11.3.1 Interviews mit Expert*innen
Die These, dass die Wünsche türkeistämmiger Menschen hinsichtlich ihrer Lebensgestaltung im Alter grundsätzlich von denen der deutschen Bevölkerung abweichen, wurde nicht bestätigt. Übereinstimmend wurde die religiöse und ethnische Heterogenität der türkischstämmigen Bevölkerung hervorgehoben. Besondere Anforderungen an eine Wohnform wurden vor allem hinsichtlich der Sprache und der Essgewohnheiten gesehen, zumal insbesondere demenzielle Erkrankungen vom Verlust der Zweitsprachfähigkeit und einer Rückbesinnung auf traditionelle Verhaltensmuster geprägt sind.
Die Akzeptanz von Gemeinschaftswohnformen wird von den Befragten als gering eingeschätzt. Altersbedingt auftretende physische Einschränkungen würden zu 99 % innerhalb der Familie aufgefangen, selten unter Hinzuziehung eines Pflegedienstes. Ein Argument für die Pflege außerhalb der Familie könnte vor allem die (psychische) Belastung der pflegenden Angehörigen durch demenziell bedingte Veränderungen wie aggressives Verhalten, Sprachverlust, Hinlauftendenzen usw. sein. In Bezug auf die Wohnungseinrichtung wurden vor allem von den Interviewten mit Migrationshintergrund nur geringe Unterschiede zur Einrichtung für „deutsche“ Senioren gesehen. Das Bemühen um eine „angepasste“ kulturspezifische Wohnungseinrichtung wurde mit Verweis auf die Einrichtung türkischer Privatwohnungen in Deutschland als gut gemeint, aber nicht der Realität entsprechend bezeichnet. Die Möglichkeit zur Gestaltung der eigenen Wohnung bzw. des eigenen Zimmers, wie sie dem üblichen Standard bei WG-Lösungen entspricht, sollte auf jeden Fall gegeben sein.
Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die interviewten Expertinnen und Experten die Konzeption der herkömmlichen betreuten Pflege- bzw. Demenz-WG als Grundlage für eine entsprechende Wohnform für türkeistämmige Personen für geeignet halten, allerdings hinsichtlich der Umsetzung Schwierigkeiten sehen.
11.3.2 Biografische Interviews
Die Befunde aus den biografisch-narrativen Interviews lassen sich nur bedingt auf kulturelle oder andere allgemeine Merkmale zurückführen. Es wurde vielmehr die Bedeutung der individuellen Erfahrungen deutlich. Dabei erwiesen sich sowohl das subjektive Wohlbefinden in Deutschland bzw. am aktuellen Wohnort als auch Ressourcen und Erfahrungen im familialen Umfeld als wichtige Einflussgrößen auf die (geplante) Lebensgestaltung im Alter.
Negative Äußerungen zu gemeinschaftlichen Wohnformen finden sich in den Interviews lediglich bei Personen, die in ihrem Leben Probleme damit hatten, soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten. Ebenso zeigt sich, dass eine Partizipation am Arbeitsmarkt sich fördernd auf die Akzeptanz von alternativen Wohnformen auswirkt. Besonders deutlich wird dieser Effekt bei weiblichen Befragten, die zuvor nicht erwerbstätig waren. Das Zusammenleben mit Gleichgesinnten scheint vor allem für diejenigen positiv besetzt zu sein, die bereits die faktische Abnahme der familialen Potenziale realisiert haben.
Insgesamt sind die Befragten vom Nutzen der Gemeinschaftswohnform überzeugt. Sechs von zehn Personen würden sie im Alter für sich selbst in Erwägung ziehen, drei weitere fanden dieses Modell für Menschen in anderen Lebenslagen, z. B. für Alleinstehende, gut geeignet. Lediglich eine Person hatte eine vollkommen ablehnende Haltung gegenüber allen Alternativen zur häuslichen Versorgung durch Familienangehörige. Insgesamt wurde das Gemeinschaftswohnmodell mit einer familienähnlichen Lebensführung verglichen und weniger mit stationärer Versorgung in Verbindung gebracht.
Bei der Analyse konnte durchgängig ein Zusammenhang zwischen dem 1) Rückkehrwunsch in das Herkunftsland, dem 2) Wohn- und Versorgungswunsch bei Pflegebedarf sowie der 3) Akzeptanz von Wohngemeinschaften festgestellt werden, woraus sich folgende zentrale Korrelationen ableiten ließen:
1.
Je stärker der Rückkehrwunsch in das Herkunftsland, desto geringer fällt die Akzeptanz von Gemeinschaftswohnformen aus.
2.
Je autonomieorientierter der Wohn- und Versorgungswunsch bei Pflegebedarf ist, desto höher fällt die Akzeptanz von Gemeinschaftswohnformen aus.
Es konnten hinsichtlich der Einstellungen drei Typen (traditionell-religiöser Typ (I), liberal-säkularer Typ (II), pragmatischer Typ (III)) abgeleitet werden, von denen Typ II und Typ III eine hohe interne Homogenität hinsichtlich ihrer Einstellung zu Wohnalternativen und Lebensführung aufwiesen, auch wenn ihr biografischer Hintergrund und ihre Wertekonzepte relativ weit auseinanderlagen.
Hinsichtlich des Lebens im Alter werden vom traditionell-religiösen Typ Alternativen zur Pflege zu Hause kaum in Erwägung gezogen. Auch bei positiv ausfallenden Meinungen zu alternativen Wohnformen werden diese stets generalisiert und auf Menschen in „anderen Lebenslagen“ übertragen. Bei den beiden anderen Typen hat das Gemeinschaftswohnmodell eine höhere Attraktivität, wenn auch aus einer unterschiedlichen Grundhaltung heraus.
11.3.4 Ausgewählte Befunde der quantitativen Befragung
Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse der CATI-Befragung in komprimierter Form dargestellt. Nach einem knappen Überblick über verschiedene allgemeine Aspekte werden hier vor allem ausgewählte wohnbezogene Ergebnisse vorgestellt.
Soziodemografische Merkmale
Insgesamt wurden 1.004 Personen telefonisch befragt,
2 darunter 492 Männer (49 %) und 512 Frauen (51 %). Im Durchschnitt waren sie zum Zeitpunkt der Befragung 60,6 Jahre alt, die jüngste Teilnehmerin war 50, die älteste 85 Jahre alt. 82,8 % der Befragten leben bereits seit mehr als 30 Jahren in Deutschland. 27,6 % der Befragten leben in einer Großstadt, 50,6 % in einer Klein- oder Mittelstadt (5.000 bis unter 100.000 Einwohner) und 20,7 % leben auf dem Land (1,1 % machten keine Angaben). Ihren Gesundheitszustand schätzen die Befragten als überwiegend gut ein, nur 4,8 % beurteilen ihn als eher oder sehr schlecht. Weniger als 2 % der Befragten waren von Pflegebedürftigkeit betroffen oder haben sich bereits mit diesem Thema auseinandergesetzt.
Bei den Befragten handelt es sich zu 49,3 % um sunnitische Muslime und zu 37,1 % um Muslime ohne nähere Angabe, von denen sich viele als weniger religiös bezeichnen. Neben 7,5 % Aleviten sind andere Glaubensgruppen nur in geringem Umfang vertreten. Hinsichtlich der Ausprägung ihrer eigenen Religiosität bezeichnen sich insgesamt 15 % als sehr religiös, 52 % als eher religiös und 18,5 % als eher nicht oder gar nicht religiös. 14,5 % wollten hierzu keine Angabe machen.
Im Mittel leben die Befragten seit 16,9 Jahren in ihrer jetzigen Wohnung, 40,4 % leben seit 10 bis 19 Jahren dort, 21,2 % zwischen 20 und 29 Jahren und 13,4 % bereits seit 30 Jahren oder länger.
Altersgerechtes Wohnen
Für fast 60 % der Befragten ist klar, dass sie in der eigenen Wohnung bleiben möchten, auch wenn diese nicht altersgerecht ist. 11,2 % ziehen Umbaumaßnahmen in Betracht. Eine Änderung der momentanen Wohnsituation kommt nur für 21,1 % der Befragten infrage. Von diesen können sich 16 % einen Umzug wegen fehlender Barrierefreiheit vorstellen, 9,4 % wollen in die Nähe ihrer Angehörigen ziehen und 9 % geben das Eintreten von Pflegebedürftigkeit als möglichen Grund an. Personen, die sich einen Umzug vorstellen können, nennen als erforderliche Ausstattungsmerkmale ein Telefon, ein behindertengerechtes Bad, Barrierefreiheit sowie einen Fernseher und einen Freisitz bzw. Balkon. Internetanschluss, besondere Sicherheitseinrichtungen oder größere Bewegungsflächen für Rollatoren oder Rollstühle wurden als weniger wichtig erachtet. Unter dem Aspekt der Kommunikation nimmt das Telefon, wie bereits oben gezeigt, eine zentrale Rolle ein. Für über 78 % ist es nicht wegzudenken (sehr wichtig). Erst mit einigem Abstand wird der Hausnotruf genannt (64,9 %). Überraschenderweise erscheint noch vor dem Wunsch nach intelligenter Haustechnik, einem Internetanschluss oder dem Wunsch nach Videotelefonie der Wunsch nach einer Türkamera (48,1 %), obwohl die Sicherheitstechnik in der vorhergehenden Frage von eher untergeordneter Bedeutung war. Die Schlusslichter unter den gewünschten technischen Unterstützungssystemen bilden Informationsportale zu den Themen Gesundheit und Alter, die nur ca. 20 % der Befragten für wichtig hielten.
Altersgerechtes Wohnen jenseits des Pflegeheims stellt für den überwiegenden Teil der Befragten eine Alternative zum Verbleib in der eigenen Wohnung dar. Bevorzugt (66,9 %) wird die Hausgemeinschaft genannt, die es trotz eigener Wohnung ermöglicht, mit gegenseitiger Unterstützung und Gemeinschaftsaktivitäten zu leben. An zweiter Stelle (62,6 %) rangiert betreutes Wohnen in einer Anlage mit entsprechenden Serviceleistungen. Nur 15,4 % der Befragten können sich vorstellen, in einer Seniorenwohnung ohne Serviceleistungen zu leben. 32,2 % der Befragten würden in einer Wohnung mit anderen leben, wenn sie ein eigenes Apartment hätten, 27,2 % auch dann, wenn sie nur ein Zimmer hätten. Damit ist insgesamt die Zustimmung zu einer gemeinschaftlichen Wohnform außerhalb der Familie höher als erwartet. Eine ähnliche Grundtendenz weisen die Wohnwünsche der 65 bis 85-Jährigen in der Gesamtbevölkerung auf. Sie präferieren, sobald die Option der eigenen Wohnung nicht mehr gegeben ist, das Seniorenwohnheim. Eine Wohngemeinschaft mit anderen Älteren wünschen sich lediglich 12 % aller Älteren (Generali Altersstudie,
2013, S. 309).
Trotz niedrigem Informationsstand und -interesse zu Wohnen im Alter sind einzelne Modelle durchaus bekannt. Der Bekanntheitsgrad des WG-Konzepts liegt mit 66,5 % unter dem der Gruppe der Über-50-Jährigen in der Allgemeinbevölkerung von 89,9 % (Zok & Schwinger,
2015, S. 32). Lediglich 6,3 % Befragten haben sich bereits näher mit dieser Wohnform beschäftigt (Vergleichsgruppe 29,2 %) (ebenda, S. 33).
Die Attraktivität einer Wohngruppe für Pflegebedürftige wird von 29,6 % der Befragten als sehr hoch oder hoch eingeschätzt (Vergleichswert nach Zok & Schwinger,
2015: 39,0 %, bei allerdings leicht abweichender Fragestellung), 24,8 % sind unentschlossen und 39,8 % (Vergleichswert 31,2 %) empfinden eine Pflegewohngruppe als eher nicht oder gar nicht attraktiv.
Gründe für den Einzug in eine Pflege-WG werden in erster Linie in den unmittelbaren Lebensumständen gesehen, vor allem in der familiären Situation, d. h., es gibt keinen Partner (56,1 %) oder keine Angehörigen (50,7 %). Als weiterer Grund wird das Eintreten von Schwerstpflegebedürftigkeit genannt (56 %), für die im privaten Umfeld keine ausreichende Versorgung sichergestellt werden kann. Die Frage nach dem Alter, ab dem ein Einzug in eine Pflege-WG vorstellbar sei, wurde von über 18 % der Befragten damit beantwortet, dass dies gesundheitsabhängig sei.
Für 87,2 % der Befragten ist es sehr oder eher wichtig, weiter im gewohnten Wohnumfeld zu leben, 81,8 % betonten die Bedeutung des Kontakts zu anderen Generationen und für 79,5 % ist die Berücksichtigung kultureller Traditionen ein wichtiges Kriterium. Wichtig ist auch das Zusammenleben mit Menschen aus dem eigenen Kulturkreis (72,7 %) und der eigenen Glaubensgemeinschaft (66,5 %). 71,5 % finden muttersprachliches Pflegepersonal wichtig, 70 % die Möglichkeit, eine Moschee aufzusuchen, 64,6 % möchten einen Gebetsraum in der Wohnung und lediglich 53,4 % finden geschlechtlich getrennte Wohngemeinschaften wichtig. In der weiteren Betrachtung nach Einzelmerkmalen sind nur vereinzelt signifikante Zusammenhänge zu finden. So ist z. B. der Wunsch nach Berücksichtigung kultureller Traditionen, einem Gebetsraum und der kulturell homogenen Besetzung einer Wohngruppe umso größer, je geringer der formale Bildungsgrad und je höher der Grad der Religiosität sind. Der Wunsch nach Geschlechtertrennung ist bei Frauen deutlich stärker ausgeprägt als bei Männern. Die genannten Aspekte werden von den Befragten auf dem Land als wichtiger eingeschätzt als von der städtischen Bevölkerung.