Skip to main content

2017 | Buch

Handbuch Körpersoziologie

Band 1: Grundbegriffe und theoretische Perspektiven

herausgegeben von: Robert Gugutzer, Gabriele Klein, Michael Meuser

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

insite
SUCHEN

Über dieses Buch

Das Handbuch Körpersoziologie verfolgt das Ziel, den grundlegenden Stellenwert des Körpers für soziologisches Denken zu veranschaulichen. Die Körpersoziologie versteht den Körper als bedeutsam für subjektiv sinnhaftes Handeln sowie als eine soziale Tatsache, die hilft, Soziales zu erklären. Der menschliche Körper ist Produzent, Instrument und Effekt des Sozialen. Er ist gesellschaftliches und kulturelles Symbol sowie Agent, Medium und Instrument sozialen Handelns. Soziale Strukturen schreiben sich in den Körper ein, soziale Ordnung wird im körperlichen Handeln und Interagieren hergestellt. Sozialer Wandel wird durch körperliche Empfindungen motiviert und durch körperliche Aktionen gestaltet. Körpersoziologie ist in diesem Sinne als verkörperte Soziologie zu verstehen.
Das Handbuch Körpersoziologie dokumentiert das breite Spektrum an körpersoziologischen Perspektiven und Ansätzen und den aktuellen Status Quo der Körpersoziologie. Band 1 präsentiert eine Übersicht zentraler körpersoziologischer Grundbegriffe sowie die Perspektiven einer Vielzahl soziologischer Theorien auf den Körper.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter

Grundbegriffe

Frontmatter
Berührung

Was ist eine Berührung? Die umfassende Antwort auf diese zunächst einfach erscheinende Frage muss ein weites Gebiet von Forschungsansätzen und Disziplinen in den Blick nehmen: bis in die Antike zurückreichende philosophische Reflexionen über die Sinne ebenso wie aktuelle medizinische, physiologische, neurologische und psychologische Forschungsansätze zum haptisch-taktilen Erleben (für einen detaillierten Überblick vgl. Grunwald 2008). Traditionell werden Berührungen (etymologisch von mhd.: rüeren, ruoren, i. S. von rühren, bewegen) zunächst als Leistungen des Tastsinnes aufgefasst.

Matthias Riedel
Bewegung

Bewegung ist ein zentraler Topos der modernen Gesellschaft – und damit ein wichtiger Forschungsgegenstand der Soziologie. Bewegung wird bislang in verschiedenen soziologischen Teildisziplinen verhandelt: In der Körpersoziologie, die sich u. a. mit dem Verhältnis von Körper und Bewegung, mit Bewegungspraktiken, -kulturen und -ordnungen sowie mit Bewegungswissen und Bewegungsgedächtnis befasst; in der Sozialtheorie, die Bewegungen des Sozialen als Transformationen und Dynamisierungen von Gesellschaft(en) untersucht; in der Technik- und Mediensoziologie, die sich mit den gesellschaftlichen Auswirkungen von technischem Fortschritt in Transport- und Kommunikationsmedien beschäftigen und in den Forschungen über soziale Bewegungen, die sich den nicht-institutionalisierten Formen politischer Artikulation widmen. Dieser Text stellt die zentralen, für eine körpersoziologische Forschung wichtigen Diskursfelder vor und skizziert Aspekte einer Soziologie der Bewegung.

Gabriele Klein
Disziplin

Der Begriff Disziplin verweist auf Phänomene der modernen Gesellschaft, auf die, Stefan Breuer (1986, S. 45) zufolge, zuerst Karl Marx und Georg Simmel hingewiesen haben. Für Marx bedeutete Disziplin die in der Industrie „typische technische Unterordnung des Arbeiters unter den gleichförmigen Gang der Arbeitsmittel“, die zu einer „kasernenmäßigen Disziplin“, zu „Regelmäßigkeit, Gleichförmigkeit, Ordnung, Kontinuität“ führen sollte. Diese Form der Disziplinierung ist nach Marx aber nicht nur negativ zu verstehen, vielmehr stelle die Überwindung des Disziplinmangels der Arbeiter für die Gesellschaft auf ihrem Weg zum Sozialismus eine Notwendigkeit dar.

Gabriele Sobiech
Emotion

Setzt man die Begriffe „Körper“ einerseits und „Emotion“, „Gefühl“ oder „Affekt“ andererseits miteinander in Beziehung, so ergibt sich ein breites Spektrum an bedeutsamen soziologischen Dimensionen und Fragestellungen. Diese haben eine erhebliche Relevanz sowohl für die Soziologie des Körpers und wie auch für die Soziologie der Emotionen bzw. Affekte, aber sie betreffen darüber hinaus auch allgemeine sozialtheoretische Problemstellungen.

Rainer Schützeichel
Habitus

Das lateinische Wort habitus ist eine Übersetzung des griechischen hexis. In der Philosophie des Aristoteles wird damit der Begriff der Haltung bezeichnet. Sie ist eine erworbene ethische Einstellung, die mit einer Haltung des Körpers verbunden ist.

Gunter Gebauer
Handeln

Die Soziologie des Körpers steht mittlerweile auf eigenen Beinen (Gugutzer 2015, S. 6). Dennoch lässt sich für die allgemeine Soziologie noch immer eine merkwürdige Körper- und Leibvergessenheit diagnostizieren. Diese Diagnose bezieht sich auch auf denjenigen der soziologischen Grundbegriffe, der am engsten mit dem Körper verbunden ist: Die körperlich-leibliche Verfasstheit des Handelns führt noch immer ein Schattendasein.

Margit Weihrich
Identität

Identität ist Ausdruck eines historisch wie auch gegenwärtig verbreiteten gesellschaftlichen Bemühens, sich seiner selbst zu vergewissern – eine Orientierung, die auf Sich-Erkennen und Anerkannt-Werden zielt. Da aber die Frage „Wer bin ich?“ nicht abschließend beantwortet werden kann, ist Identität weniger ein Zustand denn ein Prozess, dessen lebenslaufbezogene Dynamik durch den Reifungs- und Alterungsprozess des Körpers oder auch durch soziale Probleme und Krisen, wie z. B. Arbeitslosigkeit oder Krankheit gestaltet wird.

Katharina Liebsch
Interkorporalität

Interkorporalität als Begriff und Konzept wurde von dem französischen Philosoph Maurice Merleau-Ponty entwickelt. Der Phänomenologe entwarf den Begriff in seiner Leibphilosophie, als Erweiterung und Alternative zum Begriff der Intersubjektivität. Sein Ziel war die Überwindung des erkenntnistheoretischen Problems von Intersubjektivität, welches er in Auseinandersetzung mit Edmund Husserls Philosophie ausmachte.

Melanie Haller
Kommunikation

Kommunikation ist stets eine Praxis des Körpers. Dies war freilich nicht immer im Bewusstsein einer Forschung, die die symbolisch gesteuerte Koordination des Handelns aufzuklären versucht. Ebenso wie Sozial- und Handlungstheorien haben auch Theorien der Kommunikation ein je unterschiedlich enges und begrifflich elaboriertes Verhältnis zum Körper. Dies reicht von systematischer Ignoranz und Verdrängung gegenüber der Kommunikationsrelevanz leiblich-körperlicher Vollzüge bis zu ihrer Anerkennung als konstitutiver Dimension symbolisch vermittelter Interaktion.

Jens Loenhoff
Leiblichkeit und Körper

Der in der Soziologie verwendete Leibbegriff geht auf die phänomenologische Philosophie zurück. Ausgehend von den Arbeiten Edmund Husserls (1976a, b) wurde der Leibbegriff innerhalb der Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Zeitdimension von Martin Heidegger (1927/1979) und Jean-Paul Sartre (1943/1993) weiterentwickelt. Maurice Merleau-Ponty (1945/1966, 1964), Helmuth Plessner (1928/1975, 1931/1981) und Hermann Schmitz (1964–1980) haben die Fokussierung auf die Zeit zurückgenommen und auch die ausdruckshaften Aspekte leiblicher Existenz in gleicher Weise behandelt wie die zeitlichen.

Gesa Lindemann
Macht

Nahezu jede soziologische Thematisierung von Macht rekurriert auf Max Webers (1972, S. 28) berühmte Definition, der zufolge Macht „jede Chance“ bedeutet, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“ Weber bemerkt, der Begriff der Macht sei „soziologisch amorph“. Alles Mögliche könne „jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen“ (ebd., S. 28 f.). Machtverhältnisse sind nach Webers Auffassung soziologisch nur dann bedeutsam, „sofern sie durch die Machtunterworfenen selbst mitgetragen und durch deren Überzeugungen gestützt werden“ (Strecker 2014, S. 90), also in Gestalt von Herrschaft auftreten.

Michael Meuser
Mimesis

Soziale und ästhetische Handlungen werden als mimetisch bezeichnet, wenn sie erstens als Bewegungen Bezug auf andere Bewegungen nehmen, wenn sie zweitens sich als körperliche Aufführungen oder Inszenierungen begreifen lassen, und wenn sie drittens eigenständige Handlungen sind, die aus sich heraus verstanden werden können und die auf andere Handlungen oder Welten Bezug nehmen (Gebauer/Wulf 1998, 1992).

Christoph Wulf
Nation und Staat

Körper und Nation sind keine Grundbegriffe der klassischen Soziologie. Aus welcher Perspektive man immer schaut, beide haben keinen vergleichbaren Status wie etwa Begriffe der Interaktion und Sozialisation, Institution und Imagination, Handlung und Struktur, Macht und Herrschaft, Strukturierung und Vergesellschaftung. Dennoch waren sie als Gegenstand und als soziale Tatsache häufiger sozialer, politischer, gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Bezugspunkt – als Form des Kollektiven und dessen politischer Organisation zum einen, mit dem Blick auf Menschen, die körperlich vermessen, nach körperlichen Merkmalen, ihrer Hautfarbe oder der Form ihrer Nase kategorisiert wurden zum anderen.

Ulrich Bielefeld
Performativität

In den 1990er Jahren erhielt der Begriff der Performativität im Rückgriff auf J. L. Austins (1962) Bemerkungen über die Funktion „performativer“ Ausdrücke neue Aktualität, nachdem diese schon in den1960er Jahren in der Sprachphilosophie, damals im Zusammenhang mit dem linguistic turn heftig diskutiert worden waren. Im Unterschied zu der älteren Diskussion veränderte sich sein Bedeutungsspektrum: Unter dem Einfluss neuerer gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Tendenzen wurde er im Zuge des sog. performative turn zu einem Leitbegriff, mit dem kulturelle Phänomene unter den Gesichtspunkten von Aufführung, Theatralisierung, Körperinszenierung, Ritualisierung und Verkörperung (embodiment) untersucht werden.

Gunter Gebauer
Praxis und Praktiken

Der Begriff der Praxis steht in der Soziologie ursprünglich in der Tradition von Karl Marx, der Praxis als „sinnlich menschliche Tätigkeit“ fasste (Marx 1969, S. 5). In dieser Tradition setzte Pierre Bourdieus Kritik des scholastischen Denkens den Begriff der Praxis als ‚das Andere‘ (das Gegenüber) der Sozialwissenschaft an. Praxis ist das, was nicht Theorie ist. Dies setzt einen anti-intellektualistischen Stachel: „dass schon das Nachdenken über die Praxis und das Sprechen über sie uns von der Praxis trennt“ (Bourdieu 2001, S. 67).

Stefan Hirschauer
Raum

Raum und Körper teilen in der Soziologie ein gemeinsames Schicksal. Beide galten lange Zeit als vernachlässigte Themen des Faches, erst das zunehmende Interesse an den materiellen Facetten des Sozialen rückte beide – Körper wie Raum – in den letzten Jahren verstärkt ins Zentrum der analytischen Aufmerksamkeit. Im Fall des Raums liegen die Gründe für das wachsende Interesse auch in einer durch Globalisierung und neue Technologien bedingten Irritation räumlicher Weltbezüge. „Nah“ scheint uns längst nicht mehr nur, was uns unmittelbar körperlich umgibt, sondern auch, was „zeitnah“ für uns erreichbar ist.

Silke Steets
Rhythmus

Rhythmus wird als konzeptueller Begriff in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verwendet, am prominentesten in den Musikwissenschaften, den Bewegungswissenschaften, der sprach- und literaturwissenschaftlichen Metrik, in der Phänomenologie, der (Sozial-)Psychologie und (Chrono-)Biologie sowie der Philosophischen und Kultur-Anthropologie. Die meisten dieser disziplinären Diskurse haben sich theoretisch und empirisch eigenständig entwickelt. Dies spiegelt sich einerseits in der Unbestimmbarkeit der Etymologie von Rhythmus wider (Wagner 1954) und andererseits in einer unüberschaubaren Anzahl von Definitionsversuchen.

Michael Staack
Ritual

Der Missbrauch von Ritualen zur Gleichschaltung und Unterdrückung von Menschen während des Nationalsozialismus sowie die Ritualkritik in der Studentenbewegung der 1960er Jahre haben dazu geführt, dass es lange Zeit eine negative Einstellung gegenüber Ritualen gab. Erst seit der Jahrtausendwende ist der Umgang mit Ritualen differenzierter geworden. So wichtig eine fundierte Ritualkritik in allen gesellschaftlichen Bereichen ist, sie darf nicht dazu führen, dass die zentrale Bedeutung von Ritualen für eine Gesellschaft übersehen wird.

Christoph Wulf
Schönheit und Attraktivität

Schönheit verlangt nach dem Blick Anderer, ist damit keine Privatsache, sondern Kommunikation und Interaktion. Attraktivität als Anziehungskraft(ad-trahere) steht für wertgeschätztes Aussehen, Ausstrahlung und Charisma, und diese Eigenschaften sollen weitgehend natürlich und authentisch erscheinen. Im Gegensatz zu Philosophie, Ästhetik und Psychologie interessiert soziologisch weniger eine essenzielle Bestimmung von Schönheit, sondern vielmehr die Bedeutung, die ihr sozial zugemessen wird, und die sozialen Konsequenzen, die Schönheit hat.

Nina Degele
Sinne

Als theoretische Konzepte haben die Begriffe „Sinne“ (von lat. „sensus“) und „Sinnlichkeit“ (von lat. „sensualitas“ und „sensibilitas“) zunächst in der philosophischen Erkenntnistheorie an Profil gewonnen. Die Unterscheidung von fünf körperlichen Modi der Sinneswahrnehmung (Sehen, Hören, Tasten, Riechen, Schmecken), die Differenzierung von einem „äußeren“ Sinnesempfinden und einer mentalen Innenwelt, sowie Überlegungen zur funktionalen Koppelung von sensorischer Wahrnehmung einerseits und intellektuellen Erkenntnisakten andererseits finden sich in Ansätzen bereits bei den Vorsokratikern sowie in der antiken chinesischen und indischen Philosophie. Die in der griechischen Philosophie angelegte latente Geringschätzung der sinnlichen Wahrnehmung (Aisthesis) gegenüber dem Logos sowie die damit verknüpfte Hierarchisierung der Sinne hat die gesamte abendländische Philosophie- und Kulturgeschichte geprägt. Wie sich bereits an dem platonischen Kernbegriff „idéa“ ablesen lässt, der von dem Verb idein („erblicken“, „sehen“) abstammt und sich in etwa mit „Wesensschau“ übersetzen lässt, wurde dabei dem Sehsinn am meisten „Erkenntnisfähigkeit“ attestiert.

Sophia Prinz
Subjektivierung

Der Begriff der Subjektivierung (oder Subjektivation) hat sich erst seit jüngster Zeit im soziologischen Begriffsapparat etabliert. Eng verwandt ist er mit den Begriffen der ‚Subjektposition‘ und des ‚Subjekts‘ in neueren Verwendungsweisen, auch in Zusammenhang mit Komposita wie ‚Subjektform‘ oder ‚Subjektordnung‘. Das Konzept der Subjektivierung und seine spezifische Wendung, die es dem traditionsreichen philosophischen Begriff des Subjekts gibt, stammt aus dem Feld poststrukturalistischer Theorien, wie es sich seit den 1970er Jahren in den internationalen Sozial- und Kulturwissenschaften ausgebildet hat.

Andreas Reckwitz
Sucht

Der Begriff „Sucht“ leitet sich ursprünglich vom mittelhochdeutschen Wort „siech“ (krank; althochdeutsch „siuchan“) bzw. von dem Verb „siechen“ (krank sein) ab. Bis zum 16. Jahrhundert war „Sucht“ eine generelle Bezeichnung für Krankheit (etwa Schwindsucht, Fallsucht, Tob- oder Wassersucht).

Henning Schmidt-Semisch, Bernd Dollinger
Wahrnehmung

Wahrnehmung gehört nicht zu den tradierten Grundbegriffen der Soziologie. Aus diesem Grund bedarf es einer Begründung dafür, Wahrnehmung als soziologisches und insbesondere körpersoziologisches Phänomen aufzufassen. Seit der antiken Philosophie ist die Beschäftigung mit Wahrnehmung primär mit erkenntnistheoretischen Fragen befasst.

Gregor Bongaerts
Wissen

Bei der im westlichen Denken entwickelten Trennung von Körper und Geist erscheint Wissen körperlos. Sowohl die Genese als auch die Anwendung von Wissen ist demnach eine alleinige Angelegenheit des Geistes bzw. Denkens. Auch in der Entwicklung soziologischen Denkens ist ein solcher Blick auf das Verhältnis von Wissen und Körper vorherrschend.

Fritz Böhle
Zeitlichkeit

Ist der Körper der Zeit unterworfen oder ist es umgekehrt? Steht der Körper in einem passiven oder aktiven Verhältnis zur Zeit? Dies sind Fragen, die die Philosophie und Geistes- und Sozialwissenschaften schon lange beschäftigen. Sie berühren auf eine ganz besondere Weise die Frage nach der Zeitlichkeit des Körpers, vor allem, wenn diese aus einer soziologischen Perspektive betrachtet wird.

Bojana Kunst

Theoretische Perspektiven

Frontmatter
Anthropologie

Anthropologie als Disziplin der Moderne bewegt sich zunächst immer im Spektrum zwischen den extremen Polen der Ethologe und der Ethnologie, zwischen evolutionärer Anthropologie/biologischer Anthropologie einerseits und Kultur-/Sozialanthropologie andererseits – kurz: zwischen Darwin und Foucault.

Joachim Fischer
Cultural Studies

Trotz des einheitlichen Namens und der engen personellen Verbindung vieler ihrer Vertreter in den anglo-amerikanischen Ländern ist bis heute keinesfalls unstrittig, was unter Cultural Studies verstanden werden kann. Diese Situation hat sich gegenüber den 1980er und 1990er Jahren bis heute nicht grundlegend geändert. Im Gegenteil: was herausgehoben werden kann ist, dass die Cultural Studies – nicht zuletzt als Folge des „cultural turn“ zu Beginn des 21.

Udo Göttlich
Diskurstheorie

Körper bewegen sich an der Schwelle von Natur und Kultur. Ob subjektiv erlebbarer Leib oder distanziert zu beschreibender physikalischer Körper, am Körper scheiden sich die Geister. Die Frage ist: Was ist der Körper überhaupt? Diese Frage wird in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Körper unterschiedlich beantwortet.

Hannelore Bublitz
Feministische Theorie

Feministische Perspektiven, seien diese politisch-praktisch oder akademisch-theoretisch, haben wesentlich zur Thematisierung des Körperlichen in der Soziologie überhaupt beigetragen. Die Bezeichnung ‚feministische Theorie(n)‘ ist jedoch – wie letztlich jede Theoriechiffre – umstritten. Becker-Schmidt/Knapp (2000) folgend, wird hier feministische Theorie verstanden als ausgesprochen heterogene Reflexionsund Forschungskonstellation, die sich explizit kritisch zum etablierten Kanon der institutionalisierten akademischen Disziplinen positioniert.

Paula-Irene Villa
Figurationssoziologie

Der von Norbert Elias (1897–1990) entwickelte Ansatz ist je nach Rezeption als Zivilisationstheorie, Prozess- oder Figurationssoziologie bezeichnet worden (vgl. Treibel 2008, Atkinson 2012). Damit sind drei zentrale Begriffe benannt, anhand derer sich die Grundzüge des Elias’schen Denkens darstellen lassen und die relevant für die körpersoziologische Forschung sind (weitere zentrale Begriffe sind insbesondere in der prägnanten Einführung von Hammer 1997, erläutert): Die Bezeichnung Figurations- Soziologie, welche sich ab den 1970er Jahren etablierte (vgl. Korte 2013, S. 209 ff.), verweist auf die generelle Verflochtenheit von Menschen in interdependenten Beziehungen, die weder auf subjektive Absichten noch auf subjektlose Strukturen reduziert werden können. Mit der Bezeichnung Prozess-Soziologie wird die Auffassung betont, Gesellschaft nicht als einen statischen Zustand, sondern als immer in Entwicklungen befindlich zu verstehen.

Jan Haut
Handlungstheorie

Anfang der 1990er Jahre hatte Hans Joas darauf hingewiesen, dass diejenigen soziologischen Handlungstheorien, die den Typus des rationalen Handelns ins Zentrum ihrer Analysen rücken, eine dreifache Unterstellung vornehmen: „Sie unterstellen den Handelnden erstens als fähig zum zielgerichteten Handeln, zweitens als seinen Körper beherrschend, drittens als autonom gegenüber seinen Mitmenschen und seiner Umwelt“ (Joas 1992, S. 217). Joas kritisiert die Vernachlässigung des Körpers in der Mehrzahl der soziologischen Handlungstheorien und spricht in diesem Zusammenhang von einer „Art theoretischer Prüderie“ (ebd., S. 245). Eine Überwindung dieser „Prüderie“ im Sinne einer körpersoziologischen Fundierung der Theorie sozialen Handelns führt zu einem revidierten, nicht teleologischen Verständnis von Intentionalität, zu einem nicht instrumentalistisch begrenzten Verständnis des Verhältnisses des handelnden Subjekts zu seinem Körper und zu einem Akteursverständnis, das die Eingebundenheit des Handelnden in eine das individuelle Handeln erst ermöglichende, körperlich fundierte Intersubjektivität betont.

Michael Meuser
Interaktionstheorie

„Der Körper: so haben wir ihn erfunden. Wer sonst in der Welt kennt ihn?“ konstatiert Jean-Luc Nancy gleich zu Beginn seines philosophischen Corpus und drückt damit die in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften inzwischen geteilte Grundeinsicht aus, der zufolge der menschliche Körper nicht als natürliche oder ursprüngliche Substanz angenommen werden kann, sondern das stets besondere und immer nur vorläufige ‚Produkt‘ von Prozessen und Verhältnissen ist: von historischen Entwicklungen und sozialen Interaktionen (Nancy 2003, S. 10). Dieser Einsicht folgend, kommen sozialwissenschaftliche Interaktionstheorien ohne die Berücksichtigung des Verhältnisses des Menschen zu seinem Körper genauso wenig aus, wie umgekehrt die Soziologie des Körpers auf den Einbezug interaktionstheoretischer Überlegungen verzichten kann. Den ‚klassischen‘ Ausgangsort für das in diesem Beitrag verfolgte wissenssoziologische Zusammendenken von Körper, Geschichte und Interaktion markiert denn auch Georg Simmel, wenn er in seinen „Grundfragen der Soziologie“ wiederholt vom „Leben der Gesellschaft“ spricht und sich damit eine grammatikalische Mehrdeutigkeit mit durchaus systematischen Charakter leistet.

Michael R. Müller, Jürgen Raab
Kritische Theorie

Das mehr als 560 Seiten umfassende „Adorno-Handbuch“ (Klein et al. 2011) aus dem Jahr 2011 greift, mehr als hundert Jahre nach seiner Geburt, in 55 Beiträgen Leben und künstlerisches Schaffen, vor allem aber das sozialphilosophische Werk des Gewürdigten – um nicht sagen zu müssen: des ‚Thematisierten‘ – auf. Damit ignoriert es in vollen Zügen, was Adorno selbst über die „lexikalische[] Vernunft“ notiert hat: Dass nämlich Nachschlagewerke, trotz hilfreicher Unterstützung beim intellektuellen Tagwerk, letztlich am Werk einzelner Autoren eine ungünstige „Vergegenständlichung“ betreiben, die festschreibt und damit unflexibel macht (GS 11, S. 352). Ob der Bruch mit dieser Direktive zum Nutzen oder Nachteil Adornos ist, kann dahingestellt bleiben (vgl. dazu auch Honneth 2006, S. 11).

Thorsten Benkel
Modernisierungstheorie

Dass die Soziologie von der ‚Moderne‘ und der ‚modernen Gesellschaft‘ spricht, ist zunächst nur ein Indiz dafür, dass die Gesellschaft über ein Geschichtsverständnis verfügt, mit dem sie sich selbst als modern beschreibt (vgl. Luhmann 1997, S. 102). Gleichwohl bestehen in modernisierungstheoretischen Debatten der Gegenwart Konzepte, die das Moderne in einem globalen Vergleichsrahmen und von spezifischen (normativen) Vorstellungen ausgehend als Maßstab (modern, Moderne) und Steigerungsformel (Modernisierung) zum Einsatz bringen. Der modernen Gesellschaft werden dann bestimmte (positive) Eigenschaften zugeschrieben, die in einzelnen Weltregionen noch erreicht werden müssen.

York Kautt, Herbert Willems
Phänomenologie

Der Körper wurde in der Phänomenologie erstmals im Spätwerk von Husserl behandelt (1973, 1983), insbesondere im zweiten Band seiner „Ideen“ und in „Erfahrung und Urteil“. Die Thematik wurde dann von Vertretern des Existenzialismus wie Sartre (1969) und Beauvoir (1988), aber vor allem von Merleau-Ponty (1962) aufgegriffen, die sich alle auf Husserl und Heidegger bezogen. In „Sein und Zeit“ (1962) hatte Heidegger ebenfalls einen stärker körperbezogenen und lebensweltlichen Ansatz der Phänomenologie vertreten.

Nick Crossley
Praxistheorie

„Praxistheorien“ haben in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewonnen. Der Begriff „Praxistheorie“ (und seine Synonyme „Praxeologie“ und „Praxissoziologie“) bezeichnen keine einheitliche Theorie, sondern ein neues und heterogenes Feld familienähnlicher analytischer Ansätze, Erkenntnisstile und theoretischer Vokabulare, das durch unscharfe Grenzen gekennzeichnet ist. Praxistheoretische Zugänge werden über die Disziplingrenzen hinweg vor allem in der (Sozial-)Philosophie, der Soziologie, der Sozialanthropologie sowie in den Medien-, Kommunikations-, und Geschichtswissenschaften rezipiert und weiterentwickelt.

Robert Schmidt
Strukturierungstheorie

Der Begriff der Strukturierungstheorie dient zur Bezeichnung diverser programmatischer Ansätze in der Soziologie, die auf traditionelle philosophische Letztgewissheiten verzichten wollen und stattdessen beanspruchen, theoretisch fundierte Analysen von sozialen Verhaltensmustern und Beziehungen vorzulegen, wie sie für zeitgenössische und frühere Gesellschaften charakteristisch sind. Auch das Werk von Pierre Bourdieu, das gelegentlich mit der historisch filigran ausgearbeiteten Prozess- und Figurationssoziologie von Norbert Elias in Verbindung gebracht wurde, rechnen viele dem strukturierungstheoretischen Denkansatz zu. Derjenige jedoch, der die Strukturierungstheorie am deutlichsten ausformuliert und mit dem größten Selbstbewusstsein vertreten hat, ist Anthony Giddens. Dieser Beitrag ist vor allem seiner Arbeit gewidmet.

Chris Shilling, Philip A Mellor
Systemtheorie

Die Neuere Systemtheorie ist von Haus aus keine Körpersoziologie, sondern – aufgrund ihrer zentralen Axiome und Paradigmen – eine explizit körperdistanzierte Theorie. Für eine Soziologie des Körpers kann sie aber einerseits – sofern sie sich als Theorie der modernen Gesellschaft versteht – ein Korrektiv allzu ‚körperfreudiger‘, die Strukturen bzw. die Differenzierungsform der modernen Gesellschaft mitunter vernachlässigender Theoreme bilden, während sie sich andererseits auch und gerade auf dem Feld der Körpersoziologie an ihren Anspruch messen (lassen) muss, alles Soziale analysieren zu können. Da die Körper(soziologie)ferne der Systemtheorie (bislang) die Etablierung einer systemtheoretischen Körpersoziologie blockiert hat, können die folgenden Ausführungen dem klassischen Muster eines Forschungsüberblicks nur bedingt folgen; sie versuchen sich stattdessen an einem Problemaufriss, der eher als Prolegomenon zu einer systemtheoretischen Körpersoziologie denn als ihre Darstellung zu verstehen ist.

Sven Lewandowski
Backmatter
Metadaten
Titel
Handbuch Körpersoziologie
herausgegeben von
Robert Gugutzer
Gabriele Klein
Michael Meuser
Copyright-Jahr
2017
Electronic ISBN
978-3-658-04136-6
Print ISBN
978-3-658-04135-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-04136-6