14.10.2021 | Funktionswerkstoffe | Im Fokus | Online-Artikel
Künstliche Muskeln ermöglichen eine weiche Robotik
Heutige Roboter können zwar komplexe Bewegungen ausführen, aber da sie aus steifen Komponenten bestehen, ist ihr Handlungsspektrum begrenzt. Forscher setzen alles daran, ihnen mit intelligenten Materialien mehr Flexibilität zu verleihen.
Dorina Opris forscht an intelligenten Materialien.
BM PHOTOS/SNF
Intelligente Materialien können auf Reize wie Elektrizität, Druck, Temperatur, Magnetismus oder Licht reagieren und beispielsweise Roboter mit Eigenschaften versehen, die sie in komplexen Umgebungen sicher agieren lassen – ohne dabei uns, ihre Umgebung oder sich selbst zu schädigen. Nun steht "Intelligenz" im Deutschen für die geistige Leistungsfähigkeit von uns Menschen und weckt zumindest Misstrauen, wenn damit Artefakte wie Maschinen, Fabriken oder Materialien bezeichnet werden. Da hat es die Herausgeberin Lenore Rasmussen mit dem Buchtitel "Smart Materials" etwas leichter, denn im Englischen intendiert der Begriff weniger das Herbeirufen nützlicher "Geister", sondern beschreibt die funktionale Nützlichkeit solcher Materialien; zu solchermaßen intelligenten Materialien zählen unter anderem elektroaktive Polymere oder pneumatische künstliche Muskeln.
Gegenwärtig erobern intelligente Materialien die Robotik, denn Roboter sollen sich künftig flexibel und anpassungsfähig verhalten können. Die bislang vorherrschende starre Konstruktion von Roboterarmen und -greifern bzw. Bewegungselementen erfordert eine genaue Positionierung, und daher, so erklärt Andreas Mockenhaupt im Buchkapitel "Robotik", "sind die Positioniergenauigkeit und die Wiederholungsgenauigkeit bei mehrfachem Anfahren einer Position wichtige Kenngrößen bei der Auslegung üblicher Robotersysteme." Soft Robotik gehe hingegen einen anderen Weg, der von der Natur inspiriert sei: "Die Roboterkinematik wird ‚weich‘, das heißt nachgiebig" (Seite 305). Mockenhaupt verweist hier auf das Unternehmen Festo, Protagonist dieses Entwicklungstrends in Deutschland. Dort hat man etwa einen adaptiven Formgreifer entwickelt, der wie eine Chamäleon-Zunge Kleinteile handhaben kann.
Bei derartigen Entwicklungen spielt nach Mockenhaupt der 1948 in Deutschland erfundene pneumatischen McKibben-Muskel eine zentrale Rolle. Hierbei handelt es sich um ein aus einer Gummiblase bestehendes System, das sich beim Aufblasen in der Länge verkürzt und so einen pneumatischen Muskel (pneumatic artifcial muscle, PAM) zusammenzieht. Erik Howard Skorina und Cagdas D. Onal berichten jetzt im Buchkapitel "Soft Pneumatic Actuators: Modeling, Control, and Application" von ihrer Entwicklung eines umgekehrt wirkenden pneumatischen Muskels (reverse pneumatic artifcial muscle, rPAM). Solche Aktuatoren können eine Kraft ausüben, indem sie sich ausdehnen, wenn sie unter Druck stehen.
Elektroaktive Polymere als Aktuatoren für Roboter entdeckt
Künstliche Muskeln sind das zentrale Thema von Lenore Rasmussen, seit sich 2006 bei einem Laborversuch unter ihren Händen ein Material nicht wie erwartet verbog, sondern wie ein lebender Muskel zusammenzog. Seither hat sie sich der Entwicklung intelligenter Materialien verschrieben. Ihr Arbeitsschwerpunkt sind funktionelle Polymere mit eingebetteten Elektroden, die in künstlichen Muskeln, Prothesen, Kathetern, Ventilen und anderen medizinischen Anwendungen eingesetzt werden können.
Inzwischen haben Forscher aus aller Welt das Potenzial dieser elektroaktiven Polymere (EAPs) auch als Aktuatoren für Roboter entdeckt, um mit ihnen menschenähnliche Bewegungen ausführen zu können. Allerdings: "Diese Klasse von Aktoren befindet sich noch im Forschungsstadium und weist deshalb noch ein hohes Entwicklungspotential auf", kennzeichnet Jörg Wallaschek den aktuellen Stand der Dinge im Buchkapitel "Sensoren und Aktoren": "Man unterscheidet trockene und nasse elektroaktive Polymere, und die bei der Erzeugung von Kräften und Bewegungen genutzten Effekte umfassen, je nach Material, unter anderem die elektrostatische Ladungsverschiebung, Ionentransportprozesse, chemisch erzeugte Phasenumwandlungen und Elektrostriktion."
Intelligente Materialien fest in den Blick
Auch hierzulande entwickeln Forscher elektroaktive Polymere. Mit künstlichen Muskeln und Nerven aus leichtem Kunststoff wollen etwa die Wissenschaftler um Stefan Seelecke an der Universität des Saarlands im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms "Soft Material Robotic Systems" die Bewegungen von Robotern gefühlvoller gestalten. Und an der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (Empa) hat Dorina Opris intelligente Materialien fest in den Blick genommen, um mit ihnen Aktuatoren, Sensoren, künstliche Muskeln, Soft-Robotik sowie Energieernte und -speicherung zu revolutionieren. So können ihre dielektrischen Polymere als Reaktion auf ein elektrisches Feld ihre Form reversibel verändern – und dadurch etwa als künstliche Muskeln fungieren –, Strom erzeugen, wenn man sie mechanisch dehnt, kühlen, wofür sie nur wenig Energie benötigen, oder thermische Energie – also Wärme – direkt in Elektrizität umwandeln.