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Open Access 27.12.2024 | Spektrum

I Will Survive? – Entscheidungen für Digitale Innovationen in Kleinen und Mittleren Unternehmen in Krisenzeiten

verfasst von: Matthias Marzok, Lasse Bohlen, Mathias Willnat, Sascha Lichtenberg, Alfred Benedikt Brendel, Susanne Strahringer, Lutz M. Kolbe

Erschienen in: HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik

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Zusammenfassung

Der Fachbeitrag untersucht, wie die COVID-19-Pandemie die Entscheidungsprozesse für die Einführung digitaler Innovationen in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) beeinflusst hat. Die Pandemie zwang viele KMU, digitale Innovationen einzuführen, um ihre Geschäftsmodelle anzupassen. Der Beitrag nutzt den Innovationsdiffusionsprozess nach Rogers als theoretischen Rahmen und basiert auf halbstrukturierten Interviews mit Führungskräften aus verschiedenen Branchen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Pandemie die Entscheidungsprozesse beschleunigte und die Einführung neuer Technologien begünstigte. Besonders hervorgehoben werden die 'Dos and Don’ts' für die erfolgreiche Implementierung digitaler Innovationen in Krisenzeiten. Der Beitrag bietet praxisrelevante Handlungsempfehlungen und zeigt auf, wie KMU von den eingeführten Innovationen auch langfristig profitieren können.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

1 Einleitung

Die COVID-19-Pandemie stellte eine beispiellose globale Gesundheitskrise dar, deren Auswirkungen sich auch auf die Wirtschaft massiv niederschlugen. Aufgrund der Eigenschaften des COVID-19-Erregers, der die Gesundheit der Bevölkerung bedrohte, waren die Regierungen gezwungen, Maßnahmen zur sozialen Distanzierung einzuführen (Thu et al. 2020). Insbesondere Dienstleistungsgewerbe mit direktem Kundenkontakt (bspw. Hotels, Restaurants, Bars und Einzelhändler) mussten vorübergehend schließen, strenge Regeln befolgen und erhebliche Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz der Klientel und des Personals treffen. Folgen waren verändertes Klientelverhalten (z. B. verstärkte Nachfrage nach Onlinebestellungen, Lieferdienstleistungen und bargeldloser Zahlung), was die Geschäftsmodelle vieler kleiner Unternehmen gefährdete und die Einführung digitaler Innovationen (DI) förderte, teils unter Zwang und großem Zeitdruck (Carroll und Conboy 2020). DI, z. B. zur Telearbeit, kontaktlosen Zustellung, digitalen Kontaktverfolgung und Online-Meetings, waren unerlässlich, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, und stellten oft die einzige Möglichkeit dar, den Betrieb während der Krise aufrechtzuerhalten (Harms et al. 2021).
Kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die häufig als Rückgrat einer Volkswirtschaft betrachtet werden (Europäische Kommission 2020), sahen sich während der COVID-19-Pandemie mit besonderen geschäftlichen Herausforderungen konfrontiert. Bei der Geschwindigkeit der Integration neuer DI bleiben sie oft hinter größeren Unternehmen zurück (Bernat et al. 2017). Laut einer Studie der Europäischen Kommission (2020) haben nur 17 % der europäischen KMU DI überhaupt erfolgreich integriert (im Vergleich zu 54 % der Großunternehmen). Dieser Unterschied ist besonders relevant, da KMU aufgrund ihrer begrenzten Ressourcen für die Umsetzung von Veränderungen zur Reaktion auf externe Schocks ohnehin stärker von Krisen betroffen sind (Eggers 2020). Somit ergab sich eine doppelte Belastung: Erstens waren die KMU gezwungen, DI einzuführen, und zweitens waren ihre begrenzten Ressourcen zur Umsetzung dieser Veränderungen aufgrund der Krise noch knapper.
Das Potenzial für KMU pandemiebedingte Schwierigkeiten durch DI überwinden wurde sowie Chancen und Risiken von Digitalisierung wurden in seit der Pandemie in mehreren Wissenschaftlichen Beiträgen aufgezeigt (z. B. Kumar und Ayedee 2020). Dennoch sind empirische Untersuchungen zum Entscheidungsprozess bisher rar. Diese Studie adressiert entsprechend die folgende Forschungsfrage:
RQ: Wie hat die COVID-19-Pandemie die Entscheidungsprozesse für DI in KMU beeinflusst?
Um die Forschungsfrage zu beantworten, wird der Innovationsdiffusionsprozess nach Rogers als theoretischer Rahmen herangezogen (Abschn. 2). Die Erhebungsmethode, basierend auf semistrukturierten Interviews, wird in Abschn. 3 erläutert. Im Mittelpunkt der Forschung stehen die identifizierten Umsetzungsschwerpunkte für die Wissenschaft sowie praxisrelevante Handlungsempfehlungen („Do’s and Don’ts“), die entlang des Entwicklungsprozesses nach Rogers strukturiert sind (Abschn. 4). Abschließend fasst Abschn. 5 die zentralen Erkenntnisse zusammen und gibt einen Ausblick auf potenzielle zukünftige Forschungsansätze.

2 Forschungskontext

2.1 Die COVID-19-Pandemie und der Bedarf an DI in KMU

Die Europäische Kommission definiert KMU als Unternehmen mit einem Jahresumsatz von weniger als 50 Mio. € und weniger als 250 Beschäftigten. Diese KMU stellen in der EU zwei Drittel der Arbeitnehmer und etwa 50 % des BIP. Die Digitalisierung solcher Unternehmen steht im Interesse der Forschung (Ramdani et al. 2022). DI können KMU helfen, besseren Zugang zu Märkten und Ressourcen zu erhalten (Bernat et al. 2017). Trotz potenzieller Vorteile halten viele KMU nicht mit der Digitalisierung größerer Unternehmen Schritt.
Die Bedeutung von DI für KMU hatte während der COVID-19-Pandemie zugenommen (Kumar und Ayedee 2020; Papagiannidis et al. 2020). KMU standen vor Herausforderungen wie sinkender Nachfrage, eingeschränktem Zugang zu Kunden und finanziellen Engpässen. Schon direkt zu Beginn der Pandemie schlugen Forschende die Einführung DI vor, um diesen Herausforderungen zu begegnen (Papadopoulos et al. 2020; Richter 2020). Die Identifizierung und Implementierung geeigneter DI war entscheidend für das Überleben in der Krise, besonders für kleine Unternehmen. Trotz umfangreicher Literatur fehlt es an praktikablem Wissen zur Gestaltung eines effektiven Vorgehens für die Entscheidung und Einführung von DI in Krisen wie einer Pandemie. Um dieses festzuhalten, bietet es sich an, die Erfahrungen aus der COVID-19-Pandemie anhand eines etablierten Prozesses, wie dem Innovationsdiffusionsprozess zu verwenden.

2.2 Innovationsdiffusionsprozess

Die Innovationsdiffusionstheorie von Rogers (1983) bezieht sich auf die Einführung von Innovationen in einem sozialen System. Rogers (1983) definiert Innovation als „eine Idee, eine Praxis oder ein Objekt, das von einem Individuum oder einer anderen Einheit der Übernahme als neu wahrgenommen wird“ (S. 132). Dieser Prozess ist auch bekannt unter dem Namen „Innovation Diffusion Process“ (IDP). In ähnlicher Weise kann eine DI definiert werden als „[…] ein Produkt, ein Prozess oder ein Geschäftsmodell, das als neu wahrgenommen wird, einige signifikante Veränderungen auf Seiten der Anwendenden erfordert und in der IT verkörpert oder durch sie ermöglicht wird“ (Fichman et al. 2014, S. 330).
Ein IDP besteht nach Rogers (1983) aus fünf aufeinander folgenden Prozessabschnitten: Die Entscheidungstragenden erlangen zunächst Wissen über eine Innovation, bilden dann eine Überzeugung zu dieser und entscheiden sich anschließend für die Einführung oder Ablehnung der Innovation. Wenn eine Innovation eingeführt wurde, erfolgt die Umsetzung. Abschließend müssen die Entscheidungstragenden ihre Entscheidung bestätigen. Im Falle einer positiven Bestätigung kann dies zum weiteren Beibehalten oder einer späteren Einführung führen. Es ist jedoch auch möglich, dass die ursprüngliche Entscheidung rückgängig gemacht wird und zum Abschaffen der Innovation führt oder die Ablehnung gegenüber der Innovation fortgesetzt wird.

3 Forschungsmethode

Um die Forschungsfrage zu beantworten, wurde ein empirisch-qualitativer Ansatz nach den Leitlinien von Mayring (2014) gewählt. Ein Leitfaden für halbstrukturierte Interviews wurde entwickelt, um komplexe Sachverhalte kontextbezogen und teilnehmendenzentriert zu untersuchen. Zudem ermöglichte dieser Ansatz die notwendige Flexibilität, auf Ideen und zusätzliche Themen der Befragten einzugehen.
Die erste Version des Interviewleitfadens wurde auf Grundlage des IDP nach Rogers (1983) entwickelt und im Laufe der Forschung weiter verfeinert. Insgesamt wurden 27 qualitative Interviews mit Führungskräften in KMU durchgeführt, die aufgrund ihrer Rolle relevante Einblicke in die IDP hatten und somit als Schlüsselpersonen betrachtet werden können. Erste Vorgespräche im dritten Quartal 2021 mit neun KMU-Führungskräften aus unterschiedlichen Branchen dienten der iterativen Validierung der Datenerhebungs- und Analysemethoden, basierend auf dem Forschungsansatz nach Mayring (2014). Im vierten Quartal 2021 und ersten Quartal 2022 wurden 18 weitere KMU-Führungskräfte mit dem finalen Fragebogen befragt. Die Interviews wurden persönlich oder per Videotelefonie durchgeführt, aufgezeichnet und transkribiert. Alle Befragten stimmten der anonymisierten Verwendung ihrer Daten zu. Der kontinuierlich optimierte Fragebogen bestand nach der Pilotphase aus acht übergeordneten Fragen (z. B, zur Einführung einer Technologie während der Pandemie: „Wie verlief der Prozess, angefangen vom ersten Hören über die Technologie bis zur tatsächlichen Nutzung?“) mit insgesamt 28 Unterfragen (z. B, zur Klärung des Prozessschritts Wissen im IDP: „Wie sind Sie auf die Technologie aufmerksam geworden?“). Bei der Datenerhebung wurden zwölf Unternehmen aus dem Einzelhandel, elf aus der Gastronomie und jeweils ein Unternehmen aus den Branchen Immobilienverwaltung, Beratung, IT-Dienstleistung und Handwerk befragt. Die Unternehmen lassen sich in folgende Umsatzkategorien einordnen: größer als zwei Millionen € (n = 4); zwischen zwei und einer Million € (n = 5); zwischen einer Million und 500.000 € (n = 3); zwischen 500.000 und 100.000 € (n = 14) sowie kleiner als 100.000 € (n = 1). Die Verteilung der Mitarbeitenden ist wie folgt: mehr als 20 (n = 4), zwischen 20 und elf (n = 6), zwischen zehn und vier (n = 11), sowie zwischen drei und einem (n = 6).
Im ersten Schritt wurden Methoden des induktiven und deduktiven Kodierens angewandt, um die Daten aufzubereiten. Einerseits wurden deduktiv Codes definiert, um Textstellen zu erfassen, die sich den Prozessabschnitten des IDPs zuordnen lassen. Andererseits wurden induktiv Codes für die in den Interviews erwähnten DI entwickelt. In einem zweiten Schritt, inspiriert von Gioia et al. (2013), wurden die einzelnen Codes zu Schlüsselkonzepten zusammengefasst, wodurch eine strukturgebende hierarchische Beziehung erarbeitet. Die gesamte Kodierung wurde manuell vom Forschungsteam in MAXQDA durchgeführt. Alle Kodierungen und Kategorien wurden nur aufgenommen, wenn ein Konsens im Team erreicht wurde.

4 Ergebnisse

Zum besseren Verständnis der Ergebnisse geben wir einen Überblick über die Arten von DI, die von den untersuchten KMU eingeführt oder im Wesentlichen genutzt wurden. Alle untersuchten Unternehmen hatten vor der COVID-19-Pandemie eine Website und eine Präsenz in den sozialen Medien. Während der Krise beschlossen jedoch mehrere Unternehmen, ihre Website zu überarbeiten, grafisch aufzuwerten und Funktionen zu integrieren. Um Sichtbarkeit und Reichweite bei der potenziellen Klientel zu steigern, wurden die Aktivitäten in den sozialen Medien verstärkt, sowohl durch mehr Beiträge auf den etablierten Plattformen als auch durch Bedienen zusätzlicher Plattformen. Darüber hinaus wurden für das digitale Marketing die Ausgaben für Werbung in den sozialen Medien erhöht. Im Bereich der Wertschöpfung und Lieferung wurden neue E‑Commerce-Lösungen eingeführt oder reaktiviert. Dazu gehörten Lieferplattformen für Restaurants und Online-Shops für Einzelhändler. Eine leichte Abwandlung des Letzteren wurde von mehreren Befragten auch in Form von Click-and-Collect-Lösungen etabliert. Um den Betrieb der Onlinevertriebskanäle zu unterstützen, wurden zusätzlich ERP-Systeme (Enterprise Resource Planning) implementiert. Als die Kontaktbeschränkungen gelockert wurden, konnten Einzelhändler und Restaurants ihre Klientel wieder physisch bedienen, dies brachte jedoch entweder behördliche Auflagen, z. B. digitale Kontaktverfolgung, oder neue Erwartung der Klientel, z. B. kontaktlose Zahlungen, mit sich. Für nicht-physische Dienstleistungen nutzen Unternehmen DI für die Online-Zusammenarbeit wie Groupware, Videokonferenzen und Messaging-Lösungen.

4.1 Innovationdiffusionsprozess in Krisenzeiten

Im Folgenden werden die Ergebnisse spezifisch für die einzelnen Prozessabschnitte des IDP beschrieben und mit direkten Zitaten aus den Interviews illustriert. Es lassen sich mehrere „Dos and Don’ts“ während der IDP-Prozessabschnitte identifizieren. Die ermittelten Faktoren und ihre strukturelle Zuordnung zum IDP-Modell ermöglichen es den KMU, Reibungspunkte, die eine rasche Einführung von Innovationen verhindern, zu bewerten und zu entschärfen. In Abb. 1 sind die Ergebnisse grafisch zusammengefasst.
Abb. 1
Zusammenfassung der Ergebnisse und „Dos and Don’ts“
Vorbedingungen
Bevor der IDP im Detail untersucht wird, lohnt es sich, die Gesamtsituation und den Digitalisierungsstand in den Unternehmen zu bewerten. Diese Vorbedingungen werden nicht als separate Stufe des IDP betrachtet, haben aber zweifellos einen Einfluss auf den IDP. Es lassen sich deutliche Unterschiede in der wahrgenommenen Relevanz der Digitalisierung in KMU erkennen.
Ich denke, vorher [vor der Pandemie] war es nicht so üblich, das Gastgewerbe als eine Branche zu sehen, in der man die Digitalisierung praktizieren konnte […]. Es ist nicht so einfach, für uns war es relativ neu (Int01).
Während einige Entscheidungstragende einen starken Einfluss der Digitalisierung auf ihr Unternehmen und ihre Branche feststellen, verneinen andere diesen Einfluss, da sie den Eindruck haben, dass ein hoher Digitalisierungsgrad ihrem Geschäftsmodell widerspricht.
Die Welt wird digital und wir tun das Gleiche. Das traditionelle Restaurantmanagement wird sich verändern, aber wenn man nicht stehen bleiben will, wenn man mithalten will, dann muss man sich mitbewegen (Int05).
Man kann bestellen, aber nicht in Form eines Online-Shops. Also, es gibt noch keinen Online-Shop und es soll auch keinen geben, glaube ich nicht. Die Qualität hier im Einzelhandel ist die Qualität der [persönlichen] Kundenbetreuung (Int03).
Es konnte beobachtet werden, dass Befragte, die der Digitalisierung eine hohe Relevanz beimessen, auch eine deutlich höhere digitale Affinität und Fähigkeit zeigen.
Gott sei Dank bin ich 25 Jahre alt, ich kenne mich relativ gut aus, ich glaube, ich gehöre zur Generation Millennials, dementsprechend ist mir das Informationszeitalter mehr oder weniger in den Schoß gelegt worden (Int01).
Personen, die die Digitalisierung als nicht sehr relevant wahrnehmen, weisen hingegen häufig keine digitale Affinität und Fähigkeiten auf.
Also für mich persönlich ist das Digitale immer ein bisschen verwirrend, ich bin da ziemlich außen vor (Int11).
Darüber hinaus hatten diese Entscheidungstragenden bereits bestehende Pläne für die Einführung von DI vor der Pandemie.
Schon vor COVID […] war das Ziel, eine neue, bessere Website zu erstellen. Es war klar, dass es notwendig ist (Int03).
Es lässt sich ein Zusammenhang zwischen einer hohen wahrgenommenen Relevanz der Digitalisierung, digitaler Affinität und Fähigkeiten sowie bestehenden Plänen für neue Innovationen feststellen. Entscheidungstragende benötigen eine Übersicht über die Digitalisierungspotenziale in ihren Unternehmen. Die Eruierung dieser Potenziale sollte ein ganzheitlicher Ansatz sein und alle Bereiche des Unternehmens einbeziehen. So kann beispielsweise ein Restaurant, das auf die physische Anwesenheit seiner Klientel angewiesen ist, dennoch von DI in den Bereichen Reservierung, Bestellung, Abrechnung und Buchhaltung profitieren. Daraus kann es eine Vision für Innovationen und allgemeine Pläne für die künftige Einführung von DI ableiten. Dies ermöglicht ihm auch ein besseres Verständnis der unternehmensinternen Fähigkeiten. Im Falle einer neuen Krise können die Entscheidungstragenden auf diese Pläne zurückgreifen und sie als Ausgangspunkt für die Einführung von DI nutzen.
Wissen
Eine konkrete Innovationsentscheidung beginnt im IDP mit der Wissensphase. Hierin generieren die Entscheidungstragenden Wissen über mögliche Innovationen. Das Wissen wird über verschiedene Informationskanäle abgerufen und aktiv oder passiv generiert (Rogers 1983). Viele der Befragten griffen auf vorhandene Erfahrungen zurück und verwendeten DI, mit denen sie bereits vor der Pandemie Erfahrung hatten. Hierbei wurde die Nutzung weiter ausgebaut, statt alternative DI und Lösungsansätze für denselben Anwendungszweck zu suchen.
Wir wissen, wie das funktioniert. […] Aus meiner Sicht haben wir schon gute Arbeit [für die Suchmaschinenoptimierung] geleistet (Int10).
Die etablierte Lösung ist jedoch möglicherweise nicht optimal oder sogar ungeeignet für die jeweilige Situation. Schlimmstenfalls könnte es dazu kommen, dass keine Lösung gefunden wird, oder bewährte Verfahren übersehen werden. Entsprechend ist der exklusive Rückgriff auf vorhandene Erfahrungen und Kenntnisse eine potenzielle unternehmerische Gefahr. Um die Chancen für eine erfolgreiche Einführung von DI zu erhöhen, kann externe Recherche die vorhandene Wissensbasis ergänzen. Hierbei suchen Entscheidungstragende oder qualifizierte Mitarbeitende aktiv nach geeigneten DI.
Wir haben uns also auf die Suche gemacht. Welches Tool kann das? Und dann haben wir [dieses Tool] gefunden, einfach so (Int14).
Der Erfolg dieser Maßnahme hängt insbesondere von den digitalen Kenntnissen und Recherchefähigkeiten ab. Daher sollten Mitarbeitende qualifiziert sein, in Krisenzeiten Rechercheaufgaben zu erfüllen. Alternativ kann Wissen durch die Nutzung von persönlichen oder institutionellen Netzwerken generiert werden.
Der Teil wurde von meiner Frau mit Unterstützung ihrer Tochter, die dieses Fach studiert hat, durchgeführt. Das gibt uns professionelle Unterstützung (Int17).
Eine weitere Möglichkeit ist die Inanspruchnahme professioneller Beratung. Lediglich ein Befragter ließ sich professionell beraten, obwohl Beratung zur Digitalisierung in KMU zu jener Zeit öffentlich gefördert wurde.
Ich habe dann einen Marketingberater kontaktiert und wir hatten - ich glaube - zehn Termine oder so. Er hat mich individuell beraten, was ich machen kann (Int03).
Überzeugung
Nachdem die Entscheidungstragenden grundlegende Kenntnisse über eine DI erlangt haben, beginnen sie, dazu eine Einstellung zu entwickeln. Dabei kommt es weniger darauf an, was die Person über eine DI weiß, sondern vielmehr darauf, wie sie über die DI denkt (Rogers 1983). Aufgrund der Pandemie und der behördlichen Maßnahmen konnte die Klientel oft nicht in den Unternehmensräumen angesprochen werden. Der offensichtliche auf DI basierende Ersatz war die Nutzung von Online-Vertriebskanälen. Daher war die Verbesserung der Online-Sichtbarkeit und die Erhöhung der Reichweite für die Mehrheit der Befragten naheliegend.
Wir haben die sozialen Medien stark ausgebaut, um sie für Werbung zu nutzen (Int08).
Allerdings waren einige der Befragten von dieser Sichtweise nicht überzeugt. Ihrer Meinung nach ist die digitale Erfahrung der Klientel entscheidend. Ihre Klientel wäre digital nicht versiert genug, um mit DI angesprochen zu werden. Sie befürchten negative Auswirkungen auf das Klientelerlebnis. Ferner halten die Entscheidungstragenden den Zeitrahmen und den Aufwand für den Aufbau neuer digitaler Vertriebskanäle für unangemessen.
Es muss langfristig beworben und die Menschen damit vertraut gemacht werden (Int16).
Wir verwenden keine digitale Speisekarte. Aber ich muss sagen, die Gäste sind immer froh, wenn sie noch ein physisches Menü bekommen können (Int20).
Während einige Unternehmen eine Verbesserung des Klientelerlebnisses sehen, z. B. durch Abholung im Laden, betrachten andere digitale Lösungen als Belästigung für ihre Klientel, z. B. digitale Speisekarten. Entsprechend sind hybride Lösungen, die der Klientel eine digitale und eine physische Lösung bieten, empfehlenswert.
Darüber hinaus wiesen viele Befragte auf finanzielle Aspekte hin.
Ab diesem Jahr werden wir verstärkt nur noch in den sozialen Medien werben und nicht mehr in den anderen Medien, weil es zu kostspielig ist (Int21).
Einige Entscheidungstragende lehnten DI aus der Sorge heraus ab, dass deren Umsetzung ihre finanziellen Möglichkeiten übersteigt. Hervorzuheben ist, dass der Überzeugungsprozess oft auf Gefühlen und persönlichen Meinungen beruhte. Kein untersuchtes Unternehmen hat in dieser Phase greifbare Methoden angewandt, nur eines hatte professionellen Rat eingeholt. Da jedoch persönliche Netzwerke bei der Wissensgenerierung eine wichtige Rolle spielten, waren der Erfahrungsaustausch in der Branche, durch direkten Kontakt oder in Branchenverbänden, ein wichtiger Input in der Überzeugungsphase.
Aber das Feedback von Geschäften, die es verwendet haben, ist: es zahlt sich finanziell überhaupt nicht aus (Int21).
Entscheidung
Nach Rogers (1983) ist die IDP-Phase der Entscheidung darin motiviert, die Unsicherheit über die Auswirkungen der Einführung einer neuen DI zu verringern. Dabei ist es wichtig, alle möglichen Konsequenzen zu beachten, um Schwierigkeiten bei der Umsetzung und die damit verbundenen Risiken zu vermeiden. Dies geschieht in der Regel durch Kosten-Nutzen-Analysen oder durch Tests.
Während der Pandemie nahmen die Unsicherheit und die Gefahr des Scheiterns des Unternehmens so stark zu, dass einige der Befragten die Test- oder Analysephase nicht durchliefen. Entweder war der zeitliche Druck, die DI einzuführen, bereits zu groß geworden, oder die politisch beschlossenen Maßnahmen führten dazu, dass Personalkapazitäten für die Implementierung frei wurden. In diesen Fällen war die Pandemie der Katalysator für die Entscheidung zur Einführung von DI.
Dann hatten wir plötzlich Zeit und haben innerhalb einer Woche einen Online-Shop auf die Beine gestellt (Int13).
Umsetzung
Ein kritischer Aspekt bei der Einführung von DI ist die Verfügbarkeit der erforderlichen Ressourcen. Aufgrund des Mangels an angemessenen Ressourcen haben einige Unternehmen unprofessionelle Lösungen eingeführt, die sich mehrheitlich als erfolglos erwiesen. Unternehmen, die über angemessene interne Ressourcen verfügen, waren bei der Umsetzung erfolgreicher.
[…] das war ziemlich teuer und der Umsatz ist einfach zu gering (Int23).
Wir haben das mit unserer eigenen IT-Abteilung gemacht (Int07).
Dies hängt damit zusammen, dass in der Wissensphase bestimmte Mitarbeitende für die Recherche eingesetzt wurden. Darüber hinaus hat es sich als vorteilhaft erwiesen, den Umsetzungsprozess in Zusammenarbeit mit allen Mitarbeitenden zu planen und deren Ideen für optimale Ergebnisse einzubeziehen. Für KMU ist es wichtig, die Aufgaben zu identifizieren, für die sie externe Ressourcen zur Unterstützung benötigen.
Also musste alles neu gemacht werden. Es wurde von einem Anbieter gemacht, damit alles richtig funktioniert (Int02).
Unternehmen, die ihr Netzwerk zur Wissensbeschaffung nutzten, verwendeten es auch für externe Hilfe. Der Einsatz von bestehenden Plattform-Ökosystemen scheint ein vielversprechender Ansatz zu sein, wenn die internen und externen Ressourcen knapp sind.
Wir haben beschlossen, mit [einer Bestellplattform] zu arbeiten. Das ist eine kostenlose Plattform (Int01).
Diese Plattformen ermöglichen es Nicht-Fachleuten, einen Großteil der erforderlichen Aufgaben selbst effizient zu erledigen und dadurch den Bedarf an externen Ressourcen zu verringern. Entscheidungstragende sollten neue digitale Geschäftsmodelle mit Hilfe von bestehenden Plattformen testen, bevor diese Entwicklungen mit hohem Investitionsbedarf in Betracht ziehen.
Bestätigung
In der Bestätigungsphase ziehen die Entscheidungstragenden Schlussfolgerungen über den Nutzen der eingeführten Innovationen. Zunächst stehen die Aspekte im Mittelpunkt, die sie ursprünglich zur Einführung der Innovation bewogen haben. Hier geht es darum, die ursprünglichen Erwartungen mit den gemachten Erfahrungen zu vergleichen. Die überzeugendste Maßnahme für viele Unternehmen war die Erhöhung der Online-Sichtbarkeit. In dieser Hinsicht waren die meisten Befragten der Meinung, dass ihre Bemühungen erfolgreich waren, obwohl es für einige sehr schwierig war, diesen Erfolg zu quantifizieren.
Neue Kunden sind zu uns gekommen, jüngere Kunden sind zu uns gekommen. Durch unsere [Online- Auftritte, …] die wir intensiviert haben, haben wir neue Kunden gewonnen (Int17).
Die erwarteten negativen Auswirkungen auf das Klientelerlebnis wurden nicht beobachtet. Dies bestärkt die Empfehlung, der Klientel die Wahl zwischen traditionellen und digitalen Lösungen zu lassen. Zumindest nach einer gewissen Eingewöhnungszeit war die Klientel von den Vorteilen der eingeführten DI überzeugt.
Ich denke, wir haben uns als Organisation irgendwie mit den neuen Werkzeugen so weit arrangiert, dass wir uns alle damit wohlfühlen und dass wir sie bei den Kunden einsetzen und sie sich damit vertraut machen (Int14).
Was die finanziellen Aspekte der DI betrifft, so sind die Ergebnisse unterschiedlich. Bei einigen Unternehmen zeigte die eingeführte Innovation so starke Auswirkungen, dass sie für das Überleben des KMU entscheidend war.
Wir haben zehn Prozent mehr Einnahmen ausschließlich aus dem Online-Geschäft (Int13).
Zusätzlich zu den ursprünglichen Absichten wurden einige unerwartete positive Auswirkungen im Zusammenhang mit der DI gemeldet. Einige Entscheidungstragende fanden, dass die neuen DI nützliche Erweiterungen ihrer Geschäftsmodelle auch für die Zeit nach der Pandemie seien. Dies zeigt, wie wichtig es ist, DI gegenüber aufgeschlossen zu sein. Selbst wenn Entscheidungstragende die Digitalisierung nicht als wichtig für ihr Unternehmen ansehen, führt die Einführung DI oft zu positiven Nebeneffekten. Dem entsprechend sollten Unternehmen mit einem ganzheitlichen Ansatz den Nutzen neu eingeführter DI analysieren und nach neuen Wegen suchen, diese zur Erweiterung ihrer Geschäftsmodelle zu nutzen. Auf diese Weise können sie die Auswirkungen und Gewinne aus der Innovation maximieren.
Die Filialabholung wurde während der COVID-19-Pandemie entwickelt […] Sie hat sich aus Click & Collect entwickelt und wird weitergeführt (Int07).

5 Zusammenfassung

In dieser Arbeit wurde der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf digitale IDP in KMU mittels halbstrukturierter Interviews untersucht. Die Studie stützt sich auf die Literatur zur Einführung von DI in KMU, erweitert die wissenschaftlichen Erkenntnisse, indem sie die Pandemieauswirkungen auf den zugrunde liegenden IDP beleuchtet.
Basierend auf der Befragung von Führungskräften wird die Forschungsfrage beantwortet, wie die COVID-19-Pandemie die Entscheidungsprozesse für DI in KMU beeinflusst hat. Die Ergebnisse deuten insbesondere darauf hin, dass der Entscheidungsprozess in Bezug auf die Einführung und Nutzung von DI allgemein beschleunigt und zugunsten der Einführung neuer Technologien beeinflusst wurde. Die hierfür relevanten Faktoren wurden den einzelnen Prozessabschnitten des IDP zugeordnet. Für die Praxis wurden je Prozessschritt aus den Faktoren Handlungsempfehlungen („Dos and Don’ts“) abgeleitet.
Die Einführung von DI war entscheidend für die Bewältigung der Pandemieherausforderungen in KMU. Unter Zeitdruck eingeführte DI, darunter Social-Media-Plattformen, E‑Commerce-Lösungen, Groupware, Websites und Online-Marketing, spielten eine wichtige Rolle. Diese DI bestätigen ihre Nützlichkeit zur Pandemiebewältigung und unterstützen bisherige Annahmen in der Literatur (Kumar und Ayedee 2020).
Die Studie weist jedoch Limitationen auf, da sie auf 27 Interviews und einer begrenzten geografischen Reichweite beruht. Zukünftige Forschung sollte größere Stichproben aus verschiedenen Regionen und Branchen einbeziehen, um umfassendere Perspektiven zu erhalten und quantitativ zu untersuchen, wie sich regionale Bedingungen und Branchenspezifika auf die ermittelten Faktoren auswirken. Die Vielfalt der eingesetzten DI und ihre begrenzte Vergleichbarkeit wurden während der Datenerhebung und -analyse erkannt. Weitere Forschungen könnten detailliert auf einzelne DI eingehen.
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Literatur
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Zurück zum Zitat Rogers EM (1983) Diffusion of innovations. Free Press, New YorkMATH Rogers EM (1983) Diffusion of innovations. Free Press, New YorkMATH
Metadaten
Titel
I Will Survive? – Entscheidungen für Digitale Innovationen in Kleinen und Mittleren Unternehmen in Krisenzeiten
verfasst von
Matthias Marzok
Lasse Bohlen
Mathias Willnat
Sascha Lichtenberg
Alfred Benedikt Brendel
Susanne Strahringer
Lutz M. Kolbe
Publikationsdatum
27.12.2024
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
HMD Praxis der Wirtschaftsinformatik
Print ISSN: 1436-3011
Elektronische ISSN: 2198-2775
DOI
https://doi.org/10.1365/s40702-024-01134-8