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2023 | Buch

Handbuch Entwicklungsforschung

herausgegeben von: Karin Fischer, Gerhard Hauck, Manuela Boatcă

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Über dieses Buch

Das Handbuch führt in den aktuellen Diskussionsstand der sozialwissenschaftlichen Entwicklungsforschung ein und liefert einen systematischen Überblick über die Vielfalt der vertretenen Paradigmen und Forschungsfelder. In die 2. Auflage wurden drei neue Kapitel aufgenommen. Die anderen Beiträge wurden aktualisiert. Ein Sach- und Personenverzeichnis vervollständigt den Band.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Einleitung

Frontmatter
Was ist Entwicklungsforschung?
Entstehung, Gegenstand und Arbeitsweise einer jungen Disziplin

Ist sozialwissenschaftliche Entwicklungsforschung eine akademische (Sub-)Disziplin, ein interdisziplinäres Forschungsfeld oder Begleitforschung für die entwicklungspolitische Praxis? Um diese Frage zu beantworten, rekonstruieren die HerausgeberInnen die Geschichte der akademischen Beschäftigung mit Entwicklung und erläutern jeweils ihren Gegenstand und das jeweils dominante Verständnis von Entwicklung. Ob die Etablierung als Disziplin wünschenswert ist oder Entwicklungsforschung eher die Notwendigkeit untermauert, Disziplinen zu öffnen, lassen sie offen. Sie plädieren jedenfalls für eine dekoloniale, relationale und machtsensible Entwicklungsforschung. Eine solche reflektiert und überwindet eurozentrische Wissenschaftspraxen, erkennt die historische und aktuelle Verwobenheit zwischen Nord und Süd und legt Macht- und Herrschaftsverhältnisse offen.

Karin Fischer, Manuela Boatcă, Gerhard Hauck

Theoretische Positionen

Frontmatter
Marxistische Entwicklungstheorie

Der niemals endende Zwang zur Kapitalakkumulation ist für alle marxistische Entwicklungstheorie das Grundgesetz der kapitalistischen Entwicklung. Diese Akkumulation aber verläuft niemals geradlinig und ungestört. Denn die Notwendigkeit der Akkumulation erzwingt zwar ständiges Wachstum der Produktion, aber die Steigerung der kaufkräftigen Nachfrage der Bevölkerung kann damit niemals auf Dauer Schritt halten, was in den zyklischen Krisen seinen Ausdruck findet. Reichtumstransfers von außen, insbesondere aus den Kolonien und Postkolonien, haben dieses Dilemma in den kapitalistischen Metropolen immer wieder abgeschwächt und zu überzyklischer Kapitalakkumulation verbunden mit überzyklischer Steigerung der Massenkaufkraft beigetragen. Inwieweit Entwicklung dieser Art auch ohne Außenbeiträge möglich ist, ist eine der großen Streitfragen in der marxistischen Diskussion.

Gerhard Hauck
Modernisierungstheorien

Ansetzend an der Herausforderung der nachholenden Entwicklung hat sich die Perspektive der Modernisierung zunächst als Nachvollzug der industriellen Entwicklung der Vorreiter, zumal Englands herausgebildet. Im Artikel wird hierzu auf Friedrich List und Karl Marx verwiesen, um dann die Grundlegung klassischer Modernisierungstheorien durch Max Weber, aber auch die fundamentale Umdeutung des Weberschen Ansatzes in den Entwicklungs- und Evolutionskonzepten seit den 1950er-Jahren in den Blick zu nehmen. Erkenntnisleitend ist dabei die Frage nach Gründen für die Persistenz der Modernisierungsperspektive ungeachtet erdrückender Inkongruenzen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Reinhart Kößler
Entwicklung und Dependenz

Unter dem Sammelbegriff „Dependencia“ (Abhängigkeit) diskutierten vor allem lateinamerikanische AutorInnen in den 1950er- bis 1970er-Jahren die Unterentwicklung in Ländern des Globalen Südens. Sie kritisierten das vorherrschende modernisierungstheoretische Entwicklungsdenken und argumentierten, dass Unterentwicklung als integraler Teil der weltweiten kapitalistischen Entwicklung zu verstehen ist. Externe Faktoren müssen ebenso in eine Analyse integriert werden wie historische Momente, hier vor allem die koloniale Eingliederung in das Weltsystem. Damit widersprachen sie dem Verständnis einer nachholenden Entwicklung als interner Leistung der Länder ebenso wie der Klassifizierung als traditionell und vor-modern. Im Rahmen der Debatte wurden zentrale analytische Begrifflichkeiten wie strukturelle Heterogenität und strukturelle Abhängigkeit geprägt, die maßgeblich zu ihrer globalen Rezeption beigetragen haben.

Yvonne Franke, Daniel Kumitz
Weltsystemansatz

Der Weltsystemansatz ist eine makrosoziologische Entwicklungstheorie. Er thematisiert vor allem räumliche Abhängigkeitsbeziehungen und langfristige Trends im globalen Kapitalismus. Im Beitrag werden die Gemeinsamkeiten und unterschiedlichen Spielarten des Ansatzes (von Amin, Arrighi/Silver, Frank und Wallerstein) diskutiert. Im Mittelpunkt stehen dabei das Drei-Zonen-Modell aus Zentrum, Semiperipherie und Peripherie und die historischen Hegemoniezyklen im Weltsystem. Neben Kritiken werden auch aktuelle Kontroversen dargestellt und diskutiert.

Stefan Schmalz
Der Subsistenzansatz in Theorie und Praxis

Subsistenzproduktion wird als Produktion für den Eigenbedarf definiert, darüber hinaus jedoch auch als Produktion zur Erhaltung der materiellen Lebensgrundlagen und als Gegenmodell zu einer an Profit und Wachstum orientierten Produktionsweise betrachtet. In der entwicklungstheoretischen Debatte wird sie von manchen als Alternative zum gängigen, auf ökonomischem Wachstum beruhenden Entwicklungsmodell herangezogen; andere Autor*innen betonen, dass Subsistenzproduktion kapitalistische Produktion subventioniert und beide, kapitalistische Produktion und Subsistenzproduktion, miteinander verflochten sind. Dagegen steht in der Debatte um Gemeingüter die Bedrohung der Subsistenzproduktion durch neoliberale Politiken und ihre Vereinnahmung durch entwicklungspolitische Akteur*innen im Mittelpunkt. Gleichzeitig wird in diesen Debatten Subsistenzproduktion als Ort des Widerstands konzipiert.

Ulrike Schultz
Entwicklung im Neoliberalismus

Entwicklungstheoretische und -politische Überlegungen der Neoliberalen datieren in die 1950er-Jahre. Angriffsziel der Neoliberalen waren die weithin geteilten Paradigmen der Nachkriegsära, wonach eine staatlich geförderte und geplante Industrialisierung zusammen mit externer Hilfe eine nachholende Entwicklung ermöglichen sollten. Neoliberale EntwicklungsökonomInnen bereiteten seit den 1960er-Jahren mit vielzähligen Studien die entwicklungsstrategische Wende vor, die spätestens mit der Schuldenkrise ab den 1980er-Jahren im globalen Süden wirksam wurde. Diese zielte auf den Abbau des binnenorientierten Modells und seiner entwicklungsstaatlichen Regulierungen. An seiner Stelle propagierten die Neoliberalen eine Export- und Importorientierung, Privatisierungen und eine Liberalisierung des Kapitalverkehrs und der Arbeitsmärkte. Internationale Wettbewerbsfähigkeit, Rent Seeking und Humankapital sind seither fixe Bestandteile des entwicklungspolitischen Vokabulars. In der Armutspolitik finden sich mit konditionierten Cash Transfers, Mikrokrediten und privaten Eigentumstiteln Denkkonzepte aus der Frühzeit der Neoliberalen.

Karin Fischer
Multiple Moderne

Die Moderne erlaubt vielfältige Formen der Institutionalisierung konkurrierender Zukunftsvorstellungen. Der Kernbereich der Moderne ist die Annahme der Gestaltbarkeit der Zukunft durch menschliches Handeln. Auch fundamentalistische Bewegungen, deren Ziel Retraditionalisierung ist, sind in diesem Sinne moderne Bewegungen, da sie sich sowohl auf Zukunftsvorstellungen als auch Strategien menschlichen Handelns zur Realisierung dieser Vorstellungen beziehen. Damit stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Zukunftsvorstellungen, der Bildung von Akteuren und Prozessen der umstrittenen Institutionalisierung, durch die Moderne auf vielfältige Weise gestaltet wird.

Ruediger Korff
Verwobene Moderne

Der Beitrag arbeitet einer kurzen Kritik des Konzepts der multiplen Modernen folgend den entwicklungstheoretischen Beitrag der Debatte um die verwobene Moderne heraus. Die Stärke des Ansatzes besteht darin, Entwicklung als einen verwobenen, inter- und transnationalen Prozess zu verstehen, der von asymmetrischen Machtbeziehungen und kolonialer sowie imperalistischer Gewalt geprägt ist.

Ingrid Wehr
Postkolonialismus und Dekolonialität

Postkolonialismus ist ein Sammelbegriff für eine Reihe von kolonialismuskritischen Ansätzen in den Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften, die essenzialistische Annahmen über den Modellcharakter westlicher Entwicklung als eurozentrisch anzeigen. Anhand von Perspektiven aus kolonialen Kontexten machen post- und dekoloniale Ansätze auf die wechselseitige Konstitution von westlicher und nicht-westlicher Welt aufmerksam. Sie nehmen damit eine ausdrücklich relationale Perspektive ein. Eine zentrale theoretische Rolle spielt die Kritik an westlichen Konzeptualisierungen der Moderne vor dem Hintergrund der kolonialen Erfahrung mit dem britischen Kolonialismus, insbesondere in Indien, sowie mit dem iberischen Kolonialismus, insbesondere in Lateinamerika. Lücken in der Aufarbeitung der kolonialen Geschichte anderer europäischer Länder gehen einher mit der mangelhaften Rezeption kritischer, post- und dekolonialer Arbeiten.

Manuela Boatcǎ
Post-Development

In der zweiten Hälfte der 1980er- und zu Beginn der 1990er-Jahre formierte sich unter dem Terminus Post-Development ein heterogenes theoretisches Paradigma, das frühere (Fundamental-)Kritiken von Entwicklung/szusammenarbeit auf eine neue Art radikalisierte und reformistische Bestrebungen für ‚alternative‘ Entwicklungsstrategien zurückwies. In Rückgriff auf poststrukturalistische, post- und dekoloniale sowie ideologiekritische Theorieelemente problematisiert Post-Development ‚Entwicklung‘ als Konzept und politisches Projekt, das auf der Basis (euro-)zentristischer, kapitalistischer, wachstumsorientierter und androzentrischer Gesellschafts- und Wertesysteme in einer herrschaftslegitimierenden Weise die sogenannte ‚Dritte Welt‘ als ‚unterentwickelt‘ und ‚rückständig‘ kartiert und damit (nachholende) ‚Entwicklung‘ als einzig intelligibles Orientierungsmodell für ‚sozialen Wandel‘ etablieren konnte. Im Post-Development wird im Gegenzug nach politischen Räumen und (Denk-)Praxen zur Transgression dieser ‚Hegemonie der Entwicklung‘ gesucht. Seit den 2000ern fokussieren Post-Development-Debatten vermehrt auf neuere Graswurzel- und Protestbewegungen (z. B. Weltsozialforen) sowie indigene Widerstands- und Gesellschaftskonzepte (z. B. Buen Vivir) als ‚gelebte‘ Alternativen zur Entwicklung und verknüpfen sich expliziter mit dem ‚dekolonialen Projekt‘ sowie damit verbundenen theoretischen Perspektiven.

Christine M. Klapeer

Was kann, was soll Entwicklungsforschung? Eine Ortsbestimmung

Frontmatter
Was kann, was soll Entwicklungsforschung?
Eine Ortsbestimmung

Macht es angesichts unzähliger Kritiken am Entwicklungsbegriff überhaupt noch Sinn, von „Entwicklung“ zu sprechen? Oder sollte man den Begriff ganz aus dem Vokabular der Entwicklungsforschung streichen? Um sich der Frage zu nähern, diskutieren die HerausgeberInnen die Bedeutung und Indienstnahme des Begriffs in den verschiedenen entwicklungstheoretischen Denkschulen, beginnend mit den Modernisierungstheorien bis zu den Beiträgen des Postdevelopment-Ansatzes. Am Ende werden Überlegungen zu einer Neubegründung der Entwicklungsforschung vorgestellt. Kritische Entwicklungsforschung in dem vorgeschlagenen Sinn verabschiedet sich von der Vorstellung von Entwicklung als einem allgemeinen Gesetzmäßigkeiten folgenden, zielgerichteten Prozess. Ihre Hauptaufgabe findet sie darin, die ungleichen Voraussetzungen und Folgen einer Akkumulation im Weltmaßstab zu analysieren.

Gerhard Hauck, Karin Fischer, Manuela Boatcǎ

Von Definitionen und Messmethoden

Frontmatter
Entwicklung messen: ein Überblick über verschiedene Indikatoren und ihre Grenzen

Der Beitrag stellt die Vielfalt von Indikatoren und Indizes im Politikfeld „Entwicklung“ im Kontext des sich wandelnden Verständnisses dieses Konzeptes seit den 1940er-Jahren dar. Im Laufe der Zeit entstehen neue Schwerpunkte, die zur Entwicklung von neuen Indikatorenbündeln führen (Wachstum und Modernisierung, soziale Entwicklung, nachhaltige Entwicklung, Governance, Glück und Wohlbefinden). Seit Ende der 1960er-Jahre werden zunehmend Indizes gebildet, die verschiedene Indikatoren zusammenfassen. Der Beitrag schließt mit der Diskussion einiger grundlegender Fragen zum Messen von Entwicklung.

Wolfgang Hein
Un-fassbare Armut
Definitionsprobleme und politische Brisanz

Die Messung von Armut ist für staatliche Sozialpolitik von grundlegender Bedeutung, da sie zur Bestimmung der Zielgruppen sozialer Fürsorge- und Sicherungspolitiken unerlässlich scheint. Allerdings bleiben die Adäquanz der zugrunde liegenden Definitionen und die Gültigkeit der angewendeten Verfahren äußerst umstritten. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion werden monetäre Armuts-Grenzwerte seit langem als reduktionistisch kritisiert, und es wird vorgeschlagen, sie durch multidimensionale, dynamische und partizipative Ansätze zu ergänzen oder ganz zu ersetzen. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen nahm diese Kritik auf und verfolgt ein ganzheitliches „Human-Armuts“-Paradigma, das Armut als Folge einer Verweigerung von Verwirklichungschancen fasst. In der öffentlichen Diskussion ebenso wie der praktischen Entwicklungspolitik dominiert dagegen weiterhin der Armuts-Grenzwert von einem US-Dollar (Kaufkraft-Parität) pro Person und Tag, den die Weltbank 1990 festlegte und 2015 auf 1,90 Dollar erhöhte. Aus unterschiedlichen Definitionen ergeben sich verschiedene Strategien und Zielgruppen der Armutsbekämpfung.

Erhard Berner
Einsichten in eine ungleiche Welt: Möglichkeiten und Grenzen globaler Ungleichheitsmessung

Der Beitrag behandelt quantifizierbare und quantitative Ungleichheit in global vergleichender Perspektive. Im Zentrum stehen finanzielle Ungleichheit (Einkommen und Vermögen) und sozialökologische Ungleichheit. Zum einen wird in zentrale Konzepte der Ungleichheitsforschung eingeführt. Zum anderen werden die gebräuchlichsten Indikatoren und Messverfahren in den genannten Bereichen mit ihren Vor- und Nachteilen vorgestellt und diskutiert. Neben der Auswahl und Kombination von Indikatoren mit unterschiedlicher Aussagekraft ist es wichtig, zwischen verschiedenen räumlichen Analyseebenen zu navigieren, um ein vollständigeres Bild von Ungleichheit zu erlangen. Die Ungleichverteilung von Einkommen, Vermögen, Emissionen etc. zwischen Ländern, Ländergruppen und Weltregionen ist zu kombinieren mit jener zwischen verschiedenen sozialen Gruppen innerhalb dieser Gesellschaften. Zentrale empirische Trends ergänzen die Darstellung.

Karin Fischer

Sachthemen der Entwicklungsforschung

Frontmatter
Landwirtschaft und Ernährung

Ausgehend vom gegenwärtigen Paradox der Über- und Unterernährung geht der Beitrag den strukturellen Momenten im Agrar- und Ernährungssystem im Zeitalter der Globalisierung nach. Er skizziert die Grundzüge des britisch zentrierten Nahrungsregimes (extensive food regime) von den 1870er- bis zu den 1920er-Jahren, des US-zentrierten Nahrungsregimes (intensive food regime) von den 1940er- bis zu den 1970er-Jahren und des WTO-zentrierten Nahrungsregimes (corporate food regime) seit den 1990er-Jahren. Schließlich umreißt er Strategien – neoliberalistische, reformistische, progressive und radikale – des agroindustriellen Ausbaus bzw. sozial- und umweltverträglichen Umbaus des globalen Agrar- und Ernährungssystems.

Ernst Langthaler
Fallstudie: Konflikte um Land im Spannungsfeld von Naturschutz, Minenbau und Landwirtschaft in Karamoja, Uganda

Wie viele andere ländliche Gebiete Afrikas ist auch die im Nordosten Ugandas gelegene Region Karamoja im vergangenen Jahrzehnt vermehrt zum Schauplatz teils gewaltsamer Konflikte um Land geworden. Dies lässt sich zum einen auf die gesteigerte Nachfrage nach fruchtbarem Land vonseiten der indigenen Bevölkerung und zum anderen auf die Präsenz verschiedener (inter-)nationaler AkteurInnen in der Region zurückführen, die Landflächen primär für Naturschutz- oder Minenbauzwecke nutzen wollen. Folglich lassen sich unterschiedliche Konfliktlinien ausmachen, deren Vielschichtigkeit im Rahmen dieses Beitrags erläutert wird.

Barbara Gärber
Migration und Entwicklung

Nach der Präsentation regional spezifizierter Basisdaten zu Migration, unterscheidet der Text drei Phasen des Verhältnisses von Migration und Entwicklung mit Pendelbewegungen von einer positiven zu einer negativen und erneut einer positiven Bewertung. Allerdings bleibt die Debatte dem modernisierungstheoretischen Paradigma verhaftet, da Wirtschaftswachstum und das Senden von Rücküberweisungen synonym mit positiv erachteten Migrationsformen gesetzt werden. Anschließend werden Fragen von Migrationskontrolle und Nationalstaatlichkeit sowie politischen Initiativen zu Migration und Entwicklung beleuchtet.

Helen Schwenken
Fallstudie: Diaspora und Entwicklungszusammenarbeit

Seit etwa 15 Jahren rücken Diasporas als AkteurInnen immer stärker ins Interesse der Entwicklungspolitik und -forschung. Einen wichtigen Impuls hierfür lieferte die Feststellung, dass Remittances, also die Rücküberweisungen von MigrantIinnen und anderen Diaspora-Angehörigen in ihre Herkunfts- bzw. Bezugsländer, die Summe der dorthin geflossenen bi- und multilateralen ODA bei weitem übersteigt. In der Folge rückten nacheinander Aspekte wie die Summen und Verwendungen der getätigten Rücküberweisungen, herkunftslandbezogene Aktivitäten jenseits dieser Geldsendungen, die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Diaspora- mit Geberorganisationen bei Projekten in den jeweiligen Herkunfts- oder Bezugsländern sowie die wachsende Zahl an gezielten Diaspora-Politiken insbesondere in Ländern des globalen Südens in den Fokus der Forschung sowie der politischen Gestaltung. Diaspora-Angehörige waren und sind jedoch nicht nur Objekte entwicklungspolitischer Interventionen, sondern eigenständige AkteurInnen, die ihre Eigeninteressen, sozialen Obligationen und praktische Solidarität im vermachteten Feld von Entwicklungspolitik teils im Windschatten von, teils in Opposition zu und teils weit jenseits dominanter Entwicklungspolitik verfolgen.Seit etwa 15 Jahren rücken Diasporas als AkteurInnen immer stärker ins Interesse der Entwicklungspolitik und -forschung. Einen wichtigen Impuls hierfür lieferte die Feststellung, dass Remittances, also die Rücküberweisungen von MigrantIinnen und anderen Diaspora-Angehörigen in ihre Herkunfts- bzw. Bezugsländer, die Summe der dorthin geflossenen bi- und multilateralen ODA bei weitem übersteigt. In der Folge rückten nacheinander Aspekte wie die Summen und Verwendungen der getätigten Rücküberweisungen, herkunftslandbezogene Aktivitäten jenseits dieser Geldsendungen, die Möglichkeiten der Zusammenarbeit von Diaspora- mit Geberorganisationen bei Projekten in den jeweiligen Herkunfts- oder Bezugsländern sowie die wachsende Zahl an gezielten Diaspora-Politiken insbesondere in Ländern des globalen Südens in den Fokus der Forschung sowie der politischen Gestaltung. Diaspora-Angehörige waren und sind jedoch nicht nur Objekte entwicklungspolitischer Interventionen, sondern eigenständige AkteurInnen, die ihre Eigeninteressen, sozialen Obligationen und praktische Solidarität im vermachteten Feld von Entwicklungspolitik teils im Windschatten von, teils in Opposition zu und teils weit jenseits dominanter Entwicklungspolitik verfolgen.

Joshua Kwesi Aikins
Geschlechtergerechtigkeit

Geschlecht als Kategorie sozialer Ungleichheit ist in der Entwicklungsforschung inzwischen etabliert, gleichwohl umkämpft. Ausgehend von herrschaftskritischen Analysen von Ausblendungen und Ungleichheiten bestimmen unterschiedliche Perspektiven die Diskurse und Entwicklungspolitik. Der „Gender and Development“-Ansatz verfolgt das Ziel der Geschlechtergleichheit durch Inklusion in bestehende Strukturen, Empowerment sowie die Einlösung von Frauenrechten und Normen der Global Governance. Modernisierungskritische und postkoloniale Ansätze lehnen Opfer- und Defizitstereotypen ebenso ab wie die Setzung universeller Normen. Sie fordern die Anerkennung der Eigenständigkeit der „Anderen“. Transnationale Solidarisierung für Geschlechtergerechtigkeit steckt in einem Dilemma zwischen Inklusionsstrategien, Identitätspolitiken, Universalismuskritik und struktureller Transformation.

Christa Wichterich
Fallstudie: Filipinas in Japan

Die Filipinas in Japan gelten allgemein als Entertainerinnen, da die meisten von ihnen mit dem „Entertainer-Visum“ einreisten und arbeiteten, was ein wichtiger Faktor bei der Feminisierung der AusländerInnen Japans ist. Für viele Filipinas ist Japan längst ein Lebensort, wo sie als bewusste Bürgerinnen die Gesellschaft mitgestalten. In meiner Untersuchung über die sozial-politischen Aktivitäten der Filipinas in Japan war zu erkennen, dass die Engagements der Filipinas meistens in kleinerem Umfang stattfinden und mit ihrem Alltag eng verbunden sind, jedoch ihre nachteilhafte Situation und die daraus entwickelte Sichtweise häufig marginalisierte soziale Ungleichheiten demonstrieren.

Kaoru Yoneyama
Globale Arbeit

Trotz ihrer grundlegenden Bedeutung als gesellschaftliches Verhältnis wurde Arbeit in der Entwicklungsforschung bislang eher randständig integriert. Wichtige Bezugspunkte liefern vor allem die Theorie der Neuen Internationalen Arbeitsteilung und die neueren Ansätze über Globale Produktionsnetze. Eine kritische Debatte dieser Ansätze fragt zum einen nach Potenzialen sozialer Höherentwicklung durch die Etablierung von globalen Arbeitsstandards. Zum anderen richtet sie sich auf einen erweiterten Begriff von Arbeit, so dass die Verzahnung von formaler Erwerbsarbeit, informeller Arbeit und unbezahlter Reproduktionsarbeit in den Blick kommt. Damit werden nicht nur Prekarisierungsprozesse, sondern auch die Bedeutung von Kategorien wie Geschlecht und Ethnizität für die Konstitution von Arbeit sichtbar.

Martina Sproll
Fallstudie: Gewerkschaftshandeln im globalen Raum am Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie in Indien

Mit der Entstehung globalisierter Produktionsnetze in der Textil- und Bekleidungsindustrie bildeten sich transnationale Formen der Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen heraus. In der wissenschaftlichen Forschung wird zumeist untersucht, inwiefern diese Zusammenarbeit neue Machtressourcen ermöglicht oder neue Formen der sozialen Regulierung entstehen. Eine systematische Untersuchung der alltäglichen gewerkschaftlichen Handlungsorientierungen steht noch aus, ist aber für das Verständnis der Zusammenarbeit unerlässlich.

Michael Fütterer
Staat und Entwicklung

Die Bedeutung des Staates – nicht nur für Entwicklung – scheint in der Globalisierung gelitten zu haben. Spezifisch für postkoloniale Staaten ist jedoch, dass sie als Produkt der gewaltförmigen kolonialen Verflechtungen in die verschiedenen Phasen der Globalisierung eingebunden waren und dabei Prozesse der Staatsbildung, aber auch der Entstaatlichung erfahren haben. Damit verbunden war die Hoffnung an den Staat, als Entwicklungsstaat für eine nachholende Entwicklung und eventuell auch für ein besseres Leben für alle sorgen zu können. Das politische Verhältnis von Gesellschaft zum Staat ist nach Bevölkerungsgruppen jedoch sehr unterschiedlich. Staatliche Politiken können nicht nur für mehr Gleichheit sorgen, sondern sie tragen auch zu einer Vertiefung von Ungleichheiten bei.

Marianne Braig
Fallstudie: Autoritäre Staatlichkeit am Beispiel Mexiko und Kolumbien

Die Gewalteskalationen in lateinamerikanischen Ländern stellen gewohnte Konzepte über den Staat in „Entwicklungsländern“ infrage. Der Beitrag untersucht, welche Veränderungen der staatlichen Gewaltausübung beobachtet werden können und inwiefern dies für autoritäre Transformationen von Staatlichkeit spricht.Er greift auf die Beispielfälle Kolumbien und Mexiko zurück, um komplexen Zusammenhängen zwischen Staat und Gesellschaft, Kriminalität und Unsicherheit und Gewalt und sozialer Ungleichheit auf die Spur zu kommen.

Alke Jenss
Soziale Bewegungen und selbstbestimmte Entwicklung

Der Artikel gibt eine Arbeitsdefinition des Begriffs „soziale Bewegung“ und schließt an mit einem Überblick über einflussreiche theoretische Ansätze in der Bewegungsforschung. Darauf folgt eine Typologie sozialer Bewegungen, beginnend mit den antisystemischen Bewegungen des 19. Jh. bis hin zu gegenwärtigen Formen globaler Protestkultur und indigenen Bewegungen. Die Bewegungen werden hinsichtlich ihrer Organisationsstrukturen, Ziele und Praktiken beschrieben sowie zeitlich und räumlich und in den theoretischen Ansätzen verortet.

Antje Linkenbach
Fallstudie: Bewegungen gegen die Privatisierung im Gesundheitswesen in El Salvador

Am Beispiel der Bewegung gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens in El Salvador analysiert der Text Aufkommen, Mobilisierungskraft und Auswirkungen von sozialen Bewegungen. In El Salvador bildete sich in den Jahren 2002–2003 eine soziale Bewegung heraus, die es schaffte Gesundheitspolitik in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses zu rücken. Sowohl strukturelle als auch konjunkturelle Gründe trugen zur unerwarteten Größe und Mobilisierungskraft der Bewegung bei. Die Beschäftigten des Gesundheitswesens, insbesondere die Ärzteschaft, organisierten gemeinsam mit einem Bürgerbündnis gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens große Demonstrationen und einen langen Streik. Günstige Gelegenheitsstrukturen wie die Unterstützung des Anliegens aus der Zivilgesellschaft und der Oppositionspartei FMLN kamen der Bewegung zu Gute. So wurden nicht nur eine Verschiebung der öffentlichen Meinung, sondern auch die Verhinderung der geplanten Privatisierung und ein bemerkenswerter Politikwechsel möglich.

Anne Tittor
Rassismus und Entwicklungspolitik

Entwicklung und Fortschritt sind Begrifflichkeiten, die seit dem Zeitalter der Aufklärung mit ideologischer Verbrämung einer Hierarchisierung von Menschen und deren Gesellschaften zu tun haben. Diese Wahrnehmung fördert eine Wertigkeit, die mit Herabstufung einher geht und damit einer rassistischen Sichtweise entspricht. Als allein erstrebenswerte Daseinsform gelten die westlich-industriellen Produktions- und Lebensweisen. Aufgrund dieses Eurozentrismus, der die eigene Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt und darüber hinaus dazu neigt, alles andere als „weniger gut“ zu (miss-)verstehen, gibt es zwischen Kolonialismus und Entwicklungshilfe mitunter nur graduelle Unterschiede in der Wahrnehmung des Anderen. Dadurch beförderte rassistische Diskriminierungen sind deshalb keinesfalls passé. Dies zeigen noch immer dominante Sichtweisen in der Entwicklungspolitik.

Henning Melber
Fallstudie: Rassismus, Armut und „Entwicklung“ in Schulbüchern

Der Beitrag untersucht die Darstellung des globalen Südens anhand der Themen Armut, Entwicklungszusammenarbeit und Kolonialismus in Hamburger Schulbüchern der Mittel- und Oberstufe. Er kommt zu dem Schluss, dass sich oftmals rassistische Elemente in dieser Darstellung aufzeigen lassen: n der Gegenüberstellung von aktiven, wissenden, aufgeklärten Weißen und passiven, unwissenden, rückständigen Nichtweißen; in der Verharmlosung des Kolonialismus und der Geringschätzung seiner Opfer; sowie in der Konstruktion von afrikanischen und asiatischen Säuglingen als einer Bedrohung für die Menschheit.

Aram Ziai, Elina Marmer
Ungleiche Entwicklung
Historische und räumliche Perspektiven

In diesem Beitrag werden theoretische Konzepte ungleicher Entwicklung dargestellt. Ungleiche Entwicklung ist als polarisierende sozialräumliche Entwicklung dem Kapitalismus ebenso immanent wie es Krisen sind. Gerade hinsichtlich der Krisenerklärung können diese Konzepte zu einem analytischen Verständnis beitragen, wo Theorien an ihre Grenzen stoßen, die modellhaft sind, nur funktionale Regionen kennen bzw. keine Vorstellung von Machtbeziehungen haben. Lösungsstrategien der hier vorgestellten Ansätze setzen an Entwicklungsstrategien an, die sich an den Bedürfnissen der Region orientieren.

Joachim Becker, Rudy Weissenbacher
Fallstudie: Ungleich verbundene Entwicklung: Russland und der Westen seit dem 16. Jahrhundert

Durch Kirchen und Politik, Handel und Migrationen sind die Teile Europas seit dem Mittelalter verbunden, da die Zentren jedoch im Süden blieben, war die Verbindung ungleich. Als vom 13. Jahrhundert an der „Westen“ zum zentralen Raum Europas wurde, wurde der „Norden“ zwar schließlich zum „Osten“, der aber mit geringerer Bevölkerungsdichte und weniger Städten vor allem Rohstofflieferant war. Um ihre politische Souveränität zu erhalten, mussten die osteuropäischen Staaten das westliche Rüstungsniveau erreichen. Das gelang vor allem Russland, wofür es allerdings einen höheren Anteil am BSP aufwenden musste als westliche Staaten, so dass weniger Mittel zum „Aufholen“ der Ungleichheit zur Verfügung standen.

Hans-Heinrich Nolte
Umwelt und Entwicklung

Das Kapitel skizziert die umweltbezogenen Debatten der Entwicklungspolitik und -forschung von den 1960er-Jahren bis heute. Leitbilder wie „nachhaltige Entwicklung“ und „Grüne Ökonomie“ werden vorgestellt und eingeordnet. Daran anschließend bietet das Kapitel einen Überblick über Forschungen zu Umwelt und Entwicklung aus dem Feld der Politischen Ökologie. Diese stützen sich theoretisch auf die Annahme von Natur und Gesellschaft als konstitutiv aufeinander bezogen. Dargestellt werden das Konzept „Environmental Justice“ sowie öko- und neomarxistische, feministische und poststrukturalistische Arbeiten.

Kristina Dietz, Bettina Engels
Fallstudie: Bewegungen für Umweltgerechtigkeit in Indien

Umweltgerechtigkeitsbewegungen unterscheiden sich von Umweltbewegungen darin, dass sie die Sorge für die Umwelt mit Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit verbinden. Sie vertreten einen nachhaltigen Umgang mit der Natur und wollen in der sozialen Sphäre Korrekturen durchzusetzen. Umweltgerechtigkeitsbewegungen verstehen Natur als Lebensraum menschlicher Gemeinschaften – Menschen leben in der Natur. Umweltbewegungen dagegen tendieren dazu, Natur hauptsächlich als (externe) Um-Welt des Menschen zu sehen, die es zu schützen gilt – auch und gerade vor den Menschen.

Antje Linkenbach
Weltökologie

Der Beitrag führt in den von Jason Moore begründeten Ansatz der Weltökologie ein, in dem Umweltgeschichte, Weltsystemansatz, Marxismus und Feminismus neu zusammengedacht werden. Mit diesem Ansatz wird die Entstehung und Gegenwart der kapitalistischen Weltökologie seit der Eroberung der Amerikas nicht nur als eine Verflechtungsgeschichte zwischen Zentren und Peripherien, sondern auch zwischen der Ausbeutung von Lohnarbeit und der Aneignung unbezahlter menschlicher und nicht-menschlicher Arbeit analysiert.

Axel Anlauf, Maria Backhouse
Fallstudie: Der Konflikt um arktische Ressourcen
Am Beispiel des Arctic National Wildlife Refuge (ANWR) in Alaska

Das Fallbeispiel untersucht die komplexe Geschichte des Arctic National Wildlife Refuge (ANWR) in Alaska, das sich seit Jahrzehnten im Kreuzfeuer zwischen Ölförder- und Umweltschutzinteressen befindet. Es geht dabei nicht um eine simplistische Gegenüberstellung von Ökonomie und Ökologie, sondern darum wie unterschiedliche Akteure auf lokalen, regionalen und globalen Ebenen ökologische und ökonomische Argumente für ihre Zwecke benutzen.

Peter Schweitzer
Entwicklungspolitik
Programme, Institutionen und Instrumente

Entwicklungspolitik etablierte sich in den 1950er-Jahren als globales Politikfeld. Programmatisch bewegt sie sich seither zwischen Wachstumsförderung und Armutsbekämpfung. Inzwischen existiert ein global handelndes Institutionengeflecht aus multilateralen, nationalstaatlichen und nicht staatlichen Organisationen. Obwohl die Strategien und der Erfolg der Entwicklungspolitik Gegenstand umfassender Kritik sind, ist die Forderung nach der Intensivierung der Entwicklungspolitik ungebrochen.

Dieter Neubert
Fallstudie: Multikulturalismus und Entwicklung

Seit Ende der 1980er-Jahre verbreiten sich im Bereich der Forschung und Praxis der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) Ansätze und Programme, die Entwicklungspolitiken mit der Aufrechterhaltung „lokaler Kulturen“ in Einklang bringen wollen. Nach den anhaltenden Kritiken gegen diese „multikulturelle Wende“ in der EZ wird dabei ein essenzialistischer Kulturbegriff zugrunde gelegt, der die Verbindung zwischen Kultur, sozialen Ungleichheiten und Machtkämpfen gänzlich verkennt. Im Beitrag werden die „multikulturelle Wende“ in der EZ sowie die Kritiken dagegen dargestellt und diskutiert.

Sérgio Costa
Backmatter
Metadaten
Titel
Handbuch Entwicklungsforschung
herausgegeben von
Karin Fischer
Gerhard Hauck
Manuela Boatcă
Copyright-Jahr
2023
Electronic ISBN
978-3-658-32946-4
Print ISBN
978-3-658-32945-7
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-32946-4

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