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2022 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Herleitung einer Systematik der Leer- und Unbestimmtheitsstellen visuell erzählender Bilderbücher

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Zusammenfassung

Das dritte Kapitel soll klären, was in der vorliegenden Arbeit unter den Begriff „Leer- und Unbestimmtheitsstellen visuell erzählender Bilderbücher“ gefasst wird. Dazu wird auf der Grundlage einer Analyse unterschiedlicher Theorien aus der Literatur-, der Kunst-, sowie der Medienwissenschaft zu Leer- und Unbestimmtheitsstellen in Texten, Bildern und anderen medialen Formen eine Systematik der Leer- und Unbestimmtheitsstellen visuell erzählender Bilderbücher hergeleitet.

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Fußnoten
1
Den Briefen Werthers ist die folgende Herausgeberfiktion vorangestellt: „Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir’s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen. Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen näheren finden kannst.“ (Goethe 1958 [1774], S. 7)
 
2
Ingarden (1968) bezeichnet sein Vorgehen in Das literarische Kunstwerk in Anlehnung an Husserl auch als „‚eidetische‘ Analyse des ‚allgemeinen Wesens‘ […] im phänomenologischen Sinn“ (Ingarden 1968, S. 9) des literarischen Kunstwerks, die zur „Erfassung der konstitutiven formalen und materialen Momente solcher Gebilde“ (ebd., S. 10) führt.
 
3
Anders als Husserl ist Ingarden die Unterscheidung zwischen realem und intentionalem Gegenstand möglich, weil er sich von dessen Idealismus abkehrt und annimmt, dass es neben den intentionalen auch „seinsautonome“ (Ingarden 1998, S. 27), d. h. unabhängig von unserem Bewusstsein existierende Gegenstände gibt.
 
4
Der Nachvollzug dieser Unterscheidung – sowie der Literaturtheorie Ingardens insgesamt – wird erheblich dadurch erschwert, dass er mit dem Begriff „das literarische Kunstwerk“ innerhalb seines Werks auf Unterschiedliches referiert. Wie oben erläutert wurde, betrachtet Ingarden „das literarische Kunstwerk überhaupt“ als „ein rein intentionales Gebilde“ (Ingarden 1968, S. 12), welches erst durch einen Bewusstseinsakt hervorgebracht bzw. aktualisiert wird. Dabei merkt er einerseits an, dass jede Aktualisierung des literarischen Kunstwerks notwendigerweise mit seiner Konkretisation einhergehe, weshalb dieses als rein schematisches, von den Konkretisationen unabhängiges Gebilde für den/die Rezipient*in letztlich gar nicht fassbar sein dürfte. Andererseits unterscheidet Ingarden zwischen einer „schlichten, außerästhetischen (oder ‚vorästhetischen‘) Erfassung des Werkes“ und seiner „ästhetischen Erfassung“ (ebd., S. 53), und betont, dass die Konkretisation der im literarischen Kunstwerk dargestellten Gegenständlichkeiten und Ansichten den Übergang von Ersterer zu Letzterer ermögliche. Das legt die Deutung nahe, dass er zwischen einer auf alle Konkretisationen verzichtenden und einer ästhetischen Rezeptionsweise unterscheidet. Dieselbe Unterscheidung scheint er im Auge zu haben, wenn er „passives und aktives Lesen“ (ebd., S. 35) voneinander abgrenzt. Die „rein passive, bloß aufnehmende“ (ebd., S. 36) Lektüre betreffe vor allem das Erfassen der beiden ‚sprachlichen Schichten‘ des literarischen Kunstwerks. Die dargestellten Gegenständlichkeiten enthülle diese Art der Lektüre dem Leser nur „in einer gewissen Distanz und im Halbdunkel“ (ebd., S. 39). Die ästhetische Erfassung, bei welcher die Gegenstände „in ihrer eigenen, charakteristischen Struktur und in der Fülle der Einzelheiten“ (ebd.) entdeckt würden, setze hingegen ein aktives Lesen voraus, bei dem die „Gegenstände wenigstens bis zu einem gewissen Grad und in den vom Werk selbst geforderten Grenzen ‚konkretisier[t]‘“ (ebd., S. 49) würden. Die Unterscheidung zwischen dem literarischen Kunstwerk und seinen Konkretisationen liest sich vor diesem Hintergrund, als würde Ingarden davon ausgehen, dass erstens auch eine von jeglicher Art der Konkretisation absehende Erfassung des literarischen Kunstwerks möglich ist und zweitens die ästhetische Erfassung des literarischen Kunstwerks über jene selbst hinausgeht. Dem widerspricht jedoch, dass er an vielen Stellen seines Werks ausführt, dass das literarische Kunstwerk in seiner auf Konkretisationen beruhenden ästhetischen Erfassung erst hervorgebracht werde (vgl. z. B. Ingarden 1960, S. 397, 1968, S. 94). Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Ingarden mit dem Begriff „literarisches Kunstwerk“ zum einen das zwar in einem Bewusstsein aktualisierte, aber nicht-konkretisierte literarische Werk als schematisches Gebilde meint. Zum anderen bezeichnet er die Konkretisationen selbst als literarisches Kunstwerk. Lobsien (2012a) geht sogar davon aus, dass Ingarden – seiner phänomenologischen erkenntnistheoretischen Einstellung entsprechend – letztlich keines von diesen beiden Dingen, sondern den „idealen Typus (das Wesen oder eidos) aller möglichen einzelnen Konkretisationsakte“ (Lobsien 2012a, S. 37, Hervorh. i. O.) für das literarische Kunstwerk hält.
 
5
„Die Ansicht, die ich habe, ist nicht das wahrgenommene physische Ding, sie ist das, was ich erlebe, wenn ich das betreffende Ding wahrnehme.“ (Ingarden 1992, S. 231).
 
6
Bezeichnenderweise geht Ingarden (1968) selbst, obwohl er zu Beginn seines Werks darauf hinweist, dass auch die Schicht der schematisierten Ansichten Unbestimmtheitsstellen enthalte, im Rahmen seiner näheren Ausführungen zur Aktualisierung und Konkretisierung der Ansichten nicht näher auf diese ein. Auch wenn er im weiteren Verlauf des Werks auf Unbestimmtheitsstellen eingeht, handelt es sich stets um solche, wie er sie der gegenständlichen Schicht des literarischen Kunstwerks zuschreibt.
 
7
„Bedeutungen literarischer Texte werden überhaupt erst im Lesevorgang generiert; sie sind das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt.“ (Iser 1975a, S. 229).
 
8
Als „expositorische Texte“ definiert Iser in Abgrenzung von literarischen Texten solche, die reale Gegenstände „vorstellen oder mittelbar machen“: „Wenn ein Text von einem Gegenstand spricht, den es außerhalb seiner mit der gleichen Bestimmtheit gibt, dann liefert er nur eine Exposition des Gegenstandes.“ (Ebd., S. 231) In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff „Sachtexte“ synonym dazu verwendet.
 
9
Gerade adressaten- und zielgruppenorientierte Sachtexte setzen oft ein bestimmtes Vorwissen des/der Leser*in voraus und lassen daher vieles unbestimmt in der Erwartung, dass die Leser*innen dazu fähig sind, die Unbestimmtheitsstellen zu füllen.
 
10
Der/die Leser*in kann auch über ein Vorwissen bzw. Vorerfahrungen zu fiktiven bzw. fantastischen Gegenständen verfügen, beispielsweise wenn er diesen in anderen fiktionalen Welten schon einmal begegnet ist.
 
11
Ebenso wie Ingarden (vgl. Abschn. 3.1.1.2) unterscheidet auch Iser zwischen dem materiell gegebenen Text, d. h. der Abfolge von Zeichen, und dem Werk, welches sich erst im Akt des Lesens „im Bewußtsein des Lesers“ (Iser 1976, S. 39) konstituiere, und hier als literarischer Gegenstand bezeichnet wird.
 
12
Anstelle des Begriffs der „schematisierten Ansicht“ tritt in Der Akt des Lesens der des „Textsegments“. Iser verwendet sie offenbar synonym (vgl. Lindner 2017, S. 66). Als Beispiele für ausgesparte Beziehungen zwischen Textsegmenten nennt er das Abbrechen von Handlungssträngen, die abrupte Einführung neuer Personen, das Nebeneinander verschiedener Darstellungsperspektiven wie der Erzähler- und der Figurenperspektive sowie Kapitelgrenzen (vgl. Iser 1976, S. 304). Letztlich ist nicht nachvollziehbar, weshalb sich Leerstellen anders als Unbestimmtheitsstellen nicht aus „Unbestimmtheitsbeträgen des Textes“ ergeben, denn auch hier scheint eine „Bestimmungslücke“ vorzuliegen (ebd., S. 284).
 
13
„Der Text als perspektivisches Gebilde erfordert eine ständige Beziehung seiner Darstellungsperspektiven aufeinander. Da aber diese Perspektiven sich im Textgewebe durchschichten, gilt es, die Beziehungen zwischen den verschiedenen Segmenten einer jeweiligen Perspektive sowie zwischen den Segmenten verschiedener Perspektiven im Lesevorgang unentwegt herzustellen. Oftmals stoßen diese Segmente unvermittelt aneinander. […] Allein die Tatsache, daß die Darstellungsperspektiven des Textes dem Leserblickpunkt immer nur in Segmenten gegeben sind, zeigt an, daß die Textkohärenz erst in der Vorstellungstätigkeit des Lesers einzulösen ist.“ (Ebd., S. 286)
 
14
Bilder können sehr unterschiedliche Formate annehmen, die vom Liniendiagramm über das Familienfoto bis zu künstlerischen Bildern reichen. Wenn in der vorliegenden Arbeit von „Bildern“ die Rede ist, sind grundsätzlich künstlerisch-realistische Bilder gemeint, d. h. solche, die konkrete Sachverhalte auf künstlerische Weise darstellen, wobei sie sowohl auf die reale als auch auf eine fiktive Welt referieren können.
 
15
Ingarden (1962) befasst sich in den Untersuchungen zur Ontologie der Kunst darüber hinaus mit Unbestimmtheitsstellen in musikalischen und architektonischen Werken sowie solchen im Film.
 
16
Wie es Ingarden von den im literarischen Text dargestellten Gegenständlichkeiten annimmt (vgl. Ingarden 1962, S. 230).
 
17
„[D]asselbe Werk [wird] in vielen verschiedenen Fällen auf etwas verschiedene Weise aktualisiert und konkretisiert […]. In dieser letzten Hinsicht unterscheidet sich […] das Bild von den literarischen oder musikalischen Werken nicht im geringsten.“ (Ebd., S. 233).
 
18
Nur visuelle Eigenschaften eines Gegenstandes können Ingarden zufolge im Bild direkt zur Erscheinung gebracht werden. Andere Eigenschaften derselben könnten hingegen teilweise insofern indirekt in Erscheinung treten, als sie „in den visuellen Eigenschaften mitdargestellt werden“ (ebd., S. 149–150). Entsprechend lasse sich beispielsweise die Feuchtigkeit des Wassers mittels malerischer Mittel nicht direkt zur Darstellung bringen, aber „[i]st das Wasser gut gemalt, so scheint es fast feucht zu sein, […] die Feuchtigkeit […] wird nur mittels entsprechender Farben und Farbgestalten mitdargestellt“ (ebd., S. 149, Hervorh. i. O.).
 
19
Das gilt natürlich nur, solange dieses neben dem Text keine Illustrationen der Gegenstände enthält.
 
20
Häufig verweist eine Geste oder ein Gesichtsausdruck einer im Bild dargestellten Person nicht eindeutig auf eine bestimmte Emotion. Vermutlich würde Ingarden zugestehen, dass es in einem solchen Fall verschiedene Aktualisierungsmöglichkeiten gibt, mit der Aktualisierung aber keine Füllung einer Unbestimmtheitsstelle einhergehe, weil hier nichts ergänzt werde, was nicht auf direkte oder indirekte Weise in der im Bild rekonstruierten Ansicht enthalten ist. Die Emotion ist in einem solchen Fall im Bild nicht vollkommen ausgespart, sondern das Dargestellte lässt mehrere Deutungen zu. Es liegt also eine Mehrdeutigkeit, aber keine Unbestimmtheitsstelle im Ingarden’schen Sinn vor.
 
21
Er bezieht sich explizit auf das Bild La Montagne Saint Victoire, von Lauvres aus gesehen (1902–1906) von Paul Cézanne und auf Claude Monets Unter Zitronenbäumen (1884).
 
22
Boehm zufolge wird hier „von Unbestimmtheit künstlerische[r] Gebrauch gemacht“ (Boehm 2007, S. 204).
 
23
Kemp fasst unter dem Begriff der „Leerstelle“ grundsätzlich sowohl Leerstellen im Sinne Isers als auch Unbestimmtheitsstellen im Sinne Ingardens. Bei den von ihm angeführten Beispielen für Unbestimmtheiten in der Malerei des 19. Jahrhunderts handelt es sich allerdings ausschließlich um Aussparungen im Bild, die der Iser’schen Leerstellenkonzeption entsprechen.
 
24
„Zwischen der Ausformulierung und der Auslassung ist somit die Andeutung als Spur anzusiedeln“ (Kruse 2010, S. 225).
 
25
Als „enge Folge“ bezeichnet Grünewald (2012) eine Bildfolge die „von Bild zu Bild nur geringe Zeitabstände aufweist, gewissermaßen fließt und meist mit der Filmästhetik korrespondierend und eher kontinuierend, fast flüchtig verfolgt werden kann“ (Grünewald 2012, S. 14).
 
26
Die moderne Bildverstehensforschung kann diesen Konstruktionsprozess natürlich – u. a. auf der Grundlage empirischer Forschung – viel präziser beschreiben, als es Ingarden zu seiner Zeit möglich war. Die dabei entwickelten Modelle (z. B. Weidenmann 1988; Schnotz/Bannert 1999) weichen erwartungsgemäß von Ingardens durch seine phänomenologische Auffassung der Wahrnehmung geprägter Auffassung des Bildverstehens ab (vgl. Kap. 4). Ingardens Ausführungen stimmen jedoch insofern mit diesen Modellen überein, als er das Bildverstehen bzw. das Erkennen des Bildes als Prozess betrachtet, an welchem der/die Betrachter*in mit seinem/ihrem jeweiligen Vorwissen, seinen/ihren Erfahrungen etc. ganz wesentlich beteiligt ist.
 
27
Iser beschreibt nur das zeitliche Nachher bzw. auf den offenen Handlungsfortgang im Fortsetzungsromanbezogene Leerstellen. Auf die Möglichkeit, dass auch das zeitliche Vorher des Textes ausgespart, aber in Form von Spuren im Text präsent sein kann, geht er nicht ein (vgl. Abschn. 3.1.2.3).
 
28
Dieses Beispiel zeigt, dass es ganz wesentlich von dem/der Betrachter*in und seinen/ihren Erwartungen an den Rezeptionsgegenstand abhängt, welche Leerstellen im Rezeptionsprozess als solche ins Bewusstsein treten.
 
29
Vgl. Abschn. 2.​3.​2.
 
30
Eine erste Systematik der page breaks in Bilderbüchern legt Klarissa Schröder (2020) in ihrer Dissertationsschrift vor.
 
Metadaten
Titel
Herleitung einer Systematik der Leer- und Unbestimmtheitsstellen visuell erzählender Bilderbücher
verfasst von
Katharina Rist
Copyright-Jahr
2022
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-39611-4_3