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2004 | Buch

Identität in Bewegung

Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung

verfasst von: Sebastian Haunss

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

Buchreihe : Bürgergesellschaft und Demokratie

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Zusammenfassung
Setzt kollektives Handeln kollektive Identität voraus? Würde man einen baskischen Nationalisten nach der Motivation seines Handelns fragen, würde dieser wahrscheinlich antworten, er sei als Baske benachteiligt und unterdrückt und er würde für das Wohl und die Freiheit der Basken kämpfen. Ähnliches würde man auch von VertreterInnen der meisten anderen nationalistischen Bewegungen zu hören bekommen, die jeweils auf eine nationale Identität rekurrieren würden, die zugleich Grund und Ziel ihres politischen Handelns ist. Es sind aber nicht nur die nationalistischen Bewegungen, die ungeachtet der fiktionalen Grundlage nationaler Kollektive die kollektive Identität dieser Gemeinschaften zum Ausgangspunkt ihres Handelns machen. Auch andere Bewegungen gehen davon aus, dass die Identität derjenigen, in deren Namen sie handeln, leicht zu bestimmen sei. Bewegungen, die sich die Befreiung der Frauen, der Schwulen, der Lesben oder der Schwarzen auf ihre Fahnen geschrieben hatten und zum Teil bis heute in dieser singulären Form weiterhin haben, gingen davon aus, dass sich diese Gruppen durch eine Reihe eindeutig zu bestimmender Merkmale von anderen unterscheiden ließen, und deren Identitäten so zum Ansatzpunkt politischer Kämpfe werden könnten.
Sebastian Haunss
2. Ansätze und Theorien in der Bewegungsforschung
Zusammenfassung
Das 20. Jahrhundert ist in seinem Verlauf mit vielen Begriffen belegt worden: das Jahrhundert der Gewalt, das Jahrhundert der Extreme, das kurze und das lange 20. Jahrhundert. Welche dieser Charakterisierungen auch immer zutreffen mag, in jedem Fall war es auf der politischen Ebene durch Massenmobilisierungen der unterschiedlichsten Art geprägt. Es sah Höhepunkt und Niedergang der Arbeiterinnenbewegung und der Frauenbewegung, faschistische Massenmobilisierungen in den 20er- und 30er-Jahren, nationale Befreiungsbewegungen im Kontext der antikolonialen Bewegungen, die von den Studentinnen ausgehenden aber keineswegs nur auf sie beschränkt gebliebenen mit dem Jahr 1968 verbundene Mobilisierungen in den westlichen Industrienationen, eine neue Frauenbewegung und die so genannten neuen sozialen Bewegungen seit den 70er-Jahren. Der trotz aller Erschütterungen lange stabil geglaubte Ostblock brach schließlich doch zusammen, begleitet von demokratischen, aber auch von nationalistischen und ethnischen Volksbewegungen.
Sebastian Haunss
3. Das Konzept »Kollektive Identität« in der Bewegungsforschung
Zusammenfassung
Die Popularität des Konzepts kollektive Identität markierte in den 90er Jahren eine Verschiebung des Blickwinkels in der Bewegungsforschung weg von am Rational Choice-Paradigma orientierten Theorien — repräsentiert durch den Resource Mobilization-Ansatz — hin zu Analysekonzepten, die Bewegungsakteure nicht nur als rationale politische Akteure in einem vorgegebenen Feld der Auseinandersetzung betrachten, sondern als soziale Akteure innerhalb der Bewegungen.
Sebastian Haunss
4. Szenen und soziale Bewegungen
Zusammenfassung
Die Diskussion der verschiedenen Ansätze der Bewegungsforschung hat deutlich werden lassen, dass die klassische Definition von McCarthy und Zald, die soziale Bewegungen als »a set of opinions and beliefs in a population which represents preferences for changing some elements of the social structure and/or reward distribution of a society« (1977: 1217 f.) verstehen, sowohl zu unspezifisch als auch zu eingeschränkt ist; zu unspezifisch, weil sie keine Akteure benennt, und zu eingeschränkt, weil sie die Alltagspraxen nicht berücksichtigt. Auch anderen Definitionen, wie der von della Porta und Diani (1999: 16),16 die die Bedeutung der aus verschiedenen Personen und Gruppen zusammengesetzten Netzwerke als Grundstruktur sozialer Bewegungen betonen, gelingt es nicht, diese Aspekte zu erfassen. Erst die Hinzunahme des Aspekts kollektiver Identität, wie in der Definition Ruchts (1994b)17, öffnet den Blick für jene Verknüpfungsprozesse von Collective Action-Frames und Lebensweisen, denen die Aktivistinnen der Autonomen und der Schwulenbewegung große Aufmerksamkeit gewidmet haben. Aber auch hier bleiben die Orte, an denen sich Lebenspraxen und Framing-Prozesse miteinander verknüpfen, konzeptionell unbestimmt.
Sebastian Haunss
5. Methoden
Zusammenfassung
Wie lassen sich nun die Elemente kollektiver Identität empirisch erfassen. Bei den Grenzziehungs- und Bewusstseinsbildungsprozessen handelt es sich in erster Linie um diskursive Prozesse. Für die Elemente kollektiver Identität, die sich als alltägliche Lebenspraxen, (sub-)kulturelle Stile und Präferenzen äußern, gilt dies nicht unbedingt. Allerdings werden auch diese Elemente immer wieder zum Gegenstand diskursiver Aushandlungsprozesse, insbesondere wenn sie sich wandeln oder wenn sie sich gegen Veränderungswiinsche behaupten. Veränderungen und Differenzierungen im Prozess kollektiver Identität sind also vor allem diskursive Prozesse. Zu ihrer Analyse reicht es nicht, einzelne Akteurinnen nach ihren Selbstdefinitionen und Identifizierungen zu befragen; vielmehr müssen die Diskurse innerhalb der jeweiligen Bewegungen, ihr Wechselspiel mit Diskursen anderer Bewegungen, ihr Verhältnis zu und ihr Austausch mit anderen gesellschafdichen Diskursen nachverfolgt und analysiert werden.
Sebastian Haunss
6. Die Autonomen — Profile einer Bewegung
Zusammenfassung
Die Autonomen stellen in vielerlei Hinsicht eine für das Bewegungsspektrum der Bundesrepublik untypische soziale Bewegung dar. Im Unterschied beispielsweise zur Anti-AKW-Bewegung oder der Frauenbewegung ist es trotz ihres inzwischen über 20jährigen Bestehens nicht möglich, ein eindeutiges politisches oder gesellschaftliches Projekt mit den Autonomen verbinden. Das Themenspektrum autonomer Mobilisierungen ist breit gefächert, ohne kontingent zu sein. Einzelne Elemente — Atomkraft, Antifa, Stadtteilpolitik, Internationalismus — tauchen immer wieder auf, ohne allerdings eine stabile Grundlage der autonomen Bewegung zu bilden. Einzelne Projekte — Zentren, Zeitschriften, regelmäßige Treffen oder Aktionen — bilden kontinuierliche Kristallisationspunkte der Bewegung, ohne allerdings zu organisatorischen Kernen der Bewegung zu werden. Seit über 20 Jahren hängt den Autonomen zudem das Label einer Jugendbewegung an. Und auch hier präsentieren sie sich als widersprüchlicher, als es beim ersten Blick erscheint: Die kurze Verweildauer vieler jugendlicher Aktivistinnen steht neben lange bestehenden »autonomen Gruppen« und Mobilisierungsnetzwerken im Umfeld der Bewegungsorganisationen und in der Diffusität der autonomen Szene.
Sebastian Haunss
7. Prozesse kollektiver Identität in der autonomen Bewegung 1988–2001
Zusammenfassung
Im Folgenden werde ich die Konstruktions- und Fragmentierungsprozesse kollektiver Identitäten in der autonomen Bewegung zwischen dem Ende der 80er Jahre und heute analysieren. Warum gerade dieser Zeitraum? Prinzipiell ließen sich die Konstruktions- und Fragmentierungsprozesse kollektiver Identitäten zu jedem beliebigen Zeitraum der irgendwann gegen Ende der 70er Jahre beginnenden Bewegungsgeschichte der Autonomen betrachten. Allerdings bietet sich der Zeitraum seit 1988 in besonderer Weise an. Zum Ende der 80er Jahre hatte die autonome Bewegung den (bisherigen) Höhepunkt ihrer Mobilisierungsfähigkeit erreicht.
Sebastian Haunss
8. Die Schwulenbewegung
Zusammenfassung
Die neue oder zweite Schwulenbewegung70 ist in der Bundesrepublik Deutschland eng mit der 1968er-Bewegung verknüpft. Ihr entscheidendes Gründungsereignis ist zwar nicht unmittelbar mit den studentischen Protesten verbunden, fällt aber dennoch in die von der Studentenbewegung bestimmte Periode gesellschaftlicher Liberalisierung. Den Startschuss für die neue Schwulenbewegung gab die Liberalisierung des § 175 StGB. Bis 1969 galt in der Bundesrepublik der im NS verschärfte § 175 StGB, der gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen zwischen Männern gleich welchen Alters unter Strafe stellte. Die am 1.9.1969 in Kraft getretene Liberalisierung tolerierte nun schwule Sexualität, soweit die Beteiligten über 21 Jahre alt waren, 1973 sank diese Altersgrenze mit der allgemeinen Absenkung der Volljährigkeitsgrenze auf 18 Jahre. Ab 1969 war es also erstmals einer großen Gruppe homosexueller Männer möglich, ihr sexuelles Begehren ohne permanente Strafdrohimg auszuleben (Salmen und Eckert 1989, Holy 1991, Kraushaar 1997, Herrn 1999).
Sebastian Haunss
9. Prozesse kollektiver Identität in der zweiten Schwulenbewegung
Zusammenfassung
Wenn von schwuler oder homosexueller Identität gesprochen wird, sind damit zumeist Gemeinsamkeiten gemeint, die Männer — gelegentlich sind Frauen auch mitgemeint — aufgrund ihrer sexuellen Vorliebe für gleichgeschlechdiche Partner haben sollen und die diese Männer von Menschen mit anderen sexuellen Vorlieben unterscheiden. In diesem Sinne wurden Schwule in den 1990er Jahren als target audience, als Konsumentengruppe entdeckt, die sich durch ein überdurchschnittlich hohes Einkommen, relative Ungebundenheit und überdurchschnittlich hohe Konsumbereitschaft auszeichnet (Der schwule Konsument 2001).
Sebastian Haunss
10. Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung — ein Vergleich
Zusammenfassung
Ein Vergleich der in den vorangegangenen Kapitel beschriebenen Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung lässt strukturelle Ähnlichkeiten, aber auch bedeutsame Differenzen zum Vorschein kommen, die zu einem tiefer gehenden Verständnis der Bedeutung von Prozessen kollektiver Identität in sozialen Bewegungen beitragen können. Dabei ist es sinnvoll, verschiedene Ebenen voneinander zu trennen: In einem ersten Schritt (10.1.) gilt es zu fragen, welche grundsätzlichen Schlüsse sich aus den Unterschieden der Prozesse kollektiver Identität in beiden Bewegungen ziehen lassen. In einem zweiten Schritt (10.2.) lohnt es sich, nach formalen Ubereinstimmungen und Differenzen zu fragen, da dadurch die Rahmenbedingungen der Bewegungsdiskurse deutlicher konturiert werden können. Dabei lohnt es insbesondere, einen Blick auf die Teilnehmerinnen an den Diskursen und auf die Medien, in denen diese Diskurse stattgefunden haben, zu werfen. Daran anschließend werden einige bedeutsame Analogien (10.3.) und Differenzen (10.4.) in den Prozessen kollektiver Identität beider Bewegungen detaillierter diskutiert, um so zu verstehen, wie in den beiden Bewegungen Prozesse kollektiver Identität und Bewegungsentwicklungen zusammenhängen. Schließlich wird es darum gehen, welche Rolle Szenen in den Prozessen kollektiver Identität beider Bewegungen gespielt haben und wie vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse die Konzeptualisierung von Bewegungsszenen präzisiert werden muss.
Sebastian Haunss
11. Resümee
Zusammenfassung
Welche Bedeutung haben Prozesse kollektiver Identität in sozialen Bewegungen? Die Analyse der Bewegungsdiskurse der Autonomen und der Schwulenbewegung hat deutlich werden lassen, an welchen Punkten Prozesse kollektiver Identität in den beiden untersuchten Bewegungen eine Rolle gespielt haben, aus welchen Elementen sich kollektive Identitäten zusammengesetzt haben und welche Zusammenhänge zwischen Mobilisierungsdynamiken der Bewegungen und Prozessen kollektiver Identität bestanden haben. Ich habe argumentiert, dass sich sowohl die Institutionalisierung und Auflösung der Schwulenbewegung als auch die Persistenz der Autonomen zu einem bedeutenden Teil aus den Unterschieden in den Prozessen kollektiver Identität beider Bewegungen erklären lassen. Diese Argumentation fußt auf der Grundlage einer theoretischen Einordnung und Konturierung des Konzeptes »kollektive Identität« in Relation zu anderen Konzepten der Bewegungsforschimg. Dadurch war es möglich, einen methodischen Rahmen abzustecken, in dem sich einzelne Elemente kollektiver Identität bestimmen lassen und in dem die verschiedenen Dimensionen kollektiver Identität deutlich hervortreten. In Form einer Diskursanalyse von Texten aus zwei Bewegungszeitungen der Autonomen und der Schwulenbewegung ließen sich dann die Prozesse kollektiver Identität beider Bewegungen untersuchen und die theoriegeleiteten Hypothesen empirisch überprüfen.
Sebastian Haunss
12. Literatur
Sebastian Haunss
Backmatter
Metadaten
Titel
Identität in Bewegung
verfasst von
Sebastian Haunss
Copyright-Jahr
2004
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-81007-6
Print ISBN
978-3-8100-4150-0
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-81007-6