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Open Access 2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

11. Gemeinsam zu Hause? Birlikte evde? Wohnalternativen für pflegebedürftige türkische Migrantinnen und Migranten

verfasst von : Christoph Bräutigam, Michael Cirkel

Erschienen in: Wohnen und Gesundheit im Alter

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Die erste Generation der sogenannten „Gastarbeiter“ erreicht momentan das Rentenalter. In der Folge gewinnt die Unterstützung und Versorgung älterer Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ebenso an Bedeutung (Tezcan-Güntekin H, Breckenkamp J, Razum O, Pflege und Pflegeerwartungen in der Einwanderungsgesellschaft. Expertise im Auftrag der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2015) wie die Frage, ob sich aufgrund der Migrationssituation, kultureller Spezifika oder der sozialen Lage besondere Anforderungen an die Versorgung stellen.
Hinweise
Der Beitrag stellt in stark gekürzter Form die Ergebnisse einer Studie für den Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen vor, der 2016 vorgelegt wurde. Der komplette Bericht steht als Download unter: https://​www.​gkv-spitzenverband.​de/​media/​dokumente/​pflegeversicheru​ng/​forschung/​projekte_​wohnen_​45f/​projekttyp_​c/​2017_​01_​IAT-Endbericht_​tuerkische_​Migranten.​pdf zur Verfügung.

11.1 Ausgangslage

Die erste Generation der sogenannten „Gastarbeiter“ erreicht momentan das Rentenalter. In der Folge gewinnt die Unterstützung und Versorgung älterer Menschen mit Zuwanderungsgeschichte ebenso an Bedeutung (Tezcan-Güntekin et al., 2015) wie die Frage, ob sich aufgrund der Migrationssituation, kultureller Spezifika oder der sozialen Lage besondere Anforderungen an die Versorgung stellen.
Nach wie vor liegen nur wenige Befunde zur Pflegebedürftigkeit und zu Pflegebedarfen von älteren Migrantinnen und Migranten vor. Tezcan-Güntekin et al. geben einen Überblick über die Studienlage zu diesem Themenkomplex (2015). Die verfügbaren Sekundärdaten (z. B. Zok & Schwinger, 2015, www.​destatis.​de) beziehen sich auf die Gesamtbevölkerung und unterscheiden nicht nach Staatsangehörigkeit oder Migrationsstatus und Alter. Unzureichende migrationsspezifische Daten der Pflegeberichterstattung erschweren die Einschätzung der Situation.
Im Vergleich zu deutschstämmigen Älteren lassen sich in mehrfacher Hinsicht Unterschiede nachweisen, insbesondere hinsichtlich der gesundheitlichen und ökonomischen Situation. Viele ältere Türkeistämmige sind nach verbreiteter Einschätzung in pflegerischer Hinsicht unterversorgt (Algül & Mielck, 2005; Krobisch et al., 2014). Bereits Schenk (2014) kommt auf Grundlage einer Befragung von 194 türkeistämmigen Personen allerdings zu dem Ergebnis, dass die Offenheit gegenüber professionellen Pflegearrangements deutlich größer ist als angenommen, nur 16 % lehnen die Unterstützung durch Pflegedienste generell ab. Demgegenüber lehnen mehr als die Hälfte (58 %) der Befragten die Versorgung in einer stationären Pflegeeinrichtung ab.
Ziel der Studie war es zum einen, die Bedarfe und Bedürfnisse Türkeistämmiger in Deutschland im Hinblick auf das Leben im Alter zu erheben, um eine belastbare Datenbasis insbesondere zu den Themen Wohnen im Alter, Pflegebedürftigkeit, Demenz und alternative Wohnformen zu schaffen. Zum anderen sollte gemeinsam mit türkeistämmigen Migrantinnen und Migranten Wissen zu den Möglichkeiten und der Akzeptanz gemeinschaftlichen Wohnens außerhalb der klassischen Pflegeeinrichtung erarbeitet werden. Gesucht wurden kulturell akzeptable Formen gemeinschaftlichen Wohnens, die bedarfsgerechte Lösungen bieten zwischen der nicht mehr möglichen eigenen Wohnung und der stationären Pflegeeinrichtung.

11.2 Mehrstufiges Studiendesign

Die Untersuchung wurde nach der Logik der Methodentriangulation (Flick, 2011, S. 75 ff.; Kromrey, 1988) in mehrere sich ergänzende Teilstudien mit jeweils unterschiedlichen methodischen Zugängen aufgebaut. Auf Basis einer Internet- und Literaturrecherche wurden drei teilweise gleichzeitig durchgeführte qualitative Vorstudien realisiert. Diese hatten eine explorative Funktion angesichts des weitgehend unerforschten Untersuchungsgegenstands. Darauf aufbauend wurde eine telefonische Befragung durchgeführt.
Interviews mit Expert*innen sollten eine belastbare Wissensbasis aus der Außensicht generieren, um die Bedarfe und Bedürfnisse älterer türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten aus verschiedenen professionellen Perspektiven zu erfassen. Zudem dienten diese Gespräche mit fachlichen Akteuren zur Vorbereitung der anschließenden Gruppendiskussionen und zum Abgleich mit den Ergebnissen der biografischen Interviews und Gruppendiskussionen. Die zwölf Interviewten1 kamen aus den Bereichen der ambulanten und stationären Pflege, der Wohnberatung, aus Einrichtungen der Kommunen und des Landes, der Wohnungswirtschaft sowie vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung.
In biografisch-narrativen Interviews mit zehn älteren Türkeistämmigen sollte den Gründen und Motiven dafür nachgespürt werden, warum Alternativen jenseits der häuslichen Pflege bisher wenig in Anspruch genommen werden. Dabei wurde angenommen, dass die Befragten in ihrer Familien-, Erwerbs- sowie Gesundheitsbiografie Erfahrungen gemacht haben, die sich auf die strukturellen, sozialen und individuellen Bedingungen ihrer Lebensplanung und -einstellung auswirken. Die Analyse von typischen Biografien sollte auch zeigen, welche Faktoren sich potenziell hemmend bzw. fördernd auf die Akzeptanz von Gemeinschaftswohnformen auswirken. Dadurch sollten die Sicht- und Handlungsweisen der Befragten offengelegt und ihre Erklärung aus sozialen Bedingungen durch Anregung einer sukzessiv retrospektiven Erfahrungsaufbereitung ermöglicht werden (vgl. Schnell et al., 2008). Die Gespräche wurden in der Interviewsprache transkribiert (Türkisch) und dann ins Deutsche übersetzt. Die Auswertung der Interviews erfolgte in Form eines systematischen Fallvergleichs nach Gerhardt (vgl. Kluge, 2000a), wobei typische Konfigurationen im Sinne einer Typologie gesucht wurden, die Rückschlüsse auf Wünsche und Bedürfnisse im Alter und den Grad der Offenheit gegenüber neuen Wohnformen zulassen (vgl. Kluge, 2000b).
Um Schwierigkeiten bei der Gestaltung von Wohnkonzepten zu identifizieren und die in der Analyse der Biografien aufgezeigten Faktoren und ihre Wirkungen auf die Akzeptanz von Gemeinschaftswohnformen zu validieren bzw. zu spezifizieren, wurden zwei Gruppendiskussionen mit älteren Türkeistämmigen durchgeführt. Die beiden Gruppen wurden unter dem Gesichtspunkt einer möglichst großen Heterogenität zwischen den Gruppen und einer starken Homogenität innerhalb der Gruppen aus zwei Vereinen rekrutiert. Dabei wurden verschiedene Faktoren wie religiöse Praxis, Lebenslage und Bildungserfahrungen berücksichtigt. Die Analyse folgte dem Prinzip der dokumentarischen Interpretation (vgl. Bohnsack, 2008), mit dem Ziel, Hinweise auf kollektive Orientierungsmuster abzuleiten.
Auf Grundlage dieser qualitativen Teilstudien wurde eine computergestützte repräsentative Telefonbefragung mit 1.004 Türkeistämmigen im Alter von über 50 Jahren durchgeführt. Diese Befragung wurde in den meisten Fällen in türkischer Sprache auf Grundlage eines weitgehend standardisierten Fragebogens durchgeführt. Zur Interpretation der Daten ist zu bemerken, dass die befragten Personen mit der Thematik nicht vertraut waren und es notwendig war, Begriffe aus dem Spektrum der alternativen Wohnformen wie auch der Pflege kurz zu erläutern. Gewisse Unstimmigkeiten und Missverständnisse waren dabei kaum zu vermeiden. Dies gilt insbesondere für Fragen im direkten Bezug zu Senioren-WG, Hausgemeinschaften, Demenz-WG u. Ä.

11.3 Ausgewählte Ergebnisse

11.3.1 Interviews mit Expert*innen

Die These, dass die Wünsche türkeistämmiger Menschen hinsichtlich ihrer Lebensgestaltung im Alter grundsätzlich von denen der deutschen Bevölkerung abweichen, wurde nicht bestätigt. Übereinstimmend wurde die religiöse und ethnische Heterogenität der türkischstämmigen Bevölkerung hervorgehoben. Besondere Anforderungen an eine Wohnform wurden vor allem hinsichtlich der Sprache und der Essgewohnheiten gesehen, zumal insbesondere demenzielle Erkrankungen vom Verlust der Zweitsprachfähigkeit und einer Rückbesinnung auf traditionelle Verhaltensmuster geprägt sind.
Die Akzeptanz von Gemeinschaftswohnformen wird von den Befragten als gering eingeschätzt. Altersbedingt auftretende physische Einschränkungen würden zu 99 % innerhalb der Familie aufgefangen, selten unter Hinzuziehung eines Pflegedienstes. Ein Argument für die Pflege außerhalb der Familie könnte vor allem die (psychische) Belastung der pflegenden Angehörigen durch demenziell bedingte Veränderungen wie aggressives Verhalten, Sprachverlust, Hinlauftendenzen usw. sein. In Bezug auf die Wohnungseinrichtung wurden vor allem von den Interviewten mit Migrationshintergrund nur geringe Unterschiede zur Einrichtung für „deutsche“ Senioren gesehen. Das Bemühen um eine „angepasste“ kulturspezifische Wohnungseinrichtung wurde mit Verweis auf die Einrichtung türkischer Privatwohnungen in Deutschland als gut gemeint, aber nicht der Realität entsprechend bezeichnet. Die Möglichkeit zur Gestaltung der eigenen Wohnung bzw. des eigenen Zimmers, wie sie dem üblichen Standard bei WG-Lösungen entspricht, sollte auf jeden Fall gegeben sein.
Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die interviewten Expertinnen und Experten die Konzeption der herkömmlichen betreuten Pflege- bzw. Demenz-WG als Grundlage für eine entsprechende Wohnform für türkeistämmige Personen für geeignet halten, allerdings hinsichtlich der Umsetzung Schwierigkeiten sehen.

11.3.2 Biografische Interviews

Die Befunde aus den biografisch-narrativen Interviews lassen sich nur bedingt auf kulturelle oder andere allgemeine Merkmale zurückführen. Es wurde vielmehr die Bedeutung der individuellen Erfahrungen deutlich. Dabei erwiesen sich sowohl das subjektive Wohlbefinden in Deutschland bzw. am aktuellen Wohnort als auch Ressourcen und Erfahrungen im familialen Umfeld als wichtige Einflussgrößen auf die (geplante) Lebensgestaltung im Alter.
Negative Äußerungen zu gemeinschaftlichen Wohnformen finden sich in den Interviews lediglich bei Personen, die in ihrem Leben Probleme damit hatten, soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten. Ebenso zeigt sich, dass eine Partizipation am Arbeitsmarkt sich fördernd auf die Akzeptanz von alternativen Wohnformen auswirkt. Besonders deutlich wird dieser Effekt bei weiblichen Befragten, die zuvor nicht erwerbstätig waren. Das Zusammenleben mit Gleichgesinnten scheint vor allem für diejenigen positiv besetzt zu sein, die bereits die faktische Abnahme der familialen Potenziale realisiert haben.
Insgesamt sind die Befragten vom Nutzen der Gemeinschaftswohnform überzeugt. Sechs von zehn Personen würden sie im Alter für sich selbst in Erwägung ziehen, drei weitere fanden dieses Modell für Menschen in anderen Lebenslagen, z. B. für Alleinstehende, gut geeignet. Lediglich eine Person hatte eine vollkommen ablehnende Haltung gegenüber allen Alternativen zur häuslichen Versorgung durch Familienangehörige. Insgesamt wurde das Gemeinschaftswohnmodell mit einer familienähnlichen Lebensführung verglichen und weniger mit stationärer Versorgung in Verbindung gebracht.
Bei der Analyse konnte durchgängig ein Zusammenhang zwischen dem 1) Rückkehrwunsch in das Herkunftsland, dem 2) Wohn- und Versorgungswunsch bei Pflegebedarf sowie der 3) Akzeptanz von Wohngemeinschaften festgestellt werden, woraus sich folgende zentrale Korrelationen ableiten ließen:
1.
Je stärker der Rückkehrwunsch in das Herkunftsland, desto geringer fällt die Akzeptanz von Gemeinschaftswohnformen aus.
 
2.
Je autonomieorientierter der Wohn- und Versorgungswunsch bei Pflegebedarf ist, desto höher fällt die Akzeptanz von Gemeinschaftswohnformen aus.
 
Es konnten hinsichtlich der Einstellungen drei Typen (traditionell-religiöser Typ (I), liberal-säkularer Typ (II), pragmatischer Typ (III)) abgeleitet werden, von denen Typ II und Typ III eine hohe interne Homogenität hinsichtlich ihrer Einstellung zu Wohnalternativen und Lebensführung aufwiesen, auch wenn ihr biografischer Hintergrund und ihre Wertekonzepte relativ weit auseinanderlagen.
Hinsichtlich des Lebens im Alter werden vom traditionell-religiösen Typ Alternativen zur Pflege zu Hause kaum in Erwägung gezogen. Auch bei positiv ausfallenden Meinungen zu alternativen Wohnformen werden diese stets generalisiert und auf Menschen in „anderen Lebenslagen“ übertragen. Bei den beiden anderen Typen hat das Gemeinschaftswohnmodell eine höhere Attraktivität, wenn auch aus einer unterschiedlichen Grundhaltung heraus.

11.3.3 Gruppendiskussionen

Die Ergebnisse der Gruppendiskussionen bestätigen die in der aktuellen Forschung postulierte Heterogenität von individuellen Altersbildern ebenso wie die Bedeutung der persönlichen Biografie. Beim Einstieg in die Diskussion zeigte die Gruppe mit dem höheren Bildungsniveau und höherer Freizeitaktivität wider Erwarten eine zunächst ablehnende Haltung gegenüber Gemeinschaftswohnformen. Es stellte sich aber heraus, dass die Gruppe nicht das Modell an sich schlecht findet, sondern den fehlenden Einbezug jüngerer Generationen. In der Diskussion wurden relativ klare Vorstellungen erarbeitet, wie und unter welchen Umständen eine WG eine Alternative für das Alter darstellen könnte, dabei war es das vorherrschende Pflegeideal, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und dennoch engen Kontakt zur Familie zu haben. Als Gründe für den Einzug in eine WG wurden veränderte Lebensumstände, wie der Wegfall von pflegenden Angehörigen, und eine nicht (mehr) altersgerechte Wohnung genannt. Einzugskriterien sind:
  • gemeinsame Sprache und Religion mit den Mitbewohnern
  • muttersprachliches Pflegepersonal (selbst bei guten Deutschkenntnissen)
  • auf Wunsch geschlechtliche Trennung von Wohngruppen
  • Mitbestimmungsrecht
  • regelmäßiger Kontakt zu den Angehörigen
  • produktive Freizeitbeschäftigung (z. B. Werkstatt oder Garten)
  • regelmäßige soziale Aktivitäten (Theater, Musik, Sport)
  • vorzugsweise Erdgeschosswohnung mit Garten
Die Einschätzung der zweiten Gruppe fällt schwerer, weil die Teilnehmenden Schwierigkeiten hatten, sich mit dem Thema differenziert auseinanderzusetzen, und eher die Position der „dritten Person“ einnahmen. Der Gruppe fehlten konkrete Vorstellungen vom Leben im Alter jenseits der Familie, da sie sich mit einer Alternative zur Pflege durch die eigenen Kinder bisher nicht auseinandergesetzt hatte. Die Wünsche konnten nicht differenziert formuliert werden und es fehlten sowohl Ideen als auch Begriffe, ihre Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Der Informationsstand über Leistungen der Pflegeversicherung und Unterstützungsmöglichkeiten des Lebens im Alter bis hin zu alternativen Wohnformen außerhalb von Familienpflege und stationärer Pflege waren äußerst gering. Das Leben in einer Gemeinschaftswohnform war nur akzeptabel in Abgrenzung zum Pflegeheim, wurde aber auf keinen Fall als Alternative zur Pflege durch die Kinder gesehen.

11.3.4 Ausgewählte Befunde der quantitativen Befragung

Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse der CATI-Befragung in komprimierter Form dargestellt. Nach einem knappen Überblick über verschiedene allgemeine Aspekte werden hier vor allem ausgewählte wohnbezogene Ergebnisse vorgestellt.
Soziodemografische Merkmale
Insgesamt wurden 1.004 Personen telefonisch befragt,2 darunter 492 Männer (49 %) und 512 Frauen (51 %). Im Durchschnitt waren sie zum Zeitpunkt der Befragung 60,6 Jahre alt, die jüngste Teilnehmerin war 50, die älteste 85 Jahre alt. 82,8 % der Befragten leben bereits seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. 27,6 % der Befragten leben in einer Großstadt, 50,6 % in einer Klein- oder Mittelstadt (5.000 bis unter 100.000 Einwohner) und 20,7 % leben auf dem Land (1,1 % machten keine Angaben). Ihren Gesundheitszustand schätzen die Befragten als überwiegend gut ein, nur 4,8 % beurteilen ihn als eher oder sehr schlecht. Weniger als 2 % der Befragten waren von Pflegebedürftigkeit betroffen oder haben sich bereits mit diesem Thema auseinandergesetzt.
Bei den Befragten handelt es sich zu 49,3 % um sunnitische Muslime und zu 37,1 % um Muslime ohne nähere Angabe, von denen sich viele als weniger religiös bezeichnen. Neben 7,5 % Aleviten sind andere Glaubensgruppen nur in geringem Umfang vertreten. Hinsichtlich der Ausprägung ihrer eigenen Religiosität bezeichnen sich insgesamt 15 % als sehr religiös, 52 % als eher religiös und 18,5 % als eher nicht oder gar nicht religiös. 14,5 % wollten hierzu keine Angabe machen.
Im Mittel leben die Befragten seit 16,9 Jahren in ihrer jetzigen Wohnung, 40,4 % leben seit 10 bis 19 Jahren dort, 21,2 % zwischen 20 und 29 Jahren und 13,4 % bereits seit 30 Jahren oder länger.
Altersgerechtes Wohnen
Für fast 60 % der Befragten ist klar, dass sie in der eigenen Wohnung bleiben möchten, auch wenn diese nicht altersgerecht ist. 11,2 % ziehen Umbaumaßnahmen in Betracht. Eine Änderung der momentanen Wohnsituation kommt nur für 21,1 % der Befragten infrage. Von diesen können sich 16 % einen Umzug wegen fehlender Barrierefreiheit vorstellen, 9,4 % wollen in die Nähe ihrer Angehörigen ziehen und 9 % geben das Eintreten von Pflegebedürftigkeit als möglichen Grund an. Personen, die sich einen Umzug vorstellen können, nennen als erforderliche Ausstattungsmerkmale ein Telefon, ein behindertengerechtes Bad, Barrierefreiheit sowie einen Fernseher und einen Freisitz bzw. Balkon. Internetanschluss, besondere Sicherheitseinrichtungen oder größere Bewegungsflächen für Rollatoren oder Rollstühle wurden als weniger wichtig erachtet. Unter dem Aspekt der Kommunikation nimmt das Telefon, wie bereits oben gezeigt, eine zentrale Rolle ein. Für über 78 % ist es nicht wegzudenken (sehr wichtig). Erst mit einigem Abstand wird der Hausnotruf genannt (64,9 %). Überraschenderweise erscheint noch vor dem Wunsch nach intelligenter Haustechnik, einem Internetanschluss oder dem Wunsch nach Videotelefonie der Wunsch nach einer Türkamera (48,1 %), obwohl die Sicherheitstechnik in der vorhergehenden Frage von eher untergeordneter Bedeutung war. Die Schlusslichter unter den gewünschten technischen Unterstützungssystemen bilden Informationsportale zu den Themen Gesundheit und Alter, die nur ca. 20 % der Befragten für wichtig hielten.
Altersgerechtes Wohnen jenseits des Pflegeheims stellt für den überwiegenden Teil der Befragten eine Alternative zum Verbleib in der eigenen Wohnung dar. Bevorzugt (66,9 %) wird die Hausgemeinschaft genannt, die es trotz eigener Wohnung ermöglicht, mit gegenseitiger Unterstützung und Gemeinschaftsaktivitäten zu leben. An zweiter Stelle (62,6 %) rangiert betreutes Wohnen in einer Anlage mit entsprechenden Serviceleistungen. Nur 15,4 % der Befragten können sich vorstellen, in einer Seniorenwohnung ohne Serviceleistungen zu leben. 32,2 % der Befragten würden in einer Wohnung mit anderen leben, wenn sie ein eigenes Apartment hätten, 27,2 % auch dann, wenn sie nur ein Zimmer hätten. Damit ist insgesamt die Zustimmung zu einer gemeinschaftlichen Wohnform außerhalb der Familie höher als erwartet. Eine ähnliche Grundtendenz weisen die Wohnwünsche der 65 bis 85-Jährigen in der Gesamtbevölkerung auf. Sie präferieren, sobald die Option der eigenen Wohnung nicht mehr gegeben ist, das Seniorenwohnheim. Eine Wohngemeinschaft mit anderen Älteren wünschen sich lediglich 12 % aller Älteren (Generali Altersstudie, 2013, S. 309).
Trotz niedrigem Informationsstand und -interesse zu Wohnen im Alter sind einzelne Modelle durchaus bekannt. Der Bekanntheitsgrad des WG-Konzepts liegt mit 66,5 % unter dem der Gruppe der Über-50-Jährigen in der Allgemeinbevölkerung von 89,9 % (Zok & Schwinger, 2015, S. 32). Lediglich 6,3 % Befragten haben sich bereits näher mit dieser Wohnform beschäftigt (Vergleichsgruppe 29,2 %) (ebenda, S. 33).
Die Attraktivität einer Wohngruppe für Pflegebedürftige wird von 29,6 % der Befragten als sehr hoch oder hoch eingeschätzt (Vergleichswert nach Zok & Schwinger, 2015: 39,0 %, bei allerdings leicht abweichender Fragestellung), 24,8 % sind unentschlossen und 39,8 % (Vergleichswert 31,2 %) empfinden eine Pflegewohngruppe als eher nicht oder gar nicht attraktiv.
Gründe für den Einzug in eine Pflege-WG werden in erster Linie in den unmittelbaren Lebensumständen gesehen, vor allem in der familiären Situation, d. h., es gibt keinen Partner (56,1 %) oder keine Angehörigen (50,7 %). Als weiterer Grund wird das Eintreten von Schwerstpflegebedürftigkeit genannt (56 %), für die im privaten Umfeld keine ausreichende Versorgung sichergestellt werden kann. Die Frage nach dem Alter, ab dem ein Einzug in eine Pflege-WG vorstellbar sei, wurde von über 18 % der Befragten damit beantwortet, dass dies gesundheitsabhängig sei.
Für 87,2 % der Befragten ist es sehr oder eher wichtig, weiter im gewohnten Wohnumfeld zu leben, 81,8 % betonten die Bedeutung des Kontakts zu anderen Generationen und für 79,5 % ist die Berücksichtigung kultureller Traditionen ein wichtiges Kriterium. Wichtig ist auch das Zusammenleben mit Menschen aus dem eigenen Kulturkreis (72,7 %) und der eigenen Glaubensgemeinschaft (66,5 %). 71,5 % finden muttersprachliches Pflegepersonal wichtig, 70 % die Möglichkeit, eine Moschee aufzusuchen, 64,6 % möchten einen Gebetsraum in der Wohnung und lediglich 53,4 % finden geschlechtlich getrennte Wohngemeinschaften wichtig. In der weiteren Betrachtung nach Einzelmerkmalen sind nur vereinzelt signifikante Zusammenhänge zu finden. So ist z. B. der Wunsch nach Berücksichtigung kultureller Traditionen, einem Gebetsraum und der kulturell homogenen Besetzung einer Wohngruppe umso größer, je geringer der formale Bildungsgrad und je höher der Grad der Religiosität sind. Der Wunsch nach Geschlechtertrennung ist bei Frauen deutlich stärker ausgeprägt als bei Männern. Die genannten Aspekte werden von den Befragten auf dem Land als wichtiger eingeschätzt als von der städtischen Bevölkerung.

11.4 Gemeinsam zu Hause: Fazit und Empfehlungen

Als zentrale Ergebnisse können festgehalten werden, dass:
  • die Offenheit gegenüber Alternativen zur Familienpflege größer ist, als erwartet;
  • die eigene Betroffenheit und individuelle Wertehaltung eine größere Rolle spielen als Ethnie und Religion;
  • der Gesundheitszustand und die Erwartung einer professionellen Versorgung hohe Bedeutung haben;
  • eindeutige Ablehnung gegenüber der stationären Pflege artikuliert wird;
  • von den als eher liberal einzuordnenden Befragten traditionelle Werte zwar auch gefragt sind, die Akzeptanz für Alternativen der pflegerischen Versorgung aber deutlich höher ist als bei eher traditionell eingestellten Personen.
Aufgrund der Befragungsergebnisse ergibt sich eine Priorisierung, die in gleicher Weise in der Allgemeinbevölkerung zu finden ist:
  • Betreuung und Pflege zu Hause solange wie möglich;
  • ebendies unter Zuhilfenahme eines professionellen Dienstleisters;
  • wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft sind: alternative, kleine Wohnformen mit familiärem Charakter;
  • Pflegeheim als letzte Option.
Für ältere türkeistämmige Menschen in Deutschland ist das Quartier als Heimat eine wesentliche Voraussetzung für ein gutes Leben im Alter. Die Wohnform ist demgegenüber weniger von Bedeutung, solange es sich nicht um ein Pflegeheim handelt. Unabhängig von der Art des Wohnens im Alter gilt für viele die soziale Isolation als Gefahr. Als wichtiges Argument für eine Pflege-Wohngemeinschaft gilt die dort gegebene professionelle pflegerische und medizinische Betreuung. Generell kann festgestellt werden, dass für den Gesamtkomplex Alter, Gesundheit und Pflege erhebliche Informationsdefizite bestehen. Das Ziel der Studie war es, die Offenheit von Türkeistämmigen gegenüber alternativen Gemeinschaftswohnformen, insbesondere Pflege- oder Demenz-Wohngemeinschaften, zu ergründen. Dementsprechend gab es keine deutschstämmige Vergleichsgruppe, die parallel untersucht worden wäre und einen exakten Vergleich erlauben würde. Auf Basis der vorhandenen Literatur, zeichnen sich insgesamt in den wesentlichen Einstellungen und Erwartungen zum Wohnen im Alter nur geringe Unterschiede zur allgemeinen Bevölkerung (Zok & Schwinger, 2015) ab.
In einigen Punkten sollten sich Wohnangebote, die sich an Türkeistämmige richten, allerdings besonders profilieren. Ein wichtiger Aspekt ist die sprachliche und kulturelle Kompetenz des Personals, auch bei Personen, die schon seit Jahrzehnten in Deutschland leben. Muttersprachliches Betreuungs- und Pflegepersonal ist ein wesentlicher Qualitätsfaktor. Dieser Aspekt wird umso wichtiger, wenn sich eine demenzielle Erkrankung einstellt.
Die folgende Abbildung zeigt – von innen (höchste Bedeutung) nach außen (weniger bedeutend) – die Wichtigkeit der geäußerten Wohnwünsche. Die im inneren Kreis der Abb. 11.1 genannten Bedürfnisse sind für die Mehrzahl der Befragten zwingend notwendig, um sich in einer Gemeinschaftswohnform wohlzufühlen.
Hinsichtlich der Einrichtung und Ausstattung der Gemeinschaftswohnung ergeben sich kaum Anpassungsnotwendigkeiten, da die Mieterinnen und Mieter zum einen frei in der Gestaltung des eigenen Wohnraums sind und zum anderen ohnehin (meist längst) die deutschen Standards übernommen haben. Vor allem in den qualitativen Interviews wurden räumliche Wünsche geäußert, die im Rahmen von Neu- oder Umbaumaßnahmen leicht zu verwirklichen sind.
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Fußnoten
1
Die interviewten Expert*innen setzten sich folgendermaßen zusammen: 4 weiblich, 8 männlich; 4 Türkeistämmige, 8 Deutsche.
 
2
Zufallsauswahl. Basis: Festnetzanschlüsse in Deutschland.
 
Literatur
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Metadaten
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Gemeinsam zu Hause? Birlikte evde? Wohnalternativen für pflegebedürftige türkische Migrantinnen und Migranten
verfasst von
Christoph Bräutigam
Michael Cirkel
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-34386-6_11