Der Halbleitermangel hält die Autoindustrie weiterhin in Atem. Warum Chips zu einem knappen Gut geworden sind und warum die Krise nicht so leicht in den Griff zu bekommen ist – die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.
Der Mangel an Halbleitern hat weltweit gravierende Auswirkungen auf Industrieunternehmen. Am deutlichsten hat es bislang die Automobilbranche getroffen: Produktionsstraßen wurden gestoppt, Angestellte in Kurzarbeit geschickt, Neuwagen erhalten einen analogen Tachometer statt einer digitalen Version oder müssen auf bestimmte Assistenzsysteme verzichten. Wie kam es zu diesem Engpass, wann dürfte das Problem gelöst sein und welche Lehren ergeben sich aus der Situation für die Zukunft? Wir beantworten die wichtigsten Fragen zur Halbleiter-Krise.
Warum sind Halbleiter für die Autobranche so wichtig?
Halbleiter nehmen mit ihren vielfältigen Anwendungsgebieten die zentrale Rolle bei den Materialien der Elektronik und Energietechnik ein. Halbleiter sind der Hauptbestandteil von Mikrochips, die zum Beispiel in Steuergeräten Antrieb und Fahr- oder Bremsverhalten regeln. Sie steuern aber auch Airbags und Assistenzsysteme. "Halbleiter sind Festkörper, deren spezifischer elektrischer Widerstand stark temperaturabhängig ist. In der Nähe des absoluten Temperaturnullpunkts sind sie perfekte Isolatoren; bei höheren Temperaturen (z. B. bei Raumtemperatur) weisen sie eine elektrische Leitfähigkeit auf", erklären die Springer-Autoren Ekbert Hering und Rolf Martin im Kapitel Grundlagen der Elektrotechnik des Buchs Elektronik für Ingenieure und Naturwissenschaftler. Aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften und der guten technologischen Verarbeitbarkeit ist Silizium der bedeutendste Halbleiter. Transistoren und Dioden sind die wichtigsten Halbleiterbauteile, aus denen elektronische Schaltungen, integrierte analoge und digitale Schaltungen aufgebaut sind, so die Springer-Autoren Julian Endres und Harald Rudolph im Kapitel Aktive Bauelemente des zuvor genannten Buchs.
Leistungselektronik basiert auf Halbleitern. Sie "beschäftigt sich in erster Linie mit der Umformung elektrischer Energie in Bezug auf deren Form, das heißt, die Höhe von Spannung und Strom sowie deren Kurvenform und Frequenz. Sie formt also die bereitgestellte elektrische Energie in die vom Verbraucher benötigte Form um", so Bernd Deutschmann im Vorwort zur Ausgabe 1-2021 der e & i Elektrotechnik und Informationstechnik. Diese Umformung erfolge mittlerweile sehr effizient und verlustarm, zum Beispiel durch den Einsatz modernster Regelungstechnik und Mikroelektronik in Kombination mit innovativen Leistungshalbleitern aus Siliziumcarbid (SiC) oder Galliumnitrid (GaN). Die Leistungselektronik habe sich zu einer Schlüsseltechnologie entwickelt, die in vielen Anwendungsfeldern wie zum Beispiel der Elektromobilität an Bedeutung gewinne.
Was ist die Ursache des Halbleitermangels?
Die Digitalisierung und damit die Mikroelektronik zieht in alle Bereiche des Lebens ein. Dadurch steigt der Bedarf an Halbleitern. Vor allem für die Firmen in der Halbleiterbranche sind die Aussichten daher rosig. Die World Semiconductor Trade Statistics (WSTS) hatte Ende November 2021 prognostiziert, dass der weltweite Halbleitermarkt im Jahr 2021 um 25,6 % und im Jahr 2022 weiter um 8,8 % wachsen wird. Getrieben wird dieses vor allem durch Europa und Asien. Allerdings ist die Nachfrage derzeit größer als der Markt, es fehlen Halbleiter. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen haben Halbleiter ein Verfallsdatum und können nicht endlos im Lager vorgehalten werden. Zum anderen gab es in der vergangenen Zeit Versorgungsengpässe bei Rohstofflieferanten und geopolitische Spannungen zwischen China und den USA.
Während der Rohstoff also knapper wurde, brachte die Corona-Pandemie den Chip-Markt durcheinander und trug zusätzlich zum weltweiten Halbleitermangel bei. Da die Krise zu Produktionsausfällen bei den Automobilherstellern führte, wurden entsprechend auch die Halbleiter-Bestellungen reduziert und teilweise storniert. Gleichzeitig verlangten Hersteller von Kommunikations- und Unterhaltungselektronik mehr Chips, die während der Krise mehr denn je gefragt waren. Seitdem im zweiten Halbjahr 2020 die Autoverkäufe weltweit wieder stark anzogen, hängt die Automobilindustrie nun hinterher. "Vorlaufzeiten von sechs bis neun Monaten sind typisch für komplexe Chips, weshalb es schwierig ist, auf Nachfrageschwankungen zu reagieren", so Paul Hansen im The Hansen Report On Automotive Electronics aus der ATZelektronik 4-2021.
Wie wirkt sich der Chipmangel bei den Autoherstellern aus?
Wegen der Halbleiter-Knappheit haben sämtliche Autohersteller seit Anfang 2021 immer wieder ihre Produktionsbänder anhalten müssen. Beim Autoriesen Stellantis seien nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters im ersten Quartal 2021 rund 190.000 Autos weniger produziert worden als geplant. Volkswagen spreche von rund 100.000 Fahrzeugen, die nicht gebaut werden konnten. Laut einer Prognose des globalen Beratungsunternehmens AlixPartners vom September vergangenen Jahres sollten 2021 weltweit 7,7 Millionen weniger Fahrzeuge produziert werden können. Im Mai 2021 wurde noch von 3,9 Millionen weniger hergestellten Automobilen ausgegangen. Die aktualisierte Schätzung bedeute, dass die Automobilhersteller aufgrund des Chipmangels Fahrzeuge im Wert von 210 Milliarden US-Dollar nicht produzieren können, was deutlich über der Schätzung des Unternehmens vom Mai in Höhe von 110 Milliarden US-Dollar liegt.
Als Gründe für die geänderte Prognose nannten die Analysten, dass sich die Produktionskapazität im Chipbereich bislang nicht erholt habe und das Vorkrisenniveau bei weitem noch nicht erreicht sei. Zudem hätten Produktionskürzungen aufgrund der Pandemie, etwa sichtbar in Werken in Malaysia, nicht nachgelassen. "Während die OEMs dies mit z.T. höheren Fahrzeugpreisen kompensieren können, tun sich die Zulieferer damit schwerer und sind nach unserer Einschätzung noch mehr vom Chipmangel betroffen als die OEMs", sagt Dr. Marcus Kleinfeld, Managing Director bei AlixPartners in Deutschland. Andere Beratungsfirmen schätzen den weltweiten Produktionsausfall 2021 wegen der Chipkrise auf bis zu 11 Millionen Fahrzeuge.
Wie wirkt sich der Chipmangel bei den Autozulieferern aus?
Im dritten Quartal 2021 hat die Chipkrise verstärkt die europäischen Automobilzulieferer erreicht. Deren wirtschaftliche Situation trübt sich kontinuierlich ein, wie PwC und Strategy& in einer Analyse der finanziellen Situation von 494 Zulieferern aus 35 Ländern ermittelt haben. Demnach befänden sich 42 % der Unternehmen inzwischen in einer finanziell angespannten Lage und müssten rasch Gegenmaßnahmen einleiten. Im zweiten Quartal 2021 habe der Wert noch bei 36 %, zu Beginn des Jahres bei 33 % gelegen. Nur 24 % der betrachteten Unternehmen sollen sich aktuell in einer soliden finanziellen Lage befinden.
In der Jahresmitte 2021 hätten Autohersteller und Zulieferer noch von Nachholeffekten und der steigenden Nachfrage nach E-Autos profitiert. Daher hätten die Hersteller aus Sorge vor erneuten Verwerfungen in der globalen Lieferkette massiv Teile bei den Zulieferern geordert, um sich zu bevorraten. Diese werden jedoch aktuell nicht abgerufen, da die Autohersteller aufgrund des Chipmangels nur verzögert Fahrzeuge ausliefern könnten. Daher kämpfen die Zulieferer jetzt mit überhöhten Lagerbeständen bei gleichzeitig steigenden Rohstoff- und Energiepreisen. Die Chipkrise und weitere Rohstoffmängel treffe viele Zulieferer mitten in einer Umbruchphase, was den Spielraum für Investitionen in Transformation einschränke, so die Analyse.
Wann wird sich das Problem auflösen?
Die Halbleiterproduktion ist kompliziert und lässt sich nicht kurzfristig hochfahren. Daher sei eine rasche Lösung nicht wahrscheinlich, wie Paul Hansen im The Hansen Report On Automotive Electronics aus der ATZelektronik 7-8-2021. "Der Bau neuer Wafer-Foundries für die technologisch ausgereiften Produkte der OEMs ist nicht ohne weiteres möglich", so Hansen. Die einzige kurzfristige Lösung für die Automobilhersteller bestehe darin, Einfluss auf die derzeitigen Chiplieferanten wie TSMC (Taiwan Semiconductor Manufacturing Company), den weltgrößten Auftragsfertiger von Chips, zu nehmen, damit ihre Bedürfnisse vorrangig behandelt werden vor denen anderen TSMC-Kunden, so Hansen. Diese verfügten jedoch zum Teil über weit mehr Schlagkraft als die Automobilhersteller.
Die Unternehmensberatung Roland Berger geht davon aus, dass der globale Halbleitermangel noch mehrere Jahre über 2022 hinaus bestehen wird. Der größte Mangel herrsche bei den Chips der älteren Generationen, die in der Autobranche hauptsächlich eingesetzt werden, wie aus der Studie "Steering through the semiconductor crisis. A sustained structural disruption requires strategic responses by the automotive industry" hervorgeht. Zusätzliche Fertigungskapazitäten werden jedoch vorrangig in neueren Generationen aufgebaut und brächten somit kaum Entlastung, heißt es. Nach Analysen der Roland-Berger-Experten soll die Chip-Nachfrage von 2020 bis 2022 um 17 % pro Jahr steigen. Die Produktionskapazität soll im selben Zeitraum hingegen lediglich um 6 % pro Jahr wachsen. Logik (40nm-Knoten und älter), Analogchip und MEMS seien die Halbleitersegmente, in denen die längste Knappheit zu erwarten sei. Da die Halbleiterfabriken aktuell bereits durchschnittlich zu 97 % ausgelastet seien, wäre eine zügige Ausweitung der Produktion kaum möglich. "Darüber hinaus stellen bereits jetzt einige Automobilhersteller von einem 'Just-in-Time' auf einen 'Just-in-Case'-Ansatz um. Dabei bauen sie Bestände von Halbleitern auf. Dies verschärft den Versorgungsengpass kurzfristig zusätzlich", heißt es.
Die Marktforscher von Gartner hatten im Mai 2021 und TSMC im Sommer 2021 prognostiziert, dass die allgemeine Halbleiterknappheit bis 2022 andauern könnte. Infineon-Chef Reinhard Ploss hielt es im September 2021 für möglich, dass die Knappheit bei den Foundries noch bis 2023 anhält.
Wie können Chip-Engpässe in Zukunft vermieden werden?
Intel, Samsung und TSMC haben eine deutliche Aufstockung ihrer Kapazitäten angekündigt. TSMC will in den nächsten Jahren 100 Milliarden US-Dollar in die Produktionssteigerung investieren, um die steigende Nachfrage nach Halbleitern zu befriedigen, so das Wall Street Journal. Der kalifornische Halbleiterhersteller Intel will seine Produktionskapazitäten ausbauen und auch verstärkt in die Auftragsfertigung einsteigen. Bis zu 20 Milliarden US-Dollar will Intel für den Bau zwei neuer Werke in Arizona in die Hand nehmen. Auch in Europa sollen Kapazitäten ausgebaut werden. Der südkoreanische Elektronikkonzern Samsung stockt sein Investment auf insgesamt 151 Milliarden US-Dollar auf, die bis 2030 in die Halbleiter-Produktion fließen sollen, berichtet Reuters. Auch Texas Instruments hat den Bau von weiteren 300-mm-Halbleiter-Wafer-Fabriken in den USA angekündigt.
Roland Berger rät Halbleiter-Kunden, ihre Strategie anzupassen. Hierzu zählten technische Maßnahmen wie ein schnellerer Wechsel auf zentralisierte/zonale E/E-Architekturen. Darüber hinaus stellten direkte, langfristige Lieferverträge mit Halbleiterunternehmen, die wechselseitige Kapazitätszusagen und Abnahmeverpflichtungen über mehrere Jahre enthalten, einen wichtigen Hebel dar. Langfristig gilt es, die mittlerweile hohe Abhängigkeit von asiatischen Zulieferern und Wertschöpfungsketten zu reduzieren, raten Roland Berger und auch der Digitalverband Bitkom. Alternative Bezugsquellen müssten geprüft, europäische Kompetenzen aufgebaut werden. Denn Europa spielt bislang als Halbleitermarkt (2021 knapp 50 Milliarden US-Dollar und damit weniger als 10 % des weltweiten Verbrauchs) für viele Chiphersteller nur eine Nebenrolle, wie Georg Steinberger im Gastkommentar Halbleiter – Das knappe Gut aus der ATZelektronik 11-2021 betont. Der weitere Aufbau eigener Kapazitäten beispielsweise im Chip-Cluster um Dresden herum ("Silicon Saxony") könnte dem entgegensteuern. In Dresden, Reutlingen und im malaysischen Penang will Bosch 2022 mehr als 400 Millionen in seine Halbleiterstandorte investieren. Und Infineon hat im September 2021 eine Chipfabrik im österreichischen Villach eröffnet. Auch die EU-Kommission ist aktiv und hat den offiziellen Start einer europäischen Allianzen für Halbleiter und Mikroelektronik verkündet.