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Open Access 2023 | OriginalPaper | Buchkapitel

Imagining Otherwise – Fantastische Perspektiven auf Arbeit in der Transformation

verfasst von : Jana Gebauer

Erschienen in: Transformation und Emanzipation

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

„Ein Leben in Arbeit“ wurde für uns erfunden. Oder gegen uns. Erniedrigt zur Ausbeutung oder überhöht zum Fetisch bestimmt Erwerbsarbeit, was wir gelten und woran wir teilhaben können. Die Arbeitsgesellschaft begreift Leben als Ressource und verwertet es in Leistung. Schaffen wir sie ab. Die Postarbeitsgesellschaft begreift Leben als Sinn und verwirklicht es durch Care. Legen wir sie an. „Ein Leben in Care“ erfinden wir selbst. Begeben wir uns hierfür auf eine kollektive Suche nach dem guten Leben für alle – und nach einem gerechten Überleben in der Vielfachkrise. Trainieren wir dafür auch unsere Vorstellungskraft neu: Um zu sehen, wie es wäre, wenn es wirklich anders wäre. Um die schon entstehenden neuen Praktiken wahrzunehmen, die wir in einem guten Leben für alle brauchen. Um deren Tragkraft auch dann zu erkennen, wenn die allgemeine Erzählung von etwas Unzureichendem spricht. Um unsere eigene Befähigung dafür zu entdecken, bessere Wirtschafts- und Gesellschaftsentwürfe zu verwirklichen.
Denken Sie oft an die Zukunft von „Ostdeutschland“? Gut, vielleicht wohnen Sie da nicht und haben wenig Anlass. Oder Sie sind nicht offiziell damit beauftragt wie Carsten Schneider von der SPD. Er ist seit Ende 2021 der Beauftragte der Bundesregierung für Ostdeutschland und damit zuständig für den sogenannten Aufbau Ost. Er denkt also professionell über die Zukunft der fünf halb-alten Bundesländer auf dem ehemaligen Staatsgebiet der DDR nach. Schneider ist Ostdeutscher, aber auch Seeheimer, also SPD-Konservativer. Sein Nachdenken über Ostdeutschlands Zukunft klingt daher nach Wirtschafts- und Industriepolitik einer älteren Schule, die Angst hat, etwas Großes zu verpassen. Jedenfalls in einem Interview in der tageszeitung, mit dem er mein eigenes, sehr anderes Nachdenken über – nicht nur ostdeutsche – Zukunftsfähigkeit kurz unterbrach (Schulz und Gottschalk 2022).
Schneider blickt auf Ostdeutschland und sieht: jede Menge Arbeitslose und jede Menge leere Fläche. Noch, denn zumindest Letztere zählt er als echtes Pfund im gerade startenden Wettbewerb der Regionen um die sich post-pandemisch dezentraler aufstellenden Großunternehmen. Schon mit der giga Tesla-Ansiedlung in Grünheide – Brandenburg bei Berlin – kam die „Zukunft“ ins Land, geht es, wie für Schneider, nach Aktienkurs und Marktkapitalisierung des E-Autobauers. Weitere Kernindustrien müssten folgen und daher weist man einem Großinvestor nicht die Tür, sondern die Flächen aus.
Und die Arbeitslosen? In den vollautomatisierten Hochtechnologiefabriken werden sie wohl nur begrenzt unterkommen. Aber auch als „ungelernter“ Lagerarbeiter im wachsenden Online-Versandhandel ließe sich ja Arbeiterstolz gewinnen und arbeitsgesellschaftliche Anerkennung gleich mit. Und wenn dann alle noch ihr abgelaufenes Klassenbewusstsein erneuerten, könnten starke Gewerkschaften tarifgebundene Preise für die auf den Markt getragene Arbeitskraft erkämpfen. Ist Ostdeutschlands Wachstumsbremse erst gelöst, kämpft der Ostbeauftragte auch persönlich vor den neuen Werkstoren.
„Hard times are coming, when we’ll be wanting the voices of writers who can see alternatives to how we live now.“ (Ursula K. Le Guin)
Nicht wenige verbinden mit der Re/Industrialisierung „4.0“ eine gute alte Zukunftsvorstellung, die in einer gewerkschaftlich begleiteten Transformation Wege für Wachstum und Beschäftigung weist. Nicht weniger andere sehen hierin eher eine Zukunftsverstellung, die jede Fantasie für einen echten Wandel vermissen lässt. Fehlende Fantasie ist nun leider nichts, was Menschen bekümmert, die sich realpolitisch v/erwachsen fühlen. Erwünscht ist die Kraft der Vorstellung eigentlich nur bei Kindern für die Selbstbeschäftigung und bei (Tech-)Unternehmern für die großen Visionen. Alle anderen sollen sich produktiv der Kraft des Geschaffenen stellen; der Rest ist Eskapismus.
Dieser „Eskapismus“ – oder vielmehr: das starke Bedürfnis, die Dinge anders denken zu wollen – bricht sich aber besonders dann Bahn, wenn sozusagen deren Weichen gestellt werden müssen. Etwa in Krisen. Clara Zetkin erklärte die große Popularität des utopischen Romans „Looking Backward 2000–1887“ von Edward Bellamy (1949/1887) weniger mit dessen künstlerischer Bedeutung oder wissenschaftlicher Fundierung. Beides sprach sie ihm im Vorwort ihrer eigenen Übersetzung klar ab, wie er ohnehin viel kritisiert und auch parodiert wurde. Aber er bildete für Zetkin etwas ab, das in den krassen Verwerfungen und Krisen, die die kapitalistische Industrialisierung begleiteten, vielen Menschen bewusst geworden war, nämlich „daß an der gesellschaftlichen Organisation, daß in der Organisation der Arbeit ‚etwas‘ zu bessern sein müsse.“ (Zetkin 1949, S. 9) Seine vielen Leser_innen suchten also keine Ausflüchte, sondern echte Auswege in ein besseres Leben – und der Roman war dafür „reich an Anregungen, kritischen und fruchtbaren Gedanken über das Heute und Morgen der Gesellschaft“, so Zetkin (ebd., S. 10).
Bellamy war damals auch als Autor nicht allein mit dem Bedürfnis, andere Zukünfte erzählerisch zu entwickeln und auszumalen. William Morris (2009) reagierte 1890 mit „News from Nowhere“ unmittelbar auf den „Rückblick“. Er stieß sich an der bloß staatssozialistisch gewendeten Industriegesellschaft Bellamys. In seiner Utopie deindustrialisierte und dezentralisierte Morris lieber und verband die Ästhetik konvivialer Handwerkskünste mit gelingender Selbstversorgung auf dem Land und in rückgebauten Gartenstädten. Charlotte Perkins Gilman (2015) entwarf 1915 in ihrer Fortsetzungsgeschichte „Herland“, die erst 1979 in Buchform herauskam, die erste feministische Utopie. Sie beschreibt eine Art regenerative steady-state economy einer Frauengesellschaft, die aufgrund geologischer Besonderheiten isoliert ist und so über Generationen frei von externer Bedrängnis ein suffizientes Leben in kollektiv sorgender Fülle aufbauen kann.1
Zentraler Gegenstand der drei Texte – und vieler weiterer davor und danach – ist die Frage, wie sich Arbeit in den Gesellschaften verändert und wie diese Veränderungen im Sinne der Menschen und ihrer Gemeinschaften wirken. Einiges davon lässt sich in heutigen Zukunftsentwürfen wiederfinden, die sich umsichtig und vorsorgend auf die vielfachen, sich immer weiter zuspitzenden Krisendynamiken des nunmehr globalisierten Industriekapitalismus beziehen. Es ist eine kollektive Suche nach dem guten Leben für alle – und auch schlicht nach einem gerechten Überleben in der Vielfachkrise. Mit einem sozial-ökologischen Umbruch sollen tiefgreifende Veränderungen solidarisch gestaltet, aber auch solidarisch „ausgehalten“ werden können.
„The point is not for utopia […] to assign ‘true’ or ‘just’ goals to desire but rather to educate desire, […] to open a path for it. Desire must be taught to desire, to desire better, to desire more, and above all to desire otherwise.“ (Miguel Abensour)
Ganz bewusst geht es bei dieser Suche nicht darum, Utopien als abgeschlossene und sowieso nicht erreichbare oder auf Dauer nicht für alle wünschbare Idealgesellschaften zu entwerfen. Stattdessen wird in kollektiven Prozessen geübt, wozu Ruth Levitas (2013) Zukunftsdenker_innen anregt: „Utopie als Methode“ zu nutzen. In dem Bedürfnis, anderen als den vorgegebenen Wegen zu folgen, Zukünfte neu normativ herzuleiten, über sie zu spekulieren, sie zu fiktionalisieren – und neue Wege anzulegen, fließen in solchen Prozessen heute die Ideen, Erfahrungen und Kenntnisse von Menschen aus Wissenschaft, Bewegung und Praxis bunt, wertschätzend und bereichernd ineinander.
Einfach ist es allerdings nicht, unser Leben „aus der Perspektive der Veränderbarkeit“ zu betrachten, wozu Eva von Redecker uns in ihrer „Revolution für das Leben“ (2020) dringlich einlädt. Wir klammern uns an die immergleiche Erzählung von einer Art FOMO2-Ökonomie, in der wir als Unternehmende keine Gelegenheit des Verwertens, als Konsumierende keine Gelegenheit des Verbrauchens und als Arbeitende keine Gelegenheit des Verwertet- und Verbrauchtwerdens auszulassen hätten. Da ist es verwirrend und auch anstrengend, uns in erster Linie als Menschen und „die Natur“ (gar „Fläche“) als Räume voller Leben wahrzunehmen, mit Bedürfnissen, Verbundenheiten und Verletzlichkeiten, für die Ausbeutung keine gelingende Beziehungsweise ist. Um zu verändern, was geworden ist, müssen wir also vorstellbar machen, was kaum noch vorstellbar ist. Wir brauchen Sand im mentalen Getriebe, müssen lernen, anders zu wünschen, und verstehen, dass wir das dürfen. Und dann müssen wir anders erzählen.
Olivia Golde (2020) hat in ihrem Buch „Karstadt waren wir“ so eine andere Erzählung versucht. Sie wollte sie von ihren Protagonistinnen bestimmen lassen, Karstadt-Verkäuferinnen einer Leipziger Filiale, die geschlossen wurde. Würden sie gern weiterarbeiten und wie würden sie ihre Arbeit gestalten, was wünschen sie sich für die Zukunft? Die Verkäuferinnen taten sich schwer damit, ihren eigenen Bedürfnissen und Wünschen überhaupt Gewicht und Legitimität beizumessen. Sie erlaubten sich erst, über ihre Zukunftsvorstellungen nachzudenken, nachdem Golde für sie eine utopische Erzählung gewagt hatte. Erst das fertige, manifeste Buch, das doch bloß von ihnen handelte, öffnete den Verkäuferinnen einen Raum, in dem sie und ihre Geschichten wie auch ihr gemeinsames Zukunftsdenken wichtig wurden.
„Radical Imagination is not just about dreaming alternative futures. It lures us into embodying alternatives in practices, actions, and thinking.“ (Radical Imagination Conference)
Aber auch in einem solchen Raum ist radikales Imaginieren kein Selbstläufer. Gewohnt, immer realistisch und anschlussfähig bleiben zu sollen, kalkulieren wir in Wandelprozessen vorauseilend mit Sachzwängen, Mehrheiten und Machbarkeiten. Unser Fantasiemuskel, der uns über reine Szenarien hinaus zu Vorstellungen davon tragen könnte, wie es wäre, wenn es wirklich anders wäre, ist daher maximal untrainiert, geradezu verkrampft. Viele Prozesse des Utopisierens starten daher mit Lockerungsübungen: Die Zukunftsdenker_innen begeben sich auf Traumreisen, um ihre Gedanken ganz von Raum und Zeit, vom Hier und Jetzt zu lösen; sie befragen Figuren spekulativer Literatur, um mit deren Ideen und Kräften ihre eigenen, anderen Zukunftsgeschichten zu schreiben.3
Und wenn wir unsere Vorstellungskraft trainiert haben, was folgt daraus? Wir können weiter entwerfen, können das Andere immer radikaler und das Eine immer seltener denken, bis wir es vergessen. Wir können breiter entwerfen, uns darin mit Vielen verbinden, denn gute Zukünfte finden wir nur mit denen, die wo/anders im Leben stehen als „wir“. Wir können mehr probieren und schon im Gehen umsichtig umsetzen, was nicht erst im Ankommen gut werden soll. Wir können in den Utopien leben, sie miteinander lebbar machen, sie ver-orten. Und weil auch Utopier_innen von besseren Welten träumen, wie Peter Seyferth (2015) betont, hören wir mit all dem nie auf. Wir gehen vor, zurück und zur Seite, drehen uns zwei-, drei-, viele Male und einander zu. In guten Welten können alle tanzen und die Zeiten verbinden sich im Kreis.4
So könnte ein „Wir“ der Vielen in gleicher Freiheit zu moralischem Entscheiden das wünschbare Gute im Gestern, Heute und Morgen er/finden, das Eine verwerfen, das Andere bestärken, alles verhandeln und offen gestalten: Im Wechselspiel von imaginierendem und schaffendem Weltenbauen, im solidarischen Ringen um gute Vorstellungen des Zusammenlebens, des einander Versorgens, des miteinander Wirkens lernen wir, „unser Leben selbst zu erfinden“, wozu uns Ursula K. Le Guin eindringlich rät. Denn andernfalls, so Le Guin (2020, S. 25), „wird unser Leben von anderen Menschen für uns erfunden werden“.
„Die Befreiung von der Herrschaft der Arbeit war ein revolutionärer Moment. Es war ein Tag der Freiheit, der Tag, an dem wir die Arbeit verlernten. Wir feiern ihn heute und sagen: „Happy After Work Day“. Den Tag, an dem wir die Arbeit überwunden haben.“ (Tobi Rosswog).
„Ein Leben in Arbeit“ wurde von anderen für uns erfunden. Oder gegen uns. Erniedrigt zur Ausbeutung oder überhöht zum Fetisch bestimmt Erwerbsarbeit, was wir gelten und woran wir teilhaben können. Die Arbeitsgesellschaft begreift Leben als Ressource und verwertet es in Leistung. Schaffen wir sie ab. Die Postarbeitsgesellschaft begreift Leben als Sinn und verwirklicht es durch Care. Legen wir sie an.
„Ein Leben in Care“ erfinden wir selbst. Das I.L.A. Kollektiv fängt direkt damit an und erzählt in „Das Gute Leben für Alle“ eine „neue Geschichte […]. Die Geschichte von einer Gesellschaft, in der Wohlstand mit Lebensqualität und Zeit, Verbundenheit und Kooperation von Menschen und Mitwelt, Genuss und Muße sowie sozialer Gerechtigkeit und Freiheit gleichgesetzt ist. Die Geschichte eines Guten Lebens für Alle.“ (2019, S. 11) Diese Geschichte erzählt von wünschbaren Zukünften und realen Utopien, die von der Logik wechselseitigen Sorgens durchzogen sind.5 Sorge – Care – solidarisiert die Beziehungsweisen von Menschen mit Menschen, mit anderen Lebewesen und mit den natürlichen Lebensgrundlagen. Sie bindet so unser Entscheiden, Re/Produzieren und Arbeiten zurück an die gesellschaftlichen, menschlichen und nicht-menschlichen Bedürfnisse und an unsere „shared dependence on an earthbound existence“, wie Anna Yeatman (2015, S. 124) es benennt.
In der Sorgelogik wird der bisherige enge Arbeitsbegriff aufgebrochen und zum solidarischen Tätigsein erweitert: Erwerbsarbeit, sofern sie weiter besteht, ist darin nur noch eine unter vielen möglichen Formen des Tätigseins und wird auf ein unmittelbar versorgungsnotwendiges Maß zurückgeführt. In „Zukunft für Alle. Eine Vision für 2048“ vom Konzeptwerk Neue Ökonomie (KNÖ 2020b) reichen dafür 20 h in der Woche. Denn die Grundversorgung an Bildung, Gesundheit und Pflege, Mobilität und Kommunikation, Wasser, Energie, Wärme und Wohnraum sichern öffentliche Infrastrukturen und Dienstleistungen. Und ein bedingungsloses Grundeinkommen sorgt darüber hinaus für eine „finanzielle Freiheitsgarantie“ (ebd., S. 27).
Die Care-Perspektive verwirft die Idee von „Jobs“ – wir müssen unsere Arbeitskraft nicht „auf den Markt tragen“, weil wir Geld brauchen, um damit unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Sondern unser direktes Bedürfnis ist es, „etwas Sinnvolles zu tun, beizutragen zur Herstellung von Produkten, und diese zu nutzen“, wie es Friederike Habermann beschreibt (2011, o. S.). Und deshalb wollen wir arbeiten – aber auf eine Weise, „in der die Bedürfnisse der Arbeitenden gemeinsam mit den Bedürfnissen der auf diese Arbeit Angewiesenen an erste Stelle treten“, so Eva von Redecker (2020, S. 206).
In der „Zukunft für Alle“ können wir neben oder statt der reduzierten Erwerbsarbeit unser Leben je nach unseren Interessen, Bedarfen und Lebensphasen verbringen – uns bilden, ver/sorgen und politisch engagieren. „Die Umgestaltung der Gesellschaft ohne Arbeitszwang, die Schaffung vieler sinnvoller Tätigkeiten mit attraktiven Arbeitsbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten haben dazu geführt, dass Menschen meist tätig sein wollen. Manche sind es vielleicht nicht im Erwerbsbereich, übernehmen dafür aber andere Aufgaben. Heute sind Menschen eher bereit, von sich aus beizutragen, weil es sinnvoll scheint und sie selbstbestimmt entscheiden können.“ (KNÖ 2020b, S. 37) Das heißt, wir teilen die Arbeit und sind nicht mehr durch Arbeit – oder Arbeitslosigkeit – geteilt.
Die Sorgelogik beendet die Verwertung und reduziert den Verbrauch. An die Stelle der Angst, uns etwas entgehen zu lassen oder etwas zu erbringen, das dann andere abschöpfen, rücken Kooperation und Suffizienz – wir entspannen uns jeweils im Genug, denn unsere Fülle entsteht im Sozialen. Weniger Überfluss-Güter, die sinnlos in den Markt gepresst werden, nur noch Produkte und Leistungen, die gesellschaftlich wie ökologisch nützlich und gerecht sind – das verwandelt unsere Berufswelt. Tobi Rosswog (2018, S. 65) fordert uns in „After Work“ auf, selbst den Test zu machen: „Was würde sich in unserer Gesellschaft ändern, wenn es folgende Berufsgruppen nicht mehr gäbe? […] Und jetzt überlege, welche Aufgabenfelder es hingegen unbedingt braucht.“
Für die Audioutopistas (2020, S. 11 f.) fallen zum Beispiel Autobauer weg: In „2048 – Szenen aus einer Welt von morgen“ ist Mobilität kaum noch individuell motorisiert. Die wenigen verbliebenen Autos und Transporter werden geteilt, überregional fahren Züge und Wasserstoff-Busse eng getaktet und koordiniert – und über „die blöde Idee vom Elektroauto“ lernt mensch nur noch „in Technikgeschichte, […] gleich nach Kohle und vor Kernkraft.“ Ganze Industrien, nämlich die ressourcenintensiven und ökologisch schädigenden, werden also um- oder rückgebaut. Die sozial-ökologische Industriekonversion kommt in keinem Zukunftsentwurf ohne Gewerkschaften aus, die ökologisch radikal umdenken und Perspektiven für gerechte Übergänge mitentwickeln. Die Industriegewerkschaft Bergbau Chemie Energie nimmt diese Rolle zumindest in „Neuland“, einem von vier Szenarien eines umfassenden Prozesses der IG BCE zu „Perspektiven 2030+ “, gedanklich an und sieht dort künftig Gewerkschaften und Betriebsräte, die an einer ökologisch tragfähigen Struktur- und Industriepolitik, regionalen Strukturwandel-Projekten und guten, sicheren und qualifizierten Perspektiven der Beschäftigten mitwirken – in Anerkennung der notwendigen „Verringerung von Industrieproduktion und Ressourcenverbrauch“ (IG BCE 2019, S. 40).
Apropos qualifiziert: Sonja Hermeneit (2021) erzählt in „JobXChange“ vom überraschend naheliegenden Wechsel einer Bibliothekarin in die medizinische Diagnostik. Sie zeigt damit, wie wir in einer gewandelten Zukunft – oder: im Wandel selbst – unsere Befähigungen entdecken, schulen und für unterschiedliche wichtige Tätigkeiten einsetzen können. In Leah Zaidis (2019) „Job Ads from the Future“ sind zum Teil sehr andere Befähigungen oder Bereitschaften gefordert, wenn wir in Zukunft auch gänzlich neue Dinge tun werden müssen, um gerechtere Gesellschaften zu gestalten und mit ökologischen Krisen umzugehen: Als „Forest Feeder“ dienen wir zum Beispiel als Wirte für Nano-Bakterien, die Plastik und Giftstoffe abbauen können. Wir tragen sie in geschädigte Ökosysteme, damit sie bei deren Regeneration helfen, während wir selbst dort sterben: „die reviving the earth“. Zaidi pointiert und provoziert mit ihren „Job Ads“ – zum Beispiel darüber zu diskutieren, was unsere existenzielle Verbundenheit mit diversen Lebensformen und -räumen erfordert und was wir jenseits ökologischer Kipppunkte bereit sein müssen zu tun, wenn wir jetzt nicht deutlich mehr leisten als bisher.
Um zu breit wünschbaren Zukunftsvorstellungen zu kommen, die neuen Wege anzulegen und die erforderlichen Praktiken einzuüben, ist eins in allen Entwürfen entscheidend: die direkt-demokratische Teilhabe auf allen Ebenen der Gesellschaftsgestaltung. Das I.L.A. Kollektiv (2019, S. 67) nennt es „Den Rat neu erfinden“. Und tatsächlich sind für öko-solidarische Zukunftsdenker_innen häufig Räte-Strukturen das Mittel vor der Wahl. Am Beispiel der Produktion übersetzt es das KNÖ (2020b, S. 30) so: „Heute sind alle Betriebe demokratisch organisiert und kontrolliert, das heißt mindestens alle Arbeiter*innen entscheiden gemeinsam, was und wie produziert wird. Gleichzeitig sind diese Entscheidungen aber auch gesellschaftlich eingebettet – über Rätestrukturen wird der Rahmen festgelegt, innerhalb dessen die Betriebe über ihre Produktion entscheiden können.“ Die IG BCE sieht im Szenario einer stärker demokratisierten Wirtschaft auch eine neue Rolle für Gewerkschaften – als Trägerinnen von Genossenschaften oder regionalen Entwicklungsgesellschaften, „wenn etwa Betriebsstätten geschlossen werden sollten und die Beschäftigten sie mit neuen Nutzungskonzepten und gewerkschaftlicher Unterstützung selbst übernommen haben“ (IG BCE 2019, S. 42).
Solidarische Versorgungszusammenhänge sind durch Nähe und Wechselseitigkeit bestimmt. Es ist ein „Handel der kurzen Wege“, den das I.L.A. Kollektiv (2019, S. 53) beschreibt und der Herstellung und Gebrauch der Güter konkret ver-ortet, in die Regionen einbettet, auf die – menschlichen wie nicht-menschlichen – Bedürfnisse und Bedingungen dort bezieht. „Ein utopischer Ausblick auf Pödelwitz [Landkreis Leipzig] im Jahr 2025“ enthält für das KNÖ und das Bündnis „Alle Dörfer bleiben!“ vor allem eine vielfältige, selbstorganisierte Beitragsökonomie, öffentliche Betriebe und viele alte und neue Kleinunternehmen und Händler_innen, insbesondere Kollektivbetriebe. Sie bestimmen den regionalen Strukturwandel aus der Kohle, der eine klare Bedingung hat: „Die Ansiedlung großer Konzerne soll weiterhin vermieden werden – aus der Vergangenheit wurde gelernt!“ (KNÖ 2020a, S. 27) Die werden auch nicht gebraucht: Je nach Produkt und Ressourcenanspruch sind die kooperativ organisierten Betriebe beim KNÖ von der lokalen bis zur globalen Ebene in unterschiedlich komplexe Produktionsnetzwerke eingebunden. Im regionalisierten, regenerativen Wirtschaften der Sorge-Utopie tragen alle nach ihren Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Fülle bei und sie kommt allen nach ihren Bedürfnissen zugute. Für J.K. Gibson-Graham und Ethan Miller (2015, S. 14) vom Community Economies Collective schließt dies ausdrücklich “plants, animals, bacteria, fungi and dynamic energetic systems” ein. Hier ist keine Fläche „leer“.
„Das Unentwickelte, dessen Form wir nicht kennen, nur ahnen, ist noch keine Alternative zum Bestehenden, sondern ein Defizit, aber kein Defizit zum Realen, sondern ein Defizit zum Möglichen.“ (Jutta Brückner)
Gute Zukunftsvorstellungen sind vielfach herausfordernd und müssen (fortlaufend) situiert diskutiert werden. Aber sie entstehen eben nicht dadurch, dass wir es einfach an andere delegieren, ihre Visionen völlig kontextfrei und unverbunden zu entfalten. An Tech-Unternehmer und Großinvestoren zum Beispiel. Die Tesla Autofabrik in Grünheide war schneller hochgezogen, als wir Versteppung sagen konnten, und die gerade verkündete Intel Chipfabrik in Magdeburg wird jetzt schon für die vielen Pendler_innen gefeiert, die sich bald auf einen neuen fremdbestimmten Arbeitsweg machen. In beiden Fällen wird wohl wenig für die Bedürfnisse der Menschen vor Ort produziert, wird nicht regenerativ mit den Gegebenheiten gearbeitet, sondern absehbar gegen sie. So werden sich soziale Probleme kaum verringern, ökologische aber sicher verschärfen. Das so wenig visionäre – und wenig demokratische – Befeuern des alten Wirtschafts- und Arbeitsmodells, das allein auf Wachstum und Verwertung setzt, verbrennt leider genau die „Flächen“, auf denen wir der Vielfachkrise begegnen und das gute Leben für alle anlegen müssen.
Unser starkes Bedürfnis, die Dinge anders denken zu wollen, verbrennt es nicht. „Es ist kein menschlicher Fehlgriff, die Welt zu verändern. Man kann sie schließlich auch verschönern“, ruft uns Eva von Redecker zu (2020, S. 291). Und so bauen wir weiter am wünschbaren Möglichen – und verringern zugleich den Abstand dahin. Dabei hilft uns, auch diesen Abstand nochmal ganz anders zu betrachten: Welche der solidarischen Praktiken, die wir in einem guten Leben für alle sehen wollen, sind denn schon da und können von uns jetzt gestärkt und verbreitet werden? Auch dafür müssen wir unsere Vorstellungskraft trainieren: um die vielen bunten Ansätze zu einer Form, einer echten Alternative zum Bestehenden zusammenwachsen zu sehen, um ihre Tragkraft auch dann zu erkennen, wenn die allgemeine Erzählung von etwas Unzureichendem spricht, um unsere eigene Befähigung dafür zu entdecken, bessere Wirtschafts- und Gesellschaftsentwürfe zu verwirklichen. Wofür wir unsere Energie und unseren Ideenreichtum nicht aufwenden sollten: die Defizite im Bestehenden zu erhalten.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Fußnoten
1
„Looking Backward“ und „News from Nowhere“ sind in gender-emanzipatorischer Hinsicht heute kaum zu ertragen, obwohl sie eine Art Gleicherberechtigung mitdenken und dafür auch scharf kritisiert wurden. Aber auch „Herland“, die Geschichte der isolierten weißen Frauengesellschaft, bietet mit ihrer mangelnden Intersektionalität und der Überhöhung der (parthenogenetischen) Mutterschaft ins Religiöse einiges Anstrengende für heutige Leser_innen. Der Wert der Texte besteht so auch darin, sie ja immer emanzipatorischer denken zu können – und zu sollen. Das gilt für alle utopischen (und dystopischen) Entwürfe und Erzählungen.
 
2
Fear of missing out, die zwanghafte Angst, etwas zu verpassen
 
3
„Stories from the Future – Our 2030“, ein kollaboratives Projekt von ACUD MACHT NEU (2020) in Berlin, zog etwa Werke und Ideen von Edward Abbay, Donna Haraway, Ursula K. Le Guin, Kevin Reynolds, Nora Roberts, Dr. Seuss, Olga Tokarczuk und Sylvia Wynter heran, um ein klimaneutrales, gerechtes und wünschbares 2030 zu imaginieren.
 
4
In “Living My Life” von 1934 streitet Emma Goldman mit Verve dafür, so ausgelassen zu tanzen, wie sie es will, und wirft sich damit einem absurd archistischen Vorwurf aus der eigenen Bewegung entgegen, dass dies der anarchistischen Sache in irgendeiner Weise schaden könnte. (Shulman 1991).
 
5
Das I.L.A. Kollektiv folgt im gemeinsamen Zukunftsdenken der Sorge-Utopie des Netzwerks Care Revolution, siehe etwa Werkstatt Care Revolution (2017).
 
Literatur
Zurück zum Zitat Bellamy, E. (1949/1887). Looking Backward 2000—1887/Ein Rückblick aus dem Jahre 2000. Berlin: Dietz Bellamy, E. (1949/1887). Looking Backward 2000—1887/Ein Rückblick aus dem Jahre 2000. Berlin: Dietz
Zurück zum Zitat Gibson-Graham, J.K., & Miller, E. (2015). Economy as Ecological Livelihood. In K. Gibson, D. B. Rose, & R. Fincher (eds.), Manifesto for Living in the Anthropocene (pp. 7–16). Brooklyn, NY: punctum books Gibson-Graham, J.K., & Miller, E. (2015). Economy as Ecological Livelihood. In K. Gibson, D. B. Rose, & R. Fincher (eds.), Manifesto for Living in the Anthropocene (pp. 7–16). Brooklyn, NY: punctum books
Zurück zum Zitat Gilman, C. P. (2015/1915). Herland. London: Vintage Books Gilman, C. P. (2015/1915). Herland. London: Vintage Books
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Zurück zum Zitat I.L.A. Kollektiv (Hrsg) (2019). Das Gute Leben für Alle. Wege in die solidarische Lebensweise. München: oekom Verlag I.L.A. Kollektiv (Hrsg) (2019). Das Gute Leben für Alle. Wege in die solidarische Lebensweise. München: oekom Verlag
Zurück zum Zitat KNÖ – Konzeptwerk Neue Ökonomie (Hrsg.) (2020a). Zukunft für Alle. Eine Vision für 2048: gerecht, ökologisch, machbar. München: oekom Verlag KNÖ – Konzeptwerk Neue Ökonomie (Hrsg.) (2020a). Zukunft für Alle. Eine Vision für 2048: gerecht, ökologisch, machbar. München: oekom Verlag
Zurück zum Zitat Le Guin, U. K. (2020). Die Gebrauchsanweisung. In Dies., Am Anfang war der Beutel. Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft (S. 22–28). Klein Jasedow: thinkOya Le Guin, U. K. (2020). Die Gebrauchsanweisung. In Dies., Am Anfang war der Beutel. Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft (S. 22–28). Klein Jasedow: thinkOya
Zurück zum Zitat Levitas, R. (2013). Utopia as method: The imaginary reconstitution of society. London: Palgrave MacmillanCrossRef Levitas, R. (2013). Utopia as method: The imaginary reconstitution of society. London: Palgrave MacmillanCrossRef
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Zurück zum Zitat Redecker, E. von (2020). Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Frankfurt a. M.: S. Fischer Redecker, E. von (2020). Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Frankfurt a. M.: S. Fischer
Zurück zum Zitat Rosswog, T. (2018). After Work. Radikale Ideen für eine Gesellschaft jenseits der Arbeit. München: oekom Verlag Rosswog, T. (2018). After Work. Radikale Ideen für eine Gesellschaft jenseits der Arbeit. München: oekom Verlag
Zurück zum Zitat Seyferth, P. (2015). San Francisco nach der Ökonomie: After the Deluge. Die anarchokommunistische Öko-Utopie Chris Carlssons. In S. Ebert, & J. Glaeser (Hrsg), Ökonomische Utopien (S. 21–35). Berlin: Neofelis Seyferth, P. (2015). San Francisco nach der Ökonomie: After the Deluge. Die anarchokommunistische Öko-Utopie Chris Carlssons. In S. Ebert, & J. Glaeser (Hrsg), Ökonomische Utopien (S. 21–35). Berlin: Neofelis
Zurück zum Zitat Yeatman, A. (2015). The Human Condition in the Anthropocene. In K. Gibson, D. B. Rose, & R. Fincher (eds.): Manifesto for Living in the Anthropocene. (pp. 123–126). Brooklyn, NY: punctum books Yeatman, A. (2015). The Human Condition in the Anthropocene. In K. Gibson, D. B. Rose, & R. Fincher (eds.): Manifesto for Living in the Anthropocene. (pp. 123–126). Brooklyn, NY: punctum books
Zurück zum Zitat Zetkin, C. (1949). Einleitung. In E. Bellamy, Ein Rückblick aus dem Jahre 2000. (S. 9–11). Berlin: Dietz Verlag Zetkin, C. (1949). Einleitung. In E. Bellamy, Ein Rückblick aus dem Jahre 2000. (S. 9–11). Berlin: Dietz Verlag
Metadaten
Titel
Imagining Otherwise – Fantastische Perspektiven auf Arbeit in der Transformation
verfasst von
Jana Gebauer
Copyright-Jahr
2023
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-39911-5_2