3.1 Zum Umgang mit dem Sinnphänomen im Kontext von Arbeit, Management und Führung
Unter den frühen Plädoyers im deutschsprachigen Raum, Motivation im Lichte der existenzanalytischen Begründungen Viktor E. Frankls auch im Kontext von Arbeit, Organisation und Führung neu zu denken, ist dasjenige von Fredmund Malik ein besonders markantes. Malik hält „die Theorie Frankls für das Beste, was je über Motivation gesagt wurde.“ (Malik
1997, S. 38; siehe auch Tschirky
1991) Für die lange Zeit in der Breite ausgebliebene Resonanz gibt es verschiedene Gründe: Die Grundlagen des Sinnverständnisses von Frankl sind in der Arbeits- und Organisationspsychologie alles andere als „mainstream“. Das mag unter anderem daran liegen, dass Sinn als geistiges Phänomen in dem Transzendenzverhältnis von Subjekt und Welt schwer fassbar und für jeden Operationalisierungsversuch problematisch ist. Hinzu kommt, dass Frankl in der Konsequenz seines Verständnisses von Sinnerleben so sehr auf die Freiheit und Verantwortung des (Sinn suchenden und findenden) Individuums pocht, dass dies im vorherrschenden Fremdsteuerungsparadigma von Arbeit, Organisation und Führung eher befremdlich wirkt. In irreführenden Formulierungen wie „Sinn stiften“ und „Sinn geben“ scheint dieses Paradigma – selbst in ausdrücklichen Bezügen auf Frankls Werk – bis heute auf.
Im Zuge der Diskussion über Veränderungen in der Arbeitswelt und deren Auswirkungen auf Führung erfährt das Sinnphänomen eine deutlich gestiegene Aufmerksamkeit, was aber nicht gleichzusetzen ist mit einer Rezeption des hier zugrunde gelegten Sinnverständnisses. Der Deutungsraum des Phänomens und die angesprochene schwierige Fassbarkeit ermöglichen einen großzügigen Umgang mit dem Sinnbegriff. Manchmal wird dabei unter Berufung auf die Sinnkonzeption Frankls ein weiter Bogen gespannt bis hin zu „meaning in society“ und einem „meaningful capitalism“ (Pattakos und Dundon
2017, S. 46, 48). Für den hier interessierenden Kontext sind eher andere Beobachtungen relevant.
Da ist zum einen die Tendenz, unter weitgehender Ausblendung wissenschaftlicher Begriffsbildung, Zusammenhangsbeschreibung und Zusammenhangserklärung den Sinnbegriff für eine normative Deklamation von Werten für die zukunftsfähige Organisation zu nutzen. Die Arbeit von Anja Förster & Peter Kreuz mit ihren „sechs Sorten Sinn“ – Perfektion, Innovation, Herausforder-Rolle annehmen, Demokratisierung, Verantwortung, menschliche Werte – (Förster und Kreuz
2009, S. 29 ff.) sei hier beispielhaft erwähnt.
Da ist zum anderen der Versuch, über einen narrativen Ansatz der Darlegung interessanter praktischer Beispiele ein neues Denken für Organisation und Führung zu befördern, wobei „sinnstiftenden Formen der Zusammenarbeit“ (Laloux
2015) eine besondere Bedeutung zukommt. Die durchaus anregende Arbeit von Frederic Laloux sei beispielhaft genannt für dieses narrative Vorgehen. Ihre Idee „eines evolutionären Sinnes“ (Laloux
2015, S. 193 ff.) bleibt vage, wobei die Hinweise auf ein „Hören“ und „Spüren“ (ebenda: 200 ff.) einen Bezug zur geistigen Dimension vermuten lassen.
Da ist zum weiteren ein großzügiger Umgang mit dem Sinnbegriff durch eine Anbindung oder gar Gleichsetzung mit anderen, wohl eingeführten Begriffen. Auffällig ist eine häufige Anbindung an die Begriffe „Zweck“ und „Ziel“. Dabei werden „Sinn, Purpose und Zweck … weitgehend als Synonyme“ (Fink und Moeller
2018, S. 24) verwendet oder Sinn wird als „auf übergeordnete Ziele“ (Schnell
2016, S. 27) ausgerichtet beschrieben. „So wird aus sinnloser Bewegung sinnvolle Bewegung, wenn sie Zielen wie Gesundheit oder Fitness dient.“ (Schnell
2016, S. 27). Das ermöglicht zwar die Übertragung des Sinnbegriffs auf kollektive Gebilde (z. B. Organisationszweck, -ziel, -sinn), verkennt aber das unstrittige allgemeine Verständnis, dass Ziele und Zwecke gesetzt, für verbindlich erklärt, delegiert sowie auf logische Mittel-Zweck- bzw. Ober- und Unterzielbeziehungen hin analysiert werden können. Das ist mit dem weiter oben dargelegten Verständnis von Sinn schlecht vereinbar (zur Unterscheidung von Zwecken und Werten siehe tiefer gehend Scheler
1927, S. 25 ff.; mit Bezug auf Frankls Sinnverständnis z. B. Berschneider
2003, S. 42 f.).
Fruchtbar für die weitere Erkenntnisentwicklung dürften Arbeiten zur empirischen Begründung von Sinn(erleben) im Arbeitskontext sein. Abgesehen von der grundsätzlichen Problematik einer empirischen Begründung geistiger Phänomene wie Wertfühlen und Sinn unterscheiden die eingesetzten Erhebungsinstrumente aber häufig nicht zwischen Sinnerleben am Arbeitsplatz und Sinn im Leben allgemein; zudem heben sie stellenweise auf Wahrnehmungen ab, die eher psycho-soziales Wohlbefinden statt geistiges Sinnfühlen repräsentieren. Dennoch sei nachfolgend auf einige interessante Ergebnisse verwiesen.
Tatjana Schnell konstatiert positive Korrelationen zwischen Sinnerfüllung am Arbeitsplatz und Arbeitszufriedenheit, Leistung, organisationaler Bindung sowie negative Korrelationen bezüglich Fluktuation, innerer Kündigung, Zynismus, Erschöpfung und Stresserleben (Schnell
2016, S. 164 mit Verweis auf eine Mehrzahl europäischer und nordamerikanischer Studien). Ähnlich konstatiert Bernhard Badura für die „erlebte Sinnhaftigkeit“ am Arbeitsplatz „erhebliche Auswirkungen auf das Wohlbefinden und auf Qualität und Umfang der erbrachten Leistung“ (Badura
2018, S. 1) sowie auf Gesundheit insgesamt (ebenda: S. 5), wobei er die Erforschung dieser Zusammenhänge „noch in den Anfängen“ (ebenda: S. 2) sieht.
Mit Bezug auf die Frage, wie Sinnerleben im Arbeitskontext entsteht, identifiziert Schnell aufgrund eigener empirischer Untersuchungen vier „Prädiktoren beruflicher Sinnerfüllung“ (Schnell
2016, S. 156 ff.; Schnell et al.
2013). Der Prädiktor „Bedeutsamkeit der eigenen Tätigkeit“, definiert als das Ausmaß des wahrgenommenen Nutzens der eigenen Tätigkeit für andere Menschen, weist dabei den deutlichsten Bezug zur Variable „sinnvolle Arbeit“ („meaning in work“) auf. Wir sehen in diesem „Prädiktor“ ein eigentliches Maß für das Sinnempfinden bei der Arbeit, weil er ganz unmittelbar für die wertestrebige Hinwendung zu etwas, was nicht ich (die befragte Person) selbst bin, steht. Mit den übrigen Prädiktoren „selbsttranszendente Unternehmensorientierung“, „sozio-moralische Atmosphäre“ und „Job-Passung“ sind mögliche Einflussfaktoren abgebildet, die nicht zwingende Voraussetzungen des individuellen und situativen Sinnempfindens sind, aber dieses doch begünstigen können. Ronald Busse subsummiert in seiner methodisch interessanten Modellierung von Sinnzusammenhängen psychologische (z. B. Zufriedenheit, Wertschätzung durch Kollegen) wie noologische (z. B. Bedeutung der eigenen Arbeit für die Umwelt, ethische Vorbildlichkeit) Elemente unter „Hauptkategorien des Willens zum Sinn“ (Busse
2019, S. 133). In der zugrundeliegenden empirischen Studie erwies sich die Vorgesetzten-Mitarbeiter-Beziehung als bedeutsamster Einflussfaktor für das Sinnempfinden – übereinstimmend für in Deutschland, den USA, China, Indien und Südkorea erhobene Daten (Busse et al.
2018, S. 67 f.).
Eine fehlende Striktheit in dem Auseinanderhalten von psychologischer und noologischer Dimension eignet vielen Untersuchungen zu unserem Thema, auch den zuvor genannten empirischen Studien. Da der Mensch aus beiden Seins-Dimensionen heraus und nicht selten auch ohne ein Bewusstsein für diese Unterscheidung handelt, mag man das für theoretisch unsauber, aber praktisch unerheblich halten. Einem guten Verständnis der Besonderheit des Sinnphänomens, für das Führungskräfte sensibilisiert werden sollen, dient der großzügige Umgang mit dem Sinnbegriff indes nicht.
Für die weitere Betrachtung von Führung und Sinn
in Organisationen soll nun konkretisiert werden: Wir beziehen uns auf die durch unmittelbare Führungsbeziehungen gekennzeichneten organisationalen Subsysteme (Teams, Gruppen, Abteilungen, „Führungssegmente“ – zum Begriff siehe Seidel
1978, S. 116 f.) und knüpfen damit an die erkannte Bedeutung der Führungsbeziehung (siehe die oben erwähnte Arbeit von Busse et al.
2018; siehe auch den Beitrag von Felfe et al.
2018) für das Sinnerleben im organisationalen Kontext an. Für das einzelne Organisationsmitglied als „Träger“ subjektiver Geistigkeit und damit auch Sinnbedürftigkeit finden auf dieser Handlungsebene die täglichen Konkretisierungen von Sinn statt (oder auch nicht). Diesen Konkretisierungen als Möglichkeiten der Werterealisierung im Einflussbereich jeder Führungskraft gilt unser hauptsächliches Augenmerk. Damit soll die Übertragung des Themas „Führung und Sinn“ auf die gesamtorganisationale Ebene in ihrer möglichen Bedeutung ebenso wenig bestritten werden wie die rahmengebende Bedeutung der Makroebene für das Geschehen auf der Mikroebene. Mit Blick auf die angesprochenen großzügigen Interpretationen von Sinn bietet die hier gewählte Fokussierung aber genügend Klärungspotenzial.
3.2 Sinn im Kontext der unmittelbaren Führungsbeziehung
Wir haben Sinn als individuelles und situatives Wertfühlen der geistigen Person definiert. Der Mensch fühlt dann den Sinn seines Seins, wenn per Haltung und Tat die Wertepotenzialität einer Situation in eine Werteverwirklichung transformiert wird, was für ihn und möglicherweise andere an der Situation Beteiligte zu einem Wertfühlen führt. Bei einer Würdigung der Sinnorientierung im Kontext der unmittelbaren Führungsbeziehung sind zwei relevante Sichtweisen zu unterscheiden:
1.
die Sicht auf die Werteverwirklichung und das damit verbundene Sinnerleben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Frage, in welcher Weise die zuständige Führungskraft diese beeinflussen kann
2.
die Sicht auf die Werteverwirklichung und das damit verbundene Sinnerleben der jeweiligen Führungskraft und die Frage, inwieweit für die Führungsperson selbst die Führungsarbeit ein Potenzial für Sinnerleben beinhaltet.
In der folgenden Betrachtung bedienen wir uns der von Viktor E. Frankl vorgenommenen Unterscheidung in die Kategorien schöpferische Werte, Erlebniswerte und Einstellungswerte – von ihm bezeichnet als „
drei Hauptstraßen …, auf denen sich Sinn finden lässt“ (Frankl
2006, S. 47).
3.2.1 Möglichkeiten der Werterealisierung auf der Mitarbeiterebene
S
chöpferische Werte können durch das Hervorbringen einer materiellen oder immateriellen Leistung verwirklicht werden: ein Mitarbeiter der Betriebstechnik, der den Kolleginnen und Kollegen in der Produktion eine zuverlässige und sichere Maschine hinstellt; eine Pflegerin, die einem Patienten einen Spaziergang im Park ermöglicht; der Umweltaktivist, der ein Protesttransparent an einem Trawler befestigt. Die Werteverwirklichung hängt nicht – wie manchmal unterstellt wird – zwingend davon ab, dass die jeweils tätige Person dabei ihre besonderen Fähigkeiten und Begabungen einbringen kann. Werteberührung und wertebezogenes Handeln können trotz Unsicherheit, geringer Befähigung, vielleicht sogar Versagensangst geschehen. Soweit auf den Zweck einer Organisation und das damit einhergehende Sinnpotenzial abgehoben wird, ist – hier am Beispiel eines Pharmaunternehmens – anzumerken: Für die Werteberührung und das mit ihr einhergehende Motivations- und Sinnpotenzial ist es erforderlich, dass die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter einen Zusammenhang zwischen der eigenen Tätigkeit und der Verfügbarkeit des Medikaments für Erkrankte wahrnimmt. Laloux spricht davon, dass „der individuelle Sinn und der Sinn der Organisation miteinander in Resonanz treten“ (Laloux
2015, S. 221; zur Bedeutung der „Passung von organisationalem und Individual-Sinn“ siehe auch Brohm
2017, S. 37, 41 ff.).
Erlebniswerte werden über ein aufnehmendes, das Werteempfinden berührendes Erleben des Arbeitsgeschehens verwirklicht. Hier geht es nicht um das eigene schöpferische Tätigsein, sondern um ein hinwendendes Beteiligtsein: an der Art und Weise des Miteinanders am Arbeitsplatz, der wahrgenommenen Gerechtigkeit bei der Verteilung von Arbeitslast, der gegenseitigen Rücksichtnahme und Unterstützung, Offenheit und Ehrlichkeit, der wahrgenommenen Bedeutung von Arbeitsqualität, des wertschätzenden Umgangs mit Ressourcen u. a. m. Bei den Erlebniswerten wird besonders deutlich, dass die Wahrscheinlichkeit der Berührung von einem Wert beeinflusst wird vom individuellen Wertesystem eines Menschen. Wer Gerechtigkeit oder gegenseitige Unterstützung oder Arbeitsqualität nicht für wertvoll hält, wird davon möglicherweise auch nicht berührt werden – ausgeschlossen ist das indes nicht, sonst wären Veränderungen im individuellen Wertesystem gar nicht möglich.
Einstellungswerte werden durch persönliche, möglicherweise einer körperlichen oder psychischen Beschwernis trotzende, Haltungen verwirklicht: die Übernahme der Verantwortung für einen Fehler trotz der Möglichkeit, sich hinter der Mehrdeutigkeit der Fehlerzurechnung zu verstecken; das Vorleben von Teamgeist trotz wahrgenommener Egoismen bei allen anderen Beteiligten; die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit trotz einer nur geringen finanziellen Besserstellung gegenüber der sozialen Absicherung in der Arbeitslosigkeit u. a. m. Einer bedrückenden Situation ein „Trotzdem“ entgegenzustellen, ist selbst bei fehlender Möglichkeit zur Realisierung schöpferischer Werte und Erlebniswerte eine der geistigen Person innewohnende Sinnmöglichkeit.
Die exemplarische Beschreibung von Werteverwirklichungen und damit verbundenem Sinnempfinden in der Mitarbeiterrolle lässt erkennen, dass Führung hierfür keine zwingende Voraussetzung ist. Andererseits kann nicht unterstellt werden, dass in der Konstellation „Vorgesetzte und Mitarbeitende“ Werterealisierung und Sinnfühlen erschwert werden. Es hängt vom Verhalten der jeweiligen Führungsperson ab. Die Führungsrolle mit ihren Sinnmöglichkeiten soll deshalb im nächsten Abschnitt betrachtet werden. Auf eine erneute exemplarische Abhandlung der verschiedenen Wertekategorien wird dabei verzichtet.
3.2.2 Möglichkeiten der Werterealisierung in der Führungsrolle
Jede Führungsrolle ist konstitutiv durch ein Hin-zum-Anderen definiert, was den Werte- und Sinnaspekt geradezu einzuschließen scheint. Aber auch Führende haben wie jeder Mensch die Eigenschaft, in ihrem Handeln nicht nur ein Hin zu etwas, was nicht sie selbst sind, sondern auch eine Selbstbezogenheit gelten zu lassen. Die Erfahrung des Verfassers aus der Arbeit als Coach lehrt die Bedeutung der Frage: „Wozu ist es gut, dass gerade Sie (die vor mir sitzende Führungskraft) die Führungsaufgabe übernehmen sollten oder übernommen haben?“ Wenn in den Antworten auf diese Frage nicht die Mitarbeitenden vorkommen, sondern das Ego die Antworten dominiert (z. B. „weil ich weiterkommen möchte“, „weil ich als Dienstältester einfach dran war“), ist offenkundig, dass für sinnorientierte Führungsarbeit ein erheblicher Coaching-Aufwand ansteht.
Mit Bezug auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lässt sich das Potenzial für Werterealisierung und Sinnfühlen in der Führungsrolle in zwei Arten unterteilen (von einer Weitung des Fokus auf Handlungsbezüge einer Führungskraft in Richtung anderer Personen innerhalb und außerhalb einer Organisation sehen wir hier ab):
a.
Beiträge der Führungsperson zu den Werterealisierungen und Sinnempfindungen der Mitarbeitenden
Beiträge ergeben sich unmittelbar aus den zuvor (Abschn. 3.2.1) für die Mitarbeitenden beispielhaft beschriebenen Möglichkeiten der Werterealisierung. Wenn Führung einen Beitrag dazu leistet, dass Mitarbeitende den Wert ihrer Haltungen oder ihres Tätigseins wahrnehmen können, wenn Führung wertebezogenes Handeln unterstützt oder ermöglicht, kann sich auch auf Seiten der Führungsperson Sinnfühlen einstellen. „Gut, dass ich durch mein Führungshandeln Anderen (hier: Mitarbeitende, Teammitglieder u. ä.) einen Zugang zum Wertfühlen ermöglicht habe.“ So oder so ähnlich ließe sich – mit aller Unzulänglichkeit der Verbalisierung subjektiver Empfindungen – dieses Sinnfühlen bei der Führungsperson beschreiben. Den späteren Überlegungen (Abschn. 3.2.3) vorausgeschickt sei hier: Dieses Ermöglichen funktioniert nicht über einen Appell, eine Anweisung oder gar ein Einimpfen von Werten und deren Sinnpotenzial („Das muss doch für Dich Sinn machen!“).
b.
Beiträge der Führungsperson zu einem guten Zustand des Psychophysikums der Mitarbeitenden
Da hier das Sinnempfinden der Führungsperson und nicht das der Mitarbeitenden betrachtet wird, ergibt sich eine weitere Art von Sinnpotenzialität: Ein Wert- und Sinnfühlen kann sich bei der Führungsperson auch dadurch einstellen, dass über die Führungsarbeit ein Beitrag zu einem guten Zustand des Psychophysikums der Mitarbeitenden geleistet wird – beispielsweise durch eine ergonomische Arbeitsplatzgestaltung, den Einsatz für eine leistungsgerechte Entgeltanpassung oder die Berücksichtigung persönlicher Entwicklungsinteressen der Mitarbeitenden. Auch dies sind Führungsakte aus der Verantwortlichkeit für jemand Anderen, Handlungen aus dem personalen Geist und seiner Wertestrebigkeit. „Gut, dass ich durch mein Führungshandeln für Andere (hier: Mitarbeitende, Teammitglieder u. ä.) einen Beitrag zu einem gesunden, sicheren, angstfreien usw. Arbeitsplatz leisten kann.“ In diesem Empfinden liegt Sinn- und Motivationspotenzial für die Führungsperson selbst, weil der Wert des eigenen Tätigseins als Führungsperson erlebt wird. „Wann ist Führung sinnvoll?“, hat Hugo Tschirky bereits 1991 gefragt, und auch geantwortet: „… wenn sie die eigene Sinnfindung und
gleichzeitig eine Sinnvermittlung an andere ermöglicht.“ (Tschirky
1991, S. 28).
In einem weiten Verständnis kann „sinnorientierte Führung“ die zuvor unter (a) und (b) beschriebenen Aktivitäten der Führungsperson meinen. In einem engen Verständnis meint „sinnorientierte Führung“ nur die unter (a) beschriebenen Aktiväten, weil nur diese unmittelbar darauf abzielen, für die geführte(n) Person(en) die Berührung mit Werten, ein Wert- und Sinnfühlen im Zuge ihres Tätigseins zu unterstützen oder zu ermöglichen. Diesem engeren Verständnis folgen die weiteren Überlegungen.
Bevor wir im nächsten Kapitel auf die grundsätzlichen Möglichkeiten sinnorientierter Führung eingehen, sei an einem kleinen Beispiel verdeutlicht, wie sich eine Führungsperson in ihrem Führungshandeln von einer situativen Sinnanfrage leiten lässt:
Gedacht sei eine Organisationseinheit mit einer Vorgesetzten und vier Mitarbeitern, beispielsweise ein Forschungs- und Entwicklungslabor mit der Laborleiterin und vier Laboranten. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines Kundenbesuchs im Labor sind unter den Mitarbeitern wenig beliebte Aufräum- und Säuberungsarbeiten durchzuführen. Die Vorgesetzte beobachtet, dass einer der vier Laboranten sich nicht an der Aufräum- und Säuberungsarbeit beteiligt, sondern an seinen üblichen Materialversuchen arbeitet. Die drei Kollegen kommen auch so zurecht; möglicherweise ist es ihnen sogar ganz recht, dass ihr ohnehin als Querulant bekannter Kollege nicht mitmacht. Die Vorgesetzte könnte es laufen lassen und sich ein besonderes Dankeschön an die drei „Aufräumer“ vornehmen. Schließlich weiß sie, dass die Führungskommunikation mit dem Querulanten oft stressig wird. Außerdem arbeitet dieser an einer Testreihe, deren Ergebnisse die Vorgesetzte sehr interessieren. Dennoch geht sie auf den Mitarbeiter zu und weist diesen an, sich umgehend an den Aufräumarbeiten zu beteiligen, weil es ihr in der so entstandene Situation zuoberst um den Wert der „Gerechtigkeit“ geht, für dessen Beachtung sie sich in ihrer Vorgesetztenfunktion zuständig und verantwortlich sieht. Obwohl es eine Möglichkeit gäbe, unter Verweis auf die Bedeutung der Testarbeiten dem möglicherweise unangenehmen Führungsgespräch aus dem Weg zu gehen, entscheidet sie sich für diese Werterealisierung, gestützt auf ihre Einflussmacht als Vorgesetzte. Mit ausdrücklichem Verweis auf die „Gerechtigkeit“ begründet sie auch ihre Anweisung.
Für die Vorgesetzte ist dies wertebezogenes, sinnorientiertes Führungshandeln. Es ist ein Beispiel für die Bedeutung von Führung, „soziale Situationen, in denen sie (die Führungspersonen, Anm. d. Verf.) selbst mit enthalten sind, kontextbezogen zu steuern“ (Geramanis
2016, S. 47), wobei die Fähigkeit der
Wertsichtigkeit (siehe oben Abschn. 2.2) eine entscheidende Rolle spielt. Soweit die an dieser Situation beteiligten Personen einen Zugang zum Wert „Gerechtigkeit“ haben, stellt sich ein diesbezügliches Wert- und Sinnfühlen ein – bei der Führungsperson, die durch ihr Handeln einem Wert zu Geltung verholfen hat (Werteverwirklichung), bei dem „Drückeberger“, der (vielleicht) erkennt, dass es etwas Wertvolleres als die Vermeidung der unangenehmen Arbeit gibt, und bei den übrigen Mitarbeitenden, für die „Gerechtigkeit“ zu einem Erlebniswert am Arbeitsplatz geworden ist. Sinnfühlen ist ein subjektiver Vorgang; insoweit kann hier nur die Möglichkeit und nicht eine Gewissheit formuliert werden.
Soweit unsere Darlegung einer sinnorientierten Führung, welche die je konkreten Wertemöglichkeiten einer Situation erkennt und nutzt. Konsequenterweise ist dieses situative Handeln eingebettet in eine grundsätzliche, der Werte- und Sinnorientierung Raum gebende Gestaltung der Führungsbeziehung – eine sinnorientierte Arbeits- und Führungskultur. Einige Ansatzpunkte hierfür sollen nachfolgend und zugleich abschließend betrachtet werden.
3.2.3 Ansatzpunkte zur Förderung sinnorientierten Führungshandelns
Eingedenk der grundsätzlichen Freiheit der geistigen Person mit ihrer Werte- und Sinnbezogenheit handelt es sich bei den im Folgenden aufgezeigten Aspekten nicht um zwingende Voraussetzungen, sondern um förderliche Rahmenbedingungen der Sinnorientierung im Führungskontext. Ohne den Anspruch einer erschöpfenden Aufzählung wollen wir vier Ansatzpunkte kursorisch herausstellen (ähnlich Jung et al.
2018, S. 219 f.; unter den „Prädiktoren“ von Sinn in der Arbeit bei Schnell scheint uns die „sozio-moralische Atmosphäre“ hier besonders relevant, Schnell
2016, S. 159 f.).
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Sinnbarrieren abbauen und vermeiden
Wertsichtigkeit und das Erkennen von Sinnmöglichkeiten setzen ein weitgehend angstfreies Agieren mit einem Frei-sein für die Anfragen der Situation (Aufgaben, andere Personen) voraus. Führen mit Druck, Zwang und Angst verengt das Sicht- und Handlungsfeld der beteiligten Personen mit der Konsequenz einer Konzentration auf die eigene Person und das Vermeiden von unangenehmen Situation und Nachteilen. Die „Empfangsbereitschaft“ für die Sinnanfragen einer Arbeitssituation kann dann gestört sein.
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Transparenz herstellen
In hochkomplex-arbeitsteiligen Systemen kann für das Individuum die Beziehung zwischen dem eigenen Handeln und der daraus letztlich entstehenden „Sache“ verlorengehen. Sinnorientierte Führungskommunikation ist aufgerufen, Zusammenhänge über den unmittelbaren Arbeitskontext hinaus darzulegen, damit Einzelne oder eine Gruppe die Einbindung der eigenen Aufgaben und Tätigkeiten in einen größeren (Sinn‑)Zusammenhang erkennen können. Aus sinn-theoretischer Sicht hat der Sachzielbezug in der Führungskommunikation eine höhere Bedeutung als der, häufig im Vordergrund stehende, Formalzielbezug (z. B. Leistungskennziffern, Umsatz, Rendite).
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Erlebensräume für Freiheit und Verantwortung schaffen
Vielfalt und Ganzheitlichkeit einer Aufgabe und eine möglichst große Selbständigkeit bei der Aufgabenerfüllung erhöhen die Wahrscheinlichkeit, sich angefragt zu fühlen, die eigenen Fähigkeiten bewusst für eine schöpferische Werterealisierung einzusetzen. Mit der wahrgenommenen Freiheit für eigenständiges Handeln eng verknüpft ist das Empfinden von Verantwortung dafür, etwas so und nicht anders gemacht zu haben. Neben diesem Sachbezug wird Verantwortung im Personenbezug durch das Erleben von Gemeinschaft gefördert. Je mehr das Individuum eingebunden ist in die gemeinsame Aufgabenerfüllung mit Anderen, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, von Werten wie Harmonie, gegenseitige Unterstützung, Beteiligungsgerechtigkeit u. a. m. angesprochen zu werden. Teamartige Arbeitsstrukturen erschweren das Verharren in der Selbstbezogenheit.
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Wertvorstellungen thematisieren
Über individuelle Wertvorstellungen zu sprechen, möglicherweise auch Übereinstimmungen und Unterschiede zu den offiziell verlautbarten Wertvorstellungen einer Organisation zu thematisieren, kann eine sinnorientierte Arbeitskultur befördern, ja gegebenenfalls erst die Möglichkeiten zur Werterealisierung am Arbeitsplatz bewusst machen. In einer eher auf „Sachlichkeit“ getrimmten Führungskommunikation ist für die Erörterung von Werten selten Platz. Werte in das Bewusstsein zu bringen, kann die Wertsichtigkeit in der je konkreten Handlungssituation schärfen.
Insbesondere die Einbindung von Wertvorstellungen geht ohne Zweifel in den meisten Arbeitsbeziehungen über das gewohnte Spektrum der Kommunikationsinhalte hinaus und stellt – auch wegen der Subjektivität von Wertvorstellungen – eine Herausforderung dar.