auch in den einschlägigen historischen Lehr- und Nachschlagewerken Organisationen gerade nicht als prominente Analysereferenz (siehe jüngst auch Böick/Schmeer 2019; Welskopp 2019).
Diese Ausrichtung verwundert nicht, wenn man einrechnet, dass Geschichtswissenschaft und Soziologie trotz vielseitiger Beschreibungen ihrer Gemeinsamkeiten weitgehend isoliert voneinander arbeiten. In ihrer Rolle als Übersetzerin ist die Historische Soziologie im Feld der Organisationsforschung damit bislang nicht tätig geworden. Dazu mag beigetragen haben, dass die Historische Soziologie weniger ein geschlossenes Vergleichsprogramm umfasst als einen ebenso heterogenen wie unübersichtlichen Forschungskontext mit ungeklärter disziplinärer Stellung. Der Stand und Anspruch Historischer Soziologie reicht von Einzelfallstudien mit empirisch bzw. zeitlich beschränktem Interesse bis hin zu spezifischen Methoden- und Theorieperspektiven. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Historische Soziologie gerade im deutschsprachigen Raum „kaum vertreten ist“ (Schützeichel 2009, 277). Im Unterschied zur angloamerikanischen Social Science History Association (SSHA) verfügt die Historische Soziologie innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) über keine eigene Sektion (vgl. Kruse 1990, 162) bzw. „Adresse“ (Kieserling/Tacke 2002).
Als Gründe für die Fragmentierung des Fachs lassen sich wissenschaftshistorisch auch Besonderheiten der hiesigen Soziologiegeschichte ausmachen. Dazu zählt der Allgemeinplatz, dass „Geschichte von den Siegern geschrieben wird“ (Kruse 2001, 105) und die Historische Soziologie der Weimarer Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in der Versenkung verschwand (vgl. auch Schützeichel 2004, 2009; Osterhammel 2006). Darüber hinaus zeigt sich im internationalen Vergleich erneut, dass gerade die deutsche Soziologie empirisch weitgehend an mikro- oder makrosoziologischen Phänomenen der modernen Gesellschaft interessiert ist. In Anlehnung an Peter Burke (1989) bemerkt beispielsweise Alfred Kieser vor rund 25 Jahren: “Sociologists, and among them sociologists of organizations, favor grand theories and do not want to bother too much about historical details that disconform these theories, while historians fundamentally distrust grand theories. Historians stress the uniqueness of organizations, while organization theorists stress the general dimensions of organizations” (1994, 612). Mit anderen Worten: “It is one thing to assert the value of a historical nesting of organizational theory; it is quite another to demonstrate that value” (Zald 1990, 83).
Auch der jüngere Anspruch, dass mit der kulturtheoretisch interessierten Welle (Adams et al. 2005a/b) ein paradigmatischer Wandel verbunden ist, kann Schützeichel zufolge bestritten werden, da mit ihr weder eine „Ablösung älterer Ansätze“ noch eine „Konsolidierung der Historischen Soziologie“ zu beobachten sei. Vielmehr blieben „die alten, schon von Max Weber formulierten, vornehmlich methodologischen Probleme einer jeden historischen Sozialwissenschaft“ (Schützeichel 2009, 279) ungeklärt. Zeitlich bewegt sich die Mehrheit historisch-soziologischer Beiträge zwischen der Französischen Revolution und dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Clemens 2006, 2007). Was eine historisch-soziologische Perspektive jenseits des Interesses an ‚längeren‘ gesellschaftlichen Zusammenhängen und Konstellationen ausmacht (siehe Braudel 2013), bleibt in den meisten Arbeiten weitgehend unbestimmt.
Zusammengefasst: Der hier vorgelegten Arbeit zur Ausdifferenzierung einer Organisation in der Vormoderne, die genuin auf den empirischen Fall einer Systemumstellung von Interaktion auf Organisation und die Spezifizierung ihrer (in)formalen Binnenstrukturen bezogen ist, mangelt es vor diesem Hintergrund an Vorlagen. Die Komplementaritätsprämisse, nach der Organisationen als Bedingung und Ergebnis der modernen Gesellschaft zugleich verstanden werden, birgt empirische und theoretische Erkenntnisrisiken. Zum einen lassen sich aus tautologischen Tendenzaussagen kaum theoretische Anleitungen für die Untersuchung vormoderner Phänomene gewinnen. Zum anderen wird durch den Fokus auf Organisationen in einer funktional differenzierten Gesellschaft ein blinder Fleck gegenüber historischer Empirie produziert, der potenzielle Anschlüsse der Organisationssoziologie an die Geschichtswissenschaft verhindert. Ein Brückenschlag im Sinne einer historisch-soziologischen Organisationsforschung (Schwarting 2019) bedarf demgegenüber einer eindeutigen theoriegeleiteten Bestimmung des Gegenstandes. Denn nimmt man an, dass es sich bei Organisationen um eine eigenlogische Sozialform handelt, so müssen diese eindeutig gegenüber anderen Sozialkontexten wie Netzwerken, Gruppen, Familien oder Institutionen abgegrenzt werden. Ein solches Interesse stößt innerhalb des Strukturationsparadigmas allerdings auf analytisch-begriffliche Unschärfen, die im Folgenden eingehender vorgestellt werden.
(b) Zur Abgrenzung eines allgemeinen Systembegriffs von Organisation gegenüber einem kategorialen Strukturbegriff von Organisation
Rechnet man entgegen gesellschaftstheoretischen Tendenzaussagen mit der Existenz von Organisationen in nicht primär funktional differenzierten Kontexten, ergeben sich bei ihrer Untersuchung auch organisationstheoretische Herausforderungen. Diese lassen sich anhand begrifflicher Unschärfen festmachen, welche die Abgrenzung von Organisationen gegenüber anderen Sozialformen wie auch die Reflexion ihres jeweiligen Verhältnisses zur Gesellschaft erschweren. In der soziologischen Organisationsforschung können vereinfacht gesprochen zwei Auslegungen des Gegenstandes unterschieden werden. Ähnlich der klassischen Unterscheidung von Inhalt und Form grenze ich im Folgenden einen allgemeinen Systembegriff von Organisation gegenüber einem spezifisch kategorialen Strukturverständnis von Organisation ab.
Einem Strukturbegriff von Organisation lassen sich insbesondere institutionentheoretische Perspektiven zuordnen (Meyer/Rowan 1977; DiMaggio/Powell 1983; March/Olsen 1989; Brunsson 1989; Brunsson/Jacobsson 2000). Im analytischen Fokus stehen vor allem einzelne Strukturelemente – beispielsweise Populationen4 (Hannan/Freeman 1977, 1984; Aldrich/Pfeffer 1976) oder Netzwerke (z. B. Ouchi 1980; Williamson 1985; Granovetter 1973, 1985) und Interorganisationsbeziehungen (Ahrne/Brunsson 2008). Der Neoinstitutionalismus untersucht Organisationen dabei vorwiegend unter dem Einfluss anderer Organisationen innerhalb einer feldspezifischen Umwelt. So fruchtbar die empirischen Einsichten aus den jeweiligen Strukturzugängen für die Organisationsforschung sind, sie bergen gerade für die Analyse von Organisationsbildungen in historischen Kontexten besondere Erkenntnishürden. Zu diesen zählt erstens, dass sich neoinstitutionalistische Forschungen weitgehend auf die Formalstrukturen von Organisationen beziehen. Mit der Betonung der Legitimation von Formalstrukturen als organisatorische Anpassungsleistung an spezifische gesellschaftliche Umwelterwartungen wurde zwar ein wichtiger Aspekt von Webers Konzept der „rationalen Herrschaft“ wiederbelebt (siehe dazu Tacke 2015a, 54; 2015b, 283 f.). Aber gleichwohl Entkopplungen zwischen der formal-symbolischen Adaption rationaler Mythen und dem faktischen Eigenleben betont werden – zum Beispiel als heuchlerischer talk im Unterschied zu decisions und actions (Brunsson 1989) –, spielen informale Praktiken in ihrer strukturellen Diversität und deren Problembezug zu formalen Routinen eher eine nachgelagerte Rolle.
Jüngst hat innerhalb der neoinstitutionalistischen Forschung der Ansatz der „partial organization“ an Popularität gewonnen (Ahrne/Brunsson 2011; Ahrne et al. 2016). Diesem folgend bilden sich Organisationen im Sinne eines fließenden Kontinuums durch die Existenz eines oder mehrerer von fünf kategorialen Strukturelementen – Mitgliedschaft, Regeln, Kontrolle, Sanktionen und Hierarchie – aus. Je nach Anzahl der Elemente werden dabei unterschiedliche Organisationsgrade realisiert. Mit einem solchen Gattungsverständnis, bei dem ein Phänomen bereits durch Vorliegen einzelner organisationstypischer Merkmale als Organisation identifiziert werden kann, wird jedoch eine interpretierende Organisationsanalyse auf eine messende Organisationsmethodik reduziert. In einer gerade für historische Gegenstände bedeutsamen gesellschaftstheoretischen Perspektive kann bei einem solchen Strukturbegriff von Organisation empirisch nicht eindeutig zwischen anderen Sozialformen wie Familien, Gruppen, Bewegungen, Netzwerken oder Märkten unterschieden werden. Ohne eine trennscharfe Begriffstrennung verschwimmen dann Organisations- und Gesellschaftsanalyse, sodass Fragen der sozialen und gesellschaftlichen Differenzierung nur schwer zu greifen sind.
Darüber hinaus besteht mit einem kategorialen Strukturverständnis von Organisation im Sinne von „partial organization“ bei der Untersuchung historischer Fälle die Gefahr, so mein Argument, dass Vorförmigkeitsannahmen bedient werden. Veronika Tacke hat darauf hingewiesen, dass die Autoren des Konzepts in ihr Verständnis von formaler Organisation zwar die systemtheoretische Prämisse übernehmen, dass Organisationen sich operativ durch Entscheidungen konstituieren (vgl. 2015b, 285ff). Gleichwohl wird unter „decided orders“ nicht die Reproduktion von rekursiven Entscheidungen, sondern von Entscheidungen allgemein verstanden. Der Organisationsbegriff wird damit in paradoxer Weise einerseits definitorisch für einen besonderen Fall reserviert („complete organization“) und zugleich auf andere Anwendungsfälle („partial organization“) ausgedehnt. Eine solche konzeptionelle Paradoxie zeigt sich meinem Eindruck nach in ähnlicher Weise, wenn a priori zwischen modernen und vormodernen Organisationen im Sinne von vollständigen und vorläufigen (Teil-)Organisationen unterschieden wird. Organisatorische und gesellschaftliche Differenzierung erscheinen dann als eng gekoppelt. Mit einem neoinstitutionalistischen Instrumentarium kann bei der Frage nach der Systemumstellung und den Strukturausprägungen einer organisierten Rechtsprechung am RKG deshalb weder die Abgrenzung zu gesellschaftlichen Strukturen noch die interne Differenzierung von formalen und informalen Erwartungen ausreichend spezifiziert werden.
Im Unterschied zu derartigen Expansionsstrategien schlage ich für das Programm einer historisch-soziologischen Organisationsforschung vor, nicht Organisationsgrade gemäß dem Vorliegen einzelner Strukturkategorien zu klassifizieren (siehe auch Schwarting 2019). Für die Bestimmung von Organisationen in Gesellschaften, die nicht fraglos als funktional differenziert eingeschätzt werden können, erachte ich es als sozial- und gesellschaftstheoretisch produktiver, Organisationen als eine eigenlogische Sozialform zu begreifen, die sich vielmehr in ihren Strukturgraden unterscheidet. Der Vorzug eines Systembegriffs von Organisation liegt für historisch-soziologische Forschungen darin, so mein Argument, graduelle Ausprägungen nicht auf der Ebene der Organisation selbst, sondern auf der Ebene der formalen und informalen (Teil-)Strukturen fassbar zu machen. Historische Organisationen jenseits der Gegenwart lassen sich dann weder als ein spezifischer Grad noch als ein besonderer Typ begreifen. Die Attribution historisch ist vielmehr eine empirische Indikation, die auf die räumlich-zeitliche Entstehungs- bzw. Auflösungssituation einer Organisation verweist, und deren Besonderheiten es in Referenz auf die jeweiligen Systemstrukturen herauszustellen gilt. Gewonnen ist dadurch die Einsicht, dass es sich entweder um Organisationen handelt oder um andere Sozialformen. Verhindert wird damit in historischer Perspektive, dass das Vorfinden von organisationsähnlichen oder organisationsäquivalenten Strukturaspekten in historischen Gesellschaftsformationen bereits zum Ausweis des Bestehens von Organisation erklärt wird – und damit ein Verständnis von Organisationsbildung als evolutionäres Phänomen obsolet wird. Insofern liegt dem hier verfolgten Interesse an der historischen Entstehung von Organisationen auch die Annahme zugrunde, dass es sich bei Organisationen um eine historische Sozialform handelt, die sich theoretisch und empirisch nicht ohne Weiteres als Subkategorie anderer Sozialformen ableiten lässt. Auf der Grundlage eines allgemeinen, eindeutigen und komplexen Begriffsverständnisses, das Organisationen „als Produkte ein und desselben Prinzips der sozialen Systembildung“ auffasst, kann dann anhand der jeweiligen Strukturausprägungen vielmehr verglichen werden, inwiefern es sich bei der Ausbildung von Organisationen in der vormodernen Gesellschaft um „originäre“ Typenbildungen handelt, z. B. von Parteien, Unternehmen, Gerichten, Verwaltungen, Wohlfahrtsverbänden oder Schulen (vgl. Luhmann 1978a, 40 ff.; Apelt/Tacke 2012b, 9).
Betrachtet man allerdings die Gradualisierung des Organisationsbegriffs und die Kategorisierung von Strukturen im Konzept der partial organizations weniger in seiner sozialtheoretischen Unschärfe als in dessen empirischer Offenheit, so lässt sich der Vorstoß insgesamt als ein Impuls für eine Hinwendung zu genetischen und transitorischen Perspektiven zum Verhältnis von Organisation und Gesellschaft verstehen. In historisch-empirischer Hinsicht können beispielsweise Familien – weniger in ihrer Form als Sozialsystem, sondern in ihren Strukturen bzw. Inhalten – Aufschluss über die gesellschaftlichen Vorbedingungen von Organisationsbildung geben.
Bezeichnenderweise finden sich gerade in der Netzwerkforschung strukturationsparadigmatische Beiträge, die sich empirisch der Ausdifferenzierung und Emergenz von Organisationen aus einer historischen Perspektive nähern (z. B. Padgett/Ansell 1993, 2005; Martin/Lee 2010; Padgett 2010; Padgett/Powell 2012). Organisationen werden dabei mit Netzwerken gleichgesetzt. Innerhalb der wenigen – vorwiegend an politischen oder wirtschaftlichen Phänomenen interessierten – Arbeiten wird die Emergenz von Organisationen dann als eine Art Transformation von (Familien-)Netzwerken verstanden. Eine explizite theoretische Unterscheidung von Interaktion, Netzwerk, Familie und Organisation wird innerhalb dieser Perspektive jedoch nicht angeboten. Emergenz und Differenzierung werden vielmehr vordringlich anhand quantitativer Indikatoren wie der Anzahl an Patenten beschrieben und unter breiteren Begriffsvarianten gefasst: z. B. informations- und entscheidungstheoretisch als „Lernen“ im Unterschied zu „Routinen“ (March/Simon 1958; Cyert/March 1963; Feldman/March 1981, Simon 1979a/b, 1991; Feldman/Pentland 2003) oder institutionentheoretisch als „Innovation“ im Vergleich zu „Pfadabhängigkeiten“ (North 1990; Schreyögg/Sydow 2011; Sydow 2010).
Mit einer gesellschaftstheoretisch abgesicherten System-Struktur-Unterscheidung von Organisation wird dagegen deutlich, dass Personenverbände und Korporationen in ihrer Form (noch) keine Organisationssysteme darstellen, sondern soziale Gruppen und familien- bzw. haushaltsähnliche Gemeinschaften. Bereits in antiken Abstammungs- und Siedlungsgemeinschaften dürften sich Ansätze zur funktionalen Differenzierung von Teilsystemen und einfachen Funktionsrollen erkennen lassen und damit „Momente von Organisation“ präsent gewesen sein, insofern „der Zugang zu gemeinsamen Unternehmungen auch für Stammesmitglieder nicht beliebig offenstand, sondern von der Erfüllung gewisser Bedingungen abhing“ (Luhmann 2014, 18). Die Personalrekrutierung war jedoch weitgehend an die Schichtenstruktur und die Kooperationszwecke an die „Weltprojektion“ der Gesamtgesellschaft gebunden – und damit strukturell relativ invariabel.5 Die auch als Clan verstandenen Familienverbände in Stammesgesellschaften verlangten eine ungeteilte Loyalität gegenüber ihren Angehörigen. Mit der starken Gruppenideologie war eine Abwertung von Fremden verbunden. Die arrangierte Verwandtenheirat sicherte den Besitz und die Zusammenarbeit im Familienverband.
Interessanterweise hat gerade die katholische Kirche seit der Spätantike zur Auflösung dieser großfamiliären Kooperationsweise beigetragen, indem sie sich als religiöse Gemeinschaft definierte. Die katholische Sozial- und Familienethik untersagte beispielsweise die Zwangsheirat, wertete die freie Partnerwahl auf und hielt Neuvermählte zur Gründung eines eigenen Hausstandes an. An die Stelle der Clans traten mit der Etablierung feudaler Herrschaftsbeziehungen vermehrt Formen der Kooperation zwischen Unbekannten. Die Zusammenarbeit wurde dabei über die familiäre Herkunft hinaus erweitert – insbesondere durch den Einbezug von Untertanen in Form des Hofverbandes.
Dass auch Bauern hofunabhängige Vorstellungen über die eigenen Handlungsspielräume entwickelten, zeichnet sich im Spätmittelalter in der zögerlichen Auflösung der feudalen, grundherrschaftlichen Lehnsordnungen ab. Mit der Aufnahme zeitlich befristeter Pachtverhältnisse und dem eigenen Verkauf von Agrarerzeugnissen auf städtischen Märkten erlernten Bauern nicht nur, Preise zu vergleichen (Braudel 1982), sondern auch Rechtswege und Rechtsurteile zu erkunden (siehe beispielsweise Schulz in Anlehnung an Bosl 1972; Lienen 1992; Peters 1995). Auch wenn die damit verbundenen Verhaltenserwartungen darauf hindeuten, dass zwischen gesellschaftlichen Sphären unterschieden wurde, unterlag das Handeln selbst schichtspezifischen, personenabhängigen Schranken. Denn obwohl Bauern als Angeklagte oder Marktteilnehmer teilweise unterschiedliche Statuszuordnungen für sich beanspruchen konnten, wurden Konflikte weitgehend in die ständische Ranghierarchie überführt (vgl. Arlinghaus 2018, 29 ff.; Stollberg-Rilinger 2001, 2014b).
Die Arbeitsstrukturen in den Armeen, Klöstern und Gilden der Vormoderne ähnelten vor diesem Hintergrund eher „totalen“6 (Goffman 1961) bzw. „gierigen“ (Coser 1974) Institutionen, in denen Personen weiterhin nach ständischen Kriterien „voll“ inkludiert und Aufgaben entsprechend verteilt waren (siehe für die Vormoderne auch Pollard 1996, im Übergang zur Moderne Knottnerus et al. 1999 sowie in autoritären Regimen Shenkar 1997). Geburtsstände und Berufsstände fielen somit zusammen (siehe auch Stichweh 1991). Mit ihrem umfangreichen Zugriff auf die Lebensführung einer Person – wie sie insbesondere in den festen, multiplen und an familiären Werten orientierten Zwecksetzungen zum Ausdruck kommt (siehe dazu z. B. Kieser 1987, 1989; Stinchcombe 1965, 143; Türk/Lemke/Bruch 2006, 80), blieben damit auch Korporationen in der häuslichen totalen Ordnung verhaftet. Der Wirtschaftshistoriker Fernand Braudel betont beispielsweise in seinen eindrucksvollen Studien über die Entstehung und Entwicklung von Marktplätzen und Unternehmen: „The discipline to which the merchants were subject was similar to that exercised over its members by a guild, within a single town, […]. Members of the company must be as 'brethren' for each other, and their wives as 'sisters'” (1982, 449; zur Organisation von Versicherungsprinzipien aus dem gesellschaftlichen Wert der familiären Sicherheit siehe jüngst Linke 2020).
Die Haushalte und Korporationen der ständischen Gesellschaft haben keine direkten Nachfolger gefunden. Entsprechend sind sie für Organisationen der „modernen“ Gesellschaft keine Vorgänger (vgl. Luhmann 1996a, 66; siehe auch Drepper 2003, 41 f.). Die Verweise, dass die eine Sozialform (hier Familien, Gruppen oder Korporationen) Voraussetzung, Prototyp oder Vorstufe der anderen Sozialform (Organisation) war, verhindern, dass die historischen Zusammenhänge empirisch nachgezeichnet werden. In Unterschied zu einer korporativen Auffassung von Organisation wird in historischer Perspektive mit einem Systembegriff von Organisation dagegen greifbar, dass organisationsförmige Strukturen in stratifizierten Gesellschaften vorhanden bzw. angelegt waren. Im Verlauf gesellschaftlicher Differenzierung werden kooperative Verhaltenserwartungen – wie Hierarchien, Kollegialität oder Dank – allerdings selektiv inkorporiert und dabei in eine andere Systemform gebracht; sie bekommen mit dieser Umstellung andere Funktionen und entwickeln andere Logiken mit wiederum anderen Folgen.
Die hier markierten Lücken einer historisch interessierten und gesellschaftstheoretisch informierten Organisationsforschung lassen sich schließen, wenn man die soziologische Systemtheorie weniger für gesellschaftstheoretische Präjudizierungen nutzt als für die empirische Frage, welche konkreten Erwartungen an ein bestimmtes Verhalten herangetragen und welche sozialen Unterschiede und Geltungsbedürfnisse in einem gesellschaftlichen Vergleichskontext als dominierende Situationsdefinitionen aufgefasst werden. Bevor dazu ein theoretischer Bezugsrahmen vorgestellt wird, thematisiere ich als eine zweite Leerstelle innerhalb der soziologischen Organisationsforschung nachfolgend den Mangel an Untersuchungen zu (historischen) Rechtsorganisationen.

2.1.2 Rechtsorganisationen

Im Vergleich zu Unternehmen, Parteien, Krankenhäusern, Verwaltungen oder (Hoch-)Schulen haben weder Rechtsorganisationen im Allgemeinen noch Gerichte im Besonderen als „Organisationstyp“ (siehe Apelt/Tacke 2012a) eine breite Resonanz erzeugt. Mit dieser Lücke ist verbunden – und dieser Stand mag angesichts der aufgezeigten Leerstellen zur Organisationbildung wenig überraschen –, dass auch zu historischen Rechtsorganisationen und ihrer Entstehung nahezu keine empirisch interessierten und theoretisch reflektierten (Fall-)Studien vorliegen. Zur Veranschaulichung dieses Forschungsdesiderats skizziere ich im Folgenden (a) das Verhältnis von Recht und Organisation und darauf aufbauend (b) den Zusammenhang von Organisation und Verfahren.
(a) Organisation und Recht
Mit der soziologischen Systemtheorie liegt ein gesellschafts- wie sozialtheoretisch fundierter Zugang vor. Sie umfasst nicht nur eine ausgearbeitete Theorie des Rechts als Funktionssystem der Gesellschaft. Eingebettet ist in dieser zugleich auch eine Organisations- und Verfahrenstheorie. Recht und Organisation ähneln sich in ihren Konstitutionsbedingungen und den Möglichkeiten der Strukturbildung insofern, als in beiden Systemen Verhaltenserwartungen enttäuschungsfest gegen kontrafaktisches Verhalten stabilisiert werden. Die durch Entscheidung normierten Verhaltenserwartungen gelten also auch im Falle abweichenden Verhaltens fort.
Während sich das Recht resistent gegenüber Verhaltensabweichungen innerhalb der Gesellschaft verhält, können Organisationen lediglich für den Kreis ihrer Mitglieder eine Einhaltung bestimmter Erwartungsstrukturen beanspruchen. In Luhmanns früher Rechtssoziologie findet sich aufbauend auf diesem Gedanken der Begriff des „sekundären Rechts“ bzw. des „Organisationsrechts“ (1972a, 256 f.), den er wie folgt einführt: „Wie das moderne Recht beruht auch die formale Organisation auf Positivierung“ (Luhmann 1972a, 190 ff., Herv. i. O.). Organisationen selbst setzen dabei ihre „Formalerwartungen” als eigenes „Recht” und können diese qua Entscheidung ändern (vgl. 1972a, 190 ff.; 2006, 330 ff.; siehe auch Abschn. 3.​2.​1). „Man könnte das Recht der Siemens AG, des Dominikanerordens, der Kalinga oder der Familie Kennedy untersuchen als die Gesamtheit der jeweils in diesen Systemen kongruent generalisierten Verhaltenserwartungen“ (Luhmann 1972a, 131).
Die damit angesprochenen normativen Erwartungsordnungen von Organisationen, Korporationen oder Familien unterscheiden sich jedoch in ihrer Generalisierung und Differenzierung voneinander und damit insbesondere in ihrer Drittwirkung. Nur das Recht ist als Teilsystem mit gesamtgesellschaftlicher Funktion ausdifferenziert (Luhmann 1972a, 131; Tacke 2015a, 80 f.; Tacke/Drepper 2018, 97; Lieckweg 2003; zur Fragmentierung siehe Fischer-Lescano/Teubner 2006). Neben unterschiedlichen Bindungs- und Institutionalisierungsgraden lassen sich zwischen Recht und Organisation als eigenständigen Formen normativer Grenzziehung auch Unterschiede hinsichtlich der Bedingungen ihrer Änderbarkeit festmachen. So können Organisationen über ihre formale Erwartungsordnung – ihr „nichtstaatliches Recht“ (Luhmann 1972a, 131, 256) – selbst entscheiden. Das Rechtssystem bezieht seine formale Erwartungsstruktur hingegen aus staatlich gesetzten Entscheidungen des politischen Systems. Positivität heißt in diesem Sinne strukturelle Variabilität des Rechts der Gesellschaft bzw. der Formalstruktur der Organisation (vgl. Luhmann 1972a, 207 ff., 242 ff.; 2006, 330 ff.; 2010, 127 ff.).
Die Frage, inwiefern in staatlichen Organisationen wie Gerichten und Amtsverwaltungen Formalität und Recht zusammenfallen, ist empirisch bislang nicht systematisch untersucht worden. Und auch, inwiefern angesichts der politisch bedingten Formalstruktur und Entscheidungsabhängigkeit hinsichtlich des Verhältnisses von Rechtsverfahren und Gerichtsorganisationen Variationen vollzogen werden können, ist kaum erforscht. Offenbar hat die disziplinäre Trennung von Rechtssoziologie und Organisationssoziologie solche Querschnittsfragen nicht aufkommen lassen.7 In seinem Band über das „Recht der Gesellschaft“ (1995a) begründet Luhmann mehr aus gesellschaftstheoretischer denn aus organisationssoziologischer Perspektive die Zentralstellung der Gerichte im Rechtssystem (vgl. 1995a, 297–337). Dem gleichnamigen Kapitel lassen sich zwei gerichtstypische Strukturbesonderheiten entnehmen. Dazu zählt erstens, dass es für Gerichte im Übergang zur Neuzeit selbstverständlich geworden ist, auf jeden eingereichten Streitfall mit einer Entscheidung über Recht und Unrecht zu reagieren und die entschiedenen Fälle – wenn man so will: historisch – zu kalibrieren, auch wenn dies gesetzlich nicht ausdrücklich vorgeschrieben wird. Erst die Organisation eines solchen „Verbots der Justizverweigerung“ (Luhmann 1995a, 310) in Form von Gerichten ermöglicht, dass ein Rechtssystem „universell kompetent und zugleich als entscheidungsfähig“ (Luhmann 1995a, 313, Herv. i. O.) eingerichtet ist.
Wenn auch nicht explizit als solches benannt, ist für Gerichte zweitens ein Initiativgebot des Publikums spezifisch. Während in anderen Organisationen Projekte im Sand verlaufen oder aktiv neue Projekte erschlossen werden, kann die Erledigung der Gerichtszwecke nicht allein durch organisationseigene Mittel oder Mitgliedschaftspflichten motiviert werden. Gerichte bedürfen vielmehr bestimmter Stimuli aus der Umwelt (z. B. schriftliche Eingaben, Anträge auf Prozessbeschleunigung oder auch informale Anfragen). Denn um die Anrufung durch ein Publikum von Streitparteien können sie selbst nicht direkt werben.8 Zum Initiativgebot der Streitparteien findet sich hierzu mit Verweis auf die Zivilprozessordnung (§ 313 ZPO) die Notiz: „Kein Gericht darf selbst einen Prozeß beginnen, auch wenn die Kalamitäten ringsum anwachsen. Damit ist gesichert, daß die Entscheidungstätigkeit des Gerichtes konkret bleibt und die Entwicklung von Regeln nebenherläuft. Obwohl man durchaus sieht, daß das ‚Richterrecht‘ in manchen Bereichen viel bedeutsamer sein kann als das Gesetzesrecht“ (Luhmann 1995a, 306, Herv. i. O.). Die besondere Konstruktion eines gerichtsspezifischen Publikums ist in der soziologischen Organisationsforschung jedoch bislang auf kein systematisches Interesse gestoßen.
In der politikwissenschaftlichen und staatsrechtlichen Literatur wird die Bedeutung von Gerichten dagegen mit Blick auf ihre normativen Funktionen für Demokratie und Gewaltenteilung erklärt. In ähnlicher Weise sind in der Rechtssoziologie klassische Fragen zu Moral, Gerechtigkeit, Legitimation, Professionalisierung, Neutralität, Öffentlichkeit (Hart 1971, 2011; Popitz 1961, 1968, 1980; Ehrlich 1967, 1989; Friedman/Rehbinder 1976; Bora 1994; Bora/Heck/Jost 2016; Machura 2001, 2003a/b, 2006) behandelt worden. Dabei interessiert sich die Rechtssoziologie vordinglich für die Unterschiede zwischen einem „law in the books“ und einem „law in action“ (vgl. auch Wrase 2010, 120). Zum Verständnis solcher Differenzen bedient sich die angloamerikanische Subdisziplin zwar teilweise an prominenten Konzepten und Paradigmen verwandter Bindestrichsoziologien. Zu nennen sind hier beispielsweise die Arbeiten über die „Embeddedness“ (Granovetter 1973, 1985) von Rechtsorganisationen (Uzzi 1996, 1997, 1999; Uzzi/Lancaster 2004; Lancaster/Uzzi 2012; Ng/He 2017). Exemplarisch sind diese Beiträge deshalb, weil sie sich vorwiegend an einem Netzwerkverständnis von Organisation orientieren. Entsprechend stehen weder die Organisationsförmigkeit der jeweiligen Kanzleien, Rechtsabteilungen oder Gerichte noch die gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer (historischen) Genese als besonderer Organisationstyp im Interesse.
Ein Desiderat an organisationsbezogenen Untersuchungen zu Gerichten beklagen auch Maja Apelt und Veronika Tacke in ihrem „Handbuch Organisationstypen“ (2012a). Der Band lässt explizit einen Beitrag zu Rechtsorganisationen im Allgemeinen oder Gerichten im Besonderen vermissen (Apelt/Tacke 2012b, 7). In dem Sammelwerk „Organisation und Profession“ (Klatetzki/Tacke 2005) ist weder ein Beitrag über Gerichte noch über die Profession von Richtern enthalten. Auch im Band „Vergleich und Leistung in der funktional differenzierten Gesellschaft“ (Dorn/Tacke 2018a) werden „bedauerliche Leerstellen“ (Dorn/Tacke 2018b, 9) mit Blick auf Organisationen und Professionen im gesellschaftlichen Funktionskontext des Rechts konstatiert.
Auf die Forschungslücken im Zusammenhang von „Organisation und Recht“ haben bereits Erhard Blankenburg und Klaus Lenk (1980) mit dem von ihnen herausgegebenen Band hingewiesen. Das empirische Interesse bleibt hier jedoch auf Verwaltungsverfahren beschränkt. Auch die Forderung von Blankenburg/Rogowski (1983, 133), Gerichtsverfahren „müssen organisatorisch analysiert ebenso wie in ihrer gesellschaftlichen Funktion begriffen werden“, ist einleitend nicht näher eingeführt noch ist ihr in den Beiträgen systematisch nachgekommen worden. Die Autoren plädieren für die Erforschung der Mobilisierung des Rechts, also der Bestimmung der selektiven Bedingungen, unter denen Gerichtsparteien vor Gericht ziehen. Die Beiträge behandeln insbesondere die Folgeprobleme informaler Kontaktsysteme, ohne gleichwohl deren organisatorische Besonderheit herauszustellen.9 Außergerichtliche Streitschlichtungen wie Vergleiche oder Einstellungen werden dabei weniger als eine Entlastung der Justizverfahren beschrieben. Vielmehr beobachten die Autoren die Ausbreitung von Verfahrensformen (jenseits des Rechts) auf Bereiche, in denen beispielsweise das Vertretungsprivileg Prozessbevollmächtigter nicht gilt und die Trennung von Anwaltsrollen an Bedeutung verliert (vgl. Blankenburg/Rogowski 1983, 136; siehe auch Heck 2016, 2017).
Ebenso wenig wie organisationsspezifische Aspekte steht die außergerichtliche Kommunikation zwischen Mandant und Anwalt vergleichsweise selten im Fokus der deutschsprachigen Rechtssoziologie. Die angloamerikanische Forschung thematisiert zwar die institutionellen Kontexte von Gerichtsverfahren (z. B. Eisenstein 1977; Feehly 1979; Heimer 2008). So stehen im Rahmen der ethnografisch angeleiteten courtroom studies beispielsweise die Taktiken juristischer Fallkonstruktion oder ein „storytelling“ bei der Verarbeitung eines Falls im Vordergrund (z. B. Conley/O’Barr 1990; Conley/O’Barr 2005; Bennett/Feldman 1981). Jedoch operiert die Untersuchung von Mikrophänomenen dabei weitgehend in einem geschichtsleeren Raum. Gerichtsprozesse werden vordinglich als Arenen isolierter Face-to-Face-Interaktionen betrachtet. Für die Bestimmung von Organisationsphänomenen in stratifizierten Gesellschaften bietet der Fokus auf das Individuum als Analyseeinheit „teils zu viel, teils zu wenig“ Auflösungsvermögen: „Zu viel – weil keine Person, keine Rolle, keine Identität sich in einzelnen Interaktionsreihen erschöpft; zu wenig, weil allein von solchen Randgrößen her die Eigengesetzlichkeit des sozialen Geschehens nicht zureichend erfaßt werden kann“ (Luhmann 1972b, 52; siehe auch 1966a, 22–25, 64 f.; 1999a, 25).
Ebenso unterkomplex ist im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit die rechtswissenschaftliche Trennung von Rechtsnorm und Rechtspraxis, weil diese in konzeptioneller Hinsicht die eigentümlichen Dynamiken zwischen formalen und informalen Verhaltenserwartungen unterläuft. Methodisch zeigt sich die begrenzte Reichweite dieser Heuristik auch darin, dass Rechtspraktiken und Rechtsnormen weitgehend isoliert anhand verschiedener Quellengruppen untersucht werden.
(b) Organisation und Verfahren
Bemerkenswert ist auch, dass in der Rechtssoziologie das Verhältnis von Organisation und Verfahren nicht genauer behandelt wurde. Luhmann definiert Verfahren als soziale Systeme von begrenzter Dauer, die für die Erarbeitung einer verbindlichen Entscheidung veranstaltet werden (1983 [1969], 3, 41, 180). Dem systemtheoretischen Verständnis nach gehen Verfahren nicht in den jeweiligen Verfahrensregeln auf. Sie sind deshalb nicht mit Entscheidungsprogrammen zu verwechseln. Das Würfeln oder Werfen einer Münze ist beispielsweise noch kein Verfahren, sondern eine einfache Entscheidungsregel, deren (zufälliges) Ergebnis und dessen Bindungswirkung kaum auf eigenes Handeln zurückführbar sind.
Überraschenderweise haben Verfahren als besonderer Typ von Interaktion bisher kein systematisches Interesse in den Diskussionen um die Erweiterung des Dreierschemas von Interaktion, Organisation und Gesellschaft gefunden. Werkgeschichtlich fällt auf, dass Luhmann den Verfahrensbegriff ab 1970 – abgesehen von einzelnen Randnotizen im Band „Recht der Gesellschaft“ (1995) – nicht mehr prominent verwendet hat. Verfahren werden danach vielmehr dem Dreierschema untergeordnet und als Strukturen des rechtlichen und politischen Systems behandelt.
Innerhalb der soziologischen Systemtheorie ist das Verhältnis von Verfahren und Gesellschaft zwar vereinzelt thematisiert worden (Vollmer 1996; Kieserling 1999; Scheffer 2010; Scheffer et al. 2009; Heintz 2014; Nassehi et al. 2019). Die Frage nach den gesellschaftsstrukturellen Konstitutionsbedingungen von Gerichtsverfahren einerseits und dem Beitrag von Organisationen für die fallbezogene Anwendung rechtlicher Normen in einem konkreten Verfahren andererseits wurde allerdings kaum thematisiert (Schwarting 2017b; siehe auch Scheffer 2010).
Zur Erklärung dieses Umstands ist die Markierung einer weiteren Tautologie aufschlussreich. Ähnlich wie oben für den Zusammenhang von Organisation und Gesellschaft argumentiert wurde, ist das Verhältnis von Organisation und Verfahren als Zirkelschluss formuliert und historisch unbestimmt geblieben. So wird für Verfahren in Luhmanns „Rechtssoziologie“ (1972a, 218) notiert, dass die eine Verfahrensart für die andere Verfahrensart als „lösbar“ unterstellt werden muss: Änderungen geltenden Rechts stützen sich auf Verwaltungs- und Wahlverfahren, an denen wiederum eine Vielzahl an Organisationen beteiligt sind (vgl. Luhmann 1983, 237). In dieser reflexiven und gerade nichthierarchischen Verschachtelung10 von organisierten Verfahren der Politik, des Rechts und der Verwaltung werden Verfahren als strukturelle Träger der funktionalen Ausdifferenzierung beschrieben. Sie stellen beim Übergang vom frühneuzeitlichen Recht stratifizierter Gesellschaften zu einem positivierten Recht funktional differenzierter Gesellschaften die „ermöglichende Vorleistung“ (Luhmann 1972a, 218) dar – das historisch Neue und Riskante der Positivität des Rechts ist die Legalisierung von Rechtsänderungen. Als Recht gelten dabei nur solche Entscheidungen, die den Filter politischer Gesetzgebungsverfahren durchlaufen (vgl. Luhmann 1972a, 209). Wenn nun zusammen betrachtet aber die Ausdifferenzierung von Verfahrenssystemen auf die Bereitstellung bindender Entscheidungsprämissen in ausdifferenzierten Funktions- und Organisationssystemen angewiesen ist, bleibt die Frage nach der Entstehung von Organisationen bzw. organisierten Verfahren jedoch offen (vgl. Schwarting 2017a/b; siehe auch Abschn. 3.​3.​2).
Diese Leerstelle einer an Rechtsorganisationen interessierten Soziologie lässt sich darüber hinaus verstehen, wenn man schließlich berücksichtigt, dass auch – wie angemerkt – ihre historische Entstehung und Existenz bislang kaum breite Aufmerksamkeit gefunden haben. Sucht man innerhalb der soziologischen Organisationsforschung nach historischen Studien zu Gerichten, so trifft man neben den genannten gesellschafts- und differenzierungstheoretischen Randbemerkungen im Werk Luhmanns auf einen Abschnitt bei Renate Mayntz (1963, 14–18). In ihrer Abhandlung über die „Entwicklungsgeschichte von Organisationen“ (1963, 9) wird „Gerichtsbarkeit“ lediglich als ein „grundherrliches Recht“ behandelt, das vom Personal der Hofverwaltung bzw. von der landesfürstlichen Lokalverwaltung mitkontrolliert wurde (vgl. Mayntz 1963, 11). Gerichtliche Einrichtungen jenseits der Zeitgeschichte – wie z. B. frühneuzeitliche Reichs-, Territorial- oder Lokalgerichte – finden in der Organisationsforschung keine Erwähnung. Es drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass ein Kontakt zwischen (historischer) Rechtswissenschaft und Organisationssoziologie – wie er in den 1980er Jahren angestoßen wurde – weder empirisch noch theoretisch zu einschlägigen Anschlüssen geführt hat. Die Forschungslücke einer organisationssoziologischen Perspektive auf Gerichte mag auch mit der spezifischen Rezeption der Bürokratie- und Rationalisierungsthesen Max Webers verbunden sein. Innerhalb der klassischen Soziologie wurde der gesellschaftlichen Rechtsentwicklung weniger Bedeutung beigemessen als dem Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft – ein Umstand, der sich auch in der Historiografie widerspiegelt (vgl. Hedinger/Siemens 2012).
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass viele Fragen zum Verhältnis von Recht, Organisation und Verfahren unbeantwortet geblieben sind, die hier nur kryptisch angedeutet werden können: Für welche Organisationsprobleme wird das Recht herangezogen? Was ist das Rechts- und was ist Organisationsspezifische an Rechtsorganisationen? Inwiefern gibt das Recht Anlass für organisatorische Strukturbildungen, und inwiefern sind Organisationen Anlass für rechtliche Strukturbildung? Wo liegen insbesondere die (Legitimations-)Grenzen der Organisierbarkeit von Recht bzw. von Rechtsverfahren?

2.2 Organisationssoziologie als Theoriedesiderat der RKG-Forschung

Angesichts der dargelegten Desiderata innerhalb der soziologischen Organisationsforschung stellt sich die Frage, auf welche Vorarbeiten alternativ in der Geschichtswissenschaft zurückgegriffen werden kann. Es gibt eine Reihe an historischen Arbeiten, welche die Prozesse funktionaler Differenzierung – beispielsweise der Rollendifferenzierung und Säkularisierung – beschreiben und dabei Luhmanns theoretische Argumentation empirisch fundieren und präzisieren. Die Studien zeichnen insbesondere nach, wie stark die frühneuzeitliche Gesellschaft durch die Interaktion unter Anwesenden geprägt war (vgl. Schlögl 2000, 2004a/b/c, 2014; Arlinghaus 2004a/b, 2018; Stollberg-Rilinger 2001; 2008; Hengerer 2004). Aber auch wenn in den letzten Jahren – insbesondere mit den Arbeiten von Stollberg-Rilinger (2013a/b), Krischer (2015) und Dorfner (2015a/b) – vermehrt geschichtswissenschaftliche Beiträge vorliegen, die die Prämissen der systemtheoretischen Organisationssoziologie für das Verständnis frühneuzeitlicher Phänomene fruchtbar machen, steht auch in diesem Feld die Erforschung der historischen Ausdifferenzierung von (Rechts-)Organisationen noch am Anfang.
Die konzeptionellen Anleihen zur Untersuchung des RKG fallen zumeist rechts-, politik- und und sozialgeschichtlich aus. Beachtlich ist die Vielfalt an empirischen Perspektiven auf den Gegenstand des RKG. Bereits während seines Bestehens war das Gericht Thema zahlreicher kritischer Würdigungen in zeitgenössischen Publikationen – vorwiegend von prominenten Reichspublizisten und Juristen wie Johann Jakob Moser (1701–1785) oder dem Göttinger Rechtsprofessor Stephan Johann Pütter (1725–1807) sowie schließlich auch von den RKG-Mitgliedern selbst. Letztere sind als „Entscheidungsliteratur“ oder „Nebenstunden“ behandelt worden (vgl. Baumann 2010, 55; siehe Abschn. 6.​1.​4). Dazu zählen beispielsweise einzelne Arbeiten „aktenkundiger Juristen“, die weniger das Gericht als vielmehr „außergewöhnliche Rechtsfälle“ und frühneuzeitliche Rechtsprobleme behandeln (vgl. Oestmann 2005, 1).
Nach der Auflösung des Alten Reichs hat sich die Forschung im 19. Jahrhundert kaum für dessen überregionale Einrichtungen interessiert. Sie galten als unbedeutend, als formale Hüllen und funktionslose Relikte. Die sogenannte borussisch-kleindeutsche Geschichtsschreibung sah sich einem preußischen Macht- und Nationalstaatsmodell verpflichtet und sprach dem Alten Reich einem staatlichen Einheitscharakter ab. Als geschichtlich wirksam galten entsprechend die einzelnen Territorialstaaten. Innerhalb dieser Generation von Geschichtsschreibern wurde die – vermeintliche – Bedeutungslosigkeit der Rechtsprechung am RKG insbesondere auf die anwachsenden Altlasten unbearbeiteter Fälle, die lange Prozessdauer, die niedrige Urteilsquote und seine unzulänglichen Exekutions- bzw. Vollstreckungskompetenzen zurückgeführt (vgl. Baumann 2001b, 55 f.; Stollberg-Rilinger 2013b, 98; Oestmann 2001, 25).
Für die RKG-Rezeption im 20. Jahrhundert steht prominent die Habilitation des späteren Göttinger Staats- und Kirchenrechtsprofessors Rudolf Smend (1882–1975), der über das RKG eine bis in die Nachkriegszeit hinein maßgebliche Monografie vorgelegt hat. In seiner klassisch gewordenen „Geschichte des Reichskammergerichts“ schildert Smend „die Rolle der einzelnen am Gericht tägigen Personengruppen nach den für sie wirksamen gesetzlichen Rahmenbedingungen“ (Diestelkamp 1995b, 91). Smend kam dabei ebenfalls zu einer recht negativen Beurteilung der Entscheidungstätigkeit des Gerichts (vgl. 1911; siehe auch Oestmann 2005a, 1–15; Baumann 2010, 55 f.).
Auch nach dem Ersten Weltkrieg änderte sich an den abwertenden Beurteilungen des RKG in der historischen Forschung zunächst wenig. Allerdings erfuhr der Umstand, dass das Gericht vom Kaiser mitgegründet worden war, eine positive Würdigung. Im Sog der nationalsozialistischen Machtübernahme verstärkten sich wiederum die abschätzigen Urteile über die Effizienz der Gerichtstätigkeit. Die Epoche der Frühen Neuzeit wurde dabei mit einem „Rechts- und Kulturverfall sowie nationaler Zersplitterung“ (Baumann 2010, 56) in Verbindung gebracht. Insbesondere die rechtlichen Entwicklungen, die die Rezeption des römischen Rechts vorantrieben und sich angeblich von „völkisch-germanischen Wurzeln abkehrten“, erfuhren eine negative Beurteilung (vgl. ebd.). In der Nachkriegszeit wurde demgegenüber die Verwendung des Reichsbegriffs problematisch (vgl. Ortlieb 2004, 8). Der Blick auf das RKG war weiterhin stark am Ideal des Zentralstaates orientiert und mit ihm wurde eine schwerfällige Rechtsprechungspraxis in einem dem Untergang geweihten Staatsgebilde verbunden (vgl. Diestelkamp 1999, 185 ff.; Oestmann 2001, 16 ff., 25 f.; Baumann 2010, 56 ff.).
Zu einem „Wandel“ (Hausmann 1989, 3) in der RKG-Rezeption kam es ab Mitte der 1970er und in den 1980er Jahren, als erstmals auf die maßgebliche Initiative Bernhard Diestelkamps hin eine mit Sondermitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Neuverzeichnung der Akten angestoßen wurde (vgl. Battenberg/Schildt 2010, XV).11 Unter den ersten Beiträgen, die aus diesem Großprojekt hervorgingen, finden sich insbesondere sozialgeschichtliche Arbeiten. In der Habilitationsschrift über „Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption“ legte Filippo Ranieri (1985, siehe auch 1977, 1988) – vor allem für das 16. Jahrhundert – erstmals eine systematische Untersuchung der Prozesseingänge auf Basis der überlieferten Akten vor (vgl. Press 1987; Diestelkamp 1999, 188 ff., Oestmann 2005a, 1–15; Jahns 2011, 86 f.). Für das 17. und 18. Jahrhundert hat Anette Baumann (z. B. 2001a/b, 2003a/b, 2006) mit ihren quantitativen Analysen an Ranieris Arbeiten angeschlossen.
Das jüngere Interesse am RKG wird innerhalb der Frühneuzeitforschung als Teil einer umfassenden Neubewertung des Alten Reichs verstanden, die mit dem prominenten Doppelband „Heiliges Römisches Reich 1776–1806“ von Karl Otmar Freiherr von Aretin (1967) einsetzte (vgl. Diestelkamp 1999, 185 ff., 277 ff.). Die alte preußisch-kleindeutsch-protestantische Meistererzählung vom unaufhaltsamen Niedergang des Reiches, vom Westfälischen Frieden als nationaler Katastrophe und von der Wiederauferstehung in Gestalt des Hohenzollernstaates erfährt dabei eine wesentliche Umdeutung (vgl. Stollberg-Rilinger 2013b, 98 f., 2014b). Mit der Neuverzeichnung der RKG-Akten und der Neubewertung des Alten Reichs setzte ein Aufschwung von (rechts-)historischen Forschungsarbeiten ein. In den folgenden Jahrzehnten entstanden Schriftenreihen mit einigen Hundert Titeln, die fast ausschließlich dem Alten Reich und seinen Institutionen gewidmet sind – wie insbesondere die „bibliothek altes Reich“ oder die „Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“.
Um die thematische Brandbreite der jüngeren RKG-Forschung zu illustrieren, seien hier die Arbeiten zu verschiedenen Prozessgruppen wie z. B. zu Frauen (Jung 1998; Westphal 2005; Westphal et al. 2011; Baumann 2007, 2010b), zu Juden (Battenberg 1987, 2014; Gotzmann/Wendehorst 2007; Ehrenpreis/Gotzmann/Wendehorst 2013) oder zum Adel (Baumann/Jendorff 2014a/b) genannt. Einen großen Anteil der RKG-Forschung machen außerdem merkmalsorientierte Studien über die gerichtlichen „Personalgruppen“ aus – wie zu den Kammerrichtern (Loewenich 2010, 157–187; 2012a, 29–35; 2013, 249–265; 2014, 409–429), den Assessoren (Duchhardt 1989; Jahns 1990, 2011; Weitzel 1994, 253ff; Baumann 2014), den Advokaten und Prokuratoren (Baumann 2000, 2003a/b, 2006, 2011), den Boten (Fuchs 2003; Mader 2003) oder allgemein zum „Reichspersonal“ (Baumann et al. 2003; 2019c).
Neben den Katalogen „Frieden durch Recht“ (Scheurmann 1994) sowie „Fern vom Kaiser“ (Hausmann 1995) lassen sich zudem weitgehend rechtshistorisch interessierte Studien zu den verschiedenen Gerichtsverfassungen bzw. -ordnungen (Laufs 1976; Dick 1985) unterscheiden. Einem weiteren Themenblock können Untersuchungen zu einzelnen Prozesskategorien zuordnet werden, so Arbeiten zu Ehrkonflikten (Fuchs 1999), Ehestreitigkeiten (Westphal 2008), Religionsprozessen (Kratsch 1990; Ruthmann 1996, 1999), Untertanenprozessen (Troßbach 1985, 1990, 1991, 2000, 2004, 2006, 2009, 2010; Maurer 1996; Sailer 1999) oder Hexenprozessen (Fuchs 1994; Oestmann 1997, 2004b). Schließlich finden sich ebenso Beiträge zu bestimmten Ereignissen bzw. Anlässen wie beispielsweise zum Wechsel der Residenzen (Hausmann 2003), zu den Visitationen (Denzler 2008, 2012a/b, 2014, 2016; Baumann 2012, 2018) oder zur „Affäre Papius“ (Baumann/Eichler 2012).
Von diesen weitgehend sozial- und rechtshistorischen Studien lassen sich quellenmethodische Beiträge abgrenzen, etwa zum historischen Erkenntniswert der Prozessakten (Oestmann 2001; Baumann 2001a/b, 2004; 2015; Baumann et al. 2005; Battenberg 1990, 2010; Battenberg/Diestelkamp 2003), zu bildlichen Augenscheinkarten (Recker 2004; Baumann 2019b) oder zu den Audienzdarstellungen (Scheurmann 1994; Stollberg-Rilinger 2009; Baumann 2010a; Loewenich 2012b). Wissenssoziologisch und ethnografisch angeleitet sind demgegenüber insbesondere Untersuchungen über die schriftlichen Zeugenverhöre (Fuchs 1999, 2003; Fuchs/Schulze 2002; Bähr 2011, 2012a/b).
Das plötzliche Interesse am RKG in den 1970/80er Jahren lässt sich auf eine kulturelle Wende in der Geschichtswissenschaft zurückführen, mit dem die Zugänge und Themen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte zunehmend in den Hintergrund treten. Angeregt durch die aufsteigenden Kommunikations-, Literatur- und Medienwissenschaften werden nunmehr Fragen der kulturellen Mentalität, der Wertestruktur und des Alltags behandelt, wobei institutionalistische Begriffskonzepte im Vordergrund stehen. Wissenschaftsgeschichtlich ist die kulturelle Wende dabei Teil einer disziplinübergreifenden, weitgehend an den Strukturfunktionalismus bzw. Poststrukturalismus angelehnten Zugriffsweise (siehe auch Schlögl 2011, 52 f.). In der Organisationssoziologie entspricht diese theoretische Orientierung dem Neoinstitutionalismus. Theoriegeschichtlich spiegelt sich in der RKG-Forschung damit gewissermaßen auch die „Geschichte des organisatorischen Denkens“ (Bonazzi 2014): von einem an Effizienz orientierten Maschinenbegriff der Organisation in der klassischen Organisations- und Managementforschung hin zu einem spezifisch-kategorialen Strukturbegriff von Organisation, der weitgehend an Angleichungsprozessen und der Frage interessiert ist, wie Institutionen gesellschaftliche Akzeptanz und Legitimation gewinnen.
Im Einklang mit der kulturgeschichtlichen Wende wird bei der Erforschung des RKG auf die symbolische Funktion von Gerichten verwiesen, die darin gesehen wird, Konflikte zu versachlichen, die Parteien zu disziplinieren und dazu insbesondere außergerichtliche Lösungen vorzubereiten (vgl. Diestelkamp 1999, 209 ff.; Oestmann 2001, 16; 2005a, 10; 2015a; Jahns 2011, 83 ff.). Die urteilszentristisch orientierten Thesen zur Ineffizienz der Rechtsprechung am RKG wurden nicht zuletzt angesichts der unvollständig überlieferten Quellen methodisch hinterfragt und betont, dass Vollstreckungs- bzw. Rechtsdurchsetzungsprobleme allein keine eindeutigen Rückschlüsse auf das gerichtliche Entscheidungsverfahren zulassen (siehe Oestmann 2001, 25).
Überraschend ist gleichwohl, wie eingangs betont, dass das RKG bislang kein organisationsgeschichtliches Interesse auf sich gezogen hat. Eine Ausnahme bildet ein jüngerer Aufsatz der Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger (2013a, 11–21) zur „Epoche der Formalisierung”, in dem Luhmanns Verständnis formal organisierter Sozialsysteme (1999a) erstmals am Beispiel des RKG fruchtbar gemacht wird. Auch die Forschungen zur „Herstellung und Darstellung von Entscheidungen“ (Stollberg-Rilinger/Krischer 2010; Krischer 2014; Stollberg-Rilinger 2015) liefern instruktive Einsichten über das empirische Potenzial von Luhmanns Verfahrenstheorie für die Erschließung vormoderner Phänomene. Zum Nachteil einer gesellschaftstheoretisch interessierten und historisch informierten Organisationssoziologie sind diese Arbeiten bislang nahezu ungenutzt geblieben.12 Angesichts dieser Ausgangslage liegt die besondere Herausforderung für die Bearbeitung der Frage nach der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung von (Rechts-)Organisationen und deren Binnenstrukturen in der Vormoderne darin, dass ein solches Vorhaben weder in der soziologischen Organisationsforschung noch in der (rechts-)historischen RKG-Forschung auf einschlägige Vorlagen zurückgreifen kann.
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Fußnoten
1
Problematisch sind Perspektiven, die Organisationen einen Primat in der Gesellschaft zuschreiben – beispielsweise in der zeitdiagnostischen Form einer „Organisationsgesellschaft“ (Gabriel 1979; Hasse 2003; Schimank 2001a/b; Jäger/Schimank 2005) –, weil die Konstitution von gesellschaftlichen Teilsystemen nicht auf Verhaltenserwartungen in Organisationen reduziert werden kann. Einerseits kann man weder in die Gesellschaft ein- noch aus ihr austreten. Andererseits ist die Gesellschaft soweit differenziert, dass keiner der zentralen gesellschaftlichen Funktionsbereiche allein durch Organisationen konstituiert wird (vgl. Luhmann 1972d, 147; 1997, 836; siehe auch Wehrsig/Tacke 1992, 229f.; Tacke 2010, 355; Tyrell/Petzke 2008, 435f.; zur Kritik an Zeitdiagnosen siehe Osrecki 2011 und 2015).
 
2
Zum Desiderat einer damit verbundenen historisch-soziologischen Organisationsforschung siehe auch Schwarting 2019, 103–138.
 
3
Thomas Drepper spricht beispielsweise von einem „rekursiven Konstitutions- und Korrelationsverhältnis von Organisation und Gesellschaft“ (2003, 23).
 
4
In seinem einschlägigen Beitrag über den Zusammenhang von Gesellschaft und Organisation (1965) erklärt beispielsweise Arthur Stinchcombe die Genese verschiedener Organisationstypen mit Rekurs auf die Unterschiede in der Mobilisierung von Eliten. Seine These ist zugespitzt formuliert, dass Organisationen derjenigen Ressourcen bedürfen, die sie zu ihrer Entstehung benötigen. Dazu zählt er neben Macht und Wohlstand freiwillige Vertragsbeziehungen, soziale Mobilität und Arbeitsmärkte. Sein empirischer Fokus liegt auf „industrial empires“ (Stinchcombe 1965, 153). Organisationen werden dabei als „träge“ Gebilde beschrieben, die ihre gründungsrelevanten Strukturen konservieren. Innerhalb des populationsökologischen Ansatzes gibt es zudem einige Aufsätze, die sich mit den gesellschaftlichen Bedingungen von Organisationen in vormodernen Gesellschaften beschäftigen (Stinchcombe 1965; Langton 1984; Ruef 2000). In seiner historisch interessierten Studie versucht z. B. Langton (1984) die konzeptionellen Schwächen in Webers Bürokratietheorie durch Annahmen der verhaltenswissenschaftlichen Evolutionstheorie greifbar zu machen. Der Aufsatz geht jedoch nicht über vergleichende, weitgehend modernisierungstheoretisch begründete Aussagen über die sozioökonomischen und personengeschichtlichen Faktoren des wirtschaftlich-technischen Erfolgs – hier der Töpferei-Industrie im 18. Jahrhundert – hinaus (siehe die Kritik bei Kieser 1989, 543).
 
5
Zur Abkopplung religiöser Inhalte von den bürgerlichen Weltanschauungen und konkreten Lebensumständen im 18. Jahrhundert in Frankreich siehe Groethuysen 1927 (bzw. Hahn 1980).
 
6
Während Goffman die räumliche Abgrenzung totaler Verhaltensanforderungen am Beispiel von Patientenrollen in Anstalten sowie Insassenrollen in Gefängnissen herausgearbeitet hat (1961), betont Lewis Coser bei seinem Verständnis von „gierigen Institutionen“ (1974; 2015) eher nichtphysische Mechanismen der sozialen Separierung von einer Außenwelt. Seine These ist, dass familiäre, militärische oder sektenmäßige Institutionen ein nahezu unbegrenztes Commitment von ihren Mitgliedern erwarten können.
 
7
Luhmann selbst sah in dieser Trennung scheinbar kein Forschungsproblem: „Die Rechtssoziologie verliert nicht viel, wenn sie sich auf das Recht der Gesellschaft konzentriert und die Untersuchung anderer Rechtsbildungen in Teilsystemen der Gesellschaft anderen speziellen Soziologien, namentlich der Familiensoziologie und der Organisationssoziologie überläßt“ (Luhmann 1972a, 131).
 
8
Benannt ist damit eine Strukturbesonderheit von öffentlichen (Gerichts-)Verwaltungen (vgl. Luhmann 1995, 306), auf die vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Erwartungen an den Einsatz von Computertechnologie mit Reformen unter dem Begriff eGovernment reagiert wird (Schwarting 2008; 2017b).
 
9
Sogar die zunehmende Informatisierung und Automatisierung von Verfahren wird von den Autoren des Bandes durch Rückbindung an (rechts-)soziologische Grundkonzepte reflektiert – ein Zugriff, den heutige Digitalisierungsforschungen angesichts der Einführung neuer Begrifflichkeiten oft vermissen lassen.
 
10
Der Begriff Verschachtelung wird bei Luhmann einerseits für die Inklusivität unterschiedlicher Typen sozialer Systeme verwendet (vgl. 1975a; siehe Fn. 4) und andererseits für die strukturelle Verschränkung von verschiedenen „Entscheidungsprogrammen“ (Konditional- und Zweckprogramme) (1971, 121). Da in dieser Arbeit die Vorteile eines allgemeinen Systembegriffs von Verfahren und Organisation gegenüber einem kategorialen Strukturverständnis von Sozialformen im Vordergrund stehen (siehe auch Schwarting 2019), verwende ich den Begriff Verschachtelung weniger auf der Ebene von Strukturen als im Sinne der Wiederholung von Systembildungen in Systemen (Systemdifferenzierung).
 
11
Die RKG-Prozessakten sind auf knapp 50 regionale Archive im In- und Ausland verteilt (z. B. in Metz, Stettin, Kopenhagen und Wien). Die breite regionale Verteilung der Akten auf verschiedene Archive ist historisch bedingt: Nach dem Einzug Napoleons wurde in den besetzten Gebieten der Code Napoleon eingeführt, der das Zivil- und Strafrecht neu regelte. Schriftstücke und Urkunden wurden an die Staaten verteilt, aus denen die Prozessbeteiligten stammten (vgl. Baumann/Schmitz 2014; Baumann 2019a, 336).
 
12
Zu einem ersten Vorstoß in eine solche Richtung können die Beiträge von Bernhard Diestelkamp (1994a, 110–117; 1995a, 11–38; 1995b, 91–124; 1999, 263–271) gezählt werden. In diesen finden sich zwar einzelne begriffliche Anlehnungen an Max Webers Verständnis von Bürokratisierung, jedoch erfahren sie keine systematische theoretische Anleitung. In einer Fußnote wird lediglich notiert, dass das Wort Amt im Alten Reich „noch unspezifisch gemeint und nicht im Sinne Max Webers Terminologie zu verstehen“ (ebd.) sei.
 
Metadaten
Titel
Forschungsstand
verfasst von
Rena Schwarting
Copyright-Jahr
2020
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-32872-6_2