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06.11.2019 | Getriebe | Interview | Online-Artikel

"Wir versuchen eine Punktlandung bei Getriebebauteilen"

verfasst von: Michael Reichenbach

4:30 Min. Lesedauer

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Im Interview erklärt Ferit Küçükay von der TU Braunschweig, was beim Thema User Experience neu entdeckt werden kann und weshalb ein Serienentwickler für Getriebe ein gebranntes Kind ist. 

ATZ _ springerprofessional.de: Lieber Herr Professor Küçükay, über das Thema User Experience entdecken die OEMs den Endkunden neu. Was wird nach Ihren Forschungsstudien zu oft am Kunden vorbei entwickelt?

Küçükay: Die Kenntnis über den Kundeneinsatz von Fahrzeugen stellt stets die Grundlage für das Anforderungsprofil des Gesamtfahrzeugs und seiner Aggregate und Bauteile dar. Leider wird dies oft unter Kosten- und Zeitdruck und durch die Verkürzung der Entwicklungszeiten nicht hinreichend berücksichtigt. Das Thema dieser Frage betrifft die Auslegung der Dauerhaltbarkeit und Funktionen von Fahrzeugen und damit ihrer Antriebe und Getriebe. Zur Kategorie der ersten Problematik gehört die vielfach vorhandene, stärkere Dimensionierung der Aggregate als notwendig – und zwar durch die fehlende Information über die repräsentativen Lastkollektive. Hier existieren noch bei fast allen Unternehmen Leichtbaupotenziale. In einigen Fällen kann sogar ohne wesentliche Änderung das vorhandene Aggregat für die nächsthöhere Drehmomentstufe eingesetzt werden. 

Was wir benötigen ist also eine markt- und kundenspezifische Dimensionierung und Auslegung der Aggregate: Wir versuchen hier eine Punktlandung bei den Getriebebauteilen. Das ist allerdings leichter gesagt als getan, weil ein erfahrener Serienentwickler ein gebranntes Kind ist und ein bereits problemlos in der Großserie laufendes Bauteil in der Regel gerne beibehalten möchte. Die kunden- und marktspezifische Dimensionierung ist in der zweiten Kategorie nur dann möglich, wenn die Funktionen und die Lebensdauer des Getriebes simultan überwacht und abgeschätzt werden können. Damit sind Ferndiagnosen und prädiktive Wartungen möglich. Auch dieser Themenkreis wird sowohl in der Forschung als auch in den Entwicklungsabteilungen verfolgt. Anfänge sind bei einigen OEMs bereits gemacht, und zukünftig werden diese Themen flächendeckend behandelt und eingesetzt. 

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Können Sie bitte ein Beispiel für eine am Kunden vorbei entwickelte Funktion nennen?

Ein Beispiel einer Fehlentwicklung einer Funktion betrifft die Betriebsstrategien, die zum Teil zu einem für den Kunden nicht nachvollziehbaren Fahrzeugverhalten führen. Dies kann etwa bei einem Aspekt der Antriebs- und Betriebsstrategie der Fall sein: Kommt wegen der sogenannten Schaltpunktadaption in der Getriebesteuerung eine für den Kunden nicht nachvollziehbare Schaltung zustande, so wird diese durch den Kunden zwangsläufig negativ bewertet, auch wenn die Entwicklungsingenieure vorher die entsprechende Adaption offensichtlich für sinnvoll hielten. Insofern ist die Antizipation der Erwartung seitens des Kunden die wesentliche Voraussetzung für die Konzipierung von kundengerechten Funktionen.

Neben dem Aspekt, Antriebs- und Betriebsstrategien am Endkunden auszurichten: Welche Forschungsprojekte laufen noch an Ihrem Institut IfF?

Unsere Getriebeforschungsprojekte sind stets in das Gebiet Gesamtfahrzeug und -antrieb eingebettet, weil gerade die Abbildung der kundenrelevanten Eigenschaften des Fahrzeugs und des Gesamtantriebs innerhalb des Getriebes von essentieller Bedeutung ist. Als fahrzeugtechnisches Institut haben wir hierzu sehr gute Voraussetzungen. Unsere Forschungsaufgaben im Bereich Fahrzeugantriebe beziehen sich auf alle Antriebsarten von konventionellen, hybriden und elektrischen Fahrzeugen. Vielfach geht es auch darum, ein passendes Antriebskonzept für eine bestimmte Fahrzeug- und Antriebsklasse zu finden oder ein vorhandenes Konzept zu optimieren.

Wie finden Sie das passende Antriebskonzept?

Die Grundlage stellt das Anforderungsmanagement mit repräsentativen Auslegungs- und Erprobungskriterien dar. Hierzu können wir unsere Simulationsmethoden heranziehen, die auf mehreren Millionen Messkilometern mit Fahrzeugen unterschiedlicher Klassen und Antriebstopologien basieren, und sich als sogenannte 3F-Methodik etabliert hat. Unter 3F verstehen wir die Bereiche "Fahrer, Fahrzeug und Fahrumgebung", deren Eigenschaften von essenzieller Bedeutung sind, wenn man die repräsentativen Anforderungen an die Auslegung und Erprobung von Antrieben und Getrieben ermitteln will.

Inwiefern spielen Reibung und Kühlung für die gute Auslegung eines Getriebes eine Rolle?

Insbesondere setzt die Optimierung der Betriebsstrategie die Kenntnis über das Thermomanagement voraus. Ferner ermöglicht die Identifizierung der zurückzulegenden Strecke hierbei eine signifikante Reduzierung des Energiebedarfs – und das bei gleichzeitiger Forderung nach einem steigenden Fahrkomfort.

Wo liegen weitere Schwerpunkte Ihrer Institutsarbeiten?

Im Bereich der Getriebe beschäftigen wir uns seit vielen Jahren intensiv mit der automatisierten Fahrzeugabstimmung, stets mit der Zielsetzung, die große Varianten- und Antriebsstrangvielfalt für den Automobilhersteller in der Applikation beherrschbar zu machen. Basis hierbei ist die objektive Bewertung des Anfahrvorgangs, des sogenannten Wiederanfahrvorgangs, des Schaltvorgangs sowie von weiteren Fahrmanövern. 

Andere unserer Forschungsfelder umfassen den Benchmark von neuen Antriebskonzepten hinsichtlich Effizienz, Fahrbarkeit, Kosten, Gewicht und Bauraum. Dazu zählen insbesondere die Vermessung des Triebstrangs sowie einzelner Komponenten auf dem Prüfstand hinsichtlich der Wirkungsgrade und Schleppverluste. Hier können wir auf hochmoderne Prüfstände zurückgreifen. Abgerundet werden unsere Aktivitäten im Bereich Fahrzeugantriebe durch Messungen, Simulationen und Modelle im Bereich der Akustik und Schwingungen von Antrieben und Getrieben. Interessant ist insbesondere die Ermittlung der Getriebegeräusche in BEVs oder PHEVs, da dort die Getriebegeräusche wegen der fehlenden Übertönung durch den Verbrennungsmotor besonders kritisch beurteilt werden.

Herr Professor Küçükay, Danke für das aufschlussreiche Gespräch.

Mehr vom Interview können Sie in der ATZ 12-2019 lesen.

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