Geht man also davon aus, dass Rechte auch innehaben kann, wer keine Pflichten zu erfüllen vermag, stellt sich als zweite Frage, worauf diese gründen sollen. Dass hierbei sinnvollerweise weder auf die Vernunft noch auf die Sprache abgestellt werden kann, war nach den Diskussionen um die anthropologische Differenz klar. Rousseau, Bentham und Schopenhauer erachteten wie gesehen die Empfindungsfähigkeit als massgebendes Kriterium. Auf welche Basis diejenigen Denker zurückgriffen, die sich daran machten, die Inklusion der Tiere in den Status als Rechtssubjekte zu begründen, ist Thema dieses Kapitels. Damit ist die rechtstheoretische Frage verbunden, was Rechte eigentlich schützen sollen. Und schliesslich muss die Problematik der Rechtekollision betrachtet werden: Wie stellten sich die tierrechtlichen Denker zur Frage, wie ein allfälliger Konflikt zwischen tierlichen und menschlichen Interessen zu lösen sei? Wie die Antworten auf diese Fragen aussehen können, wird anhand von ausgewählten tierrechtlichen Theorien des ausgehenden 18., des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts aufgezeigt. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf den kontinental-europäischen Tierrechtstheorien des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts liegen. Zum einen sind sie noch deutlich weniger aufgearbeitet als die englischen, die bereits intensiv in den bislang deutlich anglo-amerikanisch geprägten Tierrechtsdiskurs eingeflossen sind. Zum anderen sind sie in einer kontinental-europäischen Rechtstradition besser anschlussfähig.
4.1 Humphrey Primatt (1776)
Über den Theologen Humphrey Primatt (ca. 1735–ca. 1778) ist bis auf seine im Jahr 1776 erschienene Schrift
Duty of Mercy and Sin of Cruelty to Brute Animals nur wenig bekannt. Mit dieser Schrift legte er aber einen wichtigen Grundstein für die politische Tierschutz- und Tierrechtsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts. Primatt griff in seiner Schrift auf den Rechtediskurs zurück: Er verlangte, dass das Prinzip der Gerechtigkeit über die menschliche Gattung hinaus ausgedehnt und die Rechte der Tiere auf Glückseligkeit anerkannt werden müssen, denn:
«No Creature is so insignificant, but whilst it had Life, it has a Right to Happiness. To deprive it of Happiness is Injustice; and to put it to unnecessary Pain is Cruelty.»73
Die Parallelen zu den Menschenrechtsdeklarationen des ausgehenden 18. Jahrhunderts sind unübersehbar. Hier wie da geht es um das Recht auf Glück, das durch Rechte gewährleistet werden soll. So lautet etwa die Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die ebenfalls aus dem Jahr 1776 datiert und die Geltung der allgemeinen Menschenrechte mit der christlichen Überzeugung eines Schöpfergottes begründet:
«We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.»74
Die Menschenrechtsdeklarationen der Zeit rekurrierten nämlich noch nicht oder nur sehr wenig auf die Menschenwürde, welche heutzutage die deutschsprachigen Debatten dominiert. Vielmehr wurden die Menschenrechte mit dem Gottes- oder Vernunftrecht begründet.
75 Diese Argumentationsweise wurde auch bei den Tierrechten verwendet.
Wie später Bentham argumentierte auch Primatt im Gefolge des Menschenrechtsdiskurses in Analogie zum Rassismus. Demnach dürften Eigenschaften wie die Haut- oder Haarfarbe gleichermassen kein Grund sein, andere zu tyrannisieren und zu versklaven wie die Vernunft eine Rechtfertigung dafür sein könne, andere Lebewesen zu unterdrücken:
«[…] but as there is neither merit nor demerit in complexion, the white man (notwithstanding the barbarity of custom and prejudice) can have no right, by virtue of the colour, to enslave and tyrannize over a black man; […] for the same reason, a man can have no natural right to abuse and torment a beast, merely because a beast has not the mental powers of a man.»76
Ausschlaggebend für das Innehaben von Rechten sei vielmehr – auch hier griff Primatt den Gedanken Benthams vor – die Fähigkeit zur Schmerzempfindung:
«Yet, in one particular we all agree alike, from the most perfect to the most dull and deformed of men, and from him down to the vilest brute, that we are all susceptible and sensible of the misery of Pain; an evil, which though necessary in itself, and wisely intended as the spur to incite us to self-preservation, and to the avoidance of destruction, we nevertheless are naturally averse to, and shrink back at the apprehension of it. Superiority of rank or station exempts no creature from the sensibility of pain, nor does inferiority render the feelings thereof the less exquisite. Pain is pain, whether it be inflicted on man or on beast; and the creature that suffers it, whether man or beast, being sensible of the misery of it whilst it lasts, suffers Evil; and the Sufferance of evil, unmeritedly, unprovokedly, where no offence has been given, and no good end can possibly be answered by it, but merely to exhibit power or gratify malice, is Cruelty and Injustice in him that occasions it.»77
Schmerz ist Schmerz, wo immer er auftritt, wer immer ihn erleidet – gleich wer das Opfer von Grausamkeit ist, sie ist immer ungerecht: Dieses Konzept des Abstellens auf die Schmerzfähigkeit zur Begründung von Rechten erwies sich als ebenso wegweisend für die nachfolgenden anglo-amerikanischen Tierrechtler wie die Einbettung der Forderung nach Tierrechten in eine übergeordnete emanzipatorische Bewegung zur Abschaffung von Rassismus und Sklaverei. Entscheidend war zudem die Aufnahme von Tieren in die
Gerechtigkeitsgemeinschaft: Tiere haben nach dieser Konzeption Rechte auf etwas, sie können von Menschen das fordern, was ihnen aus Gerechtigkeitsgründen geschuldet ist. Es ist deshalb ein Problem der Gerechtigkeit, wenn ihnen vorenthalten wird, was ihnen zusteht – es geht seitens der Menschen nicht um Mitleid, es geht nicht um die eigene Vervollkommnung oder um die eigene Menschlichkeit; ein Gedanke, der in jüngerer Zeit auch von Martha C. Nussbaum vertreten wird.
78 Der Anspruch richtet sich von aussen gegen den Menschen und er steht direkt dem Tier zu.
Die Konzeption der Tierrechte unterscheidet sich also massgebend von derjenigen der indirekten Rechte, die etwa Thomasius oder Kant anerkannt hatten. Zwar argumentierte auch der Theologe Primatt wie der Vernunftrechtler Thomasius unter Verweis auf Gott; verpflichtet war der Mensch in Primatts Konzeption aber dennoch nicht gegenüber Gott, sondern gegenüber den Tieren selbst: Gott als Vater all seiner Geschöpfe fordert, dass die Rechte der Tiere geachtet werden müssen, denn er selbst hat ihnen in den heiligen Schriften ihre Rechte zugesichert, nämlich das Recht auf Nahrung, Ruhepausen und schonende Nutzung.
79 Sie können dies deshalb mit Recht von den Menschen, die für sie besorgt sein müssten,
einfordern.
80 Wer diese Pflichten gegenüber Tieren verletzt, macht sich in Primatts Augen der Grausamkeit
(Cruelty) schuldig. Das Zufügen von Schmerz jeglichen Grades missachtet nämlich die Naturgesetze, denn jedes Tier ist ein Werk Gottes.
81 Alle Tiere in Not – eigene und fremde – haben überdies einen Anspruch auf menschliche Hilfe, glaubte Primatt.
82
Im Unterschied zur vernunftrechtlichen Auffassung und zu Lockes Begründung des Privateigentums vertrat Primatt zudem die Ansicht, dass Tieren das gleiche Recht auf die Erde und ihre natürlichen Lebensgrundlagen zukommt wie den Menschen. Es gibt folglich kein Alleineigentum des Menschen an der Natur. So dehnte Primatt auch das Eigentumsrecht auf Tiere aus: Kühen zu erlauben, auf den Wiesen zu weiden, ist deshalb keine menschliche Gnade. Vielmehr ist es ihr
Recht, das Gras ihr
Eigentum, das ihnen Gott als ihre Nahrung überlassen hat:
«You have no property in nature. We are only temporary tenants, with leave to take to our use the fruits of the earth. The soil is the property of GOD, the Lord Paramount of the Manor, who hath made the grass to grow for the CATTLE. The grass of the field therefore is no gift of yours to them; it is their right, their property; it was provided for them, and given to them, before MAN was created.»83
4.2 Wilhelm Dietler (1787)
Auch der Mainzer Philosophieprofessor Wilhelm Dietler (gest. 1797) knüpfte in seinem Appell von 1787,
Gerechtigkeit gegen Thiere, bereits vor Bentham an die Leidensfähigkeit der Tiere an.
84 Die Leidensfähigkeit ist nach Dietler die moralisch relevante Eigenschaft, welche einem Wesen Anspruch auf Rechte und Gerechtigkeit gibt. Auch bei Dietler schützen Rechte die von Gott verliehene Möglichkeit eines empfindenden Wesens zur Glückseligkeit. Er lehnte die Auffassung ab, dass die Natur mit all ihren verschiedenen Lebewesen nur als Werkzeug und Mittel für den Menschen, dem angeblich «einzigen Liebling des Schoepfers», geschaffen worden sei:
85
«Dieses liebreichste, gerechteste, vollkommenste Wesen muss nothwendig jedes seiner, aus Liebe und Güte hervorgebrachten, Geschoepfe, so glücklich wollen, als dasselbe seiner Natur nach faehig ist und dem Ganzen unbeschadet werden kann. Folglich kann kein Wesen – es sei von welcher Klasse es wolle – die Glückseligkeit eines Mitgeschöpfs mindern oder stoeren, ohne den Absichten, dem Willen seines Schoepfers und Richters entgegen, d. h. pflichtwidrig zu handeln. Es ist daher Pflicht, jedes seiner Mitgeschoepfe (es sei auch von der niedrigsten Art – in der Natur giebts kein Ungeziefer) zu lieben, zu schonen, und seine Glückseligkeit so viel moeglich zu erhoehen, wie wir wünschen, dass hoehere Wesen, und Gott selbst uns schonen und beglücken moegen. Als Geschoepfe des nehmlichen liebevollen Schoepfers sind wir alle gleich, mit gleichen Rechte zu gleichen Zwecken bestimmt.»86
Ein bedingungsloses Recht auf Leben wollte Dietler den Tieren aber nicht zugestehen und siedelte ihr Recht auf Glück in der praktischen Abwägung deshalb deutlich unterhalb des Rechts des Menschen an. Er erachtete wie später Bentham nicht nur die Tötung von Tieren in einer Notwehrhandlung, sondern auch zur Nahrungsgewinnung für zulässig, sofern sie rasch und schmerzlos erfolge.
87 Tiere dürften auch weiter domestiziert und genutzt werden, so Dietler, weil der Mensch ihnen im Sinne einer Austauschbeziehung umgekehrt auch Sorge in Form von Nahrung, Pflege und Schutz zukommen lasse.
88 Die Nutzung von Tieren müsse allerdings zurückhaltend erfolgen, d. h. auf das Nötige beschränkt werden und den Kräften und Fähigkeiten der Tiere angemessen sein. Die Arbeit müsse ihnen so leicht und angenehm wie möglich gemacht werden.
89 Tierquälerei sei in keinem Fall erlaubt, das, war er überzeugt, «verstehet sich von selbst».
90
Selbst diese bescheidenen Forderungen waren allerdings weit von der Wirklichkeit entfernt, die Dietler tagtäglich auf den Strassen, in den Schlachthöfen und in den Wäldern beobachtete.
91 So prangerte er die Misshandlung und Überanstrengung von Tieren, insbesondere von Zugtieren, sowie die gängigen brutalen Tötungsmethoden an. Das Töten aus Lust, wie in den
Parforce-Jagden, war in seinen Augen ebenso unzulässig wie sinnlose Tierversuche am lebenden Tier. Dietler knüpfte für das Mensch-Tier-Verhältnis an den Gedanken einer Statthalterschaft bzw. Vormundschaft für Tiere an, den bereits die Quäker im 18. Jahrhundert entwickelt hatten. Es ging um eine Modifikation der
dominium terrae-These, um ein gewandeltes Verständnis des biblischen Herrschaftsauftrags im Sinne einer
Verantwortungs- statt einer Herrschaftsbeziehung:
92
«Der Mensch ist der klügere Bruder auf der Erden, daher setzte ihn Gott zu seinem Statthalter hienieden, dass er herrsche über die andern Thiere nicht wie ein Tirann, der alles für sich gemacht glaubt; sondern wie ein brüderlicher Vormund, der seine unweisern Brüder führt, dass sie ihn lieben, und glücklich werden mit ihm.»93
Doch selbst wenn man Gott als Verpflichtungsinstanz nicht akzeptiere, müsse man gerecht sein gegen die Tiere, glaubte Dietler. Es sei kein Grund ersichtlich, weshalb man das, was man sich selbst zuspreche, anderen – Menschen und Tieren – absprechen könne.
94
4.3 Laurids Smith (1793)
Ungefähr gleichzeitig wie Wilhelm Dietler in Deutschland befasste sich in Dänemark der Philosoph und Theologe Laurids Smith (1754–1794) mit Tierrechten. Er entwarf 1791 in seinem 1793 eigenhändig ins Deutsche übersetzten Buch den
Versuch eines vollständigen Lehrgebäudes der Natur und Bestimmung der Tiere und der Pflichten des Menschen gegen die Tiere.
95 Zunächst beschäftigte sich Smith eingehend mit dem Tierseelenstreit im Gefolge Descartes’ und der «Natur und Bestimmung der Thiere», bevor er sich im zweiten Teil seines Werks den «Pflichten des Menschen gegen die Thiere» widmete.
96 Smith betrachtete Tiere als Selbstzwecke, die nicht bloss zum Nutzen der Menschen auf der Welt sind. Vielmehr liege der Zweck ihres Daseins ebenso wie derjenige des Menschen darin, ihr Glück zu suchen und zu geniessen, formulierte Smith im Zeitalter der heraufdämmernden Französischen Revolution:
97
«Jedes lebendige Wesen, jedes Thier ist zunächst und unmittelbar seiner selbst wegen da, und um durch sein Dasein Glückseligkeit zu geniessen.»98
Smith war wohl der Erste, der von einer «Würde der Thiere» sprach. Er unterschied eine absolute und eine relative Würde.
99 Die absolute Würde der Tiere gründet nach Smith’ Verständnis in der
Empfindungsfähigkeit eines Lebewesens. Sie schützt seine Fähigkeit und Bestimmung, Freude und Glück zu geniessen. Wer empfinden kann, hat demnach Würde:
«Die absolute Würde der Thiere besteht darin, dass sie lebendige, empfindende, intellektuelle Wesen sind, deren jedes für sich bestimmt ist, glücklich zu sein, weil sie Fähigkeiten und Anlagen haben, Glückseligkeit zu geniessen, und durch ihr Dasein in Besitz von Freude und Glück gesetzt wurden.»100
Aus der Fähigkeit zur Empfindung folgt nach Smith also das Anrecht auf Glück. Die relative Würde ist der absoluten Würde untergeordnet, wird aber als Beitrag der Tiere zu einem übergeordneten Ganzen, zur Vollkommenheit der Welt verstanden:
101
«Die relative Würde der Thiere ist die, dass sie als mitwirkende, und sogar auf mancherlei Weise willkührlich mitwirkende Substanzen zu dem grossen Ziel der Vollkommenheit angesehen werden können, welches der Unendliche für alle seine Geschöpfe bestimmte; und hiervon wird eine aufmerksame Betrachtung der Natur uns die vollkommenste Überzeugung gewähren.»102
Smith, ein Zeitgenosse Kants, war anders als dieser der Meinung, dass der Mensch gegenüber Tieren
direkte Pflichten habe.
103 Insbesondere schulde der Mensch den Tieren Gerechtigkeit:
«Das Thier hat sein Recht eben sowohl als der Mensch; denn die Natur machte es dem Thiere zur Pflicht, Freude und Glück und Zufriedenheit mit seinem Zustande zu suchen, eben sowohl als dies, der Natur zu folge, die Pflicht des Menschen ist. Es ist uns also eben so unmittelbar Pflicht, dem Thiere Recht wiederfahren zu lassen, als es uns Pflicht ist, gegen den Menschen gerecht zu sein.»104
Nur wer lebt, kann Glückseligkeit empfinden, und folglich haben Tiere auch ein Recht auf Leben – eine weitsichtige Argumentation, mit der Smith der heutigen Forderung nach einem Lebensschutz für Tiere um Jahrhunderte zuvorkam. Er führte das Kriterium des «vernünftigen Grundes» ein, welches noch im heutigen deutschen und österreichischen Tierschutzrecht das Recht auf Leben von Tieren beschränkt:
105
«Hat Gott durch die Einrichtung der Natur diesen Wesen das Daseyn, und mit ihm die Fähigkeit gegeben, Glück zu geniessen; so hat er auch, mit dem Rechte das er ihnen zum Genuss des Glücks gab; ihnen ein Recht auf das Leben verliehen; und ist also nicht jede Handlung, wodurch wir sie muthwillig und ohne vernünftige Absicht hindern an dem Leben Theil zu nehmen, eine Kränkung ihres Rechts auf Glück und Leben?»106
Die mutwillige und unvernünftige Störung der «Entwicklung zum Leben» jedes lebendigen Geschöpfs ist demnach verboten. Smith dachte hier insbesondere ans Quälen und Töten aus sadistischer Lust oder zum blossen Zeitvertreib.
107 Das Recht auf Leben der Tiere ist demnach primär eine Beschränkung des Rechts der Menschen, Tiere zu töten:
«Wir Menschen haben kein Recht, muthwillig und ohne bestimmte vernünftige Absicht, irgend einem lebendigen Geschöpfe das Leben zu rauben. Das heisst:a)
Wir haben kein Recht irgend ein Thier, blos zum Zeitvertreib zu tödten, oder weil die Fertigkeit, womit wir seinen Tod befördern, uns Vergnügen macht.
b)
Wir haben kein Recht irgend ein Thier zu tödten, dessen Dasein uns unschädlich ist.
c)
Wir haben kein Recht irgend ein Thier zu tödten, dessen Tod keine unmittelbar gegenwärtige nützliche Folge, entweder für uns selbst oder für die Gesellschaft hat, in der wir leben.»108
Damit schloss Smith immerhin einen grossen Teil der zu seiner Zeit gebräuchlichen Tiertötungen aus.
In Smith Argumentation spielte also der Nutzen eine wesentliche Rolle. Nutzenüberlegungen sollten später bei Benthams utilitaristischem Ansatz zum ausschlaggebenden Kriterium werden und prägen auch heute noch ganz massgeblich das Tierschutzrecht: Tötung ist demnach primär dann erlaubt, wenn sie für die Gesellschaft oder für den Tötenden selbst einen objektiven, vernünftig begründbaren Nutzen zeitigt. Auch Smith verstand den «vernünftigen Grund» sehr weit und schränkte damit den gewährten Lebensschutz sogleich wieder empfindlich ein. Auch hier ist die Parallele zum deutschen und österreichischen Tierschutzrecht augenfällig.
109
Nach Smith erlaubt das Kriterium des vernünftigen Grundes nicht nur die Tötung aus Notwehr, sondern auch zur Ernährung. Letzteres leitete er daraus ab, dass «die Natur den Menschen so gebildet [habe], dass er sich sowohl aus dem Thier, als Pflanzenreiche nähren» könne.
110 Es ist in seinen Augen nämlich die Pflicht der Menschen, «uns selbst, unsre Körper in Gesundheit und Ordnung zu erhalten, und Schaden und Verderben von uns abzuwenden […].»
111 Die Tatsache, dass der Mensch Fleisch verdauen könne, sei «ja ein Wink der Natur, dass die Thiere zu unsrer Speise bestimmt sind». Allerdings wollte Smith die Erlaubnis zur Tötung nur auf den Zweck der Ernährung beschränken: Aus Lust an der Schlemmerei, zum Vergeuden oder um der Üppigkeit zu frönen, dürften keine Tiere getötet werden, denn in diesem Fall werde ihr Recht auf Leben ohne Vorliegen einer vernünftigen Absicht verletzt.
112
Konzeptionell argumentierte Smith also mit einer Güterabwägung: Die Tötung ist demnach erlaubt, wenn sie erfolgt, um ein Gut zu wahren, welches «grösser ist als das Leben dieses Thieres».
113 Selbstverständlich müssen dem Tier aber Todesangst und Schmerzen erspart werden. Auch hier erwies sich Smith als Wegbereiter der modernen Tierschutzgesetze, wenn er forderte, dass die Tötung fachmännisch vorgenommen werden müsse und dass es hierfür spezielle Anweisungen für jede Tierart brauche.
114
Zum Recht auf Leben gehörte in Smiths Augen auch das Recht auf körperliche Integrität. Es dürfe nur eingeschränkt werden, wenn dies für den Nutzungszweck unbedingt notwendig sei. In diesem Zusammenhang problematisierte Smith bereits die bis heute gängige Praxis der Verletzung und Verstümmelung von Haus- und Nutztieren aus ästhetischen Gründen oder zur Anpassung an artwidrige Haltungssysteme. Die Nutzungsart, welche diese Anpassungen erfordert, müsse unverzichtbar sein und es dürfe kein anderes Mittel zur Verfügung stehen, um das Tier an die Nutzung anzupassen, verlangte Smith:
«Wir Menschen thun Unrecht, wenn wir willkührlich und vorsetzlich den Körper oder die Gliedmassen eines Thiers beschädigen; es sei denna)
dass wir gezwungen wären dies zu thun, um uns gegen ihre Angriffe zu verteidigen.
b)
Dass unsre Hausthiere auf keine andre Weise zu den Diensten brauchbar werden könnten, wozu wir sie nothwendig bedürfen.»115
Smith zufolge ist es untersagt, gezähmte Tiere zu zwingen, sich wider ihre Natur zu verhalten. Ihm schwebte eine «artgerechte Haltung» für Haus-, Nutz- und gezähmte Wildtiere vor. Als verbotene Praktik nannte er beispielsweise, «wenn man […] den Bären zwingt», sich auf zwei Beinen fortzubewegen. Dies sei «Kränkung der Rechte des Thieres» und tue der Natur Gewalt an.
116
Schliesslich ging Smith ausführlich auf die Schmerzen ein, welche Menschen Tieren zufügen und dabei ihre körperliche Integrität verletzen. Weil Tiere die gleichen körperlichen Voraussetzungen wie Menschen haben, um Schmerzen zu empfinden, sei dies ein Unrecht, sofern es nicht auf das absolut notwendige Mass beschränkt werde, argumentierte Smith.
117 Er verwarf die seinerzeit beliebte Rechtfertigung dieser Praktiken unter Verweis auf das Recht des Stärkeren oder die fehlende Vernunft- oder Sprachbegabung von Tieren mit einer Begründung, die noch heute modern anmutet: Wenn diese Argumentation zutreffen würde, dann wären auch alle Wesen, die stärker und intelligenter sind als Menschen, berechtigt, Menschen zu misshandeln:
«Aber es ist doch nur ein Thier, sagst du: und welchen Sinn hat denn wohl diese deine Vertheidigung? Schwerlich kann sie etwas anders bedeuten, wenn sie überall eine Bedeutung haben soll, als dass dies Thier nicht Mensch ist, nicht Menschengestalt und Menschenfähigkeiten hat, wie du – und darum solltest du berechtigt sein, es zu martern und zu plagen? Aber was würdest du wohl selbst denken und fühlen, wenn auf einmal eine Menge fremder Geschöpfe auf dieser unsrer Erden zum Vorschein käme; Geschöpfe, die keine menschliche Sprache reden oder verstehen könnten; deren Gestalt gänzlich von der menschlichen verschieden, die uns aber dahingegen an Macht und Einsichten weit überlegen wären? Diese Geschöpfe verachteten und verhöhnten und misshandelten uns auf das grausamste: sie brächen uns blos zur Lust Arme und Beine entzwey, und wären bey allem unserm Jammern und Wehklagen völlig gleichgültig. Was würdest du, Mensch, bey einer solchen Behandlung denken und fühlen? Gewiss, diese Wesen thäten dir Unrecht, himmelschreyendes Unrecht. Aber, was thust denn du dem Thiere, wenn du es eben so, oder auf ähnliche Weise behandelst? Soll deine grössere Klugheit und Stärke dir ein Recht geben das Thier zu misshandeln, so musst du auch zugeben, dass jedes Wesen, welches mächtiger und klüger ist als du, das Recht hat, mit dir eben so zu verfahren!»118
Smith blieb aber nicht beim körperlichen Schmerz stehen, sondern thematisierte auch den psychischen Schmerz des Tieres. Er zählte die Angst des Tieres vor dem Tod auf, wenn es mitansehen muss, wie seine Artgenossen geschlachtet werden, den Trennungsschmerz des Muttertieres, dem seine Jungen entrissen werden oder die Einsamkeit von sozialen Tieren, die ohne ihre Artgenossen auskommen müssen. «Die Ängstigung der Seele kann jedes Gefühl von körperlichem Schmerz weit übertreffen […]», konstatierte Smith.
119
Die Pflichten des Menschen gegen die Tiere sind in Smith’ Konzeption mehr als blosse Unterlassungspflichten, nicht ohne einen vernünftigen Grund und dann nur so schonend wie möglich in die Rechte der Tiere einzugreifen. Neben diesen von ihm so bezeichneten «absoluten und allgemeinen Pflichten», die jedem Tier geschuldet seien, postulierte Smith auch «bedingte und besondere Pflichten». Sie gründen in einem besonderen Näheverhältnis und betreffen deshalb vor allem Haustiere.
120 Smith anerkannte damit wie sein Zeitgenosse Kant auch Fürsorgepflichten gegenüber Haus- und Nutztieren:
121 Wenn der Mensch ein Tier seiner Freiheit beraube, es einfange und zu seinem Nutzen abrichte, dann werde er durch diese Handlungen verantwortlich für seinen Unterhalt und seine Pflege, führte Smith aus. Das Tier könne nämlich nicht mehr selbst für sich sorgen und werde vom Menschen abhängig. Deshalb gleiche das Verhältnis der Menschen zu ihren Haustieren demjenigen zwischen eines Vormund zu seinen Schutzbefohlenen.
Der Mensch schulde dem Haus- und Nutztier aber nicht nur genügende und regelmässige Nahrung. Er müsse auch die Arbeitsbelastung auf dessen Natur anpassen, damit es gesund bleibe. Das Tier dürfe nicht überanstrengt werden, weder durch die Art und Dauer der Belastung noch durch die Geschwindigkeit, die vom Tier verlangt werde.
122 Es dürfe nicht sein, dass arbeitende Tiere ihr Leben überhaupt nicht mehr geniessen könnten:
«Auch dann, wenn wir das Thier und seine Kräfte zum würklichen Nutzen für uns anwenden, gebührt es uns doch, auf die Natur und Bestimmung desselben Rücksicht zu nehmen; wir müssen das Verhältnis erwägen, worinn seine Freud und sein Glück mit dem Vortheile oder der Lust stehen, die wir durch die Art, wie wir es brauchen, zu erhalten suchen.»123
Smith forderte deshalb auch für Tiere Ruhezeiten sowie – im Zeitalter der sich etablierenden Tierheilkunde – medizinische Behandlung bei Krankheiten und Verletzungen. Auch für alte und schwache Haus- und Nutztiere müsse zum Dank für ihre geleisteten Dienste gut gesorgt werden.
124
Unter Berufung auf die Schriften des Leipziger Philosophen Johann Heinrich Winkler zog Smith bei der Vivisektion eine starke, wenn auch nicht gänzlich absolute Grenze dessen ein, was Menschen mit Tieren tun dürfen.
125 Hier erachtete er Nutzenüberlegungen als weitgehend unzulässig, weil so stark und schwerwiegend in die Rechte des Tieres eingegriffen und ihm derart grosse Lasten auferlegt würden, dass diese auch unter Verweis auf den möglichen Nutzen für den Menschen nicht mehr gerechtfertigt werden könnten. Sonst müsste es nämlich auch zulässig sein, so Smith,
alles zu tun, was dem Menschen von Vorteil sein könnte:
«Du zergliederst das lebendige Thier, weil es in deiner Gewalt ist; aber eben das kannst du mit gleichem Rechte jedem Menschen thun, der unvermögend ist, dir Widerstand zu leisten; und ein jeder, der stärker ist als du, wird das Recht haben, dich eben so zu behandeln. […] Aber gesetzt auch die Arzneywissenschaft hätte durch die an lebendigen Thieren angestellten anatomischen Versuche würklich gewonnen; so giebt dies noch kein Recht zu solchen Versuchen, oder die Menschen müssten Recht haben alles zu thun, was irgend zu ihrem Vortheil gereichen könnte, und ihr Daseyn, ihr Wohl, müsste der einzige Hauptendzweck des Daseyns der ganzen thierischen Schöpfung seyn.»126
Nach Smith sind alle Versuche am lebenden Tier unzulässig, die auch an bereits toten Tieren vorgenommen werden könnten, bloss der wissenschaftlichen Neugierde oder Ausbildung dienen oder aber mit deren Hilfe Krankheiten erforscht werden sollen, die durch einen gesünderen Lebensstil vermieden werden könnten. Eine Lücke liess Smith allerdings für jene Versuche offen, bei denen die begründete Überzeugung bestehe, dass «man dadurch neue, schlechterdings nothwendige und nützliche Erfahrungen zum Besten der Arzneywissenschaft machen werde».
127
Die Rechte der Tiere setzen also in Smith’ Konzeption den Rechten des Menschen Grenzen. Diese Grenzen sind jedoch nicht absolut. Eingriffe können gerechtfertigt werden, wenn sie sich auf gute Gründe stützen lassen und notwendig sind, um ein wichtiges Bedürfnis der Menschen zu befriedigen. Nicht jede Nutzenüberlegung und nicht jeder Grund vermögen indessen die Rechte der Tiere zu überwiegen, wie Smith’ Überlegungen zur Vivisektion zeigen: Hier sollten die Rechte das Tier weitgehend schützen vor der Auferlegung der damit verbundenen Schmerzen und Qualen, und zwar auch dann, wenn der Gewinn aus solchen Versuchen tatsächlich erwiesen wäre.
4.4 Peter Scheitlin (1840)
Peter Scheitlin (1779–1848) war Professor für Philosophie und Naturkunde in St. Gallen. Er verfasste das zweibändige, 1840 erschienene Werk
Versuch einer vollständigen Thierseelenkunde.
128 Darin ging Scheitlin ebenfalls von
direkten Pflichten der Menschen gegen die Tiere aus.
129 Während der erste Band der Aufarbeitung der Geschichte der Tierseelenkunde gewidmet war, ging Scheitlin im zweiten Band auf die Frage der
Rechtsstellung des Tieres ein. Er kritisierte unter Bezugnahme auf Kant, Fichte und die Naturrechtslehre den Sachstatus des Tieres, der seine Rechtelosigkeit bestimme.
130 Zur Stellung des Tieres im Recht führte er aus:
«Verhält sich das Thier auch zum Rechte? Wer mit Cartesius im Thier nur eine belebte, empfindungslose Maschine sieht, oder mit den meisten neuen Rechtslehrern es nur für eine Sache hält, sieht im Thier kein berechtigtes Wesen, kann ihm kein Recht einräumen. Man stellt Rechtslehre und Moral neben einander, und beide auf die sogenannte praktische Vernunft. Nur Wesen, die Intelligenz, Wohlwollen und Vernünftigkeit mit Freiheit haben, sollen Rechtssubjecte seyn. Alle Rechte beziehen sich auf Mein und Dein. Kann ein Thier kein Eigenthum haben oder bekommen? Gibt’s Eigenthumsrechte, und kann kein Recht ohne Pflicht stattfinden?»131
Scheitlin untersuchte die Eigentumstheorien seiner Zeit und fragte sich, ob Tiere auch Eigentum begründen könnten. Den Einwand, dass sich Tiere keinen Begriff vom Recht machen könnten und bereits deshalb keine Eigentumsrechte hätten, liess er unter Verweis auf die Rechte von Säuglingen, Kindern und geistig schwerbehinderten Menschen nicht gelten.
132 In seinen Augen dürfen Rechtslehre und Philosophie nicht vermischt werden, was aber geschehe, wenn man behaupte, «dass kein nichtverpflichtetes Wesen Rechte haben könne». Die «Rechtslehre steht aber selbständig da», beharrte Scheitlin.
133 Deshalb stiess er sich daran, dass Tiere im Anschluss an Kant aus dem Recht ausgeschlossen sein sollten. Auch wer sich keiner Pflichten bewusst sei, könne rechtlich gesehen Eigentum begründen, denn solches entstehe «durch Besitznahme, Ergreifung, Erwerb».
134 Insbesondere habe das Tier an seinem Körper, seiner Nahrung und Beute und an seinem Bau oder Nest ein viel besser begründetes Eigentumsrecht als der Mensch, argumentierte Scheitlin:
«Ist wirklich der Körper des Pferdes, die Seele des Elephanten dein, und nicht sein Eigenthum, und warum nicht das seinige? Ist sein Körper nicht mit seiner Seele verbunden, und ist seine Seele mit dir verwandter als mit ihm? Der Mensch ist ein widerrechtlicher Usurpator. Dass er mehr Vernunft, mehr Wohlwollen, mehr Freiheit des Willens und Selbständigkeit hat, ändert am Begriffe Eigenthum und Eigenthumsrecht nicht das Mindeste; dass das Thier aber sein Eigenthum fahren lässt, und der Gewalt weicht, hat es mit dem Kinde, Blödsinnigen, Wahnsinnigen, Schwachen, Furchtsamen, oder gar mit dem vernünftigen Menschen […] gemein. Ein Recht des Stärkeren aber gibt es nicht.»135
Der Grundsatz, dass das Tier sich selbst gehört und nicht dem Menschen, ist wegweisend für Scheitlins Konzeption. Dem Tier komme «doch ein Recht auf sich selbst zu […], ohne Gebote erfüllen zu müssen», war er überzeugt.
136 Das Tier ist für Scheitlin nicht zum Nutzen des Menschen in der Welt, sondern es ist Selbstzweck. Er glaubte, dass das Recht alle schützen muss, die empfinden können. Deshalb müssen alle empfindungsfähigen Wesen als Rechtspersonen anerkannt werden:
«Das ,Beleidige Niemanden‘ (neminem laede), gilt auch dem Thiere. Was Empfindung hat, hat Rechte. Nur Empfindungslose haben keine, weil sie nicht beleidigt werden können. […] Aber gegen Nichtempfindende gibt’s keine Pflichten. Das: verletze Niemanden widerrechtlich (Neminem laede!) gilt juridisch nur dem was empfindet. Alles was Empfindung hat, ist Person und Selbstzweck.»137
Alle Lebewesen, welche die Schäden, die ihnen zugefügt werden, empfinden können, stehen nach Scheitlin unter dem Schutz des Nicht-Schadens-Prinzips: «Unsere Pflicht steht auf der Empfindungsfähigkeit». Dies gelte auch bei Menschen, denn auch ihnen gegenüber seien wir nicht deshalb verpflichtet, weil sie «Intelligenz, Wohlwollen, Freiheit und Vernünftigkeit haben», sondern, viel einfacher: «weil sie empfinden». Diese Pflicht bedarf in seinen Augen nicht einmal einer gesetzlichen Grundlage, sie gilt also vorpositiv: «Ein Thier in unserm Dienst verhungern lassen, ist widerrechtlich, wenn auch keine Gesetzgebung der Welt die That oder Unterlassung bestrafte», so Scheitlin gut 20 Jahre nach Erlass des ersten Tierschutzgesetzes in England.
138
Die kantische Konzeption, wonach der Mensch seine eigene Würde verletze, wenn er Tiere misshandle und quäle, fand keine Gnade in Scheitlins Augen: Wer so argumentiere, verkenne das Wesen des Tieres als Selbstzweck. Die ganze Begründung Kants erachtete er als verfehlt, denn der Mensch könne sich doch nicht durch Grausamkeit gegen eine
Sache selbst entwerten. Deshalb seien Tiere entweder
keine Sachen oder aber ihre Misshandlung sei irrelevant.
139
Konkret machte Scheitlin die folgenden
Urrechte des Tieres aus:
«Das Recht auf seinen Körper, auf seine Seele, auf seinen Zustand und auf seine Nahrung, wenn es durch die Besitznahme derselben Niemandes Eigenthum verletzt, nebst dem sich zu vertheidigen. Abgeleitet ist sein Recht, die Seinigen zu erziehen, und in Gesellschaft und bürgerlicher Verfassung (Bienen und Biber) zu leben. Diese Rechte sind des Thieres Urrechte, sind ihm von der Natur gegeben; andere, sogenannte hypothetische Rechte, auf Suppositionen beruhende Rechte, z. B. des Vertrages, hat es allerdings nicht.»140
Dem Tier kommt also ein «vollkommenes Recht auf sein Leben und Wohlsein» zu. Allerdings schränkt Scheitlin dieses Recht empfindlich ein, erachtet er doch nicht nur Notwehr, sondern auch die Schlachtung von Tieren zur Fleischgewinnung deswegen als erlaubt, weil sie eine «Naturnothwendigkeit» darstelle.
141 Eine andere Rechtfertigung für die Tötung von Tieren als Ernährung oder Notwehr will er jedoch nicht gelten lassen. Die Gefangennahme von Tieren erachtet er als äusserst problematisch und mit der Annahme, dass Tiere Rechtswesen seien, eigentlich nicht vereinbar. Wie Smith qualifiziert auch Scheitlin die Dressur von Tieren zu artwidrigen Kunststücken oder Dienstleistungen als Verletzung der dem Tier gegenüber bestehenden Pflichten. Im Weiteren kritisiert er die Überlastung und Misshandlung von Tieren, ihre ungenügende und verspätete Fütterung und Tränkung sowie das «Anfluchen und Schelten».
142
Tierquälerei ist für Scheitlin jedenfalls die absolute Grenze dessen, was Menschen mit Tieren tun dürfen. Der Zweck heiligt in seinen Augen keinesfalls jedes Mittel, weshalb Vivisektion auch dann unzulässig sei, wenn sich der Experimentator auf einen guten Zweck berufe. Moral sei nämlich nicht teilbar:
«Wollet ihr, Aerzte! um dem Menschen hold seyn zu können, Unholde für die Thiere seyn? Lasset uns Böses thun, damit Gutes daraus entstehe, ist ein verdammlicher Grundsatz. Der Naturforscher, der am besten wissen sollte, was die Thiere seyen und was er gegen sie thun soll, scheint es oft am allerwenigsten zu wissen. Oft ist seine sogenannte Wissbegierde nur Neugier und Eitelkeit. Er will der Wissenschaft dienen! Die Wissenschaft ist der Niemand, weil sie keine Person ist. Er diene dafür dem empfindenden Thiere.»143
Scheitlin nimmt in seinen Ausführungen explizit den Gesetzgeber in die Pflicht. Tiere zu schützen sei kein Luxusproblem, dem man sich zuwenden könne, nachdem es allen Menschen gut gehe. Vielmehr seien Menschenschutz und Tierschutz eng verzahnt:
«Gesetzgeber! Stelle Gesetze auf, damit die Thiere vor den Menschen möglichst sicher seyen, und warte nicht, bis die Menschen vor den Menschen sicher sind, du müsstest sonst ewig warten. […] Man darf nicht warten, weil Alles miteinander vorwärts gehen muss, man nicht stückweise arbeiten kann, wenn’s recht gearbeitet werden soll. Nie wird das Thier ohne Gesetze vor den Menschen gesichert seyn.»144
4.5 Karl Christian Friedrich Krause (1874)
Im 19. Jahrhundert befasste sich der heute weitgehend in Vergessenheit geratene Rechtsphilosoph Karl Christian Friedrich Krause (1781–1832) mit der Rechtsstellung von Tieren. Er stellte neue Überlegungen an, legte aber keine detailliert ausgearbeitete eigene Tierrechtskonzeption vor.
145 Seine Ansätze sind in seine allgemeine Rechtsphilosophie eingebettet. Soweit ersichtlich übte er keinen nachhaltigen Einfluss auf die zeitgenössische Tierrechts- und Tierschutzbewegung aus.
146 Dennoch sind Krauses Überlegungen aus heutiger Sicht interessant, denn hier finden sich bereits erste Anklänge an moderne Fähigkeitstheorien, etwa an die vieldiskutierte Erweiterung des Fähigkeitenansatzes auf Tiere, wie ihn die amerikanische Rechtsphilosophin Martha C. Nussbaum vorschlägt.
147
Seinen Ansatz entwickelte Krause in kritischer Auseinandersetzung mit den rechtsphilosophischen Systemen von Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Johann Gottlieb Fichte. Unter dem Eindruck der ersten Tierschutzgesetzgebung in England und der englischen Tierrechtsbewegung versuchte Krause, den kantischen Sache/Person-Dualismus zu modifizieren. Ihn störte vor allem die Einordnung der Tiere in die Kategorie der rechtlosen Sachen:
«In Ansehung der Thiere sind die Meinungen ebenfalls getheilt. Einige behaupten, die Thiere seien nur Maschinen – belebte Maschinen freilich, die den Grund ihrer Bewegung in sich haben – aber Maschinen, die weder sich selbst wissen, noch empfinden, noch mit Freiheit, nach Zweckbegriffen, etwas Bestimmtes wollen. Daher behaupten auch alle Diejenigen, die sich hiervon überzeugt halten, dass die Thiere gar keine Rechte haben, und dass sie weder recht noch unrecht thun noch leiden können. So behauptet z. B. Fichte in seinem ,Naturrecht‘, dass die Thiere bewusst- und empfindungslose Maschinen seien und dass alle Lebensäusserungen der Thiere, die wir auf Lust und Schmerz und auf Willkür deuten, nur die Zeichen eines nothwendigen Lebensganges seien, dass ihr Leben blos als unbewusstes mechanisches Spiel der blinden Naturkräfte betrachtet werden könne; daher die Klagen der Thiere nur ein Aehnliches seien als etwa die Töne einer Thürangel; worauf ebendarum keine weitere Rücksicht zu nehmen sei.»148
Für Krauses Rechtsverständnis ist der Freiheitsbegriff zentral.
149 Recht findet nämlich in seinen Augen nur, dann aber auch auf
alle Lebewesen Anwendung, die sich ihrer selbst bewusst sind, sich selbst empfinden und nach freiem Willen steuern können.
150 Sie zählt er zu den endlichen, d. h. sterblichen
Vernunftwesen und weitet deren Kreis damit im Vergleich zu Kants Ansatz wesentlich aus.
151 Allerdings gründet Recht nach Krause nicht in der Vernunft, sondern in der Beziehung der Vernunftwesen zu Gott und – entsprechend seiner panentheistischen Grundthese – gleichzeitig in der Beziehung zu sich selbst.
152
Auf der Basis seiner Freiheitstheorie setzte sich Krause auch für die Gleichberechtigung von Frauen, gegen Rassendiskriminierung und für Kinderrechte ein und wandte sich damit gegen den etwa von Hegel und Fichte vertretenen naturrechtlichen Zeitgeist.
153 Auch in der Frage der Kinderrechte erwiesen sich Krauses Gedanken als zukunftsweisend, trat er doch für die Würde und die Freiheit von Kindern ein, die im Zweifel auch gegen ihre Eltern durchzusetzen seien, während seine Zeitgenossen Kinder noch zum Eigentum der Eltern zählten, denen keine eigenen Freiheitsrechte zukämen.
154
Krause unterscheidet drei hierarchisch verschiedene Stufen von Freiheit, welche ein Vernunftwesen haben kann: Die allein leibliche Selbststeuerung bildet den untersten Grad von Freiheit und damit auch die unterste Stufe der Vernunftwesen: Das Lebewesen ist sich seiner selbst bewusst und empfindet sich selbst, allerdings bezieht sich dieses Bewusstsein nur auf die leiblich-sinnliche Ebene, also auf Lust und Schmerz. Das Lebewesen, und das ist in Krauses Augen wesentlich, steuert sich aber dennoch aus freiem Willen, es ist ein Freiheitswesen. Auf der nächsten Stufe folgen selbstbewusste Lebewesen, welche ihr Verhalten auch geistig und nicht lediglich leiblich-sinnlich steuern, aber nicht moralisch vernünftig begründen. Auf der obersten Stufe stehen diejenigen Lebewesen, welche sich selbst nach geistig-moralischen Zwecken frei selbst bestimmen und ihre Wünsche normativ hinterfragen können. Menschen können in ihrer Entwicklung alle Stufen der Freiheit durchlaufen. Nur sie sind auch zur höchsten Freiheitsstufe fähig, in der aber längst nicht alle Menschen leben.
155 Dennoch gehören alle Menschen, unabhängig von ihrer jeweils individuellen Konkretisierung von Freiheit, zu den obersten Vernunftwesen und damit in seinem System auch alle zu den Rechtspersonen, stellt er klar:
«Ich sage: überhaupt die ganze Vernünftigkeit ist es, welche die Rechtsfähigkeit gibt; ich sage aber nicht, dass blos oder allein oder vorzüglich irgend ein besonderer Charakter der Vernünftigkeit die Rechtsfähigkeit begründet; es wird unter Anderm nicht behauptet, dass zu der Rechtsfähigkeit des einzelnen Menschen erfordert werde, dass er sein Recht erkenne, oder auch nur, dass er sich seiner Vernünftigkeit bewusst sei; im Gegentheil, gesetzt auch, ein endliches Vernunftwesen wäre seiner Vernünftigkeit sich nicht klar bewusst, gesetzt, es erkennte sein Recht gar nicht, weil es ein Kind, weil es ein Blödsinniger, weil es ein Unerzogener wäre: so wird nichtsdestoweniger behauptet, es müsse auch diesem sein Recht von andern Vernunftwesen geleistet werden, weil es bei aller Beschränktheit dennoch Ein ganzes selbes Vernunftwesen ist und unaufhörlich bleibt; weil es dennoch die Vernünftigkeit (dem Vermögen und der Bestimmung nach) an sich hat, obgleich es soeben ein unentwickeltes, unwissendes, unbesonnenes Vernunftwesen ist.»156
Krause rekurriert also, wie Kant, auf eine Gattungseigenschaft, nämlich auf die Potentialität reflexiver Selbstbestimmung. Damit begründet er ebenfalls eine
kategoriale anthropologische Differenz, nicht nur eine graduelle.
157 Als Rechtspersonen bezeichnet Krause diejenigen Vernunftpersonen, welche nicht nur in den Schutzbereich des Rechts fallen, sondern sich auch rechtmässig verhalten müssen, d. h. in der Lage sind, Recht zu «leisten».
158 Die Frage,
gegen wen Rechtspersonen gerecht sein müssen, ist aber zu unterscheiden von der Frage, wer gerecht sein muss.
159 Gegen Pflanzen bestehen in Krauses Augen keine Gerechtigkeitspflichten, weil sie kein Selbstbewusstsein und keinen freien Willen haben und sie nicht empfindungsfähig sind.
160 Hingegen bestehen Tieren gegenüber Pflichten. Hier fokussiert Krause vor allem auf die Haustiere, mit denen der Mensch die meisten Berührungspunkte habe. Krause siedelt sie auf der untersten Freiheitsstufe an:
«Wenn wir nun aber […] die Thiere betrachten, insonderheit diejenigen Thiere, welche mit dem Leben des Menschen am Innigsten vereint leben, die zahmen Thiere, die Hausthiere, so werden wir bemerken, dass diese Wesen alles Eigenthümliche zeigen, was die unterste Stufe der geistigen Persönlichkeit ausdrückt; sie haben Selbstgefühl, sie empfinden Lust und Schmerz, sie haben Vorstellungen in Phantasie, ja sie bestimmen sich nach Gemeinbegriffen, indem sie überall in verschiedenen Individuen derselben Gattung doch dieselbe Gattung wieder erkennen, z. B. jeden Menschen als Menschen unterscheiden, und jedes Thier einer anderen Gattung auch demgemäss unterscheiden und anwirken. Es sind Dies also geistige Wesen, aber festgehalten auf dieser niedrigsten Stufe, sodass sie den Kreis dieser Beschränktheit nicht zu überschreiten vermögen, noch ihn zu überschreiten bestimmt sind.»161
Krause unterscheidet also zum einen Vernunftwesen, die vom Recht berücksichtigt werden müssen, aber keine gleichberechtigten Rechtspersonen sind, und zum anderen Vernunftwesen, welche – da
potentiell zu reflexiver Selbstbestimmung fähig – vom Recht auch
verpflichtet werden. Anders als klassische vertragsrechtliche Ethiken geht Krause somit nicht davon aus, dass der Mensch als vernünftiges Wesen seine Freiheit lediglich zum eigenen Nutzen beschränken darf. Weil er Freiheit als «Bemühen um einen sach- und verhältnisgerechten Welt- und Kontextbezug» versteht,
162 müssen Tiere als Freiheitswesen ebenfalls berücksichtigt werden, da sie einen Anspruch auf Verwirklichung ihrer Freiheit haben:
«Was dagegen die Thiere betrifft, wenn man auch nur annimmt, dass das Thier sein selbst inne ist in sinnlicher Wahrnehmung und Empfindung, dass es aus eigener Kraft sich selbst bestimmt, wirkend für sinnliche Zwecke: so hat man damit auch den Thieren schon Zugang gelassen in das Heiligthum des Rechts; denn alsdann besteht der gegründete Anspruch, dass vernünftige Wesen, auch höherer Art und Entwickelung, wie z. B. die Menschen sind, den Thieren die von der Freiheit abhängigen Bedingnisse dafür herstellen, dass sie den Begriffe ihrer Thierheit auf eine wesentliche Weise darstellen […].»163
Anders als viele seiner Zeitgenossen versteht Krause Recht also nicht in einem liberalistischen Sinn, d. h. als Einschränkung der Freiheit durch Zwang und ebensowenig versteht er Rechte ausschliesslich als Abwehr gegen äussere Eingriffe. Recht ist für ihn ein System, das die «äusseren Bedingungen verantwortlicher Freiheit» herstellt und dessen höchster Zweck deshalb «das Gute» ist.
164 Freiheit verwirklicht sich in seinen Augen im
relationalen Austausch eines Lebewesens mit seiner Umgebung, nicht in der strikten Trennung und Unabhängigkeit davon. Weil freie Selbstentfaltung auf äussere Bedingungen angewiesen ist, die sie fördert und ermöglicht,
165 ist es, wie Krause im obigen Zitat ausführt, die Aufgabe des Rechts und damit der Rechtspersonen, diese Bedingungen herzustellen. Darin liegen auch die Parallelen zu heutigen Fähigkeitsansätzen und der modernen Menschenrechtsdiskussion: Das Recht darf sich nicht darauf beschränken, lediglich die Personenrechte eines Lebewesens vor Verletzungen zu schützen, sondern es muss ihre Verwirklichung
aktiv fördern. Das bedingt, dass das Lebewesen dazu
befähigt wird, seine Rechte auszuüben.
166
Dies betrifft auch Tiere: Sie haben gegenüber den Menschen einen Anspruch auf Herstellung derjenigen äusseren Bedingungen, die notwendig sind, damit sie ihr So-Sein (ihre «Tierheit») leben können. Mit dieser Konstruktion wählt Krause offensichtlich einen anderen Ansatzpunkt als rein pathozentrische Ethiken, welche das Tier regelmässig als ein viel passiveres, «erleidendes» Wesen begreifen.
167
Ihrerseits werden die Tiere durch das Recht nicht verpflichtet. Krause verwirft den Gedanken einer strengen Rechte-/Pflichten-Reziprozität nämlich nicht nur in Bezug auf Tiere, sondern auch in Bezug auf Menschen als unsinnig. Der Anspruch darauf, dass das Recht die äusseren Bedingungen dafür herstellt, dass ein freiheitsfähiges Wesen seine Freiheit verwirklichen kann, ist
unbedingt: Das heisst, der Anspruch muss nicht erst durch Gegenleistungen «verdient» werden, weshalb Reziprozitätsforderungen unzulässig sind.
168 Mit dieser Konstruktion kann Krause auch einen unbedingten Anspruch geistig behinderter, kranker, durch Armut ungebildeter, straffällig gewordener oder sonst wie eingeschränkter Menschen auf Pflege und Achtung, aber auch auf Bildung gegenüber der menschlichen Gesellschaft garantieren – eine weitere Parallele zu heutigen Fähigkeitsansätzen.
169
Welche konkreten Rechte will Krause nun Tieren zugestehen? Zunächst einmal sind dies relativ basale Rechte, wie das Recht auf leibliches Wohlbefinden, Schmerzlosigkeit und Nahrung. Sie werden allerdings dadurch geschwächt, dass Krause glaubt dass Tiere an den Vernunftzwecken der höheren Lebewesen mitwirken müssen. Weil er Recht als hierarchisch strukturiert begreift, dürfen die Rechte der Tiere im Interesse der höher gestellten Rechtspersonen eingeschränkt werden:
170
«Wird nun diese Ansicht als richtig befunden, so ergibt sich, dass die Thiere allerdings ein bestimmtes Gebiet ihres Rechts haben, dass ihnen nämlich die zeitlich-freien Bedingnisse der Vollführung ihres rein thierischen Lebens geleistet werden, dass sie also z. B. ein Recht haben auf leibliches Wohlbefinden, auf Schmerzlosigkeit, auf die erforderlichen Nahrungsmittel; aber dagegen ergibt sich zugleich, dass, da die Thierheit ein untergeordnetes Glied ist in dem Organismus aller persönlichen Wesen, auch die Thiere von ihrer Seite bestimmt sind Wesentliches mitzuwirken für die Erreichung der Vernunftzwecke der höhern Vernunftwesen z. B. der Menschen, dass also die Menschheit Befugniss hat sie zu vernunftgemässer Arbeit zu benutzen, und das Gebiet ihrer äussern Freiheit so zu beschränken wie es dem Vernunftzwecke der Menschheit gemäss ist.»171
Krause erachtet es also mit dem Freiheitsrecht der Tiere nicht für unvereinbar, ihre Produkte zu verwerten oder ihre Arbeitskraft zu nutzen. Auch die Tötung von Tieren bleibt nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Krause geht nämlich davon aus, dass der Mensch auf Fleisch als Nahrung angewiesen ist, weshalb er Tiere zur eigenen Ernährung töten muss.
172 Damit setzt er sich aber in ein Spannungsverhältnis zu seiner eigenen Position, welche verbietet, Tiere lediglich als Mittel zu gebrauchen. Den Konflikt benennt er in seiner eigentümlichen Sprache folgendermassen:
«Daher müssen denn auch alle Naturgebilde auf dem Gebiete des Rechts niemals erstwesentlich als Sache, als Mittel, betrachtet werden, sondern nur in bestimmter untergeordneter Beziehung. Daher stammt das Recht, welches jedem Menschen und jeder Menschengesellschaft zukommt, dass jedes Naturgebilde als Naturgebilde geachtet und zwecklos nicht gestört werde, sondern blos für Vernunftzwecke insoweit als Mittel angewandt, gebraucht und verbraucht werden dürfe, als es zugleich der Wesenheit und Würde der Natur gemäss ist, – eine hohe Forderung, schwer zu erfüllen für das weltbeschränkte Leben z. B. auf dieser Erde, wo es scheint, dass die Menschheit, als ein Theil der Thierheit oder des Thierreichs, durch den Bau und die Triebe des Leibes angewiesen sei alle Thiere zu tödten, wenn Dies für bestimmte Vernunftzwecke erforderlich ist.»173
Allerdings hängt das Recht, Tiere zur eigenen Ernährung zu töten, davon ab, dass «ohne solches die Menschheit auf Erden, bis nicht etwa andere Nahrungsmittel ausgefunden werden, nicht bestehen könne». Dies dürfe aber nur zurückhaltend angenommen werden, sei doch pflanzliche Nahrung mindestens in der Regel genügend verfügbar, schränkt er ein.
174
Wie sollen nun aber die Rechte der Tiere – so eingeschränkt sie in Krauses Konzeption auch sind – Gehör im Recht finden? Tiere sind ja nicht in der Lage, sie selbst zu artikulieren und einzufordern. Krause wählt hier eine analoge Konstruktion wie bei den Rechten von Kindern oder geistig schwerstbehinderten Menschen. Die Rechte der Tiere müssen
stellvertretend für sie von den Menschen wahrgenommen werden, die gleichsam als ihr Vormund agieren:
«Sobald man das Thier als ein selbstinniges Wesen betrachtet, was Selbstbewusstsein und Selbstgefühl hat, so fordert man, dass der Mensch auch gegen das Thier gerecht sein soll. Aber niemand wird von der Gerechtigkeit der Thiere reden, die nämlich die Thiere ausüben. Das kommt davon, weil man das Thier nicht für fähig hält, die Idee der Gerechtigkeit zu fassen, sich die Gerechtigkeit zum Zweck zu machen. Daher sagt man: der Mensch soll der Vormund aller Thiere sein, und betrachtet die ganze Thierheit als unmündig, und mit Fug.»175
In Krauses Vormundschaftsverständnis zeigt sich wiederum sein freiheitlich-fähigkeitsorientiertes Rechtsverständnis: Die Vormundschaft über Tiere ist nämlich in seinen Augen dem Zweck verpflichtet, die Tiere in die Lage zu versetzen bzw. die äusseren Bedingungen hierfür herzustellen, dass sie ihre je tierliche Freiheit leben können.
176 Wie Claus Dierksmeier in seiner Untersuchung aufzeigt, ist
faktische Abhängigkeit für Krause im Unterschied zu zahlreichen seiner Zeitgenossen noch keine Legitimation für
rechtliche Abhängigkeit, sondern zunächst einmal lediglich für rechtliche Stellvertretung. Diese muss allerdings das Ziel verfolgen, sich selbst überflüssig zu machen
177 – ein weitsichtiger Ansatz, wird doch die negative Bewertung von Beziehung, Abhängigkeit und Interdependenz heute von feministischen, kindes- und erwachsenenschutzrechtlichen, behindertenrechtlichen sowie einigen tierethischen Denkerinnen und Denkern radikal hinterfragt.
178
Interessant ist ferner Krauses Eigentumsverständnis. Es unterscheidet sich von seinen Zeitgenossen, die das Eigentumsrecht als zentrale Manifestation der individuellen Freiheit verstehen. Demgegenüber ist das Eigentumsrecht als solches in Krauses System eine juristische Konstruktion und strikt zu trennen vom Verhältnis des Eigentümers zu seiner Sache. Das bedeutet, dass eine Sache zwar
funktionell einer Person als Eigentum zugeordnet sein kann, sie deswegen aber noch lange nicht in einem ontologischen Sinne zu Eigentum «wird».
179 Folglich kann der Eigentümer auch nicht beliebig mit seiner Sache verfahren, wie die traditionellen zeitgenössischen Eigentumstheorien postulieren; vielmehr sind die Beschränkungen des Eigentums diesem bereits immanent.
180
4.6 Ignaz Bregenzer (1894)
Ignaz Bregenzer (1844–1906) war ein Landgerichtsrat aus Tübingen, der heute nur noch wenig bekannt ist.
181 Er arbeitete im ausgehenden 19. Jahrhundert die tierethischen Positionen sowie die tierschutzrechtlichen und tierschutzstrafrechtlichen Normen verschiedener europäischer Länder und nordamerikanischer Staaten auf. Auf dieser Analyse basiert seine eigene Position. Sein Werk
Thier-Ethik. Darstellung der sittlichen und rechtlichen Beziehungen wurde 1894 vom «Verbande der Thierschutzvereine des Deutschen Reichs» prämiert und herausgegeben. Es handelte sich um die seinerzeit umfangreichste Monographie zur Thematik in Deutschland.
Bregenzer bezeichnete die damaligen Tierschutznormen als «relatives Thierrecht», weil sie konzeptionell keine subjektiven Rechte beinhalteten. Er unterschied bereits zwischen dem strafrechtlichen und dem verwaltungsrechtlichen Tierschutz, eine Aufteilung, die sich rechtlich bis heute so fortgesetzt hat:
«Die moderne Thierschutzidee ist bei den Hauptkulturvölkern der Gegenwart in deren Strafrechtspraxis und Strafgesetzgebung bereits mehr oder weniger zum Durchbruch gelangt. Der staatliche Thierschutz gipfelt in der Bestrafung der Thiermisshandlung. Daneben kommen Spezialbestimmungen in Betracht, welche an sich Verwaltungsmassregeln, zugleich direkt, mittels Polizeistrafen oder in anderer Weise, thierquälerischen Handlungen entgegenarbeiten: Vorschriften über Transport von Thieren, Verwendung von Hunden zu Zugthieren, Schlachtungsmethoden, Vivisektion, Thierkämpfe, Wettrennen und dgl., oder aber in erster Linie andere Zwecke (menschliche Interessen) verfolgen und mehr indirekt den Thierschutz fördern, wie Bestimmungen über Vogelschutz, Jagdgesetze, Hundemaulkörbe, Taubenschiessen u. dgl.»182
England, Nordamerika und Deutschland waren in Bregenzers Augen sowohl im praktischen als auch im theoretischen Tierschutz führend. Dennoch sah er noch deutlichen Verbesserungsbedarf. Insbesondere das Festhalten der juristischen Doktrin an der Rechtelosigkeit der Tiere beurteilte er aus rechtstheoretischer Perspektive als problematisch.
183 Mit den Juristen, Philosophen und Theologen ging Bregenzer hart ins Gericht: Ebenso wie der Impuls zur Abschaffung der Folter im Strafrecht nicht von ihnen, sondern von sog. «Laien» ausgegangen sei, hätten auch erst diese «die Thierschutzbewegung in Gang gebracht und bis jetzt aufs wirksamste gefördert». «Jeden Humanitätssieg muss das Volk sich erkämpfen», so Bregenzers ernüchtertes Fazit.
184
Die Evolutionstheorie Darwins, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts publik wurde, hat in Bregenzers Schriften deutliche Spuren hinterlassen. Mit Blick auf die physischen Ähnlichkeiten zwischen Menschen und Tieren ging er nicht mehr von einer kategorialen anthropologischen Differenz aus, sondern von einem Kontinuum der Entwicklung.
185 Interessanterweise vertrat Bregenzer bereits die fast 200 Jahre später auch vom amerikanischen Philosophen und Tierrechtler Tom Regan entwickelte These, dass Tiere «auch ‚Subjekte‘ ihres natürlichen und sittlichen Lebens» seien. Auf dieser theoretischen Grundlage kritisierte Bregenzer die anthropozentrische Auffassung der Scholastik und des Naturrechts, welche davon ausging, dass tierliche Interessen nur so weit zu berücksichtigen seien, «als eine Kollision menschlicher Interessen oder Rechte nicht infrage steht».
186 Weil Tiere rechtlich nur Sachen ohne eigene Rechte seien, genüge nämlich jedes «noch so geringe menschliche Interesse», um ihre Interessen zu übertrumpfen, klagte Bregenzer und brachte damit eine bis heute virulente Problematik des Tierschutzrechts auf den Punkt. Er forderte, den Humanitätsgedanken von religiösen Dogmen zu lösen und auch auf Tiere auszudehnen.
187
Bregenzer anerkannte einen Anspruch der Tiere auf Achtung ihres Lebens, ihrer Gesundheit, ihrer körperlichen und seelischen Integrität sowie ihres Eigentums. Achtung bedeutete in seinen Augen vor allem
Schonung, d. h. eine negative Pflicht der Menschen:
«In der Achtung liegt vor allem Schonung: ein negativer, vorwiegend rechtlicher Begriff, der aber, wie alle Rechtspflichten, zugleich eine moralische Verbindlichkeit involvirt. Die Schonung nun beschränkt sich bei niederen, insbesondere auch den weder ausgesprochen nützlichen noch schädlichen, also für das Menschenwohl indifferenten Thieren […] wie schon das Wort Schonung andeutet, auf die realen Grundgüter Leben, Gesundheit und Körperintegrität. Ihnen gegenüber geht also das Sittengebot dahin, sie ohne Noth oder gerechten Grund, d. h. ohne dass ein vergleichsweise sittlich werthvolleres und berechtigteres Menscheninteresse es verlangt, nicht des Lebens zu berauben oder, wenn es sein muss, möglichst rasch und schmerzlos zu tödten. Ferner verbietet uns die allgemeine Thierethik, irgend ein Thier ohne die genannte Voraussetzung zu verletzen und zu verstümmeln, geschweige denn zu quälen oder zu misshandeln. Bei höheren indifferenten Thieren, wozu ich ausser sämmtlichen Wirbelthieren auch die edleren Arthropoden (Bienen und Ameisen) rechne, kommen theil-weise auch andere Interessen in Betracht: Schonung des ,Eigenthums‘, nämlich der Nester und sonstigen Wohnungen, der Futtervorräthe ec. Endlich können bei manchen Vögeln und Säugethieren sogar ideale Güter, namentlich Familiengefühle und -rechte vorkommen, und aus diesem Gesichtspunkte beispielsweise Wegnahme und Tödtung von noch pflegebedürftigen Jungen vor den Augen der Mutter als sittlich verwerflich erscheinen.»188
Neben negativen Pflichten befürwortete Bregenzer auch positive Pflichten gegenüber Tieren. Bei Nutztieren ging es ihm offensichtlich vor allem um eine Erleichterung ihres Loses innerhalb der Nutzung. Bei Haustieren sollten sich die Pflichten des Menschen allerdings deutlich erweitern. So sei die Tötung von Haustieren, vor allem von «befreundeten Thieren» nur ausnahmsweise zulässig, d. h. dort, wo eigentlich von einem Notstand gesprochen werden dürfe oder aber wo die Tötung im Interesse des Tieres selbst erfolge, weil es etwa krank oder verletzt sei. Wie Kant befürwortete Bregenzer Fürsorge- und Pflegepflichten, «ähnlich denen eines Familienhauptes oder Vormunds gegen das Kind bzw. den Mündel». Dazu zählte er etwa die Bereitstellung einer angemessenen Unterkunft und eines Witterungsschutzes (z. B. Pferdedecken), die Versorgung mit Nahrung, das regelmässige Sauberhalten, einen ausreichenden Schutz gegen Feinde und Parasiten, die Krankenpflege und tierärztliche Behandlungen sowie die Altersfürsorge.
189
Darüber hinaus war die Verleihung der Rechtsfähigkeit an Tiere für Bregenzer ein Gebot der
Gerechtigkeit. Die bisherige rechtliche Konzeption reiche nicht aus, denn «Menschenschutz ist kein Thierschutz und Reflexrecht kein wirkliches Recht», so Bregenzer. Dabei hatte er nicht nur die sachenrechtlichen Vorschriften vor Augen, welche Tieren nur einen sehr eingeschränkten Schutz zu gewähren vermochten, sondern insbesondere die Normen des deutschen Tierschutzstrafrechts, welche für den Tatbestand der Tierquälerei auf die Erregung
öffentlichen Ärgernisses abstellten. Damit bezweckten sie eigentlich lediglich den Schutz
menschlicher Empfindungen und schützten Tiere nur reflexiv und nur in öffentlichen Situationen.
190 Die rechtliche Entwicklung müsse nun weitergehen zum «Schutz der Thiere um ihrer selbst willen», forderte Bregenzer – heute sprechen wir bei diesem Konzept vom direkten oder ethischen Tierschutz.
191 Der Staat müsse die Tiere «emanzipieren», wie dies bereits mit Frauen, Kindern, Fremden und Unfreien geschehen sei. Erst wenn diese Leistung gegenüber dem Tier erbracht worden sei, so Bregenzer, dürften ihm «Gegenleistungen» auferlegt werden. Zu diesen Gegenleistungen zählt er etwa «Gehorsams- und Treuepflichten gegen ihre menschlichen Herren», Anhänglichkeit, Liebe und Arbeit.
192
Bregenzer hielt also an der naturrechtlichen Tradition der Rechte-Pflichten-Symmetrie zumindest auf moralischer, nicht aber auf rechtlicher, Ebene fest.
193 Er glaubte, dass eine Verbesserung des Rechtsschutzes für Tiere massgeblich von ihrer
Rechtsfähigkeit abhänge, d. h. von der Anerkennung der Tiere als
Rechtspersönlichkeit. Diese qualifizierte er als logische Fortführung der generellen Ausdehnung der Rechtsfähigkeit auf Individuen, welche ihre Rechte nicht vollumfänglich selbst wahrnehmen können:
«Voraussetzung der Rechtsstellung ist die ,Rechtsfähigkeit‘. Diesen Begriff pflegen wir mit der ,Persönlichkeit‘ (Rechtspersönlichkeit) zu identifiziren. Da nun aber Kindern, Geisteskranken und Sklaven beschränkte Rechtsfähigkeit zugeschrieben wird, sucht man sich hier auf verschiedene Arten zu helfen, die sämmtlich auf eine ,Fiktion‘ der Persönlichkeit oder dergleichen hinauslaufen. Auf das Thier hat man dieses Verfahren bis jetzt nicht ausgedehnt.»194
Wie Bentham verwarf auch Bregenzer den Rekurs auf Naturrechte, um Tierrechte zu begründen. Er sah die Zusprechung der Rechtsfähigkeit an Tiere als einen dispositiven rechtlichen Akt und nicht im naturrechtlichen Sinne als Anerkennung einer bereits vorrechtlich bestehenden Personalität oder ethischen Zwecksubjektivität. Die Philosophie, Theologie und die Naturwissenschaften vermöchten zwar Anstösse für diese Entwicklung zu geben, ihnen komme aber gegenüber dem Recht lediglich der Status von «Hilfswissenschaften» zu, meinte Bregenzer. Die Frage, ob Tiere als rechtsfähig anerkannt werden sollen oder nicht, ist demnach in Bregenzers Augen eine normative Frage, die das Recht eigenständig beantworten muss:
«Als Hauptresultate der seitherigen Untersuchung für den praktischen Rechtsstandpunkt lassen sich folgende drei Sätze aufstellen: 1. Der Staat hat die ,Interessen‘ (Gutsprozesse) der Thiere zu achten und zu schützen. 2. Er hat diesen Schutz in Form Rechtens, als Rechtsschutz zu leisten. 3. Ein zulässiges und geeignetes Mittel zur Durchführung des Thierrechtsschutzes bildet die Anerkennung der thierischen Rechtspersönlichkeit, d.i. die Zutheilung einer der menschlichen analogen Rechtsfähigkeit. Darüber, dass wir die Thiere oder gewisse Thiere zu Rechtsträgern machen können, kann kein Zweifel bestehen. Es fragt sich nur noch, ob wir dies thun müssen oder sollen. Was zunächst die Kompetenzfrage betrifft, so handelt es sich beim vorliegenden Problem um eine Macht- und Rechtsfrage, es kann daher weder die Theologie, noch die Philosophie oder Naturwissenschaft, sondern nur die Gesetzgebung zu ihrer Lösung berufen sein; ihr haben jene Vorinstanzen lediglich schätzbares Material zu liefern. Wenn die Theorie den Thieren Gottebenbildlichkeit, Seele, Menschenähnlichkeit u. s. w. ab- oder zuspricht, so ist damit eben noch nichts ,gethan‘. Persönlichkeit oder Rechtsfähigkeit kann einzig und allein der lebendige ,Staatswille‘ (d. h. der Wille der den Staat vertretenden Individuen, der ,gesetzgebenden Gewalten‘) verleihen; die Wissenschaften dienen ihm lediglich als Gehilfen, und zwar als Sachverständige, an deren Gutachten er keineswegs gebunden ist. Zudem sind die Sachverständigen regelmässig untereinander uneins.»195
Die tatsächlichen Auswirkungen der Anerkennung von Tieren als Rechtspersönlichkeiten bleiben allerdings in Bregenzers Konzeption relativ bescheiden: So haben Tiere zwar gemäss seiner Theorie einen Anspruch auf Achtung ihres Lebens und ihre Tötung ist nur in Notwehr und Notstandssituationen zulässig. Letztere fasst Bregenzer aber ausserordentlich weit und zählt auch die Jagd und Fischerei dazu.
196 Selbst die Forschung mit Tieren wäre in seinen Augen nicht grundsätzlich verboten, auch wenn Versuche möglichst nur mit bereits getöteten Tieren durchzuführen seien und Betäubungsmittel für obligatorisch erklärt werden müssten. Allerdings forderte er bereits eine staatliche Überwachung der Einhaltung der tierschutzrechtlichen Grundsätze im Tierversuch sowie eine vorgängige Bewilligungspflicht.
197 Im Vivisektionsbereich erkannte Bregenzer einen ganz grundlegenden Interessenkonflikt, «die Kollision
thierischer Grundinteressen, nämlich des Lebens, der Körperintegrität und Gesundheit mit gleichartigen
menschlichen Hauptrechtsgütern, und daneben noch abgeleitete oder reflektirte menschliche Güter, insbesondere auf der einen Seite das Mitleid und Rechtsgefühl, auf der anderen das wissenschaftliche Interesse.» Leben und Gesundheit der Tiere sind in dieser Abwägung für Bregenzer weit weniger wert als Leben und Gesundheit der Menschen, was er nicht weiter begründet. Damit nimmt er eine hierarchische Ethikposition ein und setzt sich in einen gewissen Widerspruch zu seinen theoretischen Grundannahmen.
198 Dennoch will Bregenzer nicht jedes menschliche Interesse zur Rechtfertigung von Tierversuchen genügen lassen und vertritt insofern sogar eine recht moderne Haltung: Notstand dürfe nämlich nicht angenommen werden, wenn «
rein abstrakte, also sehr entfernte Rechtsgüter», d. h. «bloss
mögliche» Interessen zur Abwägung gebracht würden. Denn aufseiten der Tiere würden diesen bloss «möglichen künftigen Gütern» immer «
wirkliche und
gegenwärtige, reale […] Übel» gegenüberstehen. Die Grundfrage laute daher, ob «ein noch nicht existirendes, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit für die Zukunft zu
erhoffendes soziales Gut die direkte Verletzung
wirklicher (in der Gegenwart existirender) individueller Gegenrechtsgüter
überhaupt rechtfertigen» könne.
199 Diese Überlegungen sind in der Tierversuchsdebatte in der Frage der Güterabwägung bis heute präsent.
200
Der hierarchische Ansatz von Bregenzers Konzeption zeigt sich nicht erst in der konkreten Abwägung zwischen betroffenen Rechtspositionen, sondern wirkt sich bereits auf die theoretische Ausgestaltung der Tierrechte aus. Sie sind nämlich in seinen Augen von Beginn weg schwächer anzulegen als menschliche Rechte. Tierrechte wären demnach im Vergleich zu den Rechten der Menschen nur
beschränkte Rechte oder Teilrechte. Bregenzer verteidigt diese hierarchische Konzeption unter Hinweis darauf, dass die Annahme, «dass die Gleichheit ein Moment des Rechtsbegriffs bilde», «grundfalsch» sei. Das zeige sich bereits daran, dass Menschen unterschiedliche Rechte hätten, je nach «Geschlecht, Alter, körperliche[r] und geistige[r] Gesundheit, Staatsangehörigkeit, selbst Konfession, Stand».
201 Freilich würden heute die meisten Beispiele, die Bregenzer zur Belegung seiner These eines «geringeren» Rechts der Tiere anführt, bei Menschen nicht mehr als legitime Rechtfertigungsgrundlage hierfür anerkannt. Gleichheit bildet einen zentralen Pfeiler der Rechtsordnung.
202 Rechtliche Ungleichbehandlungen sind erstens nur dann zulässig, wenn sie sich mit tatsächlichen Unterschieden rechtfertigen lassen und sie betreffen zweitens gerade
nicht diejenigen Rechte, welche den Kern der Persönlichkeit schützen, mithin die physische und die psychische Integrität. So ist es zwar zulässig, dass ein Kleinkind noch keine politischen Rechte hat, dennoch steht es selbstredend unter dem vollumfänglichen Schutz der Rechte auf Leben sowie körperliche und psychische Integrität, mithin aller Wirkungen des Persönlichkeitsschutzes.
4.7 Henry Salt (1892)
Als Vertreter der sehr lebhaften angelsächsischen Tierrechtsbewegung darf der englische Autor Henry Stephens Salt (1851–1939) nicht unerwähnt bleiben. Für Salt war Ethik unteilbar. Als Mitbegründer der
Humanitarian League setzte er sich dafür ein, die Leiden sämtlicher empfindungsfähiger Wesen (Menschen und Tiere) zu vermindern. Die Emanzipation aller Menschen sei nicht ohne die Befreiung der Tiere denkbar
203:
«The promoters of the League saw clearly that barbarous practices can be philosophically condemned on no other ground than that of the broad democratic sentiment of universal sympathy. Humanity and science between them have exploded the time-honoured idea of a hard-and-fast line between white man and black man, rich man and poor man, educated man and uneducated man, good man and bad man: equally impossible to maintain, in the light of newer knowledge, is the idea that there is any difference in kind, and not in degree only, between human and non-human intelligence. The emancipation of men from cruelty and injustice will bring with it in due course the emancipation of animals also. The two reforms are inseparably connected, and neither can be fully realized alone.»204
Im Jahr 1892, gut 65 Jahre nach dem Inkrafttreten des ersten englischen Tierschutzgesetzes, erschien Salts sozialreformatorisch ausgerichtetes Buch Animals’ Rights Considered in Relation to Social Progress. Es enthielt die noch heute bedeutsamen Grundlinien einer eigentlichen Tierrechtstheorie, übte allerdings keinen Einfluss auf die zeitgenössische Gesetzgebung aus. Anders als die Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals (RSPCA), welche sich vornehmlich mit dem praktischen Tierschutz und der Durchsetzung des ersten Tierschutzgesetzes beschäftigte, sah die Humanitarian League ihre Aufgabe eher in der Funktion eines «Think Tanks» denn in einer praktisch tätigen Organisation. Sie sprach sich etwa gegen die Vivisektion, die Jagd, Körperstrafen und andere brutale Strafmethoden und für die vegetarische Ernährung aus.
In seiner Autobiografie kritisierte Salt die zeitgenössische englische Tierschutzgesetzgebung dafür, dass sie nur bestimmte Kategorien von Tieren – vornehmlich Haus- und Nutztiere – einschloss und lediglich vor eng umgrenzten Grausamkeiten schützte.
205 Dennoch bezweifelte er nicht, dass das Schicksal der Tiere ohne die Existenz dieses Gesetzes noch um einiges schlechter wäre. Salt sah es auch nicht als die primäre Aufgabe des Rechts, Tierquälerei zu verhindern. Ein solches Ziel sei für die Gesetzgebung regelmässig unerreichbar, da Tierquälereien häufig im Verborgenen stattfänden. Vielmehr halte ein Gesetz den gegenwärtigen moralischen Konsens einer Gesellschaft fest und sei deshalb das
Resultat einer gesellschaftlichen Entwicklung und nicht deren Voraussetzung, argumentierte Salt. Der Sinn der Tierschutzgesetzgebung liege deshalb vornehmlich in der Verankerung eines einmal erreichten Minimalstandards. Sie diene damit dessen Befestigung und Stärkung und schütze ihn vor Erosion.
206
Folgerichtig muss in Salts Augen die Sensibilisierung und Aufklärung der Bevölkerung über Tierschutzthemen notwendig der entsprechenden Gesetzgebung vorausgehen. Die Tierschutzgesetzgebung selbst, erkannte Salt richtig, bleibe nämlich an den gesellschaftlichen Konsens zu erlaubten und verbotenen Praktiken der Tiernutzung und -misshandlung gebunden. Freilich birgt die Festschreibung eines einmal erreichten Minimalstandards die Gefahr, ihn gleichsam auf diesen Stand «einzufrieren» und beständig zu reproduzieren.
207 Mit Blick auf diese Problematik forderte Salt, dass die Tierschutzgesetzgebung mit den gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt halten müsse. Wenn rechtlich noch nicht erfasste, mittlerweile aber gesellschaftlich nicht mehr akzeptierte Tiermisshandlungen auch durch eine grosszügigere Auslegung des Tierschutzgesetzes nicht adressiert werden könnten, brauche es zeitnahe Reformen der Gesetzgebung, sprach er eine bis heute aktuelle Problematik an.
208
Generell erachtete Salt den
rechtlichen Schutz der Schwachen und Hilflosen vor Gewalt und Aggression als unabdingbar und deshalb auch Tierschutzgesetze für unverzichtbar. Er wollte aber nicht an diesem Punkt stehenbleiben: Tierschutzgesetze waren in seinen Augen nur ein
Zwischenschritt auf dem Weg zu einer wirklich humanitären Gesetzgebung.
209 Salts eigener Ansatz war darauf ausgelegt, nicht nur das Leiden der Tiere zu vermindern oder zu verhindern, sondern die Grundzüge einer fundamentalen Gesellschaftsreform zu entwerfen, in welcher die Prinzipien der Humanität auf alle fühlenden Wesen ausgedehnt werden. In der Einleitung zu
Animals’
Rights schrieb er:
«We have to decide, not whether the practice of fox-hunting, for example, is more, or less cruel than vivisection, but whether all practices which inflict unnecessary pain on sentient beings are not incompatible with the higher instincts of humanity.»210
Salt vertrat die Ansicht, dass
alle Tiere (Haustiere, Nutztiere, Wildtiere und auch sog. «Schädlinge») ein Recht darauf haben, ihr eigenes Leben zu leben und gegen unnötige und gedankenlose Quälereien geschützt zu werden. Wer Individualität, einen eigenen Charakter und Verstand habe, habe auch das Recht, diese Eigenschaften und Fähigkeiten zu leben und zu gebrauchen, soweit es die Umstände zuliessen.
211 In Anlehnung an das Rechtekonzept von Herbert Spencer postulierte Salt deshalb, dass jedem Wesen Handlungsfreiheit zukomme. Diese sollte erst dort enden, wo die Handlungen die Freiheit und damit die Rechte eines anderen Wesens verletzen.
212
Salt wollte den Begriff der Tierrechte in einem starken Sinne verstanden wissen. Von Rechten zu sprechen, ergibt in seinen Augen nämlich keinen Sinn, wenn diese dann sogleich wieder jedem menschlichen Interesse untergeordnet werden können.
213 Als Grundlage für die Rechte der Tiere rekurrierte Salt auf die Anteilnahme bzw. das Mitgefühl mit allen empfindenden Wesen
(universal sympathy) und das Gerechtigkeitsgefühl.
214 Demnach sah er auch die primäre Aufgabe von Rechten darin, empfindungsfähige Wesen vor vermeidbarem Leiden zu schützen. Wenn dies für Menschen gelte, müsse das Prinzip konsequenterweise auch auf alle andere empfindungsfähigen Wesen Anwendung finden, so Salt:
«If by the recognition of rights we mean that man, as a sentient and intelligent being, should be exempt from all avoidable suffering, it follows that other beings who are also sentient and intelligent, though in a lower degree, should have, in a lower degree, the same exemption.»215
Damit scheint sich Salts Position gar nicht wesentlich von den Positionen des klassischen Tierschutzes zu unterscheiden, der ebenfalls den Schutz vor vermeidbaren Leiden einforderte. Salt war sich der Gefahr auch sehr bewusst, dass die Terminologie des «vermeidbaren» oder «unnötigen» Leidens, die noch heute prägend ist für die Tierschutzgesetzgebung, einen äusserst breiten Interpretationsspielraum dafür eröffnet, welche Leiden als notwendig und unvermeidbar gelten sollen. Dennoch hielt er mangels valabler Alternativen an dieser Formulierung fest, denn Rechte müssten immer bis zu einem gewissen Grad einschränkbar sein und jede Formulierung, die das zum Ausdruck bringe, könnte dazu missbraucht werden, die Rechte der Tiere übermässig einzuschränken. Deshalb sah er keine andere Möglichkeit als darauf zu vertrauen, dass die öffentliche Meinung sich dahin entwickle, nur noch tatsächlich notwendige Einschränkungen zuzulassen.
216
Salt unterscheidet in seiner Konzeption zwischen domestizierten Tieren und Wildtieren, was er damit begründet, dass der Einfluss des Menschen bei domestizierten Tieren um ein Vielfaches grösser sei.
217 In Salts Ansatz ist die Nutzung von Tieren nicht generell unzulässig; er spricht ihnen aber ein Recht darauf zu, mit Achtsamkeit und Vorsicht behandelt zu werden.
218 Zur Selbstverteidigung dürfen Tiere getötet werden, nicht aber zum blossen Vergnügen, zum Sport, für die Mode oder aus kulinarischer Vorliebe.
219
Der letzteren Frage, ob Tiere zur Ernährung getötet werden dürfen, widmete Salt viel Raum in seinen Ausführungen und setzt sich auch mit den Meinungen seiner Vorgänger – etwa Bentham und Schopenhauer – auseinander. Zu Salts Zeit gab es bereits erste Erfahrungswerte zu einer vegetarischen Ernährungsweise. Salt sah deshalb die Tötung von Tieren zur Ernährung nicht mehr als biologische Notwendigkeit, sondern schlicht als kulturelle Gewohnheit, die zu ihrer Rechtfertigung eine Umdeutung zur biologischen Notwendigkeit erfuhr. Mit dem Töten von Tieren und insbesondere auch mit der Zucht und Haltung zum einzigen Zweck der späteren Schlachtung seien Grausamkeiten und Leiden untrennbar verbunden. Diese vermöchten die menschlichen Gaumenfreuden in keiner Weise aufzuheben. Darüber hinaus liege aber ein grundsätzliches Problem darin, den Lebenszweck eines Tieres von Anfang an auf seine spätere Tötung zu beschränken, es also – um mit Kant zu sprechen – vom Beginn seines Lebens bis zu dessen Ende gänzlich für einen fremden Zweck zu instrumentalisieren.
220
Auch bei der Frage der Vivisektion verwirft Salt die utilitaristische Argumentation. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass sich mittels der Vivisektion medizinisch-biologische Fortschritte erzielen liessen, müsse darüber hinaus auch die ethische Seite betrachtet werden. Salt führt mit dieser Argumentation die Diskussion um die Vivisektion weg vom eher unergiebigen Streit, wie viel sie tatsächlich zur Wissenserweiterung beigetragen hat. Wissen darf nämlich in den Augen Salts nie mit einer ethisch unzulässigen Methode generiert werden. So gibt er zu bedenken, dass wohl Versuche mit Menschen ungleich mehr Wissen zu generieren vermöchten. Dennoch würden sie gemeinhin als unzulässig angesehen und Gerüchte, dass mit ärmeren Patienten in Spitälern Versuche durchgeführt würden, würden die Verantwortlichen jeweils schnell abstreiten.
221
Salts Positionen wurden von einigen Zeitgenossen belächelt. Salt verwahrte sich aber entschieden gegen die in seinen Augen gänzlich unrealistische Forderung, dass bereits zu Beginn einer Sozialreform – hier der rechtlichen Subjektivierung von Tieren – alle Einzelfragen und Detailprobleme geklärt werden müssten, die bei ihrer Umsetzung auftauchen würden. Dies bedürfe vielmehr einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung.
222
4.8 Leonard Nelson (ca. 1920)
Wer Interessen haben kann, kann und sollte Rechte haben – so lautet sinngemäss die zentrale These des Göttinger Professors, Rechtsphilosophen und Kantianers Leonard Nelson (1882–1927), die er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte. Seiner Ansicht nach ist die Fähigkeit, Interessen zu haben, das einzige zulässige Kriterium für den Status als Person und damit die Rechtsträgerschaft. Darüber hinausgehende Anforderungen wie etwa die von Kant postulierte Moralfähigkeit lehnt Nelson ab.
In der immer noch stark von der anglo-amerikanisch geprägten Tierethik wird Nelsons Ansatz bis heute erst wenig wahrgenommen, wenngleich seine Schriften insbesondere für die rechtliche Perspektive reichhaltige Ansatzpunkte liefern. Der Ansatz, dass Träger von Interessen auch Träger von Rechten sein können und sollen, wurde in jüngerer Zeit unter anderem vom nordamerikanischen Philosophen Joel Feinberg (1926–2004) vertreten. Feinberg argumentiert allerdings nicht auf einer kantianischen Grundlage und kommt deshalb zu gänzlich anderen und aus einer rechtsethischen Perspektive durchaus problematischen Ergebnissen.
223
Nelsons tierethische Überlegungen sind in sein gesamtes Werk eingebettet. Viele finden sich in den Mitschriften seiner Vorlesungen über das System der philosophischen Ethik und Pädagogik, die er in den Jahren des Ersten Weltkrieges und kurz danach gehalten hat. Nelson entwickelte seinen eigenen Ansatz in intensiver Auseinandersetzung mit der Philosophie Immanuel Kants. Er war nicht einverstanden mit Kants These, dass Tiere als Sachen mit einem bloss instrumentellen Wert von Menschen zu jedem beliebigen Zweck gebraucht werden dürfen, und Tierquälerei zwar nach seiner Ansicht eine Verletzung der Menschenwürde, also des Menschlichen in sich, nicht aber des Tieres selbst sei.
224 Unter dem Eindruck der zeitgenössischen Tierquälereiverbote, welche diese lediglich als «Erregung öffentlichen Ärgernisses» behandelten, schrieb Nelson im Unterkapitel
Das Recht der Tiere im 1924 publizierten
System der philosophischen Rechtslehre und Politik:
«Ich behaupte, dass es ein Recht der Tiere gibt, nicht von den Menschen zu beliebigen Zwecken missbraucht zu werden. Dies ist etwas sehr anderes als ein Recht der Menschen, nicht durch das Ärgernis der Tierquälerei verletzt zu werden. Wem dies nicht einleuchtet, oder wem die damit erhobene Forderung zu weitgehend erscheint, der braucht sich nur die Frage vorzulegen, ob er für sich selbst damit einverstanden sein würde, von einem ihm an Macht überlegenen Wesen nach dessen Belieben missbraucht zu werden.»225
Auch für Nelson scheint die Leidensfähigkeit der Tiere mindestens einer der Gründe für ihre ethische Berücksichtigung zu sein, wenn er weiter ausführt:
«Wer auch nur die Möglichkeit zugesteht, durch den Anblick von Tierquälerei selbst gequält zu werden, der gesteht damit zu, dass auch die Tiere den Schmerz empfinden. Und er beweist damit zugleich, dass er in die dem Tiere zugefügten Leiden seinerseits nicht einwilligen würde.»226
Aus diesen Ausführungen wird bereits ersichtlich, dass Nelson das Sittengesetz etwas anders formuliert als Kant. Während Kant von einer unzulässigen Verzweckung einer Person ausgeht, wenn sie in einer Weise behandelt wird, der sie selbst unmöglich zustimmen kann,
227 verzichtet Nelson auf das Erfordernis der Zustimmung durch die betroffene Person. Stattdessen verlangt er, sich einen Perspektivenwechsel vorzustellen; der Handelnde, der in die Interessen einer anderen Person eingreifen will, soll sich vorstellen, er wäre selbst von seiner Handlung betroffen und dann erst entscheiden, ob er sie (noch) als gerechtfertigt anschaut. Er soll sich also fragen, ob er die geltend gemachten Interessen auch dann noch als überwiegend beurteilen würde, wenn er selbst in der Position wäre, in dessen Interessen eingegriffen wird. Seine Fassung des Sittengesetzes begründet Nelson damit, dass der Mensch lediglich «rein zufällig» in der Lage sei, «die seiner Willkür ausgesetzten Wesen als Mittel zu seinen Zwecken benutzen zu können». Als Pflichtsubjekt müsse er sich deshalb die Frage stellen, ob er einwilligen würde, «als blosses Mittel für die Zwecke eines anderen gebraucht zu werden, der uns an Kraft und Intelligenz weit überlegen ist».
228
«Handle nie so, dass du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären.»229
Die von der Handlung betroffene Person muss bei dieser Fassung des Sittengesetzes also nicht notwendig auch selbst einwilligungsfähig sein. Im Fall einer Interessenkollision ist somit eine
formale Interessenabwägung ohne Rücksicht auf die davon betroffenen Personen und deren Eigenschaften – mit Ausnahme der Interessenträgerschaft – gefordert. Es geht Nelson um ein ethisches Prinzip der Art
«Füge keinem anderen zu, was Du nicht möchtest, dass Dir selbst zugefügt wird» und letztlich um eine Austauschbarkeit der Rollen.
230
Seine These, dass Tiere Rechte haben, basiert auf einer zentralen rechtstheoretischen Weichenstellung: Während das traditionelle Konzept der strengen Rechte-Pflichten-Symmetrie fordert, dass
alle Mitglieder der moralischen Gemeinschaft Rechte
und Pflichten haben müssen und diese Forderung auch auf die Rechtstheorie ausdehnt, unterscheidet Nelson zwischen Pflichtsubjekt und Rechtssubjekt.
231 Das ermöglicht es ihm, auf dem Boden einer deontologischen Ethiktheorie auch
asymmetrische Bindungen zuzulassen. Nicht alle Rechtssubjekte müssen in der Lage sein, Pflichten zu haben. Damit ist der Kreis der Rechtssubjekte grösser als der Kreis der Pflichtsubjekte:
«Ein Subjekt möglicher Rechte ist jedes Wesen, sofern es Interessen hat. Es braucht daher aber weder das Vermögen zu haben, seinen Interessen gemäss zu handeln, noch auch des Bewusstseins praktischer Gesetze fähig zu sein. Um dagegen ein Subjekt möglicher Pflichten zu sein, wird mehr erfordert, nämlich das Vermögen, seinen Interessen gemäss zu handeln, und der Vorstellung praktischer Gesetze fähig zu sein. Nur ein vernünftiges, handelndes Wesen kann ein Subjekt von Pflichten sein. Es zeigt sich also, dass der Begriff des Rechtssubjekts logisch weiter ist als der eines Pflichtsubjekts.»232
Zentral für diese Unterscheidung ist der Begriff des
Interesses. Das Interesse versteht Nelson als «das Vermögen, den Dingen einen Wert oder Unwert zu erteilen».
233 Der Begriff entzieht sich seiner Einschätzung nach einer abschliessenden Definition.
234 Nelsons Interessenbegriff ist jedenfalls umfassender zu verstehen als beispielsweise nur das Interesse, Freude zu vergrössern und Schmerz zu verringern, welches in der utilitaristischen Theorie Benthams das allein massgebenden Kriterium ist. Dennoch ist Nelsons Interessenbegriff mindestens da, wo er auf Tiere angewendet wird, eng mit dem Kriterium der Empfindungsfähigkeit verknüpft. Gleichwohl wäre eine Gleichsetzung des Interesses mit der Empfindungsfähigkeit eine unzulässige Verkürzung von Nelsons Ansatz, weil er im Sinne einer ungeteilten Ethik für vernünftige und unvernünftige Wesen denselben Interessenbegriff verwendet.
235
Nelsons Interessenbegriff ist wesentlich weniger anspruchsvoll als beispielsweise Singers Präferenzenbegriff und wirkt deshalb nicht primär aus-, sondern einschliessend.
236 Nelson stellt sich vor, dass der Wille eines Wesens durch seine Interessen motiviert wird. Damit sind die Interessen dem Willen gedanklich vorgeordnet und es gibt keinen Willen ohne Interessen. Umgekehrt sind aber sehr wohl Interessen denkbar, die sich nicht in einem Willen manifestieren, denn die Interessen müssen einem Wesen nicht notwendig bewusst sein.
237 Hier zeigt sich, dass Nelson den Begriff des Interesses von demjenigen des Zweckes löst, der in der kantischen Theorie eine wesentliche Rolle spielt. Auch bei Nelson können nur vernünftige Wesen zweckorientiert handeln, aber darüber hinaus können auch unvernünftige Wesen Interessen haben.
238 Weil Tiere auch die Fähigkeit besitzen, «den Dingen einen Wert oder Unwert zu erteilen», haben sie Interessen. Das blosse Reagieren auf äussere Reize vermag allerdings in Nelsons Augen noch keine Interessen zu begründen, weshalb er zwar empfindungsfähige Tiere, nicht aber Pflanzen zu den Interessenträgern zählt.
239
Nelson stellt begründungstheoretisch elementar auf das Interesse ab.
240 Alle Interessenträger sind nämlich
Personen. Personen dürfen aber von anderen Personen
nicht beliebig behandelt werden. Vielmehr sind ihre Interessen von den anderen Personen zu achten.
241 Diese Einschränkung der zulässigen Behandlung nennt Nelson die
Würde der Person und definiert diese damit anders als Kant:
«Würde hat eine Person aufgrund des Anspruchs, dass andere ihre Interessen achten. Es ist ihre Eigenschaft, durch das Sittengesetz dem Belieben derer, die sie behandeln, entzogen zu sein.»242
In Nelsons Konzeption hat demnach jede
Person einen «Anspruch auf Achtung ihrer Interessen», worin sich ihr Recht und ihre Würde zeigt. Jeder Interessenträger ist damit
zugleich eine Person und ein Rechtssubjekt. Während Pflichtsubjekte in der Lage sein müssen, ihre Handlungen an übergeordneten Gesetzen auszurichten – was ihren Kreis auf vernünftige Wesen beschränkt –, ist es für den Status als Person und Rechtssubjekt
notwendig und zugleich
hinreichend, Interessen zu haben. Damit entfällt in Nelsons Konzeption die Verpflichtungsfähigkeit als Voraussetzung der Rechtsfähigkeit:
«Um ein Wesen dem Begriff der Person unterordnen zu können, genügt es, dass dieses Wesen der Lust und Unlust empfänglich ist; denn darunter verstehen wir diejenigen Interessen, deren ihr Träger sich unabhängig von allem Urteil bewusst wird und die auch davon unabhängig sind, ob sie als Antrieb auf den Willen wirken. Jedes Wesen, das Lust und Unlust empfinden kann, ist daher auch ein Rechtssubjekt und hat Würde in dem definierten Sinne des Wortes.»243
Aufgrund von Nelsons weitem Interessenbegriff sind Kinder, geistig schwerstbehinderte Menschen und empfindungsfähige Tiere selbstverständlich Interessenträger.
244 Er stellt überdies auf die
Anlage zur Interessenträgerschaft ab; es kommt demnach nicht im Sinne eines normativen Individualismus darauf an, ob das konkrete Individuum zum konkreten Zeitpunkt tatsächlich Interessen hat.
245
Dasselbe gilt für die Kategorie der Pflichtsubjekte: Hier stellt Nelson wie Kant auf die
Anlage zur Vernunft der Gattung Mensch ab. Damit gehören
alle Menschen zu den Pflichtsubjekten, unabhängig von ihrem Lebensalter und ihren konkreten Eigenschaften. Im Anschluss an seine Forderung, eine scharfe begriffliche Unterscheidung zwischen Pflichtsubjekt und Rechtsubjekt zu machen, führt er aus:
«Subjekte von Rechten sind gemäss dem Inhalt des Sittengesetzes alle Wesen, die Interessen haben, Subjekte von Pflichten dagegen alle die, die darüber hinaus der Einsicht in die Anforderung der Pflicht fähig sind. Diese Einsicht ist nur für vernünftige Wesen möglich. Demgemäss können wir alle Pflichten, die nach Ausschluss der Pflichten gegen uns selber übrig bleiben, einteilen in Pflichten gegen vernünftige und Pflichten gegen unvernünftige Wesen. Nennen wir ein Wesen, das zwar ein Subjekt von Rechten ist, aber seiner Natur nach nicht zur vernünftigen Selbstbestimmung gelangen kann, ein Tier, und ein Wesen, das Subjekt von Rechten ist und zugleich seiner Natur nach die Anlage der Vernunft hat, einen Menschen, so können wir kurz sagen, dass jede Pflicht entweder eine solche gegen Tiere oder eine solche gegen Menschen ist. Ich behaupte hiermit, dass es Pflichten gegen Tiere gibt, und dass diese Pflichten unmittelbare Pflichten sind, dass sie sich also nicht etwa ableiten aus Pflichten gegen Menschen, d. h. gegen vernünftige Wesen.»246
Anders als Kant, der lediglich indirekte Pflichten gegen Tiere anerkennt, befürwortet Nelson also direkte Pflichten gegen Tiere um ihrer selbst willen.
247 Diese Pflichten gegenüber Tieren beruhen in seiner Theorie darauf, dass Tiere Interessen haben. Zur Entkräftung des (empirischen) Einwandes, dass Tiere womöglich gar keine Interessen hätten, verweist Nelson auf die Notwendigkeit eines Analogieschlusses, der an Montaignes Methodenkritik erinnert: Beim Menschen werde vom äusserlich wahrnehmbaren Verhalten auf innere Vorgänge geschlossen. Wenn dieses Vorgehen zulässig sei, dann müsse man es auch bei Tieren anwenden. Wenn es unzulässig sei, dann dürfe man konsequenterweise auch bei Menschen keine Interessen und damit keine Rechte befürworten.
248
Das Sittengesetz wendet Nelson auf sämtliche tierlichen Interessen an, so auch auf das Interesse am eigenen Leben. Damit kommt er für die Frage der Tötung nun zu einem gänzlich anderen Resultat als viele seiner Vorgänger:
«Die Antwort ergibt sich leicht, wenn wir nur die Frage stellen, ob wir, wenn wir selber schmerzlos getötet würden, darum in unsere Tötung einwilligen würden. Wir würden nicht einwilligen, weil unser Interesse am Leben durch die Tötung verletzt wird, mag die Tötung so schmerzlos oder so grausam sein, wie sie will.»249
In einer ungeteilten Ethik müssen die eigenen Wertentscheidungen also konsequent auf Menschen und Tiere angewendet werden, ist Nelson überzeugt: Wer das Interesse des Menschen am Leben als so hoch einschätzt, dass Menschen nicht getötet werden dürfen, muss dieses Prinzip deshalb auch auf Tiere anwenden. Die gleichen Fragen, die gleichen betroffenen Interessen, dürfen nicht in Bezug auf Tiere plötzlich anders gewertet werden als in Bezug auf Menschen. Dies ist für Nelson ein Gebot der Gerechtigkeit. Daraus folgt die Forderung nach einer vegetarischen Ernährung.
Das nelsonsche Sittengesetz verlangt also bei jeder Interessenkollision nach einer
gerechten Abwägung zwischen tierlichen und menschlichen Interessen, ohne nach dem Träger des betroffenen Interesses zu unterscheiden. Denn nach Nelson gebührt weder Mensch noch Tier ein
genereller Vorzug. Vielmehr sei im
Einzelfall zu entscheiden, welches Interesse überwiege und wie weit das betroffene Interesse hierfür verletzt werden dürfe:
«In jedem Fall einer Kollision zwischen unserem Interesse und dem eines Tieres müssen wir vielmehr nach gerechter Abwägung entscheiden, welches Interesse den Vorzug verdient. So kann es sehr wohl erlaubt sein, das Interesse eines Tieres zu verletzen, wenn sonst ein überwiegendes Interesse verletzt würde. Aber hier ist auch sogleich die Grenze gesetzt, wie weit die Verletzung gehen darf. Die Erlaubnis lässt sich nur ableiten unter der Voraussetzung, dass wirklich eine Kollision vorliegt, was von Fall zu Fall bewiesen werden muss. Ist dieser Nachweis geführt, so fragt es sich ferner, auf welcher Seite das überwiegende Interesse liegt. Keinesfalls ist es zulässig, das Interesse des Tieres ohne weiteres als minderwertig anzusehen und es daraufhin zu verletzen. Das gilt folgerichtig auch für den Fall, dass es nicht möglich ist, das Interesse am eigenen Leben oder an der Erhaltung der eigenen geistigen oder körperlichen Kräfte anders zu wahren als durch die Vernichtung eines Tierlebens.»250
Personen sind also Wesen, die Anspruch auf die Achtung ihrer Interessen haben. Damit sind alle Personen als Rechtssubjekte zu behandeln. Sie können deshalb nach Nelson auch nicht Gegenstand von Eigentumsrechten sein. Das gilt für unvernünftige Wesen, die entweder «keiner vernünftigen Einsicht fähig» sind oder «sich doch nicht durch sie zum Handeln bestimmen lassen» können genauso. Dazu zählen Tiere, Kinder oder – in der damaligen Terminologie – Geisteskranke. Erstere, weil sie bereits definitionsgemäss nicht zu einer vernünftigen Selbstbestimmung in der Lage sind, zweitere, weil sie diese Fähigkeit noch nicht entwickelt haben, und letztere, weil sie diese Fähigkeit krankheitsbedingt verloren haben. Für diese Personenkategorien verlangt Nelson deshalb ein Vormundschaftsrecht, welches ihre Interessen nach dem «Gesetz der persönlichen Gleichheit» schützt.
251 Denn es sei ein Gebot der Gerechtigkeit, dass «jede Person als solche mit jeder anderen die gleiche Würde» habe – und damit eben auch den gleichen Anspruch auf Achtung ihrer Interessen.
Der Anspruch auf die gleiche Würde ist in Nelsons Theorie allerdings formaler Natur. Er macht noch keine Aussage darüber, ob der Wert der Personen gleich sei. Das Prinzip der persönlichen Gleichheit verlangt aber in seinen Augen die gleiche Berücksichtigung der Interessen – ein Prinzip, das später auf gänzlich anderer philosophischer Grundlage von Peter Singer populär gemacht wurde.
252 In welcher Form der Interessenschutz für «unmündige Personen» rechtlich ausgestaltet werden soll, will Nelson dem Gesetzgeber überlassen. Er sieht hierfür grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder werden mündige Personen gesetzlich zur Übernahme der Vormundschaft verpflichtet oder aber «das Gesetz selbst» übt die Vormundschaft aus.
253 Letzteres ist wohl derart zu verstehen, dass nicht eine Privatperson, sondern eine Behörde die Interessen der «unmündigen Personen» schützt, indem sie ihre Rechte stellvertretend wahrnimmt. Nelson betont allerdings, dass auch in einer Vormundschaftskonstellation immer von den Rechten des Unmündigen als Rechtssubjekt ausgegangen werden müsste und diese nicht etwa mit einer Begründung von Rechten des Vormundes verwechselt werden dürfte. Eine Vormundschaft bringe nämlich vor allem eine Pflicht des Vormundes gegen den Unmündigen mit sich und erst in zweiter Linie – zur Erfüllung dieser Aufgabe – Rechte des Vormunds.
254 Die Vormundschaft hat demnach nicht den Zweck, die Rechte des Vormundes zu mehren. Die unmündige Person darf keinesfalls in die Nähe eines Eigentumsobjekts des Vormundes gerückt werden.