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Open Access 2019 | OriginalPaper | Buchkapitel

I. Einleitung

verfasst von : Arthur Brunner

Erschienen in: Subsidiaritätsgrundsatz und Tatsachenfeststellung unter der Europäischen Menschenrechtskonvention

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Der europäische Menschenrechtsschutz wird ganz wesentlich durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geprägt. Strukturelles Kennzeichen der EMRK ist die Möglichkeit jedes und jeder Einzelnen, sich nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges (Art. 35 Ziff. 1 EMRK) vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen behauptete Verletzungen der Konventionsrechte zur Wehr setzen zu können (Art. 19 EMRK). Im Unterschied zu anderen völkerrechtlichen Überwachungsmechanismen zum Schutz der Menschenrechte, die durch periodische Länderberichte auf strukturelle Verbesserungen abzielen, sollen Verletzungen unter der EMRK im Einzelfall festgestellt und wiedergutgemacht werden.

A. Subsidiarität im europäischen Menschenrechtsverbund

Der europäische Menschenrechtsschutz wird ganz wesentlich durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geprägt. Strukturelles Kennzeichen der EMRK ist die Möglichkeit jedes und jeder Einzelnen, sich nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges (Art. 35 Ziff. 1 EMRK) vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen behauptete Verletzungen der Konventionsrechte zur Wehr setzen zu können (Art. 19 EMRK).1 Im Unterschied zu anderen völkerrechtlichen Überwachungsmechanismen zum Schutz der Menschenrechte, die durch periodische Länderberichte auf strukturelle Verbesserungen abzielen,2 sollen Verletzungen unter der EMRK im Einzelfall festgestellt und wiedergutgemacht werden.3
Umgesetzt wird diese Aufgabe durch die nationalen Gerichte einerseits und den EGMR anderseits. Hauptakteure sind mithin Institutionen, die auf verschiedenen Ebenen – und oft auf Grundlage verschiedener Rechtssätze – zur Rechtsanwendung im Einzelfall berufen sind und als Grundlage ihrer Entscheidungen die rechtserheblichen Tatsachen feststellen müssen. Das Verhältnis dieser Institutionen scheint im Ausgangspunkt klar zu sein: Die nationalen Gerichte sollen Konventionsverletzungen als „Primärverpflichtete“ der EMRK nach Möglichkeit bereits innerstaatlich beseitigen beziehungsweise verhindern, der EGMR soll (subsidiär) einschreiten, wenn die nationalen Gerichte dieser Verpflichtung nicht nachkommen.4 Der EGMR bildet insofern im Verhältnis zu den nationalen Gerichten ein „letztes (überstaatliches) Auffangnetz“,5 das gravierende Versäumnisse auf innerstaatlicher Ebene korrigieren soll. Schon allein aufgrund seiner räumlichen Zuständigkeit für den Einflussbereich von 47 Konventionsstaaten ist er hingegen nicht in der Lage, flächendeckend die Gewährleistung der Konventionsrechte sicherzustellen; er ist vielmehr darauf angewiesen, dass die Europaratsstaaten Strukturen aufweisen, unter denen Konventionsverletzungen nur im Ausnahmefall vor den EGMR getragen werden müssen.6
Aus der gemeinsamen Aufgabe – dem Schutz der Konventionsgarantien im Einzelfall – ergeben sich verschiedene Schnittstellen, deren Konturen sich mit einer derart einfachen Beschreibung der Aufgabenbereiche nur unzureichend aufzeigen lassen: Bis zu welchem Zeitpunkt sind die nationalen Behörden im Hinblick auf den Ausschöpfungsgrundsatz (Art. 35 Ziff. 1 EMRK) in einem konkreten Fall zum Schutze der Konventionsrechte berufen? Wann geht diese Aufgabe auf den EGMR über? Welchen materiellen Kontrollmaßstab wendet der EGMR an, wenn ein Fall nach Durchlaufen des nationalen Instanzenzuges an ihn herangetragen wird? Inwieweit ist die Auslegung der Konventionsgarantien durch den EGMR für die nationalen Behörden bindend? Welche Rechtswirkungen kommen den Urteilen des EGMR zu? Wie werden Urteile durch die nationalen Behörden umgesetzt, wenn einer im Einzelfall festgestellten Konventionsverletzung strukturelle Ursachen zugrunde liegen? Mit solchen Fragen setzt sich die Rechtswissenschaft schon länger und teilweise intensiv auseinander. Die Diskussion spielt sich dabei zunächst auf einer terminologischen Ebene ab, die so grundlegend ist, dass sie hier vorweggenommen werden soll.
Zuweilen wird das Verhältnis zwischen nationalen Behörden und Gerichten und dem EGMR zumindest dem Gedanken nach als „hierarchischer Instanzenzug“ beschrieben7 – ein Begriff, der aus dem nationalen Verfahrensrecht stammt. Der Gedanke ist aus schweizerischer Perspektive insofern nachvollziehbar, als die Konventionsgarantien unter dem in der Schweiz herrschenden monistischen System vor Behörden und Gerichten aufgrund ihres „self-executing“-Charakters direkt angerufen werden können,8 und der EGMR insoweit als zeitlich nachgelagerte Überprüfungsinstanz die innerstaatliche Anwendung der Konventionsgarantien gewissermaßen „letztinstanzlich“ überprüft.9 Die EMRK selbst setzt die direkte innerstaatliche Anwendbarkeit der Konventionsgarantien jedoch nicht voraus, sondern steht der Umsetzung der EMRK im innerstaatlichen Recht „indifferent“ gegenüber.10 Das deutsche Bundesverfassungsgericht beispielsweise entscheidet alleine am Maßstab des deutschen Grundgesetzes und zieht das Konventionsrecht allenfalls als Auslegungshilfe für deutsche Grundrechte heran.11 Zu Recht hält der EGMR vor diesem Hintergrund in konstanter Rechtsprechung fest, dass er keine „vierte Instanz“ ist.12 Weil der EGMR sich nicht als viertes Gericht in den nationalen Instanzenzug einordnet, kann auch die ihm völkerrechtlich übertragene Kontrolle der Einhaltung der EMRK nicht durch nationales Verfahrensrecht eingeschränkt sein13 – eine logische Folgerung, die teilweise verkannt wird, wenn vom EGMR als „vierter Instanz“14 die Rede ist.
Dass der EGMR nicht als letztes Gericht eines Instanzenzuges entscheidet, zeigt sich noch in anderen Fallkonstellationen: Entgegen dem Grundgedanken der EMRK kommt es nämlich vor, dass der EGMR als einzige Instanz entscheidet, etwa wenn die innerstaatlichen Behörden und Gerichte die Behandlung eines Falls unter Berufung auf nationale Sicherheitsinteressen verweigern oder aber die Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen politisch nicht gewünscht ist.15 In solchen Fällen16 kann von einem Instanzenzug noch weniger die Rede sein: Im Interesse eines effektiven Schutzes der EMRK-Garantien kann der EGMR nämlich (ausnahmsweise) auch Fälle an die Hand nehmen, welche von den innerstaatlichen Gerichten überhaupt nicht geprüft und teilweise auch nicht an sie herangetragen worden sind.17
Nicht nur der Begriff des hierarchischen Instanzenzugs verdeckt jedoch eine klare Sicht auf das europäische System zum Schutz der Menschenrechte, auch der in diesem Zusammenhang häufig benutzte Begriff des „europäischen Mehrebenensystems“ zeichnet ein unscharfes Bild. Er suggeriert nämlich fälschlicherweise, es handle sich beim EGMR einerseits und den nationalen Gerichten und Behörden anderseits um horizontal-parallel angeordnete Ebenen, welche keine Überschneidungspunkte besäßen.18 Nicht nur in der Auslegung der Konventionsrechte, sondern auch im Bereich der Tatsachenfeststellung existieren jedoch verschiedene Schnittstellen.19 Aufgrund der mannigfaltigen gegenseitigen Verschränkung der Aufgaben der innerstaatlichen Gerichte und des EGMR kann von einem strikten Subordinationsverhältnis, wie es der Begriff der Ebenen suggeriert, nicht die Rede sein. Wenn im Folgenden mitunter dennoch der Begriff der „Ebenen“ verwendet wird, so dient dies lediglich der Unterscheidung der beteiligten Institutionen, sagt jedoch nichts über ihr Verhältnis zueinander aus.
Falsche Assoziationen weckt schließlich auch der Begriff des „europäischen Verfassungsgerichtsverbunds“.20 Der EGMR ist kein Verfassungsgericht,21 sondern ein völkerrechtlich konstituiertes Gericht. Er überprüft einen Rechtsanwendungsakt nicht am Maßstab der nationalen Verfassungen, sondern an demjenigen der EMRK. Die EMRK hat zwar materiell vielerorts auf den Gehalt der nationalen Verfassungen durchgeschlagen und dient mit dem Schutz der Grundrechte einem Anliegen, das auch die nationalen Verfassungen verfolgen.22 Formell ist sie jedoch – abgesehen von einzelnen Bestimmungen, die ius cogens darstellen – als (einfacher) völkerrechtlicher Vertrag anzusehen.23 Hinzu kommt, dass Verfassungsgerichte in der Regel dazu befugt sind, Gesetzgebungs- und Rechtsanwendungsakte aufzuheben, während der EGMR lediglich die Verletzung der EMRK in einem konkreten Einzelfall feststellen kann, verbunden allenfalls mit einer Entschädigung und dem Hinweis, dass der Verletzung strukturelle Probleme in einem Mitgliedstaat zugrunde liegen.24 Der EGMR wurde von den Europaratsstaaten als völkerrechtliches Gericht konstituiert, das zwar Verstöße gegen die EMRK feststellen kann, jedoch keine Durchgriffsrechte in die nationalen Rechtsordnungen besitzt. Allein aufgrund seines Einflusses auf die Entwicklung europäischer Rechtsordnungen von einem Verfassungsgericht zu sprechen, mag zwar den durchaus berechtigten Eindruck der Bedeutsamkeit erzeugen, ist jedoch aus einer juristischen Perspektive unzutreffend.25
Passender ist vor diesem Hintergrund der Begriff des ‚europäischen Menschenrechtsverbunds‘.26 Der Begriff der Menschenrechte wird zwar traditionell nur im Völkerrecht gebraucht, während im verfassungsrechtlichen Kontext der Begriff der Grundrechte einschlägig ist.27 Nichtsdestotrotz ist klar, worum es inhaltlich geht: Um grundlegende Rechte, welche jeder Person um ihres Menschseins willen zustehen und welche sie gegenüber der Staatsgewalt geltend machen kann. Der Begriff des Verbunds drückt sodann aus, dass es um ein Zusammenwirken verschiedener Institutionen geht, die zueinander nicht in einem starren Subordinationsverhältnis stehen, sondern sich in verschiedener Hinsicht ergänzen. Der Begriff des Menschenrechtsverbunds ist deshalb ein guter Ausgangspunkt, um die Funktionen der Behörden und Gerichte der heute 47 Mitgliedstaaten der EMRK und dem EGMR im Hinblick auf die Tatsachenfeststellung im konkreten Einzelfall zu analysieren – ein Thema, dem erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wenn man davon ausgeht, dass die nationalen Behörden und der EGMR dieselben Lebenssachverhalte beurteilen, Tatsachenfeststellung mithin als zentraler Baustein des Menschenrechtsschutzes unter der EMRK anzusehen ist.

B. Tatsachenfeststellung im europäischen Menschenrechtsverbund

Eine Untersuchung der Tatsachenfeststellung ist nicht zuletzt deshalb essenziell, weil in vielen „Menschenrechtsfällen“ weniger die materielle Tragweite der Konventionsgarantien zwischen den Streitparteien umstritten ist als die tatsächlichen Geschehnisse.28 Gerade in Fällen gravierender Menschenrechtsverletzungen scheint sich auch in gewissen Europaratsstaaten in den letzten Jahren die Strategie herausgebildet zu haben, (völker-)rechtlicher Verantwortlichkeit dadurch entgehen zu wollen, dass Tatsachen geleugnet und Beweise zurückgehalten oder zerstört werden.29 Nicht nur, aber besonders im Kontext der geheimdienstlichen Terrorbekämpfung bilden staatliche Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger unter Berufung auf übergeordnete Staatsgeheimnisse und Sicherheitsinteressen eine Mauer des Schweigens (engl. wall of silence) auf, die es enorm erschwert, die Geschehnisse aufzuarbeiten und rechtlich zu sanktionieren. Wahr ist gemäß dieser Lesart, was die Behörden als Tatsachen anerkennen; das Recht des Individuums, das dieser Staatsgewalt unterworfen ist, bleibt auf der Strecke, weil die effektiven Begebenheiten nie ans Licht kommen. Es erscheint vor diesem Hintergrund durchaus angebracht zu sagen, dass Tatsachenfeststellung einen Kernbereich effektiven Menschenrechtsschutzes darstellt.30
Aus diesem Grund auch macht die EMRK den nationalen Gerichten nach der gefestigten Rechtsprechung des EGMR bestimmte Vorgaben zur Tatsachenfeststellung in den innerstaatlichen Verfahren (sog. Ermittlungspflichten, die aus Art. 13 EMRK und den einzelnen materiellen Konventionsrechten abgeleitet werden).31 Diese Regeln bilden integralen Bestandteil des durch die EMRK gewährleisteten Menschenrechtsschutzes und sind schon deshalb erforderlich, weil sich der EGMR sonst nicht auf seine Rolle als „letztes Auffangnetz“ beschränken könnte, sondern die Rolle eines erstinstanzlichen Tatsachengerichts einnehmen müsste, um einen effektiven Menschenrechtsschutz durch die EMRK zu gewährleisten.
Damit ist auch das Verhältnis der nationalen Gerichte zum EGMR wieder angesprochen. Kürzlich wurde aufgrund einer Analyse verschiedener Schweizer Fälle die These geäußert, dass Verurteilungen von Konventionsstaaten durch den EGMR regelmäßig auf einem anderen Sachverhalt beruhten, als er durch die innerstaatlichen Gerichte festgestellt worden sei.32 Aus diesem Befund könnte man folgern, dass die innerstaatlichen Gerichte ihrer primären Verantwortung zur Gewährleistung der Konventionsgarantien in Bezug auf die Feststellung der Tatsachen zu wenig nachkommen und der EGMR deshalb die Rolle eines Tatsachengerichts einnehmen muss. Möglich wäre aber auch der Schluss, dass der EGMR zu Unrecht in die Tatsachenfeststellungen der innerstaatlichen Gerichte eingreift.
So oder anders wirft die These in exemplarischer Art und Weise die Frage nach dem Verhältnis zwischen den nationalstaatlichen Gerichten und dem EGMR auf – eine Frage, die angesichts des Fehlens detaillierter Verfahrensregeln zumindest auch unter Rückgriff auf den allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatz zu klären sein dürfte, welcher als Strukturmerkmal der EMRK zugrunde liegt. Obwohl sich der Grundsatz bislang im Wortlaut der Konvention nicht niedergeschlagen hat, prägt er nach allgemein geteilter Auffassung das interinstitutionelle Verhältnis zwischen den nationalstaatlichen Behörden und Gerichten einerseits und dem EGMR anderseits in zentraler Art und Weise.33 In der Rechtsprechung des EGMR hat der Subsidiaritätsgrundsatz schon seit längerer Zeit eine fundamentale Bedeutung. Mit dem 15. Zusatzprotokoll zur EMRK, das nach Ratifikation durch alle Konventionsstaaten in Kraft treten wird, wird die Präambel der EMRK, gewissermaßen „deklaratorisch“, eine auf den Subsidiaritätsgrundsatz hinweisende Ergänzung erfahren, welche diese Bedeutung weiter hervorstreichen wird.34
Der von der EMRK bezweckte effektive Menschenrechtsschutz umfasst also nicht nur die Auslegung der Konventionsgarantien, sondern zuallererst eine methodisch nachvollziehbare Sachverhaltsfeststellung im Einzelfall, welche im Zusammenspiel zwischen nationalstaatlichen Behörden und Gerichten und dem EGMR erfolgt. Hier knüpft die vorliegende Monografie an: Beleuchtet werden soll das Verhältnis von nationalstaatlichen Gerichten zum EGMR mit Blick auf den Vorgang der Tatsachenfeststellung. Nachdem in der Literatur bis anhin der „Dialog“ des EGMR mit den nationalen Gerichten35 vor allem mit Bezug auf die Auslegung und Weiterentwicklung der Konventionsgarantien thematisiert worden ist,36 liegt der Fokus der vorliegenden Arbeit auf der Untersuchung der Aufgabenverteilung zwischen nationalen Behörden und Gerichten einerseits und dem EGMR anderseits hinsichtlich der Tatsachenfeststellung. Angesprochen ist damit ein Thema, dessen Bedeutung im Hinblick auf die Gewährleistung eines effektiven Menschenrechtsschutzes gar nicht unterschätzt werden kann, das aber – darüber hinausweisend – auch grundsätzliche Fragen zum Zusammenwirken zwischen den verschiedenen im Menschenrechtsverbund der EMRK zusammengefassten Institutionen aufwirft, die nur unter Rückgriff auf den konventionsrechtlichen Subsidiaritätsgrundsatz zu klären sind.
Beleuchtet wird dieses völkerrechtliche Thema dabei aus einer spezifisch schweizerischen Perspektive: Neben der Rechtsprechung des EGMR wird die vorliegende Arbeit immer wieder auch auf die Rechtsprechung der schweizerischen Gerichte und die Implementierung der EMRK in die schweizerische Rechtsordnung zu sprechen kommen. Dies ist in erster Linie der wissenschaftlichen und praktischen „Sozialisierung“ des Verfassers in der schweizerischen Rechtsordnung geschuldet, hilft aber auch dabei, die Materie anhand des konkreten Beispiels des Zusammenwirkens schweizerischer Institutionen mit dem EGMR zu veranschaulichen. Gerade was den Subsidiaritätsgrundsatz betrifft, liefert die schweizerische Rechtsordnung mit ihrem ausgeprägten Föderalismus zudem wertvolles Vergleichsmaterial für das jüngere – und immer noch in Entwicklung begriffene – Subsidiaritätskonzept der EMRK. Das Hauptdefizit eines solchen Ansatzes ist offensichtlich: Der Schutz der Konventionsrechte ist in der Schweiz im Vergleich mit gewissen anderen Europaratsstaaten gut ausgebaut37 und das Beispiel der Schweiz widerspiegelt daher nur beschränkt die „Kämpfe“, die der EGMR mit den Institutionen anderer Staaten zur Durchsetzung der Konventionsrechte teilweise ausficht. Zum Ausgleich dieser methodologischen Einschränkung wird in der vorliegenden Arbeit jedoch – auch unter Einbezug des Schrifttums ausländischer Autorinnen38 – immer wieder nach der Aussage- und Repräsentationskraft der gewonnenen Erkenntnisse gefragt.

C. Aufbau der Arbeit

Eine Untersuchung des eben skizzierten Forschungsgegenstands setzt die Klärung der Frage voraus, was der Begriff der Tatsachenfeststellung bedeutet.39 Zudem mag in Anbetracht der nur spärlich zur Verfügung stehenden Literatur nicht auf der Hand liegen, dass Tatsachenfeststellung in justiziellen Verfahren zum Schutz der Menschenrechte von zentraler Bedeutung ist.40 Die Darstellung der verschiedenen Dimensionen des Begriffs der Tatsachenfeststellung und der spezifischen Bedeutung der Tatsachenfeststellung im Bereich des individualrechtlichen Menschenrechtsschutzes im zweiten Teil der Arbeit legt daher die Grundlagen für die nachfolgenden Abschnitte.
Wie zu zeigen sein wird, ist die Tatsachenfeststellung in der EMRK und der EGMR-VerfO dem Wortlaut nach nur rudimentär geregelt.41 Konfrontiert mit dieser rudimentären satzungsmäßigen Regelung hat der EGMR aus den verschiedenen materiellen Konventionsgarantien spezifische Untersuchungspflichten abgeleitet, die bei Lichte betrachtet auf den Subsidiaritätsgrundsatz zurückgeführt werden können. Umgekehrt macht der EGMR das Ausmaß seiner Kontrolle und insbesondere die Überprüfung des innerstaatlich festgestellten Sachverhalts unter Berufung auf den Subsidiaritätsgrundsatz regelmäßig davon abhängig, inwieweit die Staaten ihren Ermittlungspflichten nachgekommen sind.42 Will man die Aufgabenteilung für den Bereich der Tatsachenfeststellung untersuchen, setzt dies deshalb eine genaue Vorstellung des Inhalts des Subsidiaritätsprinzips voraus.43 Die Darstellung dieses Strukturprinzips und seiner spezifischen Bedeutung für die Tatsachenfeststellung unter der EMRK erfolgt im dritten Teil der Arbeit, wobei aus verschiedenen – unten weiter auszuführenden – Gründen ein vergleichender Ansatz gewählt wird, welcher den konventionsrechtlichen Subsidiaritätsgrundsatz anderen rechtlichen Konzeptionen von Subsidiarität gegenüberstellt.44 Diese Herangehensweise erlaubt es, angesichts des schillernden Subsidiaritätsbegriffs und seiner vielfältigen Ausdeutungen in verschiedenen Rechtsordnungen45 einen klareren Blick dafür zu gewinnen, was der Subsidiaritätsgrundsatz unter der EMRK ist und was er nicht ist; in diesem Zusammenhang ist auch die abstrakte Bedeutung des Grundsatzes für die Tatsachenfeststellung zu benennen.46
Auf Grundlage einer umfassenden Analyse der neueren Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK (Verbot der Folter beziehungsweise unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung)47 wird im vierten Teil der Arbeit konkret das Verhältnis von nationalstaatlichen Gerichten und EGMR im Hinblick auf die Tatsachenfeststellung untersucht. Nach einer Darstellung des (subsidiaritätsrechtlichen) Zusammenhangs zwischen der Qualität des innerstaatlichen Verfahrens und der beweisrechtlichen Herangehensweise des EGMR48 werden in einem ersten Schritt die Vorgaben aufgegriffen, welche sich aus der EMRK für die Tatsachenfeststellung in den innerstaatlichen Verfahren ergeben.49 Eingenommen wird also zunächst die Perspektive der EMRK auf die nationalen Verfahrensrechtsordnungen. Auf den gewonnen Erkenntnissen aufbauend wird sodann aufgezeigt, dass der EGMR in seinen eigenen Verfahren die von den innerstaatlichen Instanzen festgestellten Tatsachen anhand eines variablen Maßstabs kontrolliert, welcher der Qualität der innerstaatlichen Tatsachenfeststellung Rechnung trägt.50 Angesprochen ist damit eine materielle Komponente des Verhältnisses zwischen Subsidiaritätsgrundsatz und Tatsachenfeststellung.
Davon zu unterscheiden ist eine zeitliche Komponente. Zu prüfen ist im fünften Teil nämlich die Frage, inwiefern der EGMR seinen Entscheiden Tatsachen zugrunde legen soll, welche die vorab entscheidenden nationalen Gerichte nicht berücksichtigen konnten (sog. Noven). Auch dieser Fragekomplex lässt sich ins Verhältnis zum Subsidiaritätsgrundsatz setzen; die hier vorgenommene Analyse der Rechtsprechung knüpft deshalb wiederum an diesen an.51 Dies erlaubt es einerseits, die bestehende Rechtsprechung zu systematisieren, anderseits aber auch, die heutige Praxis kritisch zu würdigen.
Im letzten Teil der Arbeit soll im Sinne einer Synopse das Verhältnis von nationalen Gerichten und EGMR im Hinblick auf die Tatsachenfeststellung unter Art. 3 EMRK komprimiert wiedergegeben werden.52 Beantwortet werden soll aber auch die Frage, ob und inwieweit die gewonnenen Erkenntnisse herangezogen werden können, um das Verhältnis von nationalen Gerichten zum EGMR in Bezug auf die Tatsachenfeststellung generell zu beschreiben.

D. Eingrenzung des Untersuchungsmaterials

Womöglich liegt nicht ohne weiteres auf der Hand, weshalb sich die vorliegende Analyse auf die neuere Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK fokussiert.53 Das Thema der Tatsachenfeststellung unter der EMRK betrifft nämlich offensichtlich nicht nur Fälle zu Art. 3 EMRK, sondern ist in sämtlichen unter die EMRK fallenden Einzelfallkonstellationen von Relevanz. Tatsachenfeststellung ist insofern ein klassisches Querschnittsthema.
Es hätte sich vor diesem Hintergrund aufgedrängt, eine umfassende Analyse der Fälle vor dem EGMR und der vorgelagerten innerstaatlichen Verfahren vorzunehmen und den Untersuchungsgegenstand weder zeitlich noch nach Fallkategorien einzugrenzen. Eine solch umfassende Perspektive wäre angesichts der großen Zahl der vom EGMR behandelten Fälle54 allerdings nicht realisierbar gewesen. Es war deshalb unausweichlich, das Untersuchungsmaterial sowohl zeitlich als auch inhaltlich einzugrenzen. In zeitlicher Hinsicht wurde dabei ein Schwerpunkt auf Urteile gelegt, die im Zeitraum zwischen dem 1. November 2014 und dem 31. Oktober 2017 ergangen sind. Inhaltlich wurde – wie bereits erwähnt – auf Fälle zu Art. 3 EMRK fokussiert. Nachfolgend gilt es die Wahl dieser Eingrenzungskriterien zu erläutern.

1. Eingrenzung auf Fälle zu Art. 3 EMRK

Für die Eingrenzung der Untersuchung auf Fälle zu Art. 3 EMRK war die Überlegung maßgebend, dass diese im Vergleich zu anderen Fallkonstellationen erhöhte Beweisprobleme aufwerfen. Solche Beweisprobleme können darin bestehen, dass gewisse Vorgänge – wenn überhaupt – nur knapp dokumentiert sind und insofern schwer nachzuweisen sind. Zudem ist es relativ häufig, dass die Tatsachendarstellungen zwischen Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern auf der einen Seite und den konventionsstaatlichen Behörden auf der anderen Seite divergieren. Dies lässt sich beispielhaft anhand der folgenden – quantitativ durchaus bedeutsamen55 – Fallkonstellationen aufzeigen:
Unter Art. 3 EMRK zu beurteilen sind Fälle, in denen behauptete Übergriffe von Staatsoffiziellen gegenüber Privatpersonen zu beurteilen sind. Zu solchen Übergriffen kommt es namentlich im Bereich der Strafverfolgung und des Strafvollzugs.56 Aufgrund des besonderen Näheverhältnißes zwischen den staatlichen Behörden und den konventionsrechtlich geschützten Personen sowie dem weitgehenden Ausschluss der Öffentlichkeit treten hier offensichtliche Beweisprobleme auf: Wurden die festgenommenen Tatverdächtigen misshandelt oder haben die befragenden Polizistinnen und Polizisten sich in Notwehr gegen physische Übergriffe zur Wehr gesetzt?57 Wurden Gefängnisinsaßinnen von den Wachpersonen ohne Grund verprügelt oder war ein Eingreifen notwendig, um einen Gefängnisaufstand niederzuschlagen, der die physische Integrität verschiedener Personen gefährdete?58 Ähnliche Schwierigkeiten werfen Fälle auf, in denen der EGMR den Einsatz hoheitlicher Gewalt auf öffentlichem Grund zu beurteilen hat: War eine polizeiliche Intervention angesichts des von einer Demonstration ausgehenden Gefahrenpotenzials notwendig oder handelte es sich dabei um die Unterdrückung oppositioneller Meinungen?59 Es liegt auf der Hand, dass weniger der rechtliche Terminus der „Notwendigkeit“ der polizeilichen Interventionen zu Problemen Anlass gibt als vielmehr die tatsächlichen Grundlagen zur Einschätzung des Gefährdungspotenzials einer Demonstration.
Eine andere Art von Beweisproblemen werfen die unter Art. 3 EMRK zu beurteilenden Abschiebungsfälle auf,60 weil in solchen Konstellationen im Hinblick auf das Non-Refoulement-Gebot in hypothetischer Art und Weise zu beurteilen ist, welcher zukünftigen Gefahr eine Person bei einer Rückkehr in ein bestimmtes Land ausgesetzt wäre.61 Insbesondere in diesen Fällen wird die ohnehin schwierige Aufgabe der Tatsachenfeststellung insofern durch eine zeitliche Komponente erschwert, als sich die Verhältnisse in einem Zielland zwischen dem Entscheid des letzten innerstaatlichen Gerichts und dem Entscheid des EGMR maßgeblich verändern können.
Allein diese summarische Schilderung zeigt auf, dass der Frage der Tatsachenfeststellung in Fällen zu Art. 3 EMRK oftmals ausschlaggebende Bedeutung zukommt, Rechtsfragen in diesem Sinne in den Hintergrund rücken. Im Hinblick auf das hier interessierende Thema rechtfertigt es sich daher, den Untersuchungsgegenstand zunächst auf Fälle zu Art. 3 EMRK zu beschränken. Allerdings soll immer auch im Auge behalten werden, inwiefern die so gewonnen Schlüsse verallgemeinerungsfähig sind und das Verhältnis zwischen nationalen Behörden und Gerichten einerseits und dem EGMR anderseits in genereller Hinsicht zu beschreiben vermögen.

2. Zeitliche Eingrenzung

Die erwähnte zeitliche Eingrenzung ist in erster Linie dem Entstehungszeitraum der vorliegenden Dissertation geschuldet. Sie ermöglichte es, die Rechtsprechung während des Verfassens der Dissertation kontinuierlich nachzuverfolgen und so ein gewisses Gespür für praktische Fragen zu gewinnen, die sich bei der Tatsachenfeststellung im Verhältnis zwischen nationalen Gerichten und EGMR ergeben. Hinzu kommt, dass die Große Kammer des EGMR unter Art. 3 EMRK in dieser Zeit verschiedene Fälle entschieden hat, in denen die Tatsachenfeststellung entscheidenden Raum eingenommen hat. Zu erwähnen sind namentlich die Fälle Bouyid v. Belgien62 sowie J. K. und andere v. Schweden,63 in welchen den konventionsrechtlichen Anforderungen an die innerstaatliche Tatsachenfeststellung zentrale Stellung zukommt. Es ist davon auszugehen, dass diese Urteile für die Weiterentwicklung der Rechtsprechung zur EMRK von großer Tragweite sein werden.
Nicht in den Untersuchungszeitraum fallen die Urteile Mocanu und andere v. Rumänien64 und El-Masri v. Mazedonien.65 Angesichts der großen Bedeutung dieser Urteile für die hier aufgeworfenen Fragen werden sie in der vorliegenden Arbeit aber dennoch regelmäßig zur Sprache kommen, zumal es sich um Urteile handelt, auf die auch in der aktuellsten Rechtsprechung immer wieder Bezug genommen wird. Auch ist durch die zeitliche Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands nicht ausgeschlossen, dass punktuell auf ältere oder neuere Urteile zurückgegriffen wird, um beispielsweise die Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR nachzuvollziehen, auch aber, um der Leserin gewisse Überlegungen anhand besonders anschaulicher Fälle zugänglich zu machen.

3. Beweisrechtliche Problemstellungen

Im Untersuchungszeitraum hat der EGMR gemäß der hudoc-Datenbank insgesamt 496 Urteile zu Art. 3 EMRK gesprochen.66 Nicht in allen Fällen kam der Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen durch den EGMR die gleich große Bedeutung zu; immer jedoch war die Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen Grundlage des Urteils. Zu unterscheiden sind im Wesentlichen die folgenden Fallkonstellationen:
In mehr als einem Drittel der Fälle setzte sich der EGMR in einem weiteren Sinne mit Haftbedingungen auseinander. Zu Beschwerden Anlass gaben vor allem strukturelle Unzulänglichkeiten in rumänischen, griechischen, russischen und bulgarischen Gefängnissen; im Rahmen dieser Urteile kam der Tatsachenfeststellung jedoch für den Ausgang des Verfahrens kaum je entscheidendes Gewicht zu. Wohl schilderten Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer die Haftbedingungen im Detail oftmals anders als der betreffende Konventionsstaat.67 Aufgrund der Besuchsberichte verschiedener Organisationen (beispielsweise des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter) waren jedoch die in einem bestimmten Gefängnis vorherrschenden strukturellen Bedingungen und insbesondere die Platzverhältnisse nur selten umstritten.68 Nachdem die Rechtsprechung des EGMR maßgeblich an diese Kriterien – insbesondere einen möglichen Platzmangel – anknüpft,69 lag eine Verletzung von Art. 3 EMRK oftmals selbst dann vor, wenn der EGMR auf die Darstellung des betreffenden Konventionsstaates abstellte.70 Vergleichsweise wenig Beweisprobleme warfen auch die Fälle auf, in denen Spezialregimes für „besonders gefährliche Häftlinge“ auf ihre konventionsrechtliche Zulässigkeit hin zu überprüfen waren.71 Soweit der EGMR zu beurteilen hatte, ob es konventionsrechtlich zulässig sei, einen Häftling in einem Metallkäfig einem Gericht vorzuführen, bestand oftmals gar keine divergierende Darstellung der Tatsachen.72 Schwieriger zu handhaben waren in dieser Hinsicht die Rügen gesundheitlich angeschlagener Häftlinge, sie seien aufgrund einer mangelhaften medizinischen Versorgung einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt gewesen; zu beurteilen waren hier nämlich teilweise komplexe medizinische Tatsachenfragen, über die selbst Fachkräfte streiten können und die sich der EGMR erst zugänglich machen muss.73
Eine große Bedeutung hatten divergierende Tatsachendarstellungen von Konventionsstaaten und Beschwerdeführenden in Fällen, welche die behauptete Gewalt von Staatsoffiziellen zum Gegenstand hatten – immerhin die zweithäufigste vom EGMR im Untersuchungszeitraum unter Art. 3 EMRK beurteilte Fallkonstellation.74 Unter den weiten Begriff der Gewaltanwendung von Staatsoffiziellen fallen behauptete Übergriffe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Strafverfolgungs-75 und Strafvollzugsbehörden.76 Gemeint ist dabei nicht nur physische Gewaltanwendung, sondern auch psychische Gewaltanwendung. Insofern waren teilweise auch Familienangehörige von Tatverdächtigen betroffen, beispielsweise weil sie durch eine Hausdurchsuchung die Folgen eines Strafverfahrens direkt zu spüren bekamen.77 Zur Debatte standen weiter Interventionen der Sicherheitskräfte bei einer behaupteten Gefährdung der öffentlichen Ordnung – beispielsweise im Rahmen von Demonstrationen78 oder öffentlichen Sportveranstaltungen.79 Schließlich können auch militärische Eingriffe in Krisenregionen als Gewalt von Staatsoffiziellen eingestuft werden.80 In all diesen Fällen entsprach es dem Normalfall, dass Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer dem EGMR einen anderen Sachverhalt unterbreiteten als die betroffenen Konventionsstaaten (rund 85 % der Fälle im untersuchten Zeitraum).81
Theoretisch wären auch die hier gesondert dargestellten enforced-disappearance-Fälle (Verschwindenlassen) der Fallkategorie der Gewaltausübung von Staatsoffiziellen zuzuordnen.82 Die Fälle werden vorliegend jedoch einerseits deshalb gesondert betrachtet, weil besonders schwerwiegende Eingriffe in Art. 3 EMRK in Frage stehen. Anderseits hat der EGMR aber eine eigentliche „enforced-disappearance-Rechtsprechung“ zum Beweisrecht entwickelt. Diese Rechtsprechung ist im Hinblick auf das hier untersuchte Thema speziell hervorzuheben, weil es sich um Fälle handelt, die oftmals nur schwach dokumentiert und daher beweisrechtlich schwierig zu handhaben sind.83 Definitionsgemäß verleugnen Staaten in enforced-disappearance-Fällen nämlich ihre Verstrickung in das Verschwinden von Personen und bauen diesbezüglich eine Mauer des Schweigens auf,84 was die Tatsachenfeststellung zumindest erheblich erschwert, mitunter aber auch unmöglich erscheinen lässt.85 Eine Verurteilung hängt in solchen Fällen oft weniger davon ab, ob ein bestimmtes Verhalten unter den sachlichen Schutzbereich von Art. 3 EMRK fällt, sondern ob der rechtsgenügliche Nachweis erfolgt, dass das Verschwinden einer Person dem betreffenden Staat zuzurechnen ist.86
Bereits angedeutet wurden die beweisrechtlichen Probleme in Refoulement-Fällen, welche die dritthäufigste vom EGMR unter Art. 3 EMRK beurteilte Fallkategorie ausmachen.87 Als Refoulement gilt jede staatliche Maßnahme, mit welcher eine Person durch ihren Aufenthaltsstaat zum Verlassen des Landes mindestens für eine bestimmte Dauer gezwungen wird.88 Der EGMR beschäftigt sich im Zusammenhang dieser Refoulement-Fälle schon seit längerer Zeit mit Wegweisungsanordnungen gegenüber abgewiesenen Asylsuchenden,89 verwaltungsrechtlichen Fernhaltemaßnahmen gegenüber (straffällig gewordenen) Ausländern90 sowie Auslieferungsentscheiden im Kontext der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen.91 Eine erst in jüngerer Zeit vermehrt relevant gewordene Fallkonstellation betrifft Überstellungen von Asylsuchenden im Rahmen der Dublin-III-VO.92 Art. 3 EMRK verbietet Abschiebungen in all ihren Variationen, wenn ernsthafte Gründe zur Annahme bestehen, dass die betroffene Person nach Vollzug der Abschiebung Opfer einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder von Folter würde.93 Wie in der vorliegenden Arbeit aufzuzeigen sein wird, war der EGMR in Bezug auf die Tatsachenfeststellung in solchen Fällen mit unterschiedlichen Problemstellungen konfrontiert, je nachdem, ob eine Abschiebung schon vollzogen worden war94 oder aber noch ausstand.95 Eine Spezialkonstellation innerhalb der Kategorie der Abschiebungsfälle bildeten sogenannte „extraordinary renditions“: Fälle, in denen Terrorverdächtige unter Mitwirkung europäischer Sicherheitsbehörden durch die amerikanische CIA von europäischem Territorium in arabische Staaten verschleppt und dort im Namen der Terrorbekämpfung grausamsten Verhörmethoden unterworfen wurden.96 Schon der geheimdienstliche Kontext legt nahe, dass die Aufklärung der Tatsachen in diesen Fällen Schwierigkeiten bereiten kann.
Beweisrechtlich als Spezialkonstellation anzusehen sind die Fälle, in denen staatliche Schutz- beziehungsweise Ermittlungspflichten aufgrund von (drohenden) Misshandlungen Privater in Frage stehen.97 Hier geht es nicht etwa um die konventionsrechtliche Zuordnung der Verantwortung für die Misshandlungen an sich, sondern um die sich daraus ergebenden Handlungspflichten staatlicher Behörden. Dabei ist im Regelfall ausreichend dokumentiert, was die staatlichen Behörden getan oder unterlassen haben. Die Fallkategorie ist für die vorliegende Arbeit nur insofern von Interesse, als sich beispielhaft aufzeigen lässt, welche Anforderungen der EGMR an die innerstaatliche Tatsachenfeststellung aus Art. 3 (prozedural) und Art. 13 EMRK ableitet. Diese Anforderungen unterscheiden sich jedoch nicht grundlegend von den Anforderungen, die sich in Fällen von Übergriffen durch Staatsoffizielle ergeben. Sie werden deshalb nicht gesondert betrachtet.
Den Spezialfällen zugeordnet wurden Fallkonstellationen, die quantitativ von untergeordneter Bedeutung waren.98 Von großer rechtlicher Tragweite dürfte in diesem Bereich die weiterentwickelte Rechtsprechung des EGMR zu den menschenrechtlichen Vorgaben an die Ausgestaltung lebenslanger Freiheitsstrafen sein.99 Zu beurteilen waren insoweit jedoch keine Tatsachenstreitigkeiten, sondern die Kompatibilität nationaler Regelungen zum Strafvollzug mit den Vorgaben der EMRK, weshalb diese Fälle für die vorliegende Arbeit nur von untergeordneter Bedeutung sind. Vorrangig mit Rechtsfragen auseinandersetzen musste sich der EGMR auch in einem lettischen Fall zu einer Organtransplantation und den damit zusammenhängenden Informationsrechten der Angehörigen.100 Drei Fälle betrafen die Rüge der Angehörigen von Todesopfern, bei der Leichenidentifizierung unmenschlichen Umständen ausgesetzt gewesen zu sein;101 auch in diesen Fällen waren die teilweise bestehenden Differenzen in den Tatsachenschilderungen für den Ausgang des Verfahrens nicht entscheidend.
Bildlich darstellen lässt sich das hiervor Ausgeführte wie folgt (Abb. 1):

E. Überblick über den Forschungsstand und den Forschungsbedarf

Es besteht eine Fülle an Literatur zum Verhältnis zwischen nationalen Gerichten und EGMR und zum damit verbundenen konventionsrechtlichen Strukturmerkmal der Subsidiarität. Hervorzuheben ist sicherlich die Monografie von Jonas Christoffersen,102 die sich sowohl in ihrer wissenschaftlichen Tiefe als auch in der thematischen Breite deutlich abhebt und dem Subsidiaritätsgrundsatz schon im Titel völlig zu Recht das komplementäre Grundprinzip der mitgliedstaatlichen Primärverantwortung gegenüberstellt. Konzeptuell weniger tief greifend, dafür stärker an den vom EGMR entschiedenen Einzelfällen orientiert, ist die Dissertation von Irene Hoffmann,103 in welcher der Subsidiaritätsgrundsatz in seinen verschiedenen Wirkungsdimensionen umfassend dargestellt wird. Verschiedene weitere Monografien decken Einzelthemen ab, die ebenfalls das Verhältnis zwischen nationalen Gerichten und EGMR betreffen. Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung bildeten in diesem Sinn beispielsweise der Grundsatz der Erschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges (Art. 35 Ziff. 1 EMRK)104 sowie die Umsetzungspflichten, die sich für die nationalen Gerichte (und Gesetzgeber) aus den Urteilen des EGMR ergeben.105
Untersuchungen zum Subsidiaritätsgrundsatz als Leitlinie für den vom EGMR anzuwendenden Kontrollmaßstab waren bis anhin vor allem von einer materiell-rechtlichen Betrachtungsweise geprägt. Insbesondere wurde diskutiert, unter welchen Voraussetzungen sich der EGMR bei der Auslegung der Konventionsgarantien im Allgemeinen, vor allem aber bei der Auslegung ihrer Schrankenbestimmungen, zugunsten eines erweiterten innerstaatlichen Beurteilungsspielraums zurückhalten soll. Solche Arbeiten beziehen sich schon im Titel oftmals auf die margin-of-appreciation-Doktrin.106
Auch Tatsachenfeststellung als Kernelement des internationalen Menschenrechtsschutzes – nicht nur, aber auch in individualrechtlich ausgestalteten internationalen Gerichtsverfahren wie demjenigen vor dem EGMR107 – war bereits verschiedentlich Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.108 Verschiedene Abhandlungen beleuchten im Sinne einer Querschnittsanalyse verschiedener internationaler Menschenrechtsspruchkörper einzelne Bausteine der gerichtlichen Tatsachenfeststellung, wobei insbesondere Beweislast und Beweiswürdigung thematisiert wurden.109 In Bezug auf die Tatsachenermittlung unter der EMRK ist zunächst die Monografie von Kolja Altermann zu erwähnen.110 Altermann greift die Ermittlungspflichten der Staaten aus der EMRK auf, beschränkt sich damit aber auf eine Betrachtung der dem EGMR-Verfahren vorgelagerten Tatsachenermittlung in den Konventionsstaaten. Die Tatsachenfeststellung vor dem EGMR war selbst zwar ebenfalls bereits Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Teilweise wurde der Prozess der Tatsachenfeststellung als Ganzes beleuchtet,111 teilweise einzelne Aspekte wie insbesondere das Beweismaß.112 Thematisiert wurden auch Beweisprobleme im Zusammenhang mit bestimmten typisierbaren Fällen.113 Alle diese wissenschaftlichen Auseinandersetzungen beschränkten sich indessen weitgehend auf das Verfahren vor dem EGMR. Die Implikationen, die sich aus der Tatsachenfeststellung in den vorgelagerten mitgliedstaatlichen Verfahren ergeben, wurden dagegen mehrheitlich ausgeblendet. Paradigmatisch hierfür ist die Monografie von Rebecca Schorm-Bernschütz, die sich ebenfalls auf eine Untersuchung des Verfahrens vor dem EGMR beschränkt.114 Nachdem der europäische Menschenrechtsschutz allerorts als Zusammenspiel zwischen mitgliedstaatlichen Gerichten und EGMR eingeordnet wird, erstaunt es, dass eine solche Perspektive nicht auch bezüglich der Tatsachenfeststellung eingenommen wird. Der Zusammenhang zwischen Tatsachenfeststellung und den funktionellen Zuständigkeiten der verschiedenen unter der EMRK wirkenden Institutionen wurde bis anhin kaum untersucht, wenngleich erste Ansätze in Aufsätzen ersichtlich sind.115
Die vorliegende Dissertation soll diese Ansätze weiterführen und auf eine dogmatisch sichere Grundlage stellen. Trotz der Beschränkung der Untersuchung auf Fälle zu Art. 3 EMRK sollen Erkenntnisse im Vordergrund stehen, die das Querschnittsthema der Tatsachenfeststellung unter der EMRK theoretisch und dogmatisch fundieren. Angesprochen ist durch diese Schwerpunktsetzung natürlich in erster Linie der EGMR; soweit die vorliegende Arbeit etwas zur Systematisierung des Verfahrensrechts des EGMR beitragen kann, ist ihr Zweck mehr als erfüllt. Adressiert sind darüber hinaus aber auch die zahlreichen Kommentatorinnen und Kommentatoren im In- und Ausland, die sich mit der Rechtsprechung des EGMR auseinandersetzen. Ein wichtiges Anliegen der vorliegenden Arbeit besteht insoweit darin, die Aufmerksamkeit auch der Wissenschaft verstärkt auf das zentrale Thema der Tatsachenfeststellung zu lenken; außerdem soll sie die Grundlage für weiterführende diesbezügliche Untersuchungen legen. Schließlich will die Arbeit bei den nationalen Behörden und Gerichten dafür sensibilisieren, dass die EMRK (auch) bezüglich der Tatsachenfeststellung gewisse Maßstäbe setzt. Soweit nationales Verfahrensrecht den Vorgang der Tatsachenfeststellung regelt, ist es eng mit der EMRK verquickt; daher lohnt sich der Blick auf die Rechtsprechung des EGMR nicht nur für nationale Richterinnen und Richter, welche diese Anforderungen umsetzen müssen, sondern auch für nationale Parlamentarierinnen und Parlamentarier, welche einem subsidiaritätsorientierten europäischen Menschenrechtsschutz zum Durchbruch verhelfen wollen.
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Fußnoten
1
Vgl. Haefliger/Schürmann, S. 2 f. Im Unterschied zum Schutzmechanismus unter der amerikanischen Menschenrechtskommission kann der EGMR seit dem Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls auf Beschwerden unabhängig von der Zustimmung des betroffenen Mitgliedstaates eintreten; vgl. dazu Fabbrini, S. 17.
 
2
Wildhaber, Überdenken, S. 541.
 
3
Dieser einzelfallbezogene Ansatz schliesst nicht aus, dass strukturelle Probleme angesprochen werden; umfassend zu dem in diesem Zusammenhang entwickelten Pilotverfahren Haider, insbesondere S. 15 ff.
 
4
Vgl. die gleichlautende Subsidiaritätsdefinition im Interlaken Follow-Up, S. 2.
 
5
Wildhaber, Europäischer Grundrechtsschutz, S. 689.
 
6
Vgl. Wildhaber, Verfassungsrechtliche Zukunft, S. 569.
 
7
Mit demselben Befund auch Schilling, S. 14 ff.
 
8
Vgl. statt vieler Auer/Malinverni/Hottelier, Rn. 92 f. Zu Problemen bei der Implementierung von programmatischen Vorgaben völkerrechtlicher Menschenrechtsverträge Wyttenbach, S. 418.
 
9
Eine Aussage, die freilich nicht ganz präzise ist: Weil Entscheide des EGMR grundsätzlich nicht in die nationalen Rechtsordnungen durchzugreifen vermögen, bedürfen seine Urteile einer „Durchführung“ im nationalen Recht. Im schweizerischen Recht dient Art. 122 BGG diesem Zweck. Die Bestimmung schreibt vor, dass eine vom EGMR festgestellte Verletzung der EMRK oder ihrer Zusatzprotokolle einen Revisionsgrund darstellt, wenn eine Entschädigung nicht geeignet ist, die Folgen der Verletzung auszugleichen und die Revision notwendig ist, um die Verletzung zu beseitigen. Formal gesehen könnte man also auch nach einer Verurteilung durch den EGMR behaupten, letztinstanzlich entscheide ein innerstaatliches Gericht.
 
10
Schilling, S. 13. Diese Aussage gilt freilich nicht nur für die EMRK, sondern generell für völkerrechtliche Verträge zum Schutze der Menschenrechte, vgl. Carozza, S. 62 f.
 
11
Vgl. BVerfGE 41, 126 (149); BVerfGE 75, 102 (128).
 
12
Vgl. soweit ersichtlich erstmals EGMR, Urteil vom 24. November 1994, Kemmache v. Frankreich (Nr. 3), § 44.
 
13
Vgl. Benzing, S. 409.
 
14
Vgl. in diese Richtung das Votum von Ständerätin Karin Keller-Sutter in den parlamentarischen Beratungen im Geschäft 15.055 zum Bericht des Bundesrates zu den Erfahrungen und Perspektiven des EMRK-Beitritts, Amtl. Bull SR 2015 1191: „[…] die Kritik, der Gerichtshof urteile wie eine mit umfassender Kognition ausgestattete Rechtsmittelinstanz, also sozusagen wie eine vierte Instanz, [ist] weit verbreitet. Dabei wird übrigens auch unter Bundesrichtern kritisiert, dass der Gerichtshof bei der Überprüfung sein Ermessen an die Stelle desjenigen der innerstaatlichen Gerichte stelle. Damit verhält sich der Gerichtshof […] wie eine vierte Instanz [Hervorhebung durch den Verfasser].“
 
15
Vgl. für einen solchen Fall EGMR (Große Kammer), Urteil vom 13. Dezember 2012, El-Masri v. Mazedonien.
 
16
Gegenwärtig ist der EGMR vor allem mit einer Flut von Beschwerden aus der Türkei beschäftigt, wo seit dem Putschversuch im Sommer 2016 gegen Präsident Erdoğan mit strafrechtlichen Mitteln flächendeckend gegen tatsächliche und vermeintliche Regimegegnerinnen und -gegner vorgegangen wird; die Beschwerden an den EGMR betreffen hauptsächlich unrechtmäßige Inhaftierungen und Ausreisebeschränkungen. Kritisch zu den in diesem Zusammenhang ergangenen Nichteintretensentscheidungen des EGMR Turkut.
 
17
Nach ständiger Praxis sieht der EGMR von der Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtsmittel ab, wenn diese nicht als effektiv bezeichnet werden können; vgl. dazu Lanter, S. 41 ff.
 
18
Biaggini, Grenzen und Tücken, S. 509 f.
 
19
Zumindest für die Mitgliedstaaten der EU spielt überdies auch der EuGH eine zentrale Rolle im „europäischen Mobile des Grundrechtsschutzes“. Ausführlich zum Verhältnis der nebeneinander bestehenden europäischen Grundrechtsschutzsysteme Gebauer, insbesondere S. 299 ff.
 
20
Von einem „europäischen Verfassungsgerichtsverbund“ ist bei Voßkuhle, Verfassungsgerichtsverbund, S. 1 ff. die Rede, welcher auch den EuGH mit einschließt; von einem „Europäischen Verfassungsgericht“ spricht Wildhaber, Verfassungsrechtliche Zukunft, S. 569.
 
21
Anderer Meinung Nationalrat Hans-Ueli Vogt in den parlamentarischen Beratungen zum Bericht des Bundesrates zu den Erfahrungen und Perspektiven des EMRK-Beitritts, Amtl. Bull NR 2016 368; gemäß Vogt übt der EGMR „materiell und funktional […] eine Verfassungsgerichtsbarkeit aus, […] die über der nationalen Verfassung steht.“
 
22
Vgl. Wildhaber, Verfassungsrechtliche Zukunft, S. 569.
 
23
Vgl. Gebauer, S. 33.
 
24
Manche Autoren haben allerdings in der Entwicklung des Pilotverfahrens in Fällen systemischer Konventionsverletzungen ein Element einer Verfassungsgerichtsbarkeit erblickt, weil der EGMR in diesen Fällen zuweilen auch konkrete Maßnahmen zur Anpassung des innerstaatlichen Rechts vorschlägt; vgl. Garlicki, S. 192; Wildhaber, Pilot Judgments, S. 75.
 
25
Kritisch zur Bezeichnung des EGMR als Teil eines europäischen Verfassungsgerichtsverbunds auch Biaggini, Interjudikativer Dialog, S. 30.
 
26
Angelehnt ist dieser Begriff an den Begriff des europäischen Verfassungsgerichtsverbunds; vgl. dazu Voßkuhle, Europäischer Verfassungsgerichtsverbund, S. 1 ff.
 
27
Vgl. Gebauer, S. 25.
 
28
Vgl. Drzemczewski, S. 124, wonach dies eine Entwicklung sei, die erst Mitte der 1990er-Jahre eingesetzt habe; lesenswert außerdem Leach/Paraskeva/Uzelac, S. 26, welche dieses neuere Phänomen mit der Erweiterung des Europarates auf die ehemaligen Staaten des Ostblocks in Verbindung bringen.
 
29
Vgl. zu entsprechenden Strategien in „enforced-disappearance“-Fällen Keller/Heri, S. 741 ff.
 
30
Vgl. auch Schorm-Bernschütz, S. 33.
 
31
Eingehend hierzu die Dissertation von Altermann; Vorgaben zur Tatsachenfeststellung bilden dabei nur einen Teilbereich der Anforderungen der EMRK an das nationale Verfahren, vgl. Hoffmann, S. 148 ff.
 
32
Vgl. Schürer, S. 513.
 
33
Vgl. Hoffmann, S. 1 f.
 
34
Vgl. Egli, S. 725 ff.; Huijbers, S. 178.
 
35
Zum Begriff des zwischengerichtlichen Dialogs vgl. Hertig Randall, S. 9.
 
36
Siehe etwa Voßkuhle, Pyramide oder Mobile?, S. 165 f.
 
37
Probleme könnten sich allerdings dereinst ergeben, wenn die „Selbstbestimmungsinitiative“ der Schweizerischen Volkspartei bei Volk und Ständen eine Mehrheit finden sollte; vgl. dazu Keller/Weber, S. 1007 ff.; Musliu, S. 45 ff.
 
38
Vgl. zum Forschungsstand nachfolgend, I. E.
 
39
Vgl. dazu nachfolgend, II. A.
 
40
Vgl. dazu nachfolgend, II. B.
 
41
Vgl. dazu nachfolgend, II C.
 
42
Vgl. beispielsweise EGMR (Große Kammer), Urteil vom 28. September 2015, Bouyid v. Belgien, § 85 in fine.
 
43
Aus einer solchen Perspektive untersucht wurde beispielsweise das Verhältnis zwischen dem schweizerischen Bundesgericht und dem EGMR; vgl. Keller/Müller.
 
44
Vgl. dazu nachfolgend, III. A.
 
45
Mit diesem Befund auch Mowbray, S. 318.
 
46
Vgl. dazu nachfolgend, III. B.
 
47
Vgl. zu dieser Eingrenzung nachfolgend, I. D.
 
48
Vgl. dazu nachfolgend, IV. A.
 
49
Vgl. dazu nachfolgend, IV. B.
 
50
Vgl. dazu nachfolgend, IV. C.
 
51
Vgl. dazu nachfolgend, V.
 
52
Vgl. dazu nachfolgend, VI.
 
53
Vgl. soeben, I. C.
 
54
Allein im Jahr 2016 hat der EGMR 38.505 Fälle entschieden, davon 1926 durch Urteile und 36.579 durch Entscheidungen (wegen Unzulässigkeit oder Streichungen); vgl. EGMR-Statistik 2016, S. 6.
 
55
Vgl. dazu nachfolgend, I. D. 3.
 
56
Haefliger/Schürmann, S. 15.
 
57
Vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung etwa EGMR, Urteil vom 20. Oktober 2015, Dilek Aslan v. Türkei; EGMR, Urteil vom 26. Juli 2016, Adam v. Slowakei.
 
58
Vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung etwa EGMR, Urteil vom 22. März 2016, Kars und andere v. Türkei; EGMR, Urteil vom 28. April 2016, Balajevs v. Lettland.
 
59
Vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung etwa EGMR, Urteil vom 5. Juli 2016, Eğitim ve Vilim Emekçileri Sendikasi und andere v. Türkei; EGMR, Urteil vom 24. Mai 2016, Süleyman Çelebi und andere v. Türkei; EGMR, Urteil vom 25. Juli 2017, Annenkov und andere v. Russland.
 
60
Vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung EGMR, Urteil vom 7. Juli 2016, R.V. v. Frankreich; EGMR, Urteil vom 5. Juli 2016, A.M. v. Niederlande; EGMR (Große Kammer), Urteil vom 23. März 2016, F.G. v. Schweden.
 
61
Haefliger/Schürmann, S. 15.
 
62
EGMR (Große Kammer), Urteil vom 28. September 2015, Bouyid v. Belgien.
 
63
EGMR (Große Kammer), Urteil vom 23. August 2016, J.K. und andere v. Schweden.
 
64
EGMR (Große Kammer), Urteil vom 17. September 2014, Mocanu und andere v. Rumänien.
 
65
EGMR (Große Kammer), Urteil vom 13. Dezember 2012, El-Masri v. Mazedonien.
 
66
In dieser Zahl nicht enthalten sind Kammerurteile, die noch innerhalb des Untersuchungszeitraums durch ein Urteil der Großen Kammer nichtig geworden sind; namentlich EGMR, Urteil vom 1. September 2015, Khlaifia und andere v. Italien sowie EGMR, Urteil vom 17. November 2016, V.M. und andere v. Belgien (Streichung).
 
67
Vgl. beispielhaft EGMR, Urteil vom 5. Oktober 2017, Ābele v. Lettland, §§ 11–12, §§ 54–55 (Schilderung des Beschwerdeführers) gegenüber §§ 13–16, §§ 56–58 (Schilderung der lettischen Regierung); EGMR, Urteil vom 3. Oktober 2017, Alexandru Enache v. Rumänien, §§ 13–16, § 39 (Schilderung des Beschwerdeführers) gegenüber §§ 18–20, § 40 (Schilderung der rumänischen Regierung); EGMR, Urteil vom 7. April 2016, Ali Cheema und andere v. Griechenland, §§ 29–31 (Schilderung der Beschwerdeführenden) gegenüber §§ 32–39 (Schilderung der griechischen Regierung); EGMR, Urteil vom 29. März 2016, Okolisan v. Moldawien, §§ 8–10 (Schilderung des Beschwerdeführers) gegenüber §§ 11–12 (Schilderung der moldawischen Regierung); EGMR, Urteil vom 17. März 2016, Zakshevskiy v. Ukraine, §§ 39–41 (Schilderung des Beschwerdeführers) gegenüber §§ 42–44 (Schilderung der ukrainischen Regierung).
 
68
Vgl. beispielhaft EGMR, Urteil vom 5. Oktober 2017, Ābele v. Lettland, § 65; EGMR, Urteil vom 3. Oktober 2017, Alexandru Enache v. Rumänien, § 44.
 
69
Vgl. EGMR (Große Kammer), Urteil vom 12. März 2015, Muršić v. Kroatien.
 
70
Vgl. beispielhaft EGMR, Urteil vom 5. Oktober 2017, Ābele v. Lettland, § 65; EGMR, Urteil vom 3. Oktober 2017, Alexandru Enache v. Rumänien, § 44; EGMR, Urteil vom 21. Juni 2016, Eze v. Rumänien, § 56; EGMR, Urteil vom 7. April 2016, Ali Cheema und andere v. Griechenland, § 57; EGMR, Urteil vom 17. März 2016, Zakshevskiy v. Ukraine, § 64.
 
71
Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 21. März 2017, Michał Korgul v. Polen, §§ 39–45 (im Streit stand nur, ob der Beschwerdeführer durch sein Verhalten Anlass zur Anwendung eines Spezialregimes gegeben hatte, nicht jedoch, welche konkreten Maßnahmen angewendet worden waren). Ähnlich EGMR, Urteil vom 16. Februar 2016, Świderski v. Polen, § 41, §§ 54–55.
 
72
Dies gilt auch für die hier verorteten Fälle, in denen von Seite der Beschwerdeführenden beanstandet wurde, dass sie einem Gericht in einem Metallkäfig vorgeführt worden seien; vgl. statt vieler EGMR, Urteil vom 31. Januar 2017, Vorontsov und andere v. Russland; EGMR, Urteil vom 14. Juni 2016, Pugžys v. Polen; EGMR, Urteil vom 24. März 2016, Korneykova und Korneykov v. Ukraine.
 
73
Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 21. Juni 2016, G. v. Russland. Lesenswert außerdem EGMR, Urteil vom 13. Oktober 2015, Akkoyunlu v. Türkei, Dissenting Opinion Kjølbro, der aufgrund der verfügbaren Beweismittel im Unterschied zur Gerichtsmehrheit keinen klaren Kausalzusammenhang zwischen der Verletzung der Versorgungspflichten durch den türkischen Staat und dem Verlust des Sehvermögens des Beschwerdeführers ausmachen konnte und deshalb eine Entschädigung ablehnte.
 
74
Fälle, die sowohl die Haftbedingungen als auch die Gewaltausübung von Staatsoffiziellen (beispielsweise Gefängnisaufseherinnen und Gefängnisaufsehern) betrafen, wurden der Kategorie „Gewalt von Staatsoffiziellen“ zugeordnet; vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 12. Januar 2016, Morgoci v. Moldawien.
 
75
Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 19. September 2017, Zolotorev v. Russland.
 
76
Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 28. April 2016, Balajevs v. Lettland.
 
77
Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 16. Februar 2016, Govedarski v. Bulgarien.
 
78
Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 25. Juli 2017, Annenkov und andere v. Russland.
 
79
Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 9. November 2017, Hentschel und Stark v. Deutschland (außerhalb des definierten Untersuchungszeitraums).
 
80
Vgl. EGMR, Urteil vom 7. Juni 2016, Enver Aydemir v. Türkei.
 
81
Vgl. für einige wenige der 25 Fälle, in denen die maßgeblichen Tatsachen unumstritten waren EGMR, Urteil vom 7. April 2015, Cestaro v. Italien, §§ 155–162; EGMR, Urteil vom 5. Februar 2015, Razzakov v. Russland, §§ 45–47, 57–58; mitunter ließen sich Regierungen aber auch einfach nicht zu den maßgeblichen Tatsachen vernehmen, so dass kein eigentlicher „Tatsachenstreit“ bestand; vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 19. März 2015, Kulik v. Ukraine, §§ 46–48.
 
82
Vgl. für einen Fall, in dem die Abgrenzung besonders schwierig war EGMR, Urteil vom 26. März 2015, Zhebrailova und andere v. Russland.
 
83
Vgl. insbesondere nachfolgend, IV. C. 3.
 
84
Vgl. statt vieler EGMR, Urteil vom 21. Februar 2017, Kushtova und andere v. Russland (Nr. 2) sowie EGMR, Urteil vom 22. November 2016, Ortsuyeva und andere v. Russland.
 
85
Keller/Heri, S. 737.
 
86
Vgl. beispielhaft EGMR, Urteil vom 21. Februar 2017, Kushtova und andere v. Russland (Nr. 2), §§ 75–80, sowie EGMR, Urteil vom 22. November 2016, Ortsuyeva und andere v. Russland, §§ 84–87.
 
87
Ein Fall, der sowohl das Non-Refoulement-Gebot als auch die Gewaltausübung von russischen Staatsoffiziellen (im abschiebenden Staat) betraf, wurde der Kategorie der Abschiebungsfälle zugeordnet; vgl. EGMR, Urteil vom 26. Januar 2016, R. v. Russland. Fälle, die sowohl die Bedingungen der Ausschaffungshaft als auch eine Abschiebungsentscheidung betrafen, wurden ebenfalls der Kategorie der Abschiebungsfälle zugeordnet; vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 12. Juli 2016, R.M. und andere v. Frankreich.
 
88
Vgl. zum Begriff des Refoulements Beriger/Brunner, S. 202 f.
 
89
Grundlegend in diesem Zusammenhang EGMR (Plenum), Urteil vom 20. März 1991, Cruz Varas und andere v. Schweden sowie EGMR, Urteil vom 30. Oktober 1991, Vilvarajah und andere v. Vereinigtes Königreich.
 
90
Grundlegend in diesem Zusammenhang EGMR, Urteil vom 18. Februar 1991, Moustaquim v. Belgien. Vgl. für einen vieldiskutierten Schweizer Fall außerdem EGMR, Urteil vom 16. April 2013, Udeh v. Schweiz.
 
91
Grundlegend in diesem Zusammenhang EGMR (Plenum), Urteil vom 7. Juli 1989, Soering v. Vereinigtes Königreich.
 
92
Grundlegend in diesem Zusammenhang EGMR (Große Kammer), Urteil vom 21. Januar 2011, M.S.S. v. Belgien und Griechenland. Vgl. für einen vieldiskutierten Schweizer Fall außerdem EGMR (Große Kammer), Urteil vom 4. November 2014, Tarakhel v. Schweiz.
 
93
Vgl. statt vieler EGMR (Große Kammer), Urteil vom 28. Februar 2008, Saadi v. Italien, § 125. Nachfolgend wird im Dienste einer besseren Lesbarkeit nur noch von „unmenschlicher Behandlung“ die Rede sein, da jede Folter gleichzeitig auch eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ darstellt und jede „unmenschliche Behandlung“ zugleich „erniedrigend“ ist; vgl. Beriger/Brunner, S. 204, m.w.H. auf die Rechtsprechung.
 
94
Vgl. beispielsweise EGMR, Urteil vom 26. Januar 2017, X v. Schweiz.
 
95
Vgl. statt vieler EGMR, Urteil vom 30. Mai 2017, N.A. v. Schweiz und EGMR, Urteil vom 30. Mai 2017, A.I. v. Schweiz.
 
96
Grundlegend in diesem Zusammenhang EGMR (Große Kammer), Urteil vom 13. Dezember 2012, El-Masri v. Mazedonien. Im Untersuchungszeitraum ergangen ist namentlich EGMR, Urteil vom 23. Februar 2016, Nasr und Ghali v. Italien. Vgl. für ähnliche Fälle, die kurz zuvor entschieden wurden EGMR, Urteil vom 24. Juli 2014, Husayn (Abu Zubaydah) v. Polen sowie EGMR, Urteil vom 24. Juli 2014, Al Nashiri v. Polen.
 
97
Vgl. beispielhaft EGMR, Urteil vom 2. Mai 2017, B.V. v. Belgien (zu den Untersuchungspflichten im Zusammenhang behaupteter Sexualdelikte) und EGMR, Urteil vom 12. Mai 2015, Identoba und andere v. Georgien (zu den Schutzpflichten bei Gegendemonstrationen).
 
98
Beispielsweise zu staatlichen Leistungspflichten im Zusammenhang der Unterbringung weggewiesener aber bei der Ausreise aufgehaltener Ausländer (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 20. Dezember 2016, Shioshvili und andere v. Russland), den Versorgungspflichten für Kinder festgenommener Eltern (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 6. Dezember 2016, Ioan Pop und andere v. Rumänien) sowie den Rahmenbedingungen einer fürsorgerischen Unterbringung (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 19. Februar 2015, M.S. v. Kroatien [Nr. 2]).
 
99
Vgl. namentlich EGMR (Große Kammer), Urteil vom 17. Januar 2017, Hutchinson v. Vereinigtes Königreich sowie EGMR (Große Kammer), Urteil vom 26. April 2016, Murray v. Niederlande; daneben aber auch EGMR, Urteil vom 24. Mai 2016, Matiošaitis und andere v. Litauen; EGMR, Urteil vom 4. Oktober 2016, T.P. und A.T. v. Ungarn; EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2015, Gurban v. Türkei; EGMR, Urteil vom 15. September 2015, Kaytan v. Türkei; EGMR, Urteil vom 13. November 2014, Bodein v. Frankreich; EGMR, Urteil vom 4. November 2014, Manolov v. Bulgarien.
 
100
Vgl. EGMR, Urteil vom 13. Januar 2015, Elberte v. Lettland.
 
101
Vgl. EGMR, Urteil vom 1. September 2016, Svitlana Atamanyuk und andere v. Ukraine; EGMR, Urteil vom 26. April 2016, Cangöz und andere v. Türkei; EGMR, Urteil vom 2. Februar 2016, Muhacir Çiçek und andere v. Türkei.
 
102
Vgl. Christoffersen.
 
103
Vgl. Hoffmann.
 
104
Vgl. Lanter.
 
105
Vgl. die an der Universität Basel abgefasste, allerdings noch unveröffentlichte Dissertation von Kunz Raffaela, Richter über internationale Gerichte? Die Rolle innerstaatlicher Gerichte bei der Umsetzung der Entscheidungen von EGMR und IAGMR. Vgl. für eine Monografie zum Piloturteils-Verfahren Haider.
 
106
Grundlegend Arai-Takahashi, Legg und Springer.
 
107
Einen vergleichenden Ansatz verfolgt die Monografie von Benzing. Das Beweisrecht des EGMR wird in diesem Zusammenhang ebenfalls behandelt. Diskutiert wird das Beweisrecht auch bei Kazazi.
 
108
Vgl. Fitzpatrick.
 
109
Vgl. Kokott, Burden of Proof und dies., Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen.
 
110
Vgl. Altermann.
 
111
Vgl. Leach/Paraskeva/Uzelac.
 
112
Vgl. beispielsweise Loucaides.
 
113
Vgl. beispielsweise Keller/Heri oder Rudolf.
 
114
Vgl. Schorm-Bernschütz.
 
115
Vgl. Schürer.
 
Metadaten
Titel
I. Einleitung
verfasst von
Arthur Brunner
Copyright-Jahr
2019
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-58887-1_1