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08.12.2022 | Funktionswerkstoffe | Schwerpunkt | Online-Artikel

Der steinige Weg zur Supraleitung bei Raumtemperatur

verfasst von: Dieter Beste

6 Min. Lesedauer

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Sie sind essenziell für Anwendungen wie etwa der Magnetresonanztomographie, doch alle heutigen Supraleiter funktionieren nur bei extrem tiefen Temperaturen. Gelingt der Sprung zur Supraleitung bei Umgebungstemperaturen?

Das geschieht nicht alle Tage: Eine viel beachtete Veröffentlichung, in der Forscher in der Zeitschrift "nature" behaupteten, den ersten echten Supraleiter bei Raumtemperatur beobachtet zu haben, wurde kürzlich zurückgezogen. Ein Team um den Physiker Ranga Dias von der University of Rochester in New York hatte im Oktober 2020 von der Herstellung eines Supraleiters berichtet, der bei einer noch nie dagewesenen Temperatur von 15 ˚C funktioniere. Das Material, eine Mischung aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Schwefel, hatten die Wissenschaftler zwischen den Spitzen zweier Diamanten mit dem 2,6-Millionenfachen des Atmosphärendrucks zusammengepresst. "Der Rückzug ist dramatisch, aber die richtige Entscheidung", kommentiert Mikhail Eremets, Physiker am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz, den Schritt des angesehenen Journals. Nicht nur sein Labor hatte erfolglos versucht, die Ergebnisse von Dias' Team zu reproduzieren. Supraleitung bei normalen Umgebungstemperaturen – der Traum darf weitergeträumt werden.

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Supraleiter können große elektrische Ströme verlustfrei leiten und sind der Schlüssel zu vielen wissenschaftlichen und technischen Anwendungen. Supraleitung wurde erstmals 1911 entdeckt, als der niederländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes Quecksilber auf etwa 4 K abkühlte, was ihm 1913 den Nobelpreis für Physik einbrachte. Die meisten heute in der Technik verwendeten Supraleiter funktionieren bei derart tiefen Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt (-273 ˚C). 

Bei einigen Materialien tritt Supraleitung auf, wenn sie unter eine bestimmte Temperatur – die kritische Supraleitungs-Temperatur (Tc) auch Sprungtemperatur genannt – abgekühlt werden, beschreibt Ajit Behera das Phänomen im Buchkapitel "Advanced Semiconductor/Conductor Materials". Unterhalb von Tc weisen supraleitende Materialien zwei charakteristische Eigenschaften auf: 

  • kein elektrischer Widerstand und 
  • perfekter Diamagnetismus (Meissner-Effekt)

Kein elektrischer Widerstand bedeutet, dass keine Energie in Form von Wärme verloren geht, wenn das Material Strom leitet. Die zweite Eigenschaft, perfekter Diamagnetismus, bedeutet, dass das supraleitende Material ein Magnetfeld ausschließt, was als Meissner-Effekt (nach seinem Entdecker) bekannt ist. Der Meissner-Effekt  ist dafür verantwortlich, wenn ein Supraleiter über einem Magneten schwebt. "Das Auftreten des Meissner-Effekts zeigt, dass Supraleitung nicht einfach als Idealisierung der perfekten Leitfähigkeit in der klassischen Physik verstanden werden kann", sagt Ajit Behera – letztlich sei sie immer noch ein quantenmechanisches Rätsel. 

Eine praktisch anwendbare Theorie der Supraleitung stellten John Bardeen, Leon Cooper und John Schrieffer 1957 vor; für ihre "BCS-Theorie" erhielten sie 1972 den Nobelpreis für Physik. Die BCS-Theorie beschreibt, "wie die Bewegungen der Elektronen innerhalb eines supraleitenden Materials koordiniert werden, sodass sie als ein einziges System behandelt werden können, das mit einer Wellengleichung beschrieben werden kann", erklärt Joanne Baker in ihrem Buchbeitrag "Supraleitung".

Revolution der Hochtemperatursupraleiter

Im Januar 1986 machten Karl Müller und Johannes Bednorz eine Entdeckung, die das wissenschaftliche Verständnis von Supraleitern wieder einmal in Frage stellte und für die sie postwendend 1987 mit dem Nobelpreis geehrt wurden. Bis dahin war man davon ausgegangen, dass Supraleitung nur bei einer Abkühlung nahe dem absoluten Nullpunkt auftritt. Bei einem Oxid aus Barium, Lanthan und Kupfer stellten die beiden jedoch fest, dass dieses Material schon bei etwa 40 K supraleitend wird. Die Materialklasse der keramischen Hochtemperatursupraleiter war geboren. In den Jahrzehnten seither kletterten deren erreichbare Sprungtemperaturen weiter in die Höhe; im August 2015 gab eine Gruppe um Mikhael Eremets vom Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie in "nature" die Entdeckung der Supraleitfähigkeit bei einer Temperatur von 203 K unter hohem Druck bekannt.

Eremets war es auch, der 2019 ein weiteres Kapitel in der Supraleitungsforschung aufschlug, indem er zusammen mit anderen in einem wasserstoffreichen Material "Supraleitung bei minus 23 Grad Celsius" feststellen konnte. Allerdings hatte die Sache einen Haken: Die Forscher mussten eine kleine Probe des Materials Lanthanhydrid (LaH10) in einer speziellen Kammer, die nur einige hundert Kubikmikrometer groß ist, einem Druck von 170 GPa aussetzen, also dem 1,7-Millionenfachen des Atmosphärendrucks, damit Supraleitung eintrat. Gleichwohl war die Studie "ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Supraleitung bei Raumtemperatur", wie Eremets das Ergebnis kommentierte.

Lanthanhydrid im Fokus der Forschung

Lanthanhydrid wird seit diesem Forschungserfolg weltweit intensiv untersucht. Die Messdaten von 2019 ließen vermuten, dass sich unter sehr hohen Kompressionsdrücken noch andere supraleitende Lanthanhydride bilden. Diese Überlegungen haben sich jetzt bestätigt: Im Hochdrucklabor des Bayerischen Geoinstituts (BGI) hat ein Forscherteam um Natalia Dubrovinskaia von der Universität Bayreuth insgesamt sieben Lanthanhydride erzeugt: zwei schon bekannte Verbindungen (LaH10+δ und LaH3) sowie die bisher unbekannten Lanthanhydride LaH~4, LaH4+δ, La4H23, LaH6+δ und LaH9+δ. Diese Verbindungen entstanden aus Proben, die Lanthan und Paraffin – eine wasserstoffreiche Mischung aus gesättigten Kohlenwasserstoffen – enthielten. Die Proben wurden in Diamantstempelzellen sehr hohen Drücken zwischen 96 und 176 GPa ausgesetzt und dabei auf über 2.200 ˚C erhitzt, wie die Wissenschaftler in "nature communications" berichten. 

Bislang war es meist Zufall, wenn Forscher auf ein neues Material für Supraleitung stießen, denn der Zusammenhang zwischen dieser exotischen Eigenschaft und der Materialstruktur ist noch unklar. Neue Messmöglichkeiten mit Petra III und künftig mit Petra IV am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg versprechen Aufklärung, denn mit diesen Röntgenmikroskopen können lokale elektronische Strukturen in Supraleitern auf der Nanoskala sichtbar gemacht werden. In Kooperation mit dem DESY und dem Center for Advanced Radiation Sources in Chicago gelang es dem Team um Dubrovinskaia, die Strukturen der neuen Verbindungen aus Lanthan und Wasserstoff zu identifizieren. Dabei stellte sich heraus, dass Lanthanhydride mit der gleichen Anordnung von Lanthan-Atomen sich hinsichtlich ihres Wasserstoffgehalts erheblich unterscheiden. Anders gesagt: Das gleiche Gerüst aus Lanthan-Atomen kann mit unterschiedlich vielen Wasserstoff-Atomen verknüpft, und dabei können die Wasserstoff-Atome sehr verschieden angeordnet sein. Auch konnten die Bayreuther Wissenschaftler nachweisen, dass es eine ähnliche strukturelle Vielfalt auch bei Hydriden geben kann, die statt des Lanthan andere Metalle aus der Gruppe der Seltenen Erden enthalten. 

Von Petra III zu Petra IV

In Hamburg wird bis 2028 im vorhandenen 2,3 km langen Teilchenbeschleunigertunnel von Petra III das voraussichtlich beste Röntgenmikroskop der Welt entstehen. Petra IV wird 3D-Bilder aus dem Nanokosmos liefern und Einblicke mit bisher unerreichter Präzision in Materialien und biologische Strukturen ermöglichen. Wie wichtig dies für die Forschung zu neuen Supraleitern ist, präzisiert Natalia Dubrovinskaia: "Bei der Suche nach Supraleitern mit höheren Sprungtemperaturen sind theoretische Modelle und hierauf basierende Berechnungen unentbehrlich. Wasserstoffhaltige Festkörper haben sich dabei als vielversprechende Materialien erwiesen. Die Supraleitfähigkeit dieser chemischen Verbindungen hängt, wie wir heute wissen, wesentlich von der Anzahl und der Anordnung der Wasserstoffatome ab. Umso wichtiger ist es, dass in die theoretischen Modelle keine falschen Annahmen einfließen, die zur Folge haben, dass wasserstoffhaltige Festkörper mit hoher Sprungtemperatur unentdeckt bleiben." 
 

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