Lebenden Materialien enthalten biologische Zellen. Im Interview erläutert Aránzazu del Campo vom Leibniz-Institut für Neue Materialien Funktionsweise und künftige Anwendungen – von der Softrobotik bis hin zu selbstwachsenden Werkstoffen.
Mit Ihren Forschungen wollen Sie Werkstoffen gewissermaßen Leben einhauchen. Was sind sogenannte Lebenden Materialien?
Es handelt sich um Materialien, die lebende Zellen beinhalten – allerdings nicht als Kontamination, sondern als wesentlicher Bestandteil des Materials. Die Zellen übernehmen dabei wichtige Funktionen, die Materialien ganz neue Eigenschaften verleihen – Eigenschaften, wie sie eigentlich nur in der Natur vorkommen.
Welche Funktionen können Materialien dadurch erhalten?
Wir können Eigenschaften von Materialien gezielt programmieren oder reprogrammieren, ohne dass es irgendeiner Peripherie bedarf. Materialen können zum Beispiel sensorische oder adaptive Eigenschaften bekommen und sich noch der Herstellung, im Betrieb selbst optimieren. In der Natur passiert das ja ständig, so ist die Evolution.
In welchen Bereichen lassen sich lebende Materialien künftig potenziell einsetzen?
Im Moment sehen wir nur die Spitze des Eisbergs. Eine Anwendung, die sich heute schon abzeichnet, sind zum Beispiel Aktuatoren für Softrobotik. Da geht es um Materialien, die ihre Form oder ihr Volumen ändern, wenn sie Licht, externen Impulsen, Feuchtigkeit oder gewissen Substanzen ausgesetzt sind. In der Medizintechnik könnten interessante Anwendungen entstehen, zum Beispiel im Bereich von Implantaten oder Wearables für das Monitoring von Krankheiten, oder auch im Bereich der Low-cost-Sensorik für das Umweltmonitoring. Selbstheilender Beton oder selbstheilende Klebstoffe sind weitere mögliche Anwendungen. Oder auch interessant: selbstwachsende Beschichtungen. Das könnten Werkstoffe sein, die unter Einwirkung von Licht Mineralien absetzen und dadurch eine Schutzschicht ausbilden. Im Medizinbereich könnten sich nach diesem Prinzip Implantate selbst fügen oder darin enthaltene Organismen könnten im Körper selbstständig Wirkstoffe synthetisieren und an den Organismus abgeben.
Über welche technische Reife sprechen wir bei der Anwendung von lebenden Materialien?
Für sämtliche Anwendungen gibt es heute schon Laborprototypen.
In den Materialwissenschaften bestehen verschiedene Ansätze, Materialien programmierbar zu machen – in der Regel ohne biologischen Hintergrund. Was unterscheidet Ihre Arbeiten von anderen Forschungen in dem Bereich?
Wir programmieren die Materialien schon in ihrer Entstehung, also bevor wir sie nutzen. Gewissermaßen programmiert ja auch die Natur ihre Materialien. Später entwickeln sich diese Materialien allerdings selbstständig weiter. Und hier liegt auch der wesentliche Unterschied zu anderen Forschungen in diesem Bereich: Diese Möglichkeit zur Adaptivität haben Materialien ohne lebende Zellen einfach nicht.
Welche Art von biologischen Zellen könnte man beispielsweise in einen Kunststoff oder Klebstoff einbauen?
Man kann grundsätzlich fast alle Zellen in einem Kunststoff einschließen. Der Kunststoff muss aber ein paar Bedingungen erfüllen. Einfache Zellen – also keine menschlichen Zellen – können auch unter sehr harten Bedingungen überleben. In der Natur kennt man beispielsweise die Extremophilien, die unter untervorstellbaren pH-Werten, Drücken oder Temperaturen leben. Im Material brauchen die Zellen allerdings Wasser und Nahrung. Die lebenden Materialien müssen also mit einer Art Vaskulatur …
… so einer Art Gefäßkreislauf …
… versehen werden, sofern die Zellen eine Funktion erfüllen sollen. Allerdings kann es ja auch sein, dass die Zellen während der Benutzung des Materials gar nicht ständig eine Funktion erfüllen müssen. Man könnte die Zelle also in einem latenten Zustand halten – so können Hefen, Pilze und Bakterien sehr lange leben –, und nur unter Zugabe von Feuchtigkeit oder bestimmter Nährstoffe werden die Zellen aktiv, um dann später wieder in den latenten Zustand überzugehen.
Wie gestaltet sich die Verarbeitung der Materialien?
Man muss die Verarbeitung etwas umkonzipieren, denn es gibt auch Sachen, die nicht gehen. Sehr hohe Temperaturen wie zum Beispiel beim Sintern von Metall oder Keramiken werden Bakterien oder Sporen nicht überleben. Solche Werkstoffe ließen sich dann aber später mit lebenden Materialien beschichten.
Sie sagen, die Zellen können sehr langlebig sein. Welche Problemfelder entstehen dadurch in der Zukunft, beispielsweise mit Blick auf das Recycling?
Die Zellen selbst wird man sicherlich nicht recyceln wollen. Für das Recycling des übrigen Materials ergeben sich durch die Zellen gegenüber heute keine neuen Fragestellungen. Wichtiger ist das schon die Frage, wie man gewährleistet, dass durch die Nutzung von lebenden Materialien keine Gefahren für die Umwelt entstehen – Stichwort Biocontainment. Beispielsweise muss man schon in der Materialentwicklung einplanen, dass die enthaltenen Zellen unter bestimmten Bedingungen nicht überleben. Dafür gibt es viele Möglichkeiten.
Welches sind aktuell die wesentlichen Forschungsfragen im Bereich der lebenden Materialien?
Zum einen geht es darum, wie die Materialien designt und verarbeitet werden. Ein anderes Thema sind die Materialmodelle: Ein Material, das sich über die Zeit verändert, kann man nicht so leicht beschreiben. Man muss also neue Methoden entwickeln, wie man die Eigenschaften des Materials über die Zeit seiner Nutzung auch verfolgt. Auch der Transfer in die Anwendung wirft noch Fragen auf: Wie definieren wir solche Materialien? Wie sehen mögliche Standardisierungsrichtlinien aus?
Wann schaffen es lebenden Materialien in die praktische Anwendung?
Das hängt entscheidend davon ab, wie schnell wir die offenen Fragen zur Sicherheit der Materialien und zum Upscaling in der Herstellung lösen können. Was die Forschung angeht, da haben wir in den letzten fünf Jahren schon wahnsinnig viel gesehen, in den nächsten zehn Jahren werden wir noch mehr sehen. Es ist wichtig, dass wir uns bei den lebenden Materialien von Anfang an um den Transfer in die Anwendung zu kümmern, da wir noch nichts haben, wonach wir uns richten können. Vergleichbare standardisierte Materialien gibt es ja heute noch nicht. Wenn es läuft, wie bei Medizinprodukten, dann würden wir statt von einem Zeitraum von fünf Jahren eher von 20 Jahren bis zur Einführen reden. Das wäre nicht gut, aber es kann passieren.