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Open Access 2025 | OriginalPaper | Buchkapitel

7. Inskriptionen – Festhalten und Mobilisieren von Wissen

verfasst von : Konstantin Rink

Erschienen in: Digitale Werkstätten

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Der Beitrag beleuchtet die Praktiken des Festhaltens und Mobilisierens von Wissen in Werkstätten für behinderte Menschen. Dabei wird der Begriff der Inskription aus der Actor-Network-Theorie (ANT) verwendet, um die Prozesse der Dokumentation und Mobilisierung von Wissen zu analysieren. Der Text untersucht die Rolle digitaler Artefakte, wie der Verlaufsdokumentation, und deren Einbindung in den Arbeitsalltag der Werkstätten. Besonders hervorgehoben wird die Bedeutung räumlich-materieller Arrangements, die das Festhalten und Mobilisieren von Wissen beeinflussen. Der Beitrag zeigt auf, wie digitale und analoge Praktiken miteinander verknüpft sind und wie Wissen durch verschiedene Akteure und Artefakte konstruiert und transportiert wird. Zudem wird die Relevanz der Dokumentation für die Qualitätssicherung und Rechenschaftspflicht in der Sozialen Arbeit thematisiert. Der Text bietet eine tiefgehende Analyse der Inskriptionspraktiken und deren Auswirkungen auf die Arbeit in Werkstätten für behinderte Menschen. Durch die detaillierte Beschreibung der Praktiken und die Einbindung der ANT wird ein umfassendes Verständnis der Prozesse des Festhaltens und Mobilisierens von Wissen vermittelt.
Unter der Kategorie Inskriptionen soll ein Bündel aus Praktiken, räumlich-materiellen Arrangement und ein digitales Artefakt1 gefasst werden, in denen es übergreifend um das Festhalten und Mobilisieren von Wissen geht. Das Festhalten und Mobilisieren von Wissen sind zentrale Praktiken im Alltag der Werkstätten. Die Terminologie der Inskription knüpft an die ANT an und grenzt sich von den eher in der Sozialen Arbeit verwendeten Terminus der Dokumentation, der vor allem im Kontext von Professionalität verbreitet ist, ab. Das Thema der Dokumentation ist, was die Praxis selbst betrifft, hoch aktuell und die Tatsache, dass sozialarbeiterisches Handeln dokumentiert wird, ist inzwischen „zu einem der ‚Basisstandards‘ im Rahmen der Qualitätsentwicklung in der Sozialen Arbeit erklärt worden“ (Merchel 2019: 15). Die Erstellung von Berichten, Gutachten, Hilfeplanprotokollen und vielem mehr dient der Rechenschaftspflicht gegenüber sich selbst und anderen in Bezug auf pädagogische und administrative Prozesse (Trede/Henes 2018: 5). All diese Formen von Schriftlichkeit dienen also neben einer professionellen Selbstvergewisserung auch der Legitimation, Planung, Verpflichtung oder Evaluation (Reichmann 2022: 37 f.).
Obwohl die Dokumentation in der Sozialen Arbeit eine Vielzahl von Zwecken erfüllt, wird dieses Phänomen in der Forschung Sozialer Arbeit nur unzureichend berücksichtigt. In der Regel wird die Dokumentation als profane bürokratische Tätigkeit abgetan, die nur wenig mit dem eigentlichen professionellen Handeln, der Fallarbeit, zu tun hat (Ley/Seelmeyer 2014: 51). Wissenschaftliche Beiträge zur Dokumentation „operieren nicht selten mit einem eher allgemeinen und aus der Logik der Disziplin heraus eher professionsorientierten Verständnis von Dokumentation“ (Büchner 2018b: 243). Eine Hochphase in der professionsorientierten Diskussion in der Disziplin gab es in den 1970er Jahren (Merchel 2018). „Diese Auseinandersetzung heilte von dem mancherorts vorhandenen naiven Glauben, das in Schriftstücken Niedergelegte sei ein einigermaßen zutreffendes und kalkulierbares Abbild von Realität“ (ebd.: 21). Gemäß der Argumentation Merchels (2018) mangelt es der gegenwärtigen Debatte an der erforderlichen kritischen Auseinandersetzung. Stattdessen dominieren affirmative und funktionalistische Ansichten bezüglich der Dokumentation. Merchels kritische Sicht auf Dokumentation betont die Konstruktion von Fällen in Akten, die von spezifischen Interessen geleitet ist und sich somit von der Adressatengruppe abgrenzt. Akten spiegeln demnach nicht nur die Anliegen der Adressaten wider, sondern sind auch von der Logik der jeweiligen Organisation geprägt. Zudem werden in Akten „Etikettierungen von Menschen produziert, die sich tendenziell gegenüber den Subjekten verselbständigen“ (Merchel 2018: 25).
Anschließend hieran handelt es sich bei Akten und anderen Formen von Schriftlichkeiten nicht um passive Archive für Informationen, sondern um performative Texte, die auch subjektivierende Wirkungen entfalten können. „Our knowledge of contemporary society is to a large extent mediated to us by documents of various kinds“ (Smith 1974: 257). Der in Dokumentationen als „Documentary Reality“ (Smith 1974) bezeichnete Gegenstand ist das Resultat einer praktischen Tätigkeit, in deren Erstellungsprozess die Subjektivität des Objekts eliminiert wird und als Faktum erscheint. Die materiellen Aktivitäten und der gesamte Erstellungsprozess, die nötig sind, um Dokumente in der Sozialen Arbeit herzustellen, sind am Ende unsichtbar geworden (Latour 2006b; Foth 2013; Kelle 2022). Anstatt Texte und Schriftlichkeit als stabile Objekte zu behandeln, soll der Verfertigungsprozess fokussiert werden. Denn: „Keineswegs offensichtlich ist jedoch, in welcher Weise solche Dokumentation geschieht, wie die Beteiligten dokumentieren und was im Einzelnen dokumentiert wird“ (Moch 2018: 57).
Um diesen Verfertigungsprozess zu analysieren, ist ein Rückgriff auf die ANT und mit ihr auf den Begriff der Inskription als Heuristik sinnvoll. Latour fasst das Wesen von Inskriptionen – der „Schreibarbeit“ (Latour 2006b: 285) – so zusammen, dass komplexe Phänomene durch das Notieren auf Papier festgehalten und transportiert werden. Latour meint mit Inskriptionen „all jene Transformationen, durch die eine Entität in einem Zeichen, einem Archiv, einem Dokument, einem Papier, einer Spur materialisiert wird“ (Latour 1999: 375). Inskriptionen sind „mobil, flach, reproduzierbar, still“ (Latour 2006b: 286) und können zudem neu kombiniert werden. Die Phänomene selbst sind zwar unbeweglich, das Wissen um diese Phänomene lässt sich aber festhalten und mobilisieren. Der Begriff der Inskription verkoppelt die Doppelfunktion des Festhaltens – und damit der Konstruktion – und der Mobilisierung von Wissen über ein Phänomen miteinander. Hier liegt seine besondere Stellung gegenüber den in der Sozialen Arbeit verwendeten Dokumentationsbegriff. Einerseits ist der Inskriptionsbegriff noch nicht mit disziplinären Assoziationen überfrachtet. Der Begriff ist folglich geeignet, um einem alltäglichen Phänomen wie dem Schreiben einer Notiz in der den Werkstätten für behinderte Menschen „einen Gegen-Stand im Sinne eines eigensinnigen Gegenübers“ (Hirschauer 2019: 183) zu machen. Das Phänomen zu verfremden bedeutet, es aus dem Alltagswissen herauszulösen und neue Aspekte zu heben. Andererseits fängt der Begriff die Gleichzeitigkeit von Festhalten und Mobilisieren ein, die in der Analyse von Bedeutung sein wird und die in dem Begriff der Dokumentation nicht zum Tragen kommt.
Im Alltag der WfbM kommt es zu sehr heterogenen Formen des Festhaltens von Informationen. Einige Formen des Festhaltens manifestieren sich in Form von Notizzetteln, die nach wenigen Stunden wieder vernichtet werden. Andere Formen beinhalten Aktenordner, die in den Schränken der Büros verschwinden und archiviert werden. Bei der Frage nach der Eingebundenheit der Cyberinfrastruktur lässt sich zeigen, dass sie in Praktiken zum Einsatz kommt, in denen Wissen nicht nur festgehalten, sondern im Anschluss daran auch mobilisiert wird. Auf diese Praktiken möchte ich mich im Weiteren konzentrieren und hierbei die Verkopplung von räumlich-materiellem Arrangement, Praktiken und der Frage, welche Rolle der Cyberinfrastruktur und ihren einzelnen digitalen Grenzobjekten zukommt, analysieren.
Die erste Unterkategorie hat im Laufe des Auswertungsprozesses die Bezeichnung notierende Inskription (Abschn. 7.2) erhalten. Das Notieren verweist auf Praktiken2, in der jemand etwas ‚kurz aufzeichnet‘ oder ‚vermerkt‘. Im weiteren Verlauf wird zu zeigen sein, woher die Bezeichnung entlehnt ist. Nach dem Konzept der notierenden Inskriptionen (Abschn. 7.2), gehe ich auf die Unterkategorie des Mobilisierens der Notizen (Abschn. 7.3) und – als Kontrast zum Notieren – auf die protokollierenden Inskriptionen (Abschn. 7.4) ein. Im Anschluss nehme ich ein Zwischenfazit (Abschn. 7.5) vor. Zunächst möchte ich mit einer Artefaktanalyse (Abschn. 7.1) einsteigen, die das digitale Artefakt ‚Verlaufsdokumentation‘ ins Zentrum rückt. Das gesamte Kapitel 6 entspinnt sich um dieses Artefakt, dass durch seine Einbindung zu einem digitalen Grenzobjekt wird. Die detaillierte Analyse der Gestalt und Materialität des Artefaktes kann die Leser:in zunächst mit der Frage vertraut machen, in welchen Weisen das Artefakt als Partizipant – in Relationierung mit den am an der Eintragung beteiligten menschlichen Partizipanten – auftreten kann.

7.1 Verlaufsdokumentation (Artefaktanalyse)

Abbildung 7.1
Digitales Artefakt „Verlaufsdokumentation“.
(Quelle: Beobachtungsprotokolle und Rekonstruktion aus Erinnerungen, Eigene Darstellung)
Struktur der Oberfläche: Der blaufarbene Kasten bildet das Herzstück der Oberfläche. Über dem Kasten befindet sich ein schmales blaues Band mit der Aufschrift >Verlaufsdokumentation<, in dem eine Namensspalte zu erkennen ist. Dort kann der Name des:der Adressaten:in ausgewählt werden. Je nach Anmeldedaten und Zugriffsrechten können nur bestimmte Adressaten:innen ausgewählt werden. Direkt in der blaufarbenen Umrandung befindet sich auf der oberen Seite ein Schriftzug mit den Worten >Erfassen von Verlaufsnotizen<. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Wort ‚Notiz': Eine Notiz ist eine kurze schriftliche Aufzeichnung und widerspricht3 der Überschrift, in der von Dokumentation die Rede ist (Abbildung 7.1)..
Unter der Überschrift >Erfassen von Verlaufsnotizen< erstreckt sich ein weißes Freifeld. In das Freifeld passen mehrere Sätze. Es gibt keine Gliederung oder Beschränkung für das Geschriebene. Es handelt sich um ein leeres Eingabefeld. Zusätzlich kann am oberen Rand eine Kategorie ausgewählt werden: >Allgemein<, >Berufliche Entwicklung<, >Rehateam<. Der Begriff >Rehateam< steht für eine Teamsitzung, die zwischen Leitung, Sozialdienst und Gruppendienst stattfindet. Durch Ankreuzen kann eine der drei Kategorien ausgewählt werden. Die Kategorie >Allgemein< ist voreingestellt, das heißt, sie ist beim Öffnen des Fensters immer ausgewählt. Unter dem weißen Eingabefeld befinden sich die Schaltflächen >Speichern<, >Neu<, >Aus Word einfügen< und >Verlaufsbericht<.
Links unter dem Kasten befindet sich die Überschrift >Ansicht der Verlaufsnotizen<. Diese zeigt an, dass sich der:die Anwender:in in einem anderen Bereich als bei der Erfassung befindet. Rechts davon können die Kategorien ausgewählt werden. Das Artefakt filtert die Einträge entsprechend der Kategorie. Im unteren Bereich des Artefakts befindet sich eine Tabelle mit insgesamt fünf Spalten und mehreren Zeilen. Die erste Spalte listet das Datum auf, gefolgt von einer Vorschau auf den Eintrag. Daneben befinden sich eine Spalte für den Druck, eine Spalte für den Verfassernamen und erneut ein >erfasst am<, in dessen Zellen Daten gespeichert sind. Die Tabelle verfügt über eine Scrolling-Leiste auf der rechten Seite.
Grenzziehungen & Organisationseinbettung: Das Artefakt ist nicht direkt zu finden, sondern muss über einen Umweg innerhalb der Cyberinfrastruktur angesteuert werden. Es ist in einem untergeordneten Bereich zu finden, der sich von anderen Artefakten wie den ‚Zielen und Maßnahmen' oder dem Punkt ‚Berichte schreiben' abgrenzt. Die Kategorie ‚Rehabilitation‘, unter der das Artefakt angelegt ist, veranschaulicht den Bezug zu den Adressat:innen.
Innerhalb des Werkstattkontextes wird das Artefakt regelmäßig eingesetzt und nimmt somit eine besondere Stellung ein. Das vorliegende Artefakt ist für Gruppenmitarbeiter:innen, den Sozialdienst und Leitungskräfte zugänglich. Das technische Personal, zu dem das Küchenpersonal und die Verwaltungskräfte gehören, hat keinen Zugang dazu. Durch seine Funktionen des Druckens und des Bericht-Erstellens können die Notizen auch für Dritte sichtbar und lesbar gemacht werden. Dies wird durch die Möglichkeit, einen Bericht anzufertigen, unterstützt. Die Auflistung der Notizen kann von den Einrichtungen als Archiv genutzt werden.
Allgemeine Bedeutung & Funktionen: In der Mitte des Artefakts befindet sich ein zentrales Freifeld, in dem Nutzer:innen Sätze oder Stichpunkte notieren können. Es gibt keine Begrenzung der Zeichenanzahl, jedoch ist der Rahmen begrenzt. Bevor die Nutzer:innen das Freifeld ausfüllen, müssen sie ihre Schriftlichkeit klassifizieren. Zu Verfügung stehen die Kategorien >Allgemein<, >Berufliche Entwicklung< und >Rehateam<. Die Kategorie >Allgemein< kann als residuale Kategorie bezeichnet werden und umfasst alles, was nicht Team- oder Entwicklungsgespräche betrifft. Alle Eintragungen beziehen sich letztlich auf die Adressat:innen, da deren Name vorab aus der Liste ausgewählt werden muss.
Neben dem Freifeld und den Eintragungen bietet das Artefakt auch die Möglichkeit, archivierte Notizen zu der entsprechend ausgewählten Person einzusehen. In einer Spalte der Tabelle erscheint eine Vorschau auf die Notizen, sodass die Nutzenden unmittelbar sehen können, worum es sich bei der Notiz handelt. Außerdem können einzelne oder mehrere Notizen ausgewählt und ausgedruckt werden. Im Gegensatz zu einem analogen Pendant können in dieser Tabelle keine Eintragungen gelöscht oder verändert werden. Außerdem können die Notizen nach Kategorien sortiert werden. In der Spalte >Druck< werden die Namen der Verfasser:innen und ein Datum angegeben, um eine Chronik zu erstellen. Zudem haben Nutzer:innen die Möglichkeit, mithilfe des Buttons >Verlaufsbericht<, eine vollständige Chronik in einem Dokument zusammenfassen und gegebenenfalls ausdrucken zu lassen.
Komparative Analyse: Bei einer internen vergleichenden Analyse zeigt sich, dass sich das Artefakt in Design und Form nur geringfügig von anderen digitalen Artefakten unterscheidet. Sinnvoller, wenn auch nur grob möglich, ist ein Abgleich mit anderen, organisationsexternen Artefakten. Viele digitale Möglichkeiten, um Informationen über Adressaten festzuhalten, besitzen ein Freitextfeld. Ein Großteil der im Feld Sozialer Arbeit zum Einsatz kommenden Artefakte bietet außerdem die Möglichkeit, das Geschriebene einer Kategorie zuzuordnen. Es ist bemerkenswert, dass bei dem vorliegenden Artefakt lediglich drei Kategorien vorhanden sind. Die Auflistung archivierter Notizen in Form einer Tabelle ist bei einigen Anbietern Standard.
Reflexion zum Artefakt und Rückbezug zur Forschungsfrage: Digitale Inskriptionsartefakte bringen eine neue Schriftlichkeit hervor, die weniger eine endgültig abgelegte, vollständige oder abgeschlossene Inskription ist, sondern vielmehr ein kleinteiliges und fragmentarisches Schreiben (Gießmann 2018: 103). Im unteren Bereich des Artefakts wird eine kontinuierlich aktualisierte Liste angezeigt, die die neuesten Einträge umfasst. Gemäß Timmermans und Bowker (1997: 516) erzeugt dies eine lineare, stabile und chronologische Geschichte über die Adressat:innen. Das Artefakt produziert ein Wissen, das über einen längeren Zeitraum stabil bleibt und somit gegenüber verschiedenen Personen, wie zum Beispiel neuen Mitarbeiter:innen, konsistent ist (Merchel 2018: 24). Durch Scrollen können alle vorherigen Einträge eingesehen werden, wobei die Autor:innenschaft eine zentrale Rolle spielt. „Rechenschaft und Accountability bleiben […] auch bei digitaler Aktenführung und vernetzter Buchhaltung von elementarer Bedeutung“ (Gießmann 2018: 104). Die individuelle Zurechenbarkeit von Verantwortung innerhalb der Eintragungen ist im Vergleich zu papierbasierten Aufzeichnungen deutlich transparenter. Auch nachträgliche Löschungen von Einträgen sind in dem Artefakt nicht vorgesehen. Es lässt sich festhalten, dass das digitale Artefakt folglich Transparenz gegenüber den Nutzenden generiert.

7.2 Notierende Inskriptionen

Im Folgenden wird die Unterkategorie der notierenden Inskription erläutert. Dabei wird zunächst die Räumlichkeit des Gruppenbüros beschrieben, bevor die verschiedenen Zeitpunkte der Inskription als Dimensionen der Unterkategorie beleuchtet werden.
Bereits während der ersten Feldtage, bei denen ich als Ethnograf mit den digitalen Artefakten in Berührung kam, zeigten mir die Mitarbeiter:innen spezifische Aspekte ihrer Arbeitsabläufe. Die Leitung stellte mir Personen zur Seite, die sich als besonders geeignet für mein Projekt erwiesen (Abschn. 6.​2). Einer dieser Personen war Martin. Martin wurde aufgrund seiner selbstbeschriebenen Technikaffinität und Offenheit für Innovationen ausgewählt, wie er mir später bei einer Gelegenheit und in Interviews mitteilte. Als Gatekeeper wurde er mir zur Seite gestellt, um mir die Arbeitsabläufe in den Werkstätten für behinderte Menschen zu präsentieren und mir ihre Formen der Digitalisierung zu zeigen.

                Mein Eintritt in die Gruppe weckt keine große Neugier. Von den Adressat:innen, die an ihren separaten Arbeitsplätzen zu Gange sind, werde ich de facto nicht wahrgenommen. Lediglich eine Adressatin dreht sich um. Ansonsten herrscht eine überraschende Stille in dem Raum. Immerhin arbeiten rund 10 Personen und vier weitere Fachkräfte sind anwesend. Es ist so leise, dass selbst das meterweit entfernte Dudeln des Radios gut zu hören ist. Ab und an ein leichtes Metallgeräusch, das von Schrauben und Muttern stammt. Alle Adressat:innen sitzen an ihren Plätzen. Zwischen ihnen, als Maßnahme gegen Corona, wurden Plexiglasscheiben aufgerichtet, die ihre Arbeitsplätze noch stärker voneinander separieren. Martin erwartet mich in dem Büroabteil. Ich beschreibe es als Abteil, denn es ist ein in den Raum eingefasster, gesonderter Raum, welcher durch deckenhohe Trennwände, eine teilverglaste Tür, die sich von außen nur mit Hilfe eines Schlüssels öffnen lässt und eine Fensterfront gekennzeichnet ist. Es erinnert an das Büro eines industriellen Vorarbeiters, der von seinem Schreibtisch aus auf alle Adressat:innen ein Auge werfen kann. Eine breite Fensterfront mit gleich drei Fenstern ermöglicht vom Abteil aus die Übersicht über den gesamten Gruppenraum, kann aber auch mit Jalousien bei Bedarf geschlossen werden (Beobachtung_31052021, Pos. 6).
              
Abbildung 7.2
Rekonstruktion eines idealtypischen Gruppenbüros.
(Quelle: Feldprotokolle, Eigene Darstellung)
In der Beobachtungssequenz zeigt sich, dass die Anwesenheit des Forschers keine Irritationen bei den Adressat:innen hervorruft. Alle in dem Gruppenarbeitsraum Anwesenden bleiben weiterhin auf sich oder ihre Arbeit fokussiert. Die Adressat:innen wirken in ihren Plätzen parzelliert und eingespannt, sodass weder zwischen ihnen noch zwischen ihnen und dem Forscher eine Interaktion stattfindet.
Das in der Beobachtungssequenz beschriebene Büro im Gruppenraum bietet Martin die Möglichkeit, einen umfassenden Überblick zu bewahren und gleichzeitig am Computer zu arbeiten. Im Rahmen des Feldprotokolls werden Erinnerungen an alte Industrieanlagen aufgerufen. Die Abbildung 7.2 verdeutlicht, dass die breiten Fenster eine Sichtbarkeit erzeugen, durch die alle Vorgänge im Gruppenraum – der sich hinter den drei seitlichen Fenstern erstreckt – beobachtet und überwacht werden können. Es gibt keinen Ort im Gruppenraum, der vom Büro aus nicht eingesehbar ist. Selbst die Bürotür ist mit einem hohen Fenster ausgestattet, das bei Bedarf, wie die Fenster, mit einer Jalousie geschlossen werden kann. Das Büro ist so gestaltet, dass Martin gleichzeitig am Computer arbeiten und potenziell beobachten kann. Während die Adressat:innen an ihren Arbeitsplätzen sitzen, sind sie aufgrund der Positionierung des Büros und der Fensterfront einer besonderen Form von Öffentlichkeit ausgesetzt.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass der Raum keine solitäre Bedeutung innehat, vielmehr erhält er seine Identität durch das Zusammenspiel verschiedener menschlicher und nicht-menschlicher Partizipanten in Relationierung zueinander. In Anbetracht dessen ist es präziser, von Praktiken der Verräumlichung zu sprechen. Der Räumlichkeitsbegriff verweist stärker auf den Aspekt des Relationalen und darauf, dass Identitäten durch stabilisierte Verräumlichungspraktiken entstehen (Schroer 2019: 74 f.). Räumlichkeiten sind insofern das Ergebnis von Verknüpfungsleistungen.
Hinzu kommt eine weitere Besonderheit. Im Feldprotokoll wird erwähnt, dass ein Zugang von außen bei geschlossener Tür unmöglich war, da der Türknauf fehlte, mit dem die Tür von außen hätte geöffnet werden können. Es entsteht eine räumliche Differenz zwischen einem schützenswerten Innen (dem Büro) und einem den Blicken freigegebenen Außen (Arbeitsraum). Selbst wenn die Tür offenstand, blieb die Grenze bestehen, was darauf verweist, dass die Grenze nicht an eine haptische Materialität gebunden ist. Die folgende Szene soll dies beispielhaft illustrieren:

                Monika sitzt im Büro an dem PC und bearbeitet die Essensliste. Währenddessen kommt eine Adressatin im Rollstuhl bis zur Bürotür herangefahren. Sie sagt etwas von Geburtstag. Aus ihrer linken Hosentasche holt sie einen Standard-Briefumschlag heraus und übergibt ihn Monika, die ihr zur Tür entgegenkommt. Sofort danach fährt sie mit ihrem Rollstuhl wieder zurück zu ihrem Arbeitsplatz (Beobachtung_07062021, Pos. 8).
              
Der Rollstuhl hätte von der Breite her einfach durch die Bürotür gepasst. Die Adressatin blieb jedoch an einer unsichtbaren Linie stehen und übergab den Brief an der Schwelle, bevor sie zu ihrem Arbeitsplatz zurückkehrte. Sobald Adressat:innen diese Grenze in den Feldprotokollen überschritten, wurden sie unverzüglich von den Mitarbeiter:innen des Büros verwiesen – vor allem sprachlich. Der Bereich des Büros bleibt für die Adressat:innen unzugänglich.
Spezifische Architekturen wie die Anordnung des Büros und seine räumliche Trennung führen zusammen mit Praktiken wie dem Vor-der-Tür-Stehenbleiben zu asymmetrischen Positionierungen. Einerseits sind die Adressat:innen in einem großen Raum tätig, wo sie Schrauben sortieren oder andere Industrieaufträge erledigen (siehe Abschn. 6.​1), andererseits sind die Mitarbeiter:innen im Büro tätig, zu dem die Adressat:innen keinen Zugang haben. Eine Differenz zwischen den ‚Adressat:innen‘ und den ‚Mitarbeiter:innen‘ wird so performativ hervorgebracht. Während die Mitarbeiter:innen an ihrem Schreibtisch sitzen, können sie das Geschehen außerhalb beobachten und sich gegebenenfalls – beispielsweise bei Routineaufgaben wie dem Mittagessen – frei bewegen. Neben der Trennung zweier Bereiche zeigt sich in der räumlichen Anordnung ein weiteres Phänomen: Die Personen im Gruppenraum sind parzelliert. „Die dicht gedrängte Masse, die vielfältigen Austausch mit sich bringt […] Dieser Kollektiv-Effekt wird durch eine Sammlung von getrennten Individuen ersetzt“ (Foucault 1994a: 258). Verstärkt wird der Effekt der Parzellierung durch die Plexiglasschreiben, die während der Coronapandemie notwendig geworden waren und die die Vereinzeilung der Adressat:innen mit hervorbringen.
Räumliche Trennungen, wie die zwischen Mitarbeiter:innen und Adressat:innen sowie die Parzellierung, sind jedoch in weitere Verräumlichungspraktiken eingebettet. Die Parzellierung betrifft nicht nur die Gruppen intern, sondern es bestehen auch Unterschiede zwischen den Gruppen innerhalb der WfbM. Die in vorliegendem Feldprotokoll dokumentierte Einrichtung umfasst zwei Stockwerke, welche insgesamt in zehn Gruppen unterteilt sind. In der oberen Ebene werden anspruchsvollere Industrieaufträge ausgeführt, während in den unteren Gruppen einfache Aufträge bearbeitet werden. Zudem ist bereits die Errichtung von gesonderten Orten abseits der Mehrheitsgesellschaft eine Segregation von Menschen mit sogenannter ‚Behinderung‘. Menschen, die nach § 2 SGB IX als behindert gelten, werden in wohlfahrtsstaatlichen Sonderwelten exkludiert. Im Falle der Einrichtungen, die ich beobachtend begleitet habe, entstand diese Exklusion durch die Positionierung der Einrichtungen selbst. Wie in der Feldeinstiegsszene (Abschn. 6.​2) festgehalten, befinden sich die Einrichtungen häufig an der städtischen Peripherie. Ihre Erreichbarkeit mit öffentlichem Nahverkehr ist außerordentlich kompliziert, langwierig und für die Mehrheit der Adressat:innen allein durch einen extern bereitgestellten Fahrdienst zu bewerkstelligen. Stellenweise müssen die Adressat:innen und Mitarbeiter:innen Anfahrtswege von eineinhalb Stunden auf sich nehmen, wenn sie aus den innenstädtischen Bereichen zur Arbeit kommen wollen. „Der nach § 8 (4) der Werkstättenverordnung (WVO) im Bedarfsfall zu organisierende Fahrdienst kann die Beschäftigung sicherstellen, stellt jedoch ein Sondersystem im Straßenverkehr dar, welches soziale Ausgrenzung erzeugt“ (Tillmann 2015: 57). Die Adressat:innen werden separiert vom Rest der Gesellschaft und es entsteht eine eigene Normalität mit Arbeitsplätzen und Wohneinrichtungen. „Die sozialstaatlich intendierte Praxis der Separation der als abweichend markierten Subjekte in Institutionen und Fürsorgeeinrichtungen stellt eine Form der Ausgrenzung dar“ (Plankensteiner/Greißl 2016: 27). In den WfbM erfahren die als abweichend markierten Individuen eine gesonderte Behandlung. In den Gruppen und deren Büroräumen werden sie beobachtet und von einem Eintritt in die Räumlichkeit des Büros abgehalten. In den lokalen Praktiken, in denen die Adressat:innen im Gruppenraum inkludiert, aber vom Zugang zum Büro ausgeschlossen sind, entspringt das paradoxe Verhältnis von inkludierender Exklusion – von Drinnensein und gleichzeitigem Ausgeschlossensein. Die räumlichen Trennungen setzen sich auch in der Anordnung des Schreibtisches und der Stellung des Computers fort.

                Als ich das Büro betrete, fiel mir der buchefarbene rechteckige Schreibtisch auf, an dessen hinterster linker Ecke ein schwarzer Bildschirmmonitor gedrängt steht. Vor dem Monitor befindet sich eine eierschalenweiße Tastatur mit dazugehöriger Maus. Die Tastatur ist am linken Rand des Tisches positioniert. Aus der Sicht des Schreibtisches steht der Monitor randständig. Der Schreibtisch ist ganz an die Fensterfront-Wand geschoben, dabei ziemlich mittig im Raum. Genau zwischen dem rechten und mittleren Fenster befindet sich der Bildschirm. Dadurch versperrt er faktisch keinen Zentimeter Sicht auf den Gruppenraum (Beobachtung_02062021, Pos. 5).
              
Die Position des Computers ist so ausgerichtet, dass eine permanente Beobachtung des Gruppenraumes möglich ist, das heißt Martin kann gleichzeitig am Computer arbeiten und zwischendurch den Gruppenraum überblicken. Diese Form der Sichtbarkeit ist den Adressat:innen jedoch nicht zugänglich, da sich der Monitor ausschließlich aus der Perspektive der Mitarbeiter:innen zeigt. Sämtliche Einträge, Vermerke, Ergänzungen und Korrekturen sind in doppelter Hinsicht intransparent. Einerseits fehlt den Adressat:innen der Zugang zum Computer im Sinne eines Log-ins. Andererseits bleibt der Monitor verborgen, sodass selbst ein kurzer Einblick aufgrund der Positionierung des Monitors unmöglich ist.
Zeitliche Dimensionen der notierenden Inskriptionen
Nachdem die räumliche Positionierung der menschlichen wie nicht-menschlichen Partizipanten umrissen wurde, soll nun das Artefakt in seiner Einbindung analysiert werden. Dabei sollen zwei zeitliche Dimensionen getrennt voneinander betrachtet werden: Eine Inskription direkt nach der Tätigkeit und eine am Ende eines Tages. Beide zeitliche Dimensionen gehören zur Unterkategorie der notierenden Inskription und teilen dessen Charakteristik. Beginnen möchte ich mit dem Konzept Ende des Tages, wobei ich die Beobachtungssequenz schrittweise entwickeln werde.

                  Vom Büro aus schlendre ich in Richtung Laminiergerät. Dort steht Martin. Im selben Moment, indem ich zu ihm gehe, kommt er mir entgehen. Wir treffen uns auf halber Strecke und bleiben wie zufällig bei Adressat F. stehen. Noch bevor er etwas sagen kann, schaue ich kurz zu F., der an einem Laptop sitzt und eine Art Kreuzworträtsel löst. Martin erkennt meinen Blick und fügt sofort eine Erklärung ein „Das ist ein Programm für F. Damit kann er das Spiel Galgenmännchen machen“. Nichts deutet auf das Spiel hin. Hier fehlt das Galgenmännchen, sage ich zu ihm. Er erklärt mir, dass das Programm stattdessen die Zeit und die Versuche zählt und ihm dann das Ergebnis mitteilt. Wir stehen hinter F. und schauen ihm über die Schulter. Dann gehen wir gemeinsam hinaus in den Außenbereich der Einrichtung (Beobachtung_18082021, Pos. 10)
                
In dieser kurzen Sequenz zeigt sich, was der Gegenstand einer Notiz in dem digitalen Artefakt sein kann. Ein Adressat arbeitet allein an einem Laptop, auf dessen Bildschirm eine abgewandelte Variante des Galgenmännchen-Spiels zu sehen ist. Martin kommt mir von der anderen Seite des Gruppenraums entgegen und wir treffen uns eher zufällig auf der Höhe des Adressaten. Martin richtet seine Aufmerksamkeit in seiner Szene nicht auf den Adressaten, sondern fokussiert sich auf den technischen Gegenstand und thematisiert diesen mir gegenüber. Dies spiegelt meine Rollenzuweisung4 wider, da ich von außen als jemand angesprochen werde, der sich für technische Artefakte jeglicher Art interessiert. Er erklärte mir sofort die Funktionsweise des Laptops und des verwendeten Programms. Diese Szene steht repräsentativ für viele kleinere Begegnungen, die den Beginn der Forschung gerahmt haben. Wenig später setzt sich die Beobachtungssequenz wie folgt fort:

                  Alle drei diensthabenden Gruppenmitarbeiter:innen stehen im Außenbereich und beobachten, wie die Adressat:innen sukzessiv von den eintrudelnden Fahrdiensten in die Bullis eingepackt werden. Wir sitzen auf den hölzernen Parkbänken. In dieser Konstellation verbringen wir rund 30 Minuten und unterhalten uns über Urlaube. Nachdem alle abgeholt wurden, gingen wir. Martin, Beate und ich wieder hinein. Zu dritt gingen wir ins Büro, wo Martin sich als Erstes an den PC setzte und Beate sich einem Stapel Papiere und einem Ordner widmete. Martin öffnete die Verlaufsdokumentation von F., in der er die Arbeit mit dem Computerprogramm in einem Satz („F. hat am Laptop geübt“) notierte. Gerade als er das Programm geschlossen und seinen E-Mail-Account geöffnet hatte, wendete er zu seiner Tasche und holte einen Jogurt samt Teelöffel heraus. Beate, die bis dahin mit Leitzordner rumhantierte, wandte sich zu ihm. Sie saß auf dem Bürostuhl direkt neben ihm. Schnippisch meinte sie: „Wie viel Prozent ärgert dich die Doku“. Er reagiert erst nicht drauf. Dann nimmt er seinen Löffel mit Joghurt und imitiert eine Schleuder, so als würde er Beate abschießen wollen. „Du traust dich nicht“ kommentiert sie mit einem Lachen auf dem Mund. (Beobachtung_18082021, Pos. 25 & 26)
                
Die Sequenz beginnt mit der Darstellung des Rituals, das am Ende eines jeden Arbeitstages in den Einrichtungen stattfindet. Ein Großteil der Adressat:innen kommt mit Fahrdiensten zur Arbeitsstätte und wird zu einer vereinbarten Zeit wieder in die jeweilige Häuslichkeit gefahren. Dieser „Anspruch auf einen individuellen Fahrdienst kann dabei als kompensierende Unterstützungsleistung angesehen werden, stellt gleichzeitig jedoch ein Sondersystem dar, welches zwar die Nutzung des Verkehrssystems sicherstellt, aber soziale Ausgrenzung aus dem regulären Straßenverkehr mit sich zieht“ (Tillmann 2015: 50). Hinsichtlich der Verfügbarkeit und zeitlichen Flexibilität von Fahrdiensten bestehen eingeschränkte Möglichkeiten. Für die Abholung durch Fahrdienste existieren zwei fixe Zeitpunkte. Mit der Abholung der Adressat:innen endet auch der Arbeitstag der Gruppenmitarbeitenden. Was am Ende des Tages noch erledigt wird, sind Reinigungsarbeiten, beispielsweise der Arbeitsplätze, des Büros oder der Toiletten. Diese beschränken sich aber auf ein geringes Maß, da es in den Einrichtungen extra angestelltes Reinigungspersonal gibt, das in den frühen Morgenstunden die Räume reinigt. Am Ende des Arbeitstages erledigen die Mitarbeiter bestimmte Büroarbeiten, zu denen auch die Erstellung von Notizen in dem digitalen Artefakt gehört.
In dieser Beobachtungssequenz wird erkennbar, dass Martin nach dem Abholen aller Adressat:innen sofort zum PC geht und dort das Artefakt öffnet. Beate, die ebenfalls ins Büro gegangen ist, bleibt zunächst unbeteiligt und sortiert lose Blätter in einen Aktenordner ein. Währenddessen erstellt Martin eine kurze Notiz zur Laptoparbeit des Adressaten F. Die vorliegende Inskription stellt keine ausführliche und vielschichtige Erläuterung der Tätigkeit von F. dar, da auftretende Probleme, Lernfortschritte, Handhabung, Sinnhaftigkeit und weitere Aspekte unthematisiert bleiben. Der Inhalt der Notiz beschränkt sich auf die knappe Erklärung, dass der Adressat F. am Laptop geübt hat. Die Eintragung entspricht dem Charakter einer Notiz, denn es materialisiert sich in der Inskription keine komplexe Beschreibung. „[L]ike a container in which fluid drips, it accumulates the entries“ (Berg 1999: 386). Mit der knappen Notiz „entsteht ein Substrat der realen Arbeitsprozesse, in denen diese Formalisierungen geschaffen wurden. Selektiv ist diese Formalisierung insofern, als ihr gerade das Spezifische der organisierten Arbeitssituation entzogen wurde“ (Strübing 2004: 226). In einem Artikel nennt Star (1995) eine Reihe von Aktivitäten, die an der Herstellung von Repräsentationen beteiligt sein können: „abstracting […], quantifying, making hierarchies, classifying and standardizing, and simplifying“ (Star 1995: 90). Martin bedient sich in diesem Kontext einer Abstraktion respektive einer Reduktion der Tätigkeit des Adressaten F, da die Hintergründe sowie Ziele des PC-Trainings in der Notiz nicht berücksichtigt werden.
Das Artefakt stellt jedoch, selbst bei einer minimalen Inskription, keineswegs ein simples Behältnis dar. Das Artefakt strukturiert die Inskriptionen mit, indem es sie automatisch5 in der Kategorie >allgemein< abspeichert. Durch die chronologische Anordnung in der Tabelle entsteht eine Reihenfolge der Inskriptionen, ohne dass eine genaue Zeitangabe möglich ist. Die Artefaktbeschreibung (Abschn. 7.1) hat sichbar gemacht, dass die chronologische Ordnung auf der Datumsebene verbleibt. Um einen genaueren Zeitpunkt mit anzugeben, müsste Martin jeweils die Uhrzeit in das Feld eintragen. Nach dem Speichern verschiebt sich der Eintrag in die Tabelle unterhalb des Notizfeldes, wo alle Notizen im Raum der Liste angeordnet werden. Die Tabelle gestaltet auf subtile Weise eine Praxis mit, in der die Aneignung eines Überblicks zu einer anderen Tätigkeit geworden ist (ebd.). Die Tabellarisierung ermöglicht den Leser:innen, einen vereinheitlichten Überblick über alle Notizen zu erhalten, die darüber hinaus auch nach Kategorien gefiltert werden können.
In der Sequenz materialisiert sich zudem eine Differenz zwischen dem Können-mit und dem Zugang-zu dem digitalen Artefakt. In dem vorliegenden Artefakt findet eine Informatisierung der Aktivitäten des Adressaten statt, indem seine Tätigkeit in einer für andere sichtbaren, lesbaren, berechenbaren und zugänglichen Form gespeichert werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diejenige Person, um die es als Objekte der Repräsentation in dem Artefakt geht, von der Erstellung ausgeschlossen ist. Adressat F. sieht in dem Moment der Erstellung nichts davon, da er das Werkstattgebäude bereits verlassen hat. Zudem entscheidet Martin, was in das Artefakt inskribiert wird. Beate, die direkt neben ihm sitzt, ist von der Erstellung ebenfalls ausgeschlossen. Es handelt sich um eine individuelle Tätigkeit, die von ihm ein spezifisches Know-how mit dem digitalen Artefakt erfordert. Martin muss über ein praktisches Verständnis verfügen, um die Notiz in der angemessenen Form zu erstellen, den geeigneten Inhalt zu bestimmen und ihre potenzielle weitere Verwendbarkeit zu evaluieren.
Im Kontrast zu dieser Sequenz soll im Weiteren eine direkte Inskription analysiert werden. Erneut spielt sich das Geschehen in einem Gruppenraum und dem eingefassten Büro ab. Doch zunächst befinde ich mich zusammen mit zwei Mitarbeitern auf dem Außengelände des Werkstattgebäudes. Beide Mitarbeiter rauchen eine Zigarette.

                  Plötzlich kommt eine Adressatin heraus. Jörg wird dringend drinnen gebraucht. Von außen durch die Fenster kann ich sehen, wie er zum Büro geht und Medikamente herausholt und es einer Adressatin gibt. Sven und ich gehen gemeinsam rein. Im Büro angekommen, treffe ich Jörg in dem Bürostuhl sitzend an, wie er auf den Monitor starrt. Vor ihm platziert sind die Tastatur und daneben die Maus. Wie verrückt drückt er auf den linken Mauszeiger. Immer wieder und wieder und wieder donnert er mit seinem rechten Zeigefinger auf die linke Maustaste. Die Maus steht auf dem schließenden X. „Der doofe Rechner hackt schon wieder“ pöbelt er in Richtung Monitor. Doch auf dem Monitor zeigt sich keine Veränderung. Die Anwesenheitsliste wehrt sich gegen seine wilden Versuche. „Och ne, ich krieg nen“ schimpft er. Sein Satz bricht plötzlich ab. Die Liste schließt sich und öffnet sich sofort wieder. Jörg klickt auf den Namen „S.“ und die Verlaufsdoku öffnet sich. „Na endlich“ seufzt er erleichtert. Er trägt die ersten Wörter in die Spalte „Aufgrund großer Unruhe Gabe von Bedarfsmedi“. Der Satz reißt ab. „Sie hat wieder einen Anfall“ schreit jemand aus dem Gruppenraum. Ruhig steht Jörg aus seinem Bürostuhl auf und geht zwei Meter, bis er die Betroffene erreicht hat. Aus einem Seitenraum holt er einen Stuhl heraus und platziert die Betroffene dort drauf. Er bleibt kurz bei ihr stehen. Noch bevor der Anfall aufgehört hat, geht er zurück zum PC. Er lässt sich auf den Stuhl fallen, holt die Tastatur näher an sich heran und hält eine Sekunde inne. Er setzt den Satz mit zwei weiteren Worten fort, klickt auf „Speichern“, kopiert den Text mittels Rechtsklick und schließt das Programm. Umgehend wechselt er zum E-Mail-Programm, fügt den Text in eine E-Mail ein, schreibt den Namen der Adressatin dahinter und sendet sie an Beate.(Beobachtung _14042022, Pos. 5)
                
Der erste Teil der Szene wurde in die Analyse einbezogen, um die Inskriptionspraktik präziser rekonstruieren zu können. Beim ersten Teil handelt es sich um eine alltägliche Raucherpause, wie sie von den beiden Mitarbeitern im Laufe des Tages regelmäßig vorkommt. Als eine Adressatin Jörg ruft, beendet er seine Zigarettenpause und begibt sich in den Gruppenraum der Werkstatt. Was die Adressatin dort mit Jörg bespricht, bleibt von der Position des Forschenden aus verborgen. Zu sehen ist, wie Jörg Medikamente aus einem im Büro befindlichen Medikamentenschrank herausholt und einer Adressatin übergibt.
Direkt im Anschluss positioniert Jörg sich vor dem Personalcomputer. In diesem Abschnitt wird der Umgang mit Störungen in einer prägnanten Weise veranschaulicht. Anstatt eine alternative Vorgehensweise zu wählen, sobald keine Reaktion des Computers erfolgt, wiederholt Jörg unnachgiebig seinen Mausklick und äußert seine Frustration in lautstarker Weise. Durch die Phrase „Schon wieder“ ist angezeigt, dass es sich um eine regelmäßig wiederkehrende Störung handeln muss. Einen wirklichen Workaround gibt es in der Sequenz nicht, da Jörg stur an seinem Lösungsweg des Dauerklickens festhält. Die Mensch-Computer-Beziehung kann, wie Löchel herausgearbeitet hat (Löchel 1997: 335 ff.), heterogene Formen annehmen. Hier überwiegt die Aggression gegenüber dem Computer, denn er ist Gegenstand wilder Beschimpfungen und dauernden Herumhämmerns.
Nachdem die Liste sich erneut geöffnet hat und auf den ersten Blick unverändert ist, lässt sich die entsprechende Weiterverlinkung anklicken. Mit Hilfe des Buttons >Verlaufsdokumentation< wird Jörg weitergeleitet und kann direkt für eine Adressatin einen Eintrag in das Artefakt vornehmen. Die Adressatin befindet sich zu diesem Zeitpunkt im Gruppenraum und der Eintrag bezieht sich auf den zuvor beobachteten Vorgang. Das heißt, er wurde postwendend von Jörg in die Maske eingetragen. Das Telos der Praktik (Schatzki 2016), welches in der schnellen und unverzüglichen Erledigung liegt, manifestiert sich in den anschließenden Ereignissen: Eine Adressatin hat einen Epilepsie-Anfall, und anstatt bei ihr stehen zu bleiben, holt Jörg einen Stuhl und verlässt sie sofort wieder. Unverzüglich begibt er sich zurück in sein Büro, verweilt kurz, um seinen unvollendeten Satz zu beenden, und trägt die fehlenden Wörter in das Artefakt ein. Vom Artefakt aus gibt es keine materielle Eigenschaft, die eine sofortige Eintragung erfordert. Einzig die Verbindung zur zentralen Datenbank kann gestört werden, wodurch die Notiz verloren ginge. Angesichts des vorherigen Zusammenbruchs und seines „Schon wieder“ kann Jörgs Verhalten als praktisches Know-how über die Fragilität der Datenbank interpretiert werden.
Das Artefakt ist standardmäßig auf >allgemein< eingestellt. Eine Modifikation der Kategorie wurde seitens Jörg in der Szene nicht vorgenommen, weshalb die Notiz unter der betreffenden Rubrik gespeichert wird. Nach dem Speichern verschiebt sich die Notiz, wie bereits zuvor bei der Sequenz, in die untenstehende Liste und ist dort ab diesem Zeitpunkt archiviert. Eine zeitliche Einordnung wird an dieser Stelle erneut nicht vorgenommen, obschon dies im Kontext der Medikamenteneinnahme von Bedeutung ist. Es ist zu beachten, dass nahezu alle Pharmazeutika Tageshöchstmengen aufweisen und deren Einnahme erst nach mehreren Stunden wiederholt werden darf.
An dieser Stelle soll auch auf den Inhalt des Eintrags eingegangen werden. Zwar sind die letzten beiden Begriffe post hoc nicht mehr rekonstruierbar, aber sie werden dem Satz in seiner semantischen Bedeutung wenig Neues hinzugefügt haben. Inhalt ist, dass einer Adressatin Bedarfsmedikation gegeben wurde, da die Adressatin Unruhe zeigte. Zur Medikation ist zu sagen, dass die Werkstätten für einzelne Adressat:innen Beruhigungsmedikamente im Büro verwahren. Im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht können Gruppenmitarbeiter:innen auch Hilfe beim Bereitstellen der benötigten Medikamente zu den vorgesehenen Zeitpunkten leisten. Doch weder wurden Details zur Unruhe noch zur Gabe der Medikamente in dem Artefakt erfasst. Das Artefakt verfügt über eine Freifläche, die potenziell längere Einträge ermöglicht, jedoch in der vorliegenden Praxis ungenutzt bleibt. Stattdessen wählt Jörg einen prägnanten Notizstil, der als Affordanz in der praktischen Anwendung aufgerufen ist. Was hier entsteht, ist eine Abstraktion der realen Medikamentengabe, die von jeglichem Entstehungskontext befreit ist. Indem Jörg auf >Speichern< klickt, nimmt die Notiz eine dauerhafte Form an und kann von allen Zugriffsberechtigten eingesehen werden. Das heißt, die Gabe tritt als Tätigkeit von Jörg an der Adressatin medial in Erscheinung, ohne weitere Aspekte zu berücksichtigen. In der Archivliste tritt Jörg dann als Autor der Notiz und als Verantwortlicher für die Medikamentengabe hervor. Ihm werden die Notiz und die Tätigkeit zugerechnet (accountability).
Besonders hervorzuheben ist, dass Jörg am Ende den Text aus dem Notizbereich in eine E-Mail an Beate ohne weitere Bemerkungen oder Kommentare kopiert. Wie sich gleich zeigen wird, ist damit eine raum- und zeitübergreifende Koordinationspraktik verbunden, die von Jörg nicht weiter kommentiert werden muss. Die Inskription nimmt eine neue mediale Gestalt an und wird mobil. Die Spur der Inskription führt aus dem Büro der Werkstattgruppe zum Pfortenbüro und dann zurück ins Büro. Dies zeigt, dass das Artefakt in ein komplexes Netzwerk eingebunden ist, das es im Folgenden zu entschlüsseln gilt. Die Mobilisierung erstreckt sich über verschiedene Orte und Zeiten, die im Folgenden skizziert werden.

7.3 Mobilisieren der Notizen

Um der zuvor analysierten Notiz zu folgen, werden im Folgenden die Praktiken behandelt, die im räumlichen Arrangement des sogenannten Pfortenbüros stattfinden. Im Rahmen der Feldforschung wurde der Mobilisierung gefolgt, welche zu dem Pfortenbüro führte. In diesem ist die Verwaltungsfachangestellte Beate tätig, welche als Erste – also vor allen anderen Mitarbeiter:innen und Adressat:innen – ihre Arbeit aufnimmt und die Einrichtung gegen Mittag verlässt. Im Folgenden möchte ich zuerst auf das räumliche Arrangement eingehen und dann der Notiz von Jörg6 weiter folgen.

                Ich stehe vor der Tür von Beate. Die Tür ist verschlossen und lässt sich von außen nur durch einen Schlüssel öffnen. Ich klopfe. Beate ruft von drinnen: „Ja, komm rein“. Ich drehe an dem Knauf. Nichts passiert. Der Knauf bewegt sich keinen Millimeter. Wenige Sekunden später öffnet sie mir von innen die Tür. Sie setzt sich auf ihren Stuhl. „Die kann man nur mit einem Schlüssel öffnen oder von innen“ gibt sie mir zu verstehen. Ich setze mich neben sie an den Schreibtisch. Mein Blick schweift durch den Raum. Zuerst sehe ich einen massiven Kasten, dessen Äußeres durchsichtig ist. Im Inneren befinden sich Dutzende Computerkabel, eine Internetbox und möglicherweise ein Server. Neben dem Schreibtisch, auf dem sich neben dem Bildschirm noch ein Laptop auf einer Dockingstation befindet, stehen gleich drei unterschiedliche Drucker. Dazu gesellt sich ein Fax-Gerät und ein Laminiergerät. Unter dem Laminiergerät versteckt sich ein Lautsprecherregler. Hinzu kommt ein weiterer Schreibtisch mit Bildschirm und Mini-Tower, welcher auf dem Schreibtisch platziert wurde. Dazu noch zwei Telefone. Vor dem unübersichtlichen, mit Telefonen und Bildschirmen gefüllten Schreibtisch erstreckt sich eine riesige Fensterfront, die den Blick in den Eingangsbereich der Werkstatt ermöglicht. (Beobachtung_14072021, Pos. 5)
              
Das räumliche Arrangement des Pfortenbüros evoziert die Assoziation einer Schaltzentrale, in der eine Vielzahl technischer Geräte installiert ist. Hierzu zählen drei Drucker, zwei Telefone, ein Faxgerät und zwei Computerbildschirme. Die beiden auf dem Schreibtisch positionierten Bildschirme gestatten das Öffnen mehrerer Programme, die gleichzeitig erfasst werden können. Dies vereinfacht beispielsweise Kopiervorgänge erheblich und wird zu einem späteren Zeitpunkt noch von Relevanz sein. Die großen Fensterscheiben ermöglichen es Beate, während des Arbeitens den Blick nach draußen zu richten, ähnlich wie bei der Fensterfront des Gruppenbüros. In vorliegendem Fall stellt das Beobachtungsobjekt den Eingangsbereich der Werkstatt dar, was auch den Ursprung des Begriffs ‚Pfortenbüro‘ erklärt. Während der Coronapandemie, unter deren Einfluss meine Beobachtungen entstanden sind, war es für alle Personen Pflicht, durch die Pforte zu gehen. Externe Personen mussten außerdem ein Corona-Formular ausfüllen und dort abgeben.

7.3.1 Hin und Her der Notizen über das Pfortenbüro

Die Notiz von Jörg landet nun bei Beate. Sie nimmt ihren Weg zu ihr und wandert von da aus in die Wohneinrichtungen des Wohlfahrtsverbandes. Von dort aus kommen wiederum Informationen, die ebenfalls über Beate gehen und dann in das digitale Artefakt inskribiert werden. Beiden Ketten möchte ich kurz folgen, um darzustellen, wie mit Hilfe des Artefaktes Notizen mobilisiert werden können. Als Erstes soll der Weg zur Wohneinrichtung und im Anschluss der Weg zu den Gruppenmitarbeiter:innen rekonstruiert werden.
Zur Wohneinrichtung hin

                    „Heute komme ich zu gar nichts" meint sie. Während sie das sagt, sitzt sie vor dem PC und hat ihr Outlook geöffnet. Drei ungelesene Mails erscheinen auf dem linken Laptopbildschirm. Sie sitzt vor ihren Mails und öffnet gerade AsTro auf dem rechten Monitor, als es plötzlich an der Tür klopft. Beate öffnet der Person. Eine Adressatin tritt ein. Sie sucht Essensmarken. Beate zeigt mit dem rechten Arm auf ein Regal und dreht sich wieder zu ihren Bildschirmen. Sofort klopft eine andere Person. Sie besitzt einen Schlüssel und schließt selbstständig auf. In ihrer Hand hält sie eine übergroße Geldtasche, ganz in Schwarz, um ihren Inhalt zu verbergen. „Hat alles geklappt?“ fragt Beate. Die Geldtasche wechselt ihre Besitzerin und die junge Frau geht raus. Endlich schafft es nun Beate, ihr Programm ASTro zu bearbeiten. Sie klickt sich durch eine Namensliste, bis sie zu einem Beschäftigten kam. Blickwechsel. Wieder bei Outlook. Sie kopiert den Text aus der Mail und fügt ihn in das Programm AsTro in ein Freifeld ein. Auf der linken Seite des Programms klickt sie auf einen Ankreuzbereich mit einer Auswahl von verschiedenen Buchstaben und Zahlen dahinter. Das ausgeklappte Kategorisierungssystem beginnt bei A1 und geht bis Ultimo. „Eigentlich gibt es bei mir nur zwei wichtige Spalten: A8 und A10. Das Eine ist ein medizinischer Vorfall auf der Arbeit. Das andere ist ein Arbeitsvorfall“ meint sie. Die anderen Sachen sind allein für die Wohngruppen, setzt sie nach. „Das habe ich nicht im Kopf, was das bedeutet“, kommentiert sie flappsig. Sie geht auf „Speichern“. Blickwechsel. Nächste Mail mit einem Text zu einer Beschäftigten. Erneut klickt sie sich durch, kopiert den Text und wählt diesmal die A10 aus. Dann ist sie fertig mit AsTro. (Beobachtung_02092021, Pos. 2)
                  
Für eine adäquate Interpretation der in der Beobachtungssequenz stattfindenden Vorgänge ist eine Kontextualisierung von AsTro erforderlich. Cyberinfrastrukturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie räumlich und zeitlich ausgreifend sind und somit über einzelne Ereignisse und Praktiken hinausgehen (Star/Ruhleder 2017: 363). AsTro ist so ein digitales Grenzobjekt, das in den Wohneinrichtungen desselben Wohlfahrtsverbandes eingesetzt wird und als ein Teil der Cyberinfrastruktur betrachtet werden kann. Allerdings befindet es sich an der Grenze der Cyberinfrastruktur. AsTro ist vergleichbar mit der Verlaufsdokumentation, mit zwei Ausnahmen: Einerseits beinhaltet es deutlich mehr Kategorien, in denen die Notizen eingeordnet werden müssen. Andererseits ist es primär für die besonderen Wohnformen (§77 SGB IX) des Wohlfahrtsverbandes eingerichtet.
Zu Beginn der Szene wird deutlich, dass das Pfortenbüro eine Art Schnittstelle für die Werkstätten darstellt. Dies zeigt sich an der Herausgabe der Essensmarken an die Adressatin. Essensmarken stellen eine Form der Zahlungsmittel dar, die in Form von farbigen Plastikrechtecken mit einer Dicke von 0,5 Zentimetern ausgegeben werden. Die Ausgabe der Essensmarken erfolgt abhängig von der jeweiligen Essenswahl an die Adressat:innen. Im Anschluss werden die Essensmarken in der Mensa gegen das entsprechende Essen eingetauscht. Das Pfortenbüro dient hierbei als Lager für bestimmte Materialien der Werkstatt; auch für die Finanzen. Die Gelder, die von einer Mitarbeiterin7 in das Büro gebracht werden, stammen aus verschiedenen Quellen, wie beispielsweise Überschüssen aus der Kantine oder Dienstleistungen von naheliegenden Werkstätten.
Auch im Digitalen lässt sich das Pfortenbüro als Schnittstelle charakterisieren. Über den gesamten Arbeitstag verteilt erhält Beate E-Mails von Gruppenmitarbeiter:innen mit entsprechenden Notizen, die sie unverzüglich und manuell in AsTro einträgt. Im Gegensatz zu anderen Mitarbeitenden der Einrichtung hat sie nicht nur Zugangsrechte zur Verlaufsdokumentation, sondern auch spezielle Rechte für AsTro. Die manuelle Übertragung der E-Mails ist eine ihrer Hauptaufgaben. Die entsprechenden Notizen muss sie in zwei Kategorien bei AsTro übertragen, die sie sodann an die Wohneinrichtungen leitet. Bei den Kategorien handelt es sich um sogenannte medizinische Vorfälle und Arbeitsvorfälle. Jörgs Satz, den er zuvor in das Artefakt notiert hat, fällt unter die Kategorie des medizinischen Vorfalls.
Die Wortwahl „Vorfall“ erscheint in diesem Zusammenhang als auffällig. Ein ‚Vorfall‘ ist definiert als ein außergewöhnliches Ereignis, welches impliziert, dass die für den Transfer relevanten Notizen – von Seiten des Artefakts – als außergewöhnlich innerhalb der Werkstatt charakterisiert werden. Beate hat diesen Vorfallscharakter nicht konstruiert, sondern Jörg, der die E-Mail mit der entsprechenden Notiz versendet hat. Beate tritt lediglich als Kodiererin in Erscheinung: Sie ordnet die Notizen den beiden Kodes zu, zu denen sie Zugang hat, und leitet sie weiter. Sie überführt die Notiz in ein neues Artefakt und klassifiziert sie. Dadurch erhält das ursprüngliche Anfallsgeschehen eine zweite mediale Form und wird zu einem einfachen Zahlenwert, welcher in die Wohneinrichtung ‚reist‘.
Die Mobilisierung stellt eine zeitlich asynchron verlaufende Praktik dar, da die Notizen verzögert ihren Weg in die Wohneinrichtungen und umgekehrt finden. Ein Beispiel für diese Form der zeitlichen Diskrepanz ist die vorliegende Notiz: Jörgs Notiz wird am frühen Nachmittag per E-Mail versandt, zu einem Zeitpunkt, zu dem Beate das Büro bereits verlassen hat. Folglich liest sie die E-Mail erst am nächsten Tag und überträgt sie dann. Die Wohneinrichtung erhält die Mitteilung, dass ihre Adressatin Bedarfsmedikation erhalten hat, mit einer zeitlichen Verzögerung von einem Tag. Es ist fraglich, ob eine solche Medikationsnotiz am darauffolgenden Tag noch die gleiche Relevanz aufweist wie am Tag der Verabreichung. Da es bei der Medikation um Tageshöchstmengen und Dosierungen geht, sind aktuelle Informationen zum Teil erforderlich. Daher handelt es sich um veraltete Notizen. Dies gilt nicht nur für die ausgehenden, sondern auch für eingehende Notizen.
Zur Werkstatt hin

                    Beate sitzt erneut vor AsTro und wartet auf mich, bis ich mich neben sie gesetzt habe. Sofort kommt es von ihr: „Hier schau mal. Ich bin fast fertig, aber das muss ich jeden Morgen machen“. Auf der äußersten rechten Seite war eine Liste mit den bestehenden Werkstätten. Sie klickt auf die Werkstatt und darunter ploppen Subkategorien auf. Es handelt sich dabei um die verschiedenen Gruppen. Sie geht auf eine Gruppe und klickt weiter unten im Programm auf >OK<. Das Programm lädt. „Ach so ein Mist. Es ist schon 7:45 Uhr“. „Was bedeutet das“ frage ich nach. „Wenn es auf 8:00 Uhr zugeht, wird das Programm immer langsamer“. AsTro lädt weiter. Keine Reaktion. „Deswegen mache ich das immer gerne früher“ setzt sie fort. „Kommst du deswegen so früh“ frage ich sie. „Ja, genau, dann geht das viel schneller. Vor ein paar Wochen hat eine Kollegin das mal wieder übernommen als ich im Urlaub war. Bei ihr hat es 2,5 Stunden gedauert. Weil sie so spät begonnen hat“. Das Programm ist fertig geladen und ein PDF mit einem Bericht vom letzten Tag taucht auf. Gestern gab es in der Wohngruppe keinen Vorfall, der für die Werkstätte relevant ist. Sie schließt das PDF und öffnet die letzte Gruppe. Es öffnet sich eine PDF, die genauso wie die andere aussieht – nur dieses Mal gibt es zusätzlich einen Einzeiler. Beate wandert mit der Maus über den Bildschirm. Dort befindet sich der Button >Verlaufsdokumentation<. Sie klickt auf die entsprechende Person und fügt den kurzen Einzeiler hinein. (Beobachtung _03092021, Pos. 2)
                  
Was an der Beobachtungssequenz8 auffällt, ist die Anpassung der Arbeitszeit an das digitale Artefakt AsTro. Beate berichtet, dass das Programm ab 8:00 Uhr morgens derart langsam wird, dass Eintragungen bis zu 2,5 Stunden in Anspruch nehmen können. Um dieser Langsamkeit zu entgehen, beginnt Beate früher mit ihrer Arbeit. Hier zeigt sich ein Phänomen, das Star, Bowker und Neumann (2017 [2003]) als „Konvergenz“ (ebd.: 448 f.) beschrieben haben. Konvergenz bezeichnet einen Prozess, bei dem sich Praktiker:innengemeinschaften in der Nutzung gemeinsamer Informationsartefakte aneinander annäheren. Die Informationsartefakte konstituieren folglich die Praktiker:innengemeinschaften mit (ebd.). Im Fall der Artefakte AsTro und Verlaufsdokumentation nähern sich die Gemeinschaften durch Beate als Schnittstelle aneinander an.
Die Konvergenz von technischer Seite aus offenbart sich darin, dass AsTro in seiner ‚eigentlichen‘ Nutzung wesentlich mehr Kategorien und Inhalte umfasst als Beate zur Verfügung stehen. Für die Werkstätten wurde zwar keine automatisierte Standardisierung eingerichtet, die entschieden hätte, welche Notizen an die Werkstatt weitergeleitet werden sollen. Die Entscheidung darüber liegt am Ende bei der individuellen Einschätzung der Fachkräfte aus den besonderen Wohnformen. Es gibt jedoch einen Mechanismus, der die Adressat:innen, die in den Wohneinrichtungen des Wohlfahrtsverbandes leben, automatisch in ihre entsprechenden Werkstattgruppen einteilt. Beate muss lediglich auf ihre Werkstatt klicken und kann dann die einzelnen Gruppen-PDFs auswählen. Dadurch wird es für Beate einfacher, die entsprechenden Notizen zu finden. Das digitale Artefakt AsTro wurde an die Werkstatt angepasst, um den Übertragungsprozess zu vereinfachen.
Zu beobachten ist zudem, wie Beate ihren Alltag so gestaltet, dass sie extra in den frühen Morgenstunden ihre Arbeit beginnt, damit das Programm flüssig und ohne Ladezeiten verwendet werden kann. Der Tagesablauf, die morgendliche Aufstehzeit sowie das Arbeitsende von Beate sind durch den Takt der Notizübertragung strukturiert. Es lässt sich argumentieren, dass dieser Umstand als Workaround zu betrachten ist, der die Konvergenz von menschlicher Seite aus sichtbar macht. Workarounds lassen sich im Vergleich zum Reparieren wie folgt bestimmen:
„Während sich das Ausbessern von Schadhaftem und das Austauschen von Ersatzteilen am Verhältnis von Funktionieren und Nicht-Funktionieren orientieren, das Reparieren hier also als ‚eigentliche‘ Lösung der Wiederherstellung eines ‚Ausgangs-‘ oder ‚Normalzustands‘ gelten kann, betrifft der Workaround das Problem des Reparierens selbst, wenn er im Unterschied zur eigentlichen, richtigen und eleganten Reparatur als deren uneigentliche, falsche und ‚unelegante‘ Form disqualifiziert wird“ (Schabacher 2017: 10 f.).
Im Vergleich zur Reparatur geht es beim Workaround um das praktizierte Abweichen von der Norm. Workarounds operieren mit dem, was gerade verfügbar ist, angesichts der Notwendigkeit, dass etwas getan werden muss (ebd.). In der vorliegenden Beobachtungssequenz passt sich Beate den Gegebenheiten an und praktiziert die Abweichung, die selbst schon wieder zur neuen Normalität geworden ist. Der Workaround tritt wiederkehrend und beharrlich auf, da sich die Person an die neue Normalität des Umweges gewöhnt hat. Aufgrund der als langsam empfundenen Bearbeitung des digitalen Artefakts hat sich Beate alternativer Praktiken der Pflege eingerichtet. Diese Praktiken finden unbemerkt von anderen statt und erfordern ein praktisches Wissen (Schabacher 2023: 279). Dies wird anhand ihrer Bemerkung über die Kollegin deutlich, die zu spät zur Arbeit kam und deshalb stundenlang für die Übertragung brauchte. Beates Workaround gewährleistet eine reibungslose Übertragung aus AsTro in die Verlaufsdokumentation und ist essenziell für die Stabilität der Cyberinfrastruktur. Ohne ihre Übertragung könnten die Notizen nicht von einem digitalen Artefakt zum nächsten transferiert werden. Ihre Pflege hält den Strom aus Notizen am Laufen.
Unter Berücksichtigung der Koordinierungspraktiken kann das räumliche Arrangement des Pfortenbüros präzisiert und als eine Form des Koordinierungszentrums (engl.: Center of Coordination) interpretiert werden. In den Workplace Studies gibt es diverse Forschungen zu Koordinierungszentren (Suchman 1997), wobei vor allem Flughafenzentralen (Suchman 1997), U-Bahn-Zentralen in Paris (Filippi/Theureau 1993) und London (Heath/Luff 1992) oder Verkehrszentralen (Whalen 1992) untersucht wurden. Solche Zentren sind bei Suchman (1997) dadurch charakterisiert, dass sie zum einen den Partizipanten Orientierung bei Problemen von raum-zeitlicher Koordination bieten und zum zweiten den Einsatz von Menschen und Material über Entfernungen hinweg nach einem kanonischen Zeitplan strukturieren (Suchman 1997: 42). Um als Koordinierungszentrum zu fungieren, müssen die Partizipanten an diesen stabilen Orten Zugang zu räumlich und zeitlich verteilten Praktiken haben. Beate verfügt über einen privilegierten Zugang zu digitalen Artefakten, mit deren Hilfe sie die verteilten Handlungen an einem Ort durch Bildschirme, Zugänge und E-Mails koordinieren kann. In der Relationierung mit weiteren menschlichen und nicht-menschlichen Partizipanten wird der Strom der Notizen über die Einrichtungen hinweg koordiniert. Ein entscheidender Partizipant ist neben AsTro auch die Verlaufsdokumentation. In ihr werden die Notizen gesammelt, gespeichert, archiviert und zum Zweck der Mobilisierung herauskopiert. Für Beate erscheinen diese Notizen in Form von E-Mails, die für den Weitertransport übertragen und kategorisiert werden.
Aus der anderen Richtung überträgt sie die Notizen aus den Wohneinrichtungen in die Verlaufsdokumentation zurück. Das Pfortenbüro dient als zentraler Ort, um die räumlich entfernten und zeitlich versetzten Praktiken aufeinander abzustimmen. Koordinierungszentren zeichnen sich auch dadurch aus, dass der Einsatz von Personal und Material einem Zeitplan folgt. Die E-Mails an Beate werden über den gesamten Tag verteilt versendet und auch die Eintragungen in den Wohneinrichtungen sowie Werkstätten sind nicht geregelt. Der Zeitplan, wann Beate die Notizen für die Werkstattgruppen in die Verlaufsdokumentation einträgt, wird jedoch von ihrem Büro aus festgelegt. Sie überträgt die Notzen in den frühen Morgenstunden, bevor AsTro überlastet ist und bevor die Gruppenmitarbeiter:innen der Werkstätten mit ihrer Arbeit beginnen. Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass seitens der Mitarbeiterinnen der Werkstattgruppen die Erwartungshaltung besteht, zu Beginn ihres Arbeitstages Notizen aus den Wohngruppen in der Verlaufsdokumentation vorzufinden. Diese Erwartung wird sich in der folgenden Beobachtungssequenz zeigen.
Um ein vollständiges Bild der Zirkulation zu erhalten, soll das digitale Artefakt der Verlaufsdokumentation weitergefolgt werden, um zu verdeutlichen, wie das Wissen aus den Wohneinrichtungen den Arbeitsalltag der Gruppenmitarbeiter:innen mit konstituiert. Die von Beate aus AsTro übertragenen Notizen erreichen wieder die Gruppenmitarbeiter:innen. Mit diesem letzten Schritt schließt sich der Kreis und ein neuer Zyklus beginnt.

7.3.2 Zurück zum Ausgangspunkt

Vor dem Hintergrund eines möglichst breiten empirischen Samplings begann ich den nachfolgend dargestellten Feldbesuch am frühen Morgen. Um Kontraste zu erzeugen, besuchte ich die Einrichtungen auch zu Randzeiten. Diese Sequenz beschreibt den Tagesbeginn in einer Werkstatt.

                  Gemächlich fahre ich mit dem Auto auf den großen Innenhof. Alles ist stockdunkel. In einer Arbeitsgruppe leuchtet Licht und jemand sitzt an einem Arbeitstisch. Es ist 7:20 Uhr. Als ich das Auto geparkt habe, treffe ich auf dem Parkplatz auf Thomas. Wir grüßen uns kurz und er geht Richtung Notfalleingang, durch den er zu seinem Gruppenraum gelangt. Ich verabschiede mich kurz, da ich über den Haupteingang gehen muss, wegen des Corona-Formulars. Nach dem Ausfüllen des Formulars und der Abgabe an der Pforte komme ich im Gruppenraum an. Eine einzelne Adressatin sitzt im hinteren Teil des dunklen Gruppenraumes und sortiert im Licht einer Schreibtischlampe Schrauben. Ich gehe in das hell beleuchtete Büro, wo Thomas schon steht. „Gut, dass du hier bist. Kannst dir gleich mal anschauen, wie lange der PC braucht, um hochzufahren“. Bei diesen Worten huscht er an mir vorbei und bückt sich herunter, um den Tower des PC anzuschalten. Dann lehnt er sich nach links und drückt den Anschaltknopf des Druckers. „So jetzt können wir warten“. Anstatt aber im Büro zu warten, holte Thomas aus seiner Hosentasche seine E-Zigarette hervor und eilte nach draußen. (Beobachtung_16122021, Pos. 3)
                
In der dargestellten Sequenz unterstreicht die Verräumlichungspraktik die Schwerpunktsetzung, die Thomas in seinem Arbeitsalltag vornimmt. Er begibt sich umgehend zum Computer, startet diesen und nutzt die verbleibende Zeit bis zum Hochfahren des Geräts für eine kurze Zigarettenpause. Dadurch setzt er einen klaren Schwerpunkt auf die Computerarbeit, anstatt auf die Interaktionsarbeit mit der Adressatin. Die ersten Handlungen eines Arbeitstages geben oft Aufschluss darüber, welchen Artefakten und Praktiken die Personen eine besondere Relevanz beimessen. Die Schwerpunktsetzung zeigt sich auch darin, dass Thomas nach der Zigarettenpause sofort an den Schreibtisch zurückkehrt.

                  Thomas kommt aus der Pause ins Büro, nimmt sich den Bürostuhl und setzt sich vor den Bildschirm. Er klickt auf die Verlaufsdokumentation. Er geht die einzelnen Namen durch. Bei einigen Namen befinden sich neue Eintragungen, die von Beate erstellt wurden. „Das sind die Leute aus unserer Gruppe“ erklärte er mir. Er liest sich jeden Eintrag in Ruhe durch. Viele der Einträge kaum länger als ein Satz. Bei einem Namen hält er inne. Es ist ein längerer Eintrag. Intime Details stehen in dem Absatz. In dem Text geht es um Duschen, Onanie und Depression. Thomas lacht plötzlich. „Die schreiben manchmal so komische Dinge“ kommentiert er und schüttelt lachend den Kopf. (Beobachtung_16122021, Pos. 4)
                
Thomas setzt sich vor den PC und öffnet unverzüglich das digitale Artefakt der Verlaufsdokumentation. In dem Artefakt hat Beate zuvor die entsprechenden Notizen aus dem Wohnbereich abgespeichert, auf die Thomas nun zugreifen kann. Sein Einblick in die Notizen ist auf die Mitglieder seiner Gruppe beschränkt, was bedeutet, dass Thomas nur einen selektiven Zugriff auf die Notizen hat. Die Notizen aus den Wohngruppen geben einen Einblick in die persönlichsten Bereiche der Adressat:innen. Es handelt sich um intime Informationen, die aus der Privatwelt der Adressat:innen stammen.
„In Latin intimus means ‚inmost,‘ suggesting outer protective layers or borders, whether physical or cultural“ (Marx 2016: 99). Das, was Thomas hier zum Lachen bringt, betrifft den physischen, privatesten Bereich des Adressaten, nämlich seine Psyche und seine Sexualität. „Some ‚very personal‘ attitudes, conditions, and behaviors take their significance from the fact that they are a currency of intimacy – selectively revealed, only to those we trust and feel close to“ (ebd.). Dass Thomas bei dem Adressaten verweilt und den Inhalt der Notizen als „komische Dinge“ betitelt, lässt darauf schließen, dass ihn diese besondere Intimität selbst irritiert. In Anbetracht des in der vorangegangenen Sequenz (Abschn. 7.3.1) beschriebenen Übertragungsablaufs stellt sich jedoch die Frage, aus welchem Grund die Mitarbeiter:innen der Wohngruppe diese Informationen an die Werkstatt ausgewählt haben. Schließlich verfügen sie über keinen unmittelbaren Bezug zur Arbeitswelt.
Die Selektivität der Notizen erklärt sich aus der Funktion, die sie in den Werkstätten – und umgekehrt in den Wohneinrichtungen – übernehmen. In der präsentierten Szene wird diese Tatsache nicht evident, da Thomas eine andere Tätigkeit am Computer ausübt. Zur weiteren Analyse der Funktion ist es sinnvoll, kurz zu einer anderen Szene zu springen, die sich im selben Setting abspielt.

                  Mitarbeiter Hannes liest eine Notiz laut vor: Adressatin C. hat am „Wochenende viermal Bedarfsmedi bekommen". Hannes erklärt mir, dass die hohe Medikamention ein Anzeichen dafür ist, dass es „unruhig mit ihr war" und sie deswegen häufiger Medikamente bekommen hat (Beobachtung_07062021, Pos. 12).
                
Eine Notiz wie „Bedarfsmedi bekommen“ findet sich häufig in den Notizen (siehe Abschn. 7.2). Einerseits kann dabei der Schutz der Adressat:innen im Vordergrund stehen. Sie sollen davor geschützt werden, ihre Tagesdosis an Medikamenten zu überschreiten. Informationen zwischen Werkstatt und besonderen Wohnformen werden demnach ausgetauscht, damit beide Einrichtungen über denselben Wissensstand zum Thema Medikation oder anderer medizinischer ‚Vorfälle‘ verfügen. Gleichzeitig kann die Information „Gabe von Bedarfsmedikamenten“ über ihre semantische Bedeutung hinausgehen und auf etwas Anderes verweisen, sofern die jeweiligen Lesenden über ein entsprechendes Kontextwissen verfügen. In dem dargestellten Fall dient der Eintrag nicht mehr dem Schutz vor einer Überdosis, denn das Wochenende war zu diesem Zeitpunkt bereits beendet und damit bestand keine Gefahr. Stattdessen schließt Hannes aus dem Eintrag auf eine „Unruhe“, von der in der Notiz eigentlich keine Rede ist. Insofern interpretiert er die Notiz vor dem Hintergrund seiner eigenen Arbeit, er rekontextualisiert sie. „People represent things abstractly in order to send them over distances where they do not know how, and cannot control, the local circumstances“ (Star 1995: 91). Um die abstrakte Notiz hinsichtlich des zeitlich und räumlich entfernten Ereignisses nutzbar zu machen und sie in die Arbeit zu integrieren, erfolgt eine Konkretisierung sowie Interpretation durch Hannes. Aus der Medikation schließt er auf eine „Unruhe“, die auch für seine eigene Arbeit von Relevanz ist. Inwiefern diese Auswirkungen aussehen können, verdeutlicht eine weitere Notiz, die Hannes mir kurze Zeit später zeigt.

                  Hannes zeigt mir die verschiedenen Adressaten. Bei jedem Namen sind Informationen hinterlegt. Bei einer Person sogar, dass er am Wochenende getrunken hat. Die "Informationen ist für uns relevant", meint Hannes. Denn dann müssen wir in der Woche regelmäßig testen. „Schon bei 0,01 Promille geht er nach Hause“. „Aber wie testet ihr denn“, frage ich nach. Er erklärt mir, dass die Person ein eigenes Gerät bei sich hat, womit er getestet werden kann. „Nach solchen Wochenenden und Rückfällen" meint er, müssen sie täglich bei der Person testen und notieren, welchen Wert er hat. (Beobachtung_07062021, Pos. 12)
                
Hannes fokussiert sich auf den kurzen Abschnitt, der das Thema ‚Alkoholkonsum‘ behandelt. Der Adressat muss strenge Auflagen erfüllen, um in der Werkstatt arbeiten zu dürfen. Bereits bei geringsten Abweichungen wird er in die Wohneinrichtung zurückgeschickt. Hannes nimmt die Notiz zum Anlass, um ein engmaschiges Kontrollnetz um den Adressaten zu spannen. Als Folge seiner Rekontextualisierung der Notiz finden regelmäßig Alkoholkontrollen statt, wobei das Wort müssen“ auf eine normative Ordnung verweist, die nicht näher benannt ist. Hannes weist hiermit auf eine Vorschrift hin, die er befolgen muss, sobald es erste Anzeichen für Alkoholkonsum oder Alkoholmissbrauch beim Adressaten gibt. Die Notiz evoziert im Zusammenspiel mit Hannes‘ Lese- und Interpretationspraktik Kontrollmechanismen zu verschiedenen Tageszeiten und damit zusammenhängende Praktiken des Notierens. Hannes weist in der Sequenz darauf hin, dass die Werte nach dem Testen notiert werden „müssen“.
Die Notizen lenken den Blick der Gruppenmitarbeiter:innen. Dadurch sind sie mehr als einfache Notizen, die zur Kenntnis genommen oder ad acta gelegt werden. Sie koordinieren im Sinne eines In-Bahnen-Lenken die konkreten Praktiken. Sie beeinflussen, wie die Gruppenmitarbeitenden die Adressat:innen wahrnehmen, Probleme identifizieren und Schritt-für-Schritt bearbeiten (Ley/Reichmann 2020: 250). Die Notizen, die Hannes in der Sequenz thematisiert – die Ergebnisse der Alkoholtestung – dienen der Mobilisierung und Koordinierung. Sie sind maßgeblich, wie auch der Eintrag „Bedarfsmedikation erhalten“ deutlich gemacht hat, für den Transport bestimmt, wodurch sie Raum und Zeit überspannen. Die Selektivität der Notizen vollzieht sich demnach in Abhängigkeit von ihrem Zweck: der Mobilisierung. Mit Hilfe der Notizen sind die Partizipanten in der Lage, Einwirkungen von einem Ort zum nächsten zu transportieren (Schulz-Schaeffer 2008a: 132).
Im Herstellungsprozess der Notizen manifestiert sich neben der Mobilisierung auch eine Repräsentation und Konstruktion von Akteuren. Durch das Know-how von Hannes und Thomas, das erforderlich ist, um das digitale Artefakt auf der Surface-Ebene zu bedienen und die Notizen in ihre Arbeit zu integrieren, entsteht ein Wissensgefälle zwischen ihnen und den Adressat:innen. Hannes und Thomas sind in der Lage, die Notizen in ihre Praxis rückzuübersetzen und Schlüsse für ihre eigene Arbeit zu ziehen. Die Notizen, die zwischen den Einrichtungen zirkulieren und an beiden Enden akkumuliert werden, bleiben den Adressat:innen verborgen. Sie tauchen als „stumme Akteure“ (Clarke 2012: 86) auf und bleiben von der Koordination ausgeschlossen. Gleichzeitig erzeugen diese Notizen eine Realität über die Adressat:innen, die Auswirkungen hat: Adressat:innen müssen sich Alkoholtestungen unterziehen, weil Mitarbeitende Informationen aus den Wohngruppen erhalten haben.
Die Adressat:innen verfügen weder über das Know-how noch über den Zugang zu den digitalen Artefakten, der erforderlich wäre, um sich die Notizen anzusehen. Indem die Mitarbeiter:innen die weit entfernten Wissensbestände kontrollieren und somit das Wissen der Wohngruppen übernehmen, verfügen sie über Ressourcen, die den Adressat:innen vorenthalten bleiben. Latour formuliert diesen Vorgang zugespitzt so: „Indem man nur auf Papier arbeitet, an zerbrechlichen Inskriptionen, die sehr viel weniger sind als die Dinge, aus denen sie extrahiert sind, ist es doch möglich, alle Dinge und alle Menschen zu dominieren“ (Latour 2006b: 302). Die Mitarbeiter:innen verfügen mit ihren Notizen über Ressourcen, mit denen sie gegenüber den Adressat:innen einen Wissensvorsprung haben und ihre Arbeit strukturieren können.
Die Gruppenmitarbeiter:innen sind jedoch nicht die einzige Gemeinschaft, die an den Inskriptionspraktiken partizipieren. Im Folgenden werde ich mich mit anderen Praktiken im Rahmen des Artefaktes beschäftigen, um ein differenzierteres Bild der Macht- und Ungleichheitsverhältnisse zu zeichnen.

7.4 Protokollierende Inskriptionen

Während bisher Praktiken in Verbindung mit räumlichen Arrangements und dem Artefakt im Vordergrund standen, die in ihrer Verkettung mit dem ‚Notieren‘ beschrieben wurden, geht es im Folgenden um eine weitere Verkettung, die der Sache nach als protokollierende Inskription bezeichnet wird. Diese Unterkategorie von Inskriptionen wird als protokollierend beschrieben, weil sie sich in zwei Facetten von den notierenden Inskriptionen unterscheidet. In den vorangegangenen Praktiken befanden sich die Personen allein in ihren räumlichen Arrangements und notierten dort mit Hilfe von weiteren nicht-menschlichen Partizipanten spezifische „Vorfälle“. Beim Protokollieren verhandeln, diskutieren und beraten sich mehrere Partizipanten, deren Äußerungen im digitalen Artefakt festgehalten werden.
Die Akkumulationen und Inskriptionen nehmen im Rahmen dessen neue Formen an (Schmidt/‌Wagner 2018; Berg 1999). Die hier im Nachgang präsentierten Analysen haben das Ziel, diese andere Einbindung sichtbar zu machen und das Artefakt in seiner Verwertung (Knorr 1986) zu analysieren. Zunächst möchte ich auf das räumliche Arrangement eingehen, das notwendig zu den Bündeln dazugehört und die Praktiken koproduziert. Durch das technografische following der Cyberinfrastruktur führte mich meine Forschung zum Sozialdienst (bzw. begleitender Dienst nach §10 WVO) der Werkstätten. Um Kontrastrierungen zu erreichen, werde ich zwei verschiedene Sozialarbeiterinnen im Zusammenspiel mit dem Artefakt ‚Verlaufsdokumentation‘ untersuchen.

7.4.1 Teamsitzung als Koordinierung

In der kommenden Beobachtungssequenz begleitete ich einige der Sozialarbeiter:innen über mehrere Tage hinweg bei ihrer Arbeit, so unter anderem Carina. Die Sequenz beginnt damit, dass drei Mitarbeiter:innen – Mark, Udo und Anne – aus einer der Werkstattgruppen mit mir gemeinsam das Gruppenbüro verlassen und zu einem Besprechungsraum innerhalb der Werkstatt gehen. Im Zweiwochenrhythmus finden dort gemeinsam mit dem Sozialdienst (§ 10 WVO) und stellenweise auch mit der Einrichtungsleitung (§ 9 WVO) Teamsitzungen statt. Der Sozialdienst, der zu diesen Anlässen persönlich in die Werkstätten kommt, leitet und protokolliert die Sitzungen.

                  Als wir in den Konferenzraum kommen, ist Herr Weizmann (stellvertretende Leitung) dabei, die Stühle und Tische umzustellen. Gemeinsam mit der Sozialarbeiterin Carina rückt er einen rechteckigen Tisch so um, dass sich in Kombination mit den anderen Tischen eine L-Formation ergibt. An die kurze Seite des L´s hat sich Carina umgehend gesetzt, ich direkt neben ihr. Dadurch blieb für Udo, Mark und Anne sowie Herrn Weizmann fast nur noch die lange Seite übrig. Carina klappt ihren Laptop auf, steckt ihre USB-Maus an und blickt auf den Bildschirm. (Beobachtung_16062021, Pos. 8)
                
Abbildung 7.3
Konferenzraum mit L-förmiger Tischanordnung während der Teamsitzung.
(Quelle: Feldprotokolle, Eigene Darstellung)
Die Eingangsbeschreibung markiert die Plastizität der Tischformation: Herr Weizmann (stellvertretender Werkstattleiter) und Carina verändern die Tisch- und Stuhlpositionen, was auf eine prinzipielle Offenheit in der Platzierung hinweist. Herr Weizmann und Carina bringen die Plastizität hervor, indem sie eine spezifische, L-förmige Tischanordnung erzeugen. Zwei Aspekte fallen beim räumlich-materiellen Arrangement besonders auf. Zum einen entsteht durch die L-Formation eine räumliche Trennung. Carina positioniert sich an der kurzen Seite des L, was sie von den anderen Mitarbeitenden trennt (Abb. 7.3). Die anderen Mitarbeiter:innen sitzen sich gegenüber, wodurch begünstigt wird, dass sie miteinander ins Gespräch kommen. Im Gegensatz dazu ist die Körperhaltung von Mark und Udo in Bezug auf Carina ungünstig, da sie ihr den Rücken zuwenden. Der Laptop ist ein integraler Bestandteil dieser Verräumlichungspraktik. In der Werkstatt steht er nur einer geringen Anzahl von Personen zur Verfügung, darunter dem Sozialdienst und den Leitungskräften. Er ermöglicht eine räumliche Mobilität und den dezentralen Zugang zu den digitalen Artefakten, wodurch die Sozialarbeiter:innen ortsunabhängig arbeiten können -sofern sie Zugang zum Internet haben. Die Mitarbeiter:innen der Gruppe verfügen dagegen über eine fest in den Büros installierte Bildschirm-Computer-Einheit, die mobiles Arbeiten verunmöglicht.
Zusätzlich zur ungleichen Hardware-Ausstattung gibt es auch Unterschiede im Zugang zum WLAN und zum Internet. Die Mehrheit der Gruppenmitarbeiter:innen hat von ihren Monitor-Rechner-Einheiten weder Zugang zum öffentlichen Internet noch kann sie auf das lokale WLAN zugreifen. Carina verwendet den im Raum installierten Flachbildschirm nicht, was von Relevanz ist, da die Sichtbarkeit dadurch eine andere gewesen wäre. Die Positionierung des Laptops verhindert, dass jemand einsehen kann, was auf dem Monitor vor sich geht.

                  Carina beginnt die Moderation. „Gibt es irgendwas, was wir besprechen sollten“. Kurze Stille, Udo blickt im Raum umher und meint dann: „Vielleicht [Vorname Adressat]“. Udo berichtet, wie dieser sich derzeit verhält, mit seinen Pöbeleien und mit seinen Vorlieben, die Hose bis zum Bauchnabel zu ziehen. Mark erwidert, dass das schon immer bei ihm der Fall war. Das ist nichts Neues. Beide blicken auf Carina, als sie über die Adressaten verhandeln, die jedoch vertieft vor ihrem Laptop sitzt und ununterbrochen eintippt. Plötzlich blickt sie kurz von ihrem Bildschirm weg, rein in die Runde und fragt: „[Vorname Adressat] ist Herr O.?“. „Ja genau“ entgegnet ihr Mark. „Herr O. soll heute ohnehin Thema sein“. (Beobachtung_16062021, Pos. 9)
                
Im Gegensatz zur ungleichen Sitzordnung und Ressourcenverteilung eröffnet Carina mit dem ‚Top-Sammeln‘ einen offenen Diskussionsraum. In ihrer Eröffnung sind alle Anwesenden eingeladen, eigene Themen einzubringen. Udo nutzt die Eröffnung, um einen Adressaten zur Sprache zu bringen. Im weiteren Verlauf kommt es zwischen ihm und Mark zu einer Aushandlung darüber, ob das Verhalten des Adressaten im Rahmen der Teamsitzung wirklich besprechenswert ist. In der Folge gelangen die beiden Parteien zu keinem Ergebnis, da die Sozialarbeiterin den Adressaten als „ohnehin Thema“ bezeichnet und die Diskussion damit beendet.
Hieraus lässt sich schließen, dass die Gruppenmitarbeiter:innen vor der Teamsitzung über keine detaillierten Kenntnisse bezüglich der Themen verfügten. Dies erzeugt eine Wissensasymmetrie zwischen den Teilnehmenden. Diese Asymmetrie setzt sich in der Sichtbarkeit fort. Der Laptop und die Sozialarbeiterin bilden eine untrennbare Kopplung, fernab von den Blicken der anderen Parizipanten. Die Sitzordnung, Körperpositionierung und Position des Laptops etablieren eine Unterscheidung zwischen den Mitarbeiter:innen, die als Diskutant:innen und Informationslieferant:innen adressiert sind, und ihr, die die Moderation und das Protokoll übernimmt.
An dieser Ordnung verändert sich im Verlauf der Sitzung nicht mehr viel, wie die folgende Sequenz veranschaulicht. Die Gruppenmitarbeiter:innen dürfen weiterhin diskutieren und Informationen aus ihrem Gruppenalltag an die Sozialarbeiterin weitergeben, die wiederum tippt und die Themen aufruft.

                  Nachdem die Runde mit dem kurzen „Tops-Sammeln“, wie es Carina genannt hat, zu Ende ist, moderiert sie die weiteren Themen an. Sie blickt gebannt auf ihren Laptopbildschirm. Eine Word-Datei war vor ihr geöffnet, darin die niedergeschriebenen Tops. Alle warten gespannt auf die nächsten Sätze von ihr. Plötzlich hallt der Satz durch den Raum: „Also Frau H. will ihre Arbeitszeit auf drei Stunden pro Tag reduzieren". Susanne leitet den Fall mit zwei drei Sätzen zu der Person ein und deren Anliegen. Dann schweigt sie. Herr Weizmann schien innerlich zu schlafen. Sein Körper war anwesend, von ihm ist während des Meetings jedoch nichts zu hören. Anne und Mark stürzen sich direkt auf das Thema. Hin-und-her dialogisieren die beiden das Für, ohne ein Wider. Udo hält sich wie Herr Weizmann fast vollständig zurück. Allein Mark und Anne sprechen. Carina tippt währenddessen in die Verlaufsdokumentation. Schon nach wenigen Sätzen kommen Anne und Mark darüber ein, dass die Reduktion von ihnen aus „kein Problem sei". Dann erfüllen die Tippgeräusche den Raum. Alle anderen schweigen. In der Verlaufsdokumentation taucht der Eintrag unter der Kategorie „Reha-Team“ auf. Der Eintrag lautet „Abgleich Arbeitszeit, Rückmeldung: Teilzeitbeschäftigung“. Erst nachdem die Tippgeräusche verstummen, blickt Carina von ihrem Bildschirm auf und wechselt zu einem anderen Thema. (Beobachtung_16062021, Pos. 10).
                
Die Sequenz beginnt mit der Überleitung von Carina zu einem anderen Themen. Es geht um das konkrete Anliegen einer Adressatin aus der Gruppe von Mark, Udo und Anne. Zunächst erwähnt Carina, dass die Adressatin ihre Arbeitszeit auf drei Stunden pro Tag reduzieren möchte. Indem Mark und Anne sich auf das „Thema stürzen“, adressieren sie sich – und werden auch von Carina als solche adressiert – als Ansprechpartner:innen für die Entscheidung eines Für-oder-Wieders. Die Leitung der Einrichtung ist währenddessen abwesend und wird weder von den Mitarbeitenden noch vom Sozialdienst angesprochen oder in die Diskussion integriert. In der vorliegenden Diskussion erzielen Thomas und Anne eine Einigung bezüglich des Anliegens, wobei sie aus ihrer individuellen Perspektive für die Adressatin entscheiden und somit eine Stellvertretung konstituieren.
Bei einer Stellvertretung existiert immer ein Spannungsverhältnis, da gleichzeitig etwas angesprochen wird und anderes nicht (Waldenfels 1999: 160). Es liegt in der Verantwortung von Mark und Anne, zu entscheiden, was besprochen wird, was akzeptabel ist und wie die Entscheidung aus ihrer Sicht auszusehen hat. Dabei entsteht per se ein Machtgefälle zwischen Adressatin und Mitarbeiter:innen, denn die Adressatin ist in der Diskussion nicht zugegen.
Während die als Informationslieferanten adressierten Thomas und Anne untereinander diskutieren, konzentriert sich Carina auf ihren Laptop und das digitale Artefakt. Aus der Einsicht in das Artefakt lässt sich schließen, dass Carina Sätze aus der Diskussion in das digitale Artefakt einträgt. Dadurch entsteht eine Arbeitsteilung zwischen den Anwesenden: Einerseits die mündlich Verhandelnden, andererseits die still Protokollierende. Carina macht im Artefakt sichtbar, was die anderen Anwesenden ihr als Informationen liefern. Sie übersetzt das Gesagte und nimmt es im Artefakt auf, wobei sie letztlich als Autorin in der Archivtabelle auftauchen wird. Das digitale Artefakt ordnet automatisch alle Eintragungen aufgrund des Log-ins ihr zu. Dadurch können alle Zugriffsberechtigten im Nachhinein sehen und nachlesen, welche Ergebnisse fixiert wurden. So entsteht eine Transparenz, die in der Situation selbst nicht gegeben ist, da die Beteiligten vor Ort keine Einsicht in das Artefakt haben.
In der Sequenz zeigt sich insgesamt eine ungleiche Verteilung von Zugängen zum digitalen Artefakt und die Fähigkeit, Inskriptionen darin vorzunehmen. Es bilden sich unterschiedliche Partizipantenrollen in der Relationierung von räumlichem Arrangement, digitalem Artefakt und Körpern heraus. Anne, Mark und Udo werden als Informationslieferant:innen angesprochen, während Carina Zugang zum digitalen Artefakt hat und Eintragungen vornimmt sowie Äußerungen in das Artefakt übersetzt. Gleichzeitig verschwinden sie als Partizipanten, da ihre maßgebliche Rolle durch das Artefakt und Carinas Inskriptionen getilgt wird. Der Eintrag „Abgleich Arbeitszeit, Rückmeldung: Teilzeitbeschäftigung“ wird ihr als Autorin zugeordnet. Das in dem Artefakt unter der Kategorie ‚Reha-Team‘ Protokollierte lässt demnach keine Rückschlüsse auf eine Diskussion zu und verweist nicht auf die Urheber:innen der „Rückmeldung“. Stattdessen hat Carina die abstrakte Zusammenfassung in das Artefakt eingetragen und ist als einzige Partizipantin retrospektiv der Notiz zuzuordnen. Gleichwohl verändert sich die in situ ungleich verteilte Sichtbarkeit post situ, da die Mitarbeiter:innen im Anschluss der Sitzung auf die Eintragung blicken können. In der vorliegenden Konstellation bleibt die Adressatin ausgeschlossen.
Das Protokollierte dient, und hierin verdeutlicht sich wieder die übergreifende Kategorie der Inskription, der Mobilisierung, Koordinierung und Weiterverarbeitung. Das verdeutlicht sich im weiteren Verlauf der Teamsitzung.

                  Direkt zum nächsten Fall – Frau O. „Wer ist zuständig für sie“ fragt Carina. Unsicherheit bei Mark und Anne. Sie überlegen gemeinsam hin und her, wer eigentlich für sie zuständig ist. Am Ende erklärt sich Anne für zuständig. „Bei Frau O. steht ein Entwicklungsbericht an“, informiert Carina. Dafür möchte sie gerne einen kurzfristigen Termin mit den Beteiligten machen. Mausklicken ist zu hören. Dann tippt Carina etwas in ihren Laptop. Sie schlägt einen konkreten Tag vor. Anne und Mark können nichts zu dem Zeitraum sagen, da er „zwei Monate in der Zukunft liegt“ und keiner von ihnen „einen Terminkalender dabeihat“. Wieder tippen. Sie trägt einen Termin mit Fragezeichen bei der entsprechenden Person in die Verlaufsdokumentation ein. Dann blickt Carina in die Runde und meint: „Wenn ihr dokumentiert, dann bitte mit dem Einleitungsworten ‚zuständige Person dokumentiert‘“. Postwendend kommen Widersprüche von Anne und Mark. Sie fragen nach, ob das eine „neue Richtlinie“ wäre. „In der Verfahrensanweisung steht das nicht, oder“ erkundigt sich Mark. Carina verteidigt ihren Vorschlag, bestätigt aber auch, dass es nicht in der Anweisung steht und es sich um eine neue Richtlinie handelt. Sie druckst herum, indem sie auf die Sinnhaftigkeit verweist und dass dann klarer wird, ob es sich um die zuständige oder eine andere Person handelt. Anne: „Das ist blöd. Die Doku wird immer aufwendiger“, „bekloppter“ wirft Mark ein. Auch hier gibt es keine weitere Stellungnahme von Carina. (Beobachtung_16062021, Pos. 12)
                
Im ersten Teil der Sequenz diskutieren Mark und Anne die Zuständigkeiten für eine Adressatin. Die Mitarbeiter:innen sind für bestimmte Adressat:innen zuständig, um finanzielle Angelegenheiten zu klären. Sie kümmern sich auch um Geburtstagsgeschenke und sind bei Entwicklungsgesprächen, Entgelteinstufungen oder Fähigkeitenbeschreibungen anwesend. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich hierbei nicht um gesetzliche Betreuer:innen handelt, sondern um eine interne Regelung. Es existieren keine gesetzlichen Vorgaben im Rahmen der WVO oder des SGB IX.
In dieser Sequenz thematisiert Carina die Zuständigkeit. Erneut beteiligen sich Mark und Anne an der Diskussion und verhandeln, wer zuständig ist. Carina spricht beide erneut als Informationslieferant:innen an, um im Anschluss ihren Terminfindungsprozess fortsetzen zu können. Die finale Terminfindung scheitert aufgrund fehlender Kalender, stattdessen wird ein Eintrag mit Datum im digitalen Artefakt für die Adressatin erstellt. Nach der Sitzung können Mark und Anne das Protokollierte einsehen und sich mit Carina abstimmen. Sobald Gruppenmitarbeiter:innen und Sozialdienst einen geeigneten Termin gefunden haben, wird dieser – je nach Art des Termins – den Wohngruppen mitgeteilt9. Wenn eine Entscheidung für einen Zeitraum getroffen wird, trägt Carina den finalen Termin ebenfalls in das Artefakt ein. Der Sozialdienst und die Gruppenmitarbeiter:innen koordinieren sich über das digitale Artefakt.
Damit geht das digitale Artefakt ‚Verlaufsdokumentation‘ weit über die simple Akkumulation von Protokollen oder Notizen hinaus. Es verkettet Zeit und Raum miteinander. Schmidt und Wagner (2018) nennen das in einem Aufsatz „the dance of time and space“ (ebd.: 15). Was hier mit dem Artefakt auftaucht, ist eine Zusammenarbeit über verteilte Räume hinweg. Das Artefakt erhält diese Vermittlungs- und Übersetzungsleistung jedoch erst in Relationierung mit weiteren menschlichen wie nicht-menschlichen Partizipanten. Wie Strübing (2005) folgerichtig anmerkt, wäre es „grob fahrlässig, wollte man diesen Objekten die in Rede stehenden Vermittlungsleistungen einfach als wesenhaft zuschreiben“ (Strübing 2005: 254).
Diese Leistung wird ermöglicht, weil das digitale Artefakt Namen, Zeiten und Kategorien den Notizen und Protokollen zuordnet. Anne und Mark können retrospektiv im Artefakt sehen, welcher Terminvorschlag im Raum steht und wem die Notiz zuzuordnen ist. Des Weiteren besteht für die Beteiligten die Möglichkeit, den weiteren Verlauf des Prozesses der Arbeitszeitreduktion nachzuvollziehen, da der Sozialdienst alle weiteren Schritte in Bezug auf diesen Vorgang dort inskribiert. Anhand der zugeordneten Zeiten können sie im Laufe der Koordination auch sehen, ob die weiteren Beteiligten den Termin bereits bestätigt haben. Die festgelegten Kategorien eröffnen somit die Möglichkeit einer Koordination über Zeit und Raum hinweg, die in der Praktik auch als Affordanzen aufgerufen sind.
In der oben dargestellten Sequenz schlägt Carina vor, eine weitere Kategorisierung in das Artefakt einzuführen. Sie stellt den Vorschlag in den Raum, dass vor jeder Eintragung, die von der zuständigen Person verfasst ist, den Passus „zuständige Person dokumentiert“ voranzustellen. Die von Mark und Anne vorgebrachte Kritik erfolgt umgehend. Mit der Nachfrage, ob es sich um eine „neue Richtlinie“ handelt und ob es in der „Verfahrensanweisung10“ steht, spielen die beiden auf die in den Werkstätten formalisierten Richtlinien für die Eintragungen in das Artefakt an. Bei der Artefaktanalyse wurde festgestellt (Abschn. 7.1), dass die Namen der eintragenden Personen automatisch erfasst werden. Carinas Vorschlag würde eine weitere Kategorisierung des Protokoll- oder Notizeintrags einführen, die in der Materialität des Artefaktes so nicht vorgesehen ist.
Allerdings wehren sich Mark und Anne gegen die neue Anforderung. Carina zielt mit ihrer Aussage auf die Einführung einer neuen „Regel der Signifikation“ (Ortmann et al. 2000: 320). Das heißt, sie versucht ein verändertes Interpretationsschema – ein neues Vokabular – für das digitale Artefakt zu integrieren. Von Seiten der materiellen Eigenschaft ist diese Anpassung legitim, da es keine Restriktionen bezüglich des Inhaltes der Inskriptionen gibt, so dass unterschiedliche Interpretationsschemata von dessen Nutzung koexistieren können. Carinas neue Signifikationsregel fordert mehr Transparenz und Zurechenbarkeit. Mark und Anne bezeichnen die Dokumentation daraufhin als „immer aufwendiger“ und „immer bekloppter“. Die Steigerungsformen deuten an, dass die Dokumentation bereits vor Carinas Vorschlag als ‚bekloppt' und ‚aufwendig' wahrgenommen wurde. Mit dem Verweis auf die Verfahrensanweisung beziehen sich Mark und Anne auf eine von der Organisation formal anerkannte Richtlinie zu Nutzung des digitalen Artefaktes. Die in der Diskussion erwähnte Verfahrensanweisung regelt jedoch nicht eindeutig, wie die Einträge auszusehen haben. Carina gibt zu, dass die Verfahrensanweisung keine Informationen dazu enthält und es sich stattdessen um eine neue „Richtlinie“ handelt. Die Diskussion endet ohne ein Ergebnis.
Die Beteiligten verhandeln darüber, welche Nutzungsversion des digitalen Artefaktes die Richtige ist. Schließlich setzen sich Mark und Anne mit ihrer Sichtweise auf das Artefakt durch. In der Diskussion über einen zukünftigen Modus Operandi wehren sie den Erweiterungsvorschlag ab und etablieren ihre Perspektive auf die Eintragungen. Solche Stabilisierungen sind jedoch immer nur vorläufig und müssen immer wieder neu erarbeitet werden. Mit der ANT gesprochen, verteidigen Anne und Mark ihren Passagepunkt gegen Carina (Callon 2006). Ein weiterer Aspekt, der in diesem Zusammenhang von Relevanz ist, ist der Einbezug der Verfahrensanweisung, welche ein von der Leitung akzeptiertes und verabschiedetes Set an Standards umfasst. Diese Standards fungieren als argumentativer Rückhalt, um eine Abwehr gegenüber dem neuen Passagepunkt zu entwickeln.
Als letzten Aspekt zum Artefakt möchte ich ein Bündel aus Praktiken und räumlichen Arrangements darstellen, das ebenfalls mit der Unterkategorie protokollierende Inskription gefasst werden kann. Hierin zeigt sich stärker der protokollierende Charakter der Inskriptionen.

7.4.2 Teamsitzung als Rapport

Neben Carina konnte ich im Rahmen der Forschung noch eine weitere Sozialarbeiterin bei ihrer Arbeit begleiten. Fokus der folgenden Analyse ist weiterhin die Inskription mit dem digitalen Artefakt. Die weitere Sequenz spielt sich in einer anderen Werkstatt des Wohlfahrtsverbandes ab. Auch hier soll zunächst das räumliche Arrangement mit in die Analyse einbezogen werden.

                  Paula und ich gingen gemeinsam nach oben in die zweite Etage der Werkstatt. Vor der Tür angekommen, schließt Paula auf. Der Raum ist düster. Die Geräte, die Möbel und Schränke wirken auf den ersten Blick wie Verlassene, so als wären sie eine Kullisse, die aus einer längst vergangenen Zeit stammt. Da ist ein überdimensionaler Taschenrechner auf dem Schreibtisch, der die Größe eines modernen Laptops hat und aus den 1980er Jahren zu sein scheint. Neben dem Taschenrechner steht ein altes Schnurtelefon. Ein zweiter, kleinerer Schreibtisch steht in der hinteren, linken Ecke und beherbergt einen gräulichen Standrechner mit Bildschirm sowie Tastatur. Alles gräulich, ehemals wahrscheinlich weiß. Ebenfalls auf dem Schreibtisch steht ein Faxgerät. Paula packt ihre Laptop-Tasche aus und sucht verzweifelt nach einem Kabel. „Was suchst du“ frage ich. „Das Internetkabel“ antwortet sie mir. Sie krabbelt hinter den kleinen Schreibtisch und steht dann mit einem blauen Kabel vor mir, den sie in den Laptop steckt (Beobachtung_01122021, Pos. 4)
                
Der Raum wird als etwas beschrieben, das anachronistisch wirkt. Anstelle einer modernen Büroeinrichtung finden sich dort veraltete Geräte, die keinen Nutzen mehr zu haben scheinen. Ein alter Taschenrechner, welcher spätestens mit der Durchsetzung der Smartphones fast völlig an Sinn verloren hat. Zum anderen das Faxgerät, welches zwar häufig in behördlichen Kontexten, aber nicht im Rahmen der begleiteten Werkstätten zum Einsatz kommt. Zu dem Zeitpunkt, zu dem der Raum geöffnet wurde, befand sich keine Person in ihm. Auch während der gesamten Beobachtungszeit war der Raum durchgehend unbesetzt. Nur durch Paula, die den Raum in zweiwöchigem Rhythmus für die Teamsitzungen in dieser Werkstatt nutzt, eröffnen sich konkrete Verräumlichungspraktiken.
Paula greift in dem Raum auf keinerlei Gegenstände zurück, sondern richtet sich darin ein. Sie ist in der Werkstatt regelmäßig präsent, während ihr Sozialdienstbüro sich in einer anderen, einige Kilometer entfernten Werkstatt befindet. Im Grunde genommen ist sie etwas, was sich als digitale Nomadin bezeichnen lässt. Sie reist in ihrem Arbeitsalltag von Ort zu Ort, führt Gespräche und kann dank ihres Laptops mobil auf die digitalen Artefakte zugreifen. Wie aus der beschriebenen Sequenz hervorgeht, benötigt sie lediglich eine Internetverbindung für ihren Laptop. Diese Angewiesenheit beinhaltet jedoch eine gewisse Form von Abhängigkeit. Im Falle der technischen Dysfunktion des Laptops oder der Internetverbindung ist sie arbeitsunfähig. In einem Interview beschreibt sie diese Abhängigkeit.

                  Paula: Also, du kannst dich ja nicht überall einloggen. Es gibt ja in vielen Bereichen auch kein WLAN (.) Und dann (.) ist ja blöd oder nicht in vielen. Es gibt in den meisten mittlerweile tatsächlich WLAN (.) Ja (3.0) aber klar, wenn du dann in verschiedenen Bereichen bist, aber manchmal hakt es dann auch, dann haste keinen Zugriff. […] Dann musstest du dir aufschreiben, dann bist du wieder im büro und dann übertragen. Also musstest du dir aufschreiben, damit du es nicht vergisst, bis du im Büro bist (DR000111, S. 14)
                
In der Interviewpassage erwähnt Paula, dass als Alternative zum digitalen Artefakt das analoge „Aufschreiben“ genutzt werden kann, falls die Verbindung ausfallen sollte. Das „Aufschreiben“ beinhaltet einen Mehraufwand, da die Übertragung in das digitale Format im Büro erfolgen muss. Paula beschreibt einen zeitlichen Ablauf, der aus mehreren Einzelschritten besteht und durch die Verwendung der Muss-Form als notwendig dargestellt wird. Dadurch wird die Internetverbindung zu einem konstitutiven, nicht-menschlichen Partizipant der Beobachtungssequenz. Nachdem Paula ihren Arbeitsplatz eingerichtet hat, steht nun die Teamsitzung an. In der Sitzung, die alle zwei Wochen stattfindet, nehmen Mitarbeitende aus den verschiedenen Gruppen der Werkstatt teil. Paula ist als Sozialarbeiterin für mehrere Gruppen verantwortlich (Abschn. 6.​1. ‚Begleitende Dienste‘).

                  Langsam, mit einer Lustlosigkeit in ihren Gesichtern, trotten die drei Mitarbeiter:Innen in das Zimmer. Sie nehmen sich Stühle und setzen sich in einen Halbkreis neben den Schreibtisch von Paula, die hinter ihrem Laptop geklemmt am Schreibtisch sitzt. Paula leitet die Sitzung ein. Eine schläfrige Stimmung herrscht. Paula ruft den Namen einer Beschäftigten in der Stammdatenmaske auf, blickt kurz darauf und klickte dann auf die Weiterleitung zur Verlaufsdokumentation. Dort öffnet sich das Interface für die Adressatin. „Frau A“ sagt Paula. Ohne etwas hinzusetzen. Die Gruppe, die aus Volker, Luise und Sabine besteht, erklären daraufhin, was in den letzten Tagen bei der Person passiert ist. Während sie berichten, tippt Paula wie wild auf ihrem Laptop herum und versucht, möglichst viele Informationen in das Artefakt einzutragen. Ihr Blick ist auf den Bildschirm geheftet. Als die Drei mit ihrem Bericht fertig sind, folgt Schweigen. Paula tippt weiter und die Gruppe bleibt stumm sitzen, solange bis Paula den nächsten Namen aufruft und die Gruppe sich wieder zu der Person äußert. Wieder tippt Paula in einem Affenzahn ohne Pause. Wieder berichten die Drei. Ein weiterer Name. Überwiegend haben Volker, Luise und Sabine nicht viel zu berichten. „Läuft gut“ oder „Hat sich gut in der Gruppe gemacht“ oder „Ist diese Woche krank“. Um die Informationen einzutragen, öffnet Paula bei jedem neuen Adressaten die Stammdaten und dann das Artefakt. Neuer Name, neue Runde. Am Ende jeder Runde herrscht Schweigen, bis Paula alle für sie relevanten Punkte eingetippt hat. Die Gruppe wartet und reagiert wieder auf den nun kommenden Namen. Erst bei einem Adressaten, es könnte der fünfte sein, fingen Volker und Luise an zu diskutieren. Beide sprechen über den Gesundheitszustand und darüber, wie er sich verschlechtert hat. Nach der kurzen Diskussion plätschert die Sitzung vor sich hin, bis alle Adressatennamen abgearbeitet sind (Beobachtung_01122021, Pos. 6)
                
Abbildung 7.4
Konferenzsraum mit Stuhlanordnung während der Teamsitzung mit Namen.
(Quelle: Feldprotokolle, Eigene Darstellung)
In der Sequenz verrücken Volker, Luise und Sabine die Stühle ohne vorherige Absprache und positionieren sich abseits von Paula. Die halbkreisförmige Positionierung ermöglicht es ihnen, sich während des Gesprächs anzuschauen und schafft eine informelle Besprechungssituation. Paula befindet sich währenddessen am Rand des Halbkreises; sozusagen an der Peripherie. Luise sitzt sogar mit dem Rücken zu Paula, was eine Kommunikation zwischen den beiden erschwert. Paula nimmt am Schreibtisch Platz, der mit einem Bürostuhl kombiniert ist, welcher es ihr erlaubt, sich temporär zur Seite zu drehen (Abb. 7.4). Vor sich hat sie das digitale Artefakt geöffnet, wobei sie den Umweg über die ‚Stammdaten‘11 nimmt.
Das Wort „Trottend-Gelangweilt“ deutet auf ein affektuelles Gestimmtsein von Luise, Volker und Sabine hin. Dies wird im weiteren Verlauf der Sequenz durch das Dahin-plätschern“ unterstrichen. Das „Plätschern“ wird von Paula, die gleichzeitig moderiert und protokolliert, taktiert. Indem Paula die Namen der Adressat:innen aus der betreffenden Gruppe alphabetisch aufruft und auf die Bemerkungen der Mitarbeitenden wartet, strukturiert sie das Geschehen. Auffällig ist, dass Paula sich aus der inhaltlichen Diskussion heraushält. Die Rolle der Moderatorin besteht bei ihr darin, die Namen der Adressaten der Reihe nach aufzurufen; weitere Moderationsaktivitäten wie Rückfragen oder Zusammenfassungen werden von ihr nicht durchgeführt. Zusätzlich übernimmt sie das Protokollieren in dem entsprechenden Artefakt. Volker, Sabine und Luise warten jeweils ab, bis das Tippen verstummt und ein neuer Name genannt wird. Das Zusammenspiel der Partizipanten ist orchestriert: Das Tippen und das Aufrufen von Namen geben einen Zeitrhythmus vor, an den sich Volker, Luise und Sabine anpassen, wobei Paula im Zusammenspiel mit dem digitalen Artefakt taktgebend agiert.
Das Tippen und damit verbunden das Tipp-Geräusch nehmen in der Szene eine exponierte Stellung ein. Bis die Tippgeräusche verstummen und ein neuer Name aufgerufen wird, warten Volker, Luise und Sabine. Die Geräusche des Tippens zeugen von der Dreidimensionalität der Tasten, bei dem die nachgebenden Tasten zu hören sind und ihr Verstummen mit der Erwartung verbunden ist, dass ein neuer Name durch den Raum hallt. Ein Effekt dieser Art des Schreibens am Computer, die als „weitgehend entmaterialisiert“ bezeichnet wird (Kammer 2000: 205), ist eine gleichmachende Beschleunigung. Das Kopieren, Streichen oder Ergänzen von Textstellen kann in dem digitalen Artefakt unmittelbar ausgeführt werden. Alle Eintragungen, die Paula vornimmt, speichert sie unter der Kategorie >Reha-Sitzung<. Im Vergleich zur zuvor dargestellten Sequenz (Abschn. 7.4.1) geht Paula listenförmig durch die Gruppe12 der Adressat:innen.
In Verbindung mit den Artefakten, der Positionierung der Körper und dem Gestimmtsein der Mitarbeiter:innen lässt sich die Sitzung als eine Rapport-Praktik charakterisieren. Sabine, Volker und Luise erstatten Bericht über die jüngsten Entwicklungen der Adressat:innen, während Paula das Gesagte in das Artefakt übersetzt und ein Protokoll anfertigt. „Protokollieren bedeutet zunächst einmal, dass institutionelle Tatsachen – insbesondere Sprechakte – mit einem institutionell abgesicherten Wahrheitsanspruch in Schrift gespeichert werden (was man sich zum Privatgebrauch notiert, ist kein Protokoll)“ (Niehaus 2011: 141). Durch die Protokollierung im Artefakt werden Tatsachen festgehalten, was bedeutet, dass eine Wahrheit über die „impliziten, stummen Akteure“ (Clarke 2012: 86) etabliert wird.
Im Gegensatz zu den meisten Protokollen werden die Aussagesubjekte, d. h. die Personen, die an der Sitzung partizipieren, in dem vorliegenden Protokoll nicht erwähnt. Lediglich Paulas Name findet sich im digitalen Artefakt, wobei die Eintragungen am Ende automatisch mit dem Benutzernamen der eingeloggten Person assoziiert werden. Durch die mediale Form erhält Paulas Tun eine Zurechenbarkeit (accountability), ihre Eintragungen sind sicht- und lesbar. Der koordinative Charakter des digitalen Artefaktes beruht auf Praktiken der Informationsverarbeitung, die mehrere Partizipanten etwa den Sozialdienst und die Gruppenmitarbeiter:innen betreffen und als Ordnung der gemeinsamen Arbeit dienen (Gießmann 2018). Nach den Teamsitzungen können die Mitarbeitenden auf die Eintragungen zugreifen, sie in ihre Arbeit integrieren, sich auf sie beziehen und ihr weiteres Tun damit ausrichten.
Wer das Protokoll führt und was hineinkommt, ist immer auch eine Frage der Macht (ebd.: 143). Aus einer relationalen Machtperspektive zeigt die Praktik eine doppelte Exklusion: Einerseits sprechen die Mitarbeitenden für die Adressat:innen, deren Stimme in der Sitzung exkludiert bleibt. Andererseits schließt Paula die anderen Partizipanten von ihrer Protokollierung aus. Paula produziert allein die Tatsachen in dem digitalen Artefakt. Was Paula über die einzelnen Adressat:innen protokolliert, bleibt den anderen drei Mitarbeitenden in situ verborgen, allerdings können die Eintragungen post situ von allen, die über Zugriffsrechte verfügen, eingesehen werden.

7.5 Zwischenfazit zu Inskriptionen

Wenn man die Praktiken vergleicht, zeigt sich, dass die Inskriptionen komplexe Bündel aus Praktiken mit menschlichen und nicht-menschlichen Partizipanten und räumlichen Arrangements sind. Mehrere Gemeinschaften von Praktiker:innen greifen auf das digitale Artefakt zu und binden es in ihre Praktiken ein. Gerade im Zusammenhang mit den Teamsitzungen wurde verdeutlicht, dass das Artefakt ‚Verlaufsdokumentation‘ selbst Gegenstand von Aushandlungen ist, bei denen verschiedene Personen um die Durchsetzung und Etablierung einer hegemonialen Perspektive ringen. In diesem Fall liegt eine reflexive Strukturierung vor (Giddens 1997, Windeler 2013), da die Partizipanten die in dem Artefakt zum Einsatz kommenden Interpretationsschemata reflektieren. Ihre Reflexivität gilt der Gestaltung dieser Schemata und des Vokabulars, welches in dem Artefakt genutzt werden soll. Stabilisierungen solcher Art – also Strukturationen – sind dabei immer provisorisch und können schon kurze Zeit später wieder in Frage gestellt werden.
Digitale Grenzobjekte zeichnen sich durch ihre Stabilität bei gleichzeitiger Flexibilität aus. Das digitale Artefakt ‚Verlaufsdokumentation‘ hat sich als ein offenes und flexibles Grenzobjekt in den Praktiken erwiesen. Es dient nicht nur verschiedenen Formen der Akkumulation von Eintragungen, sondern wird auch zur Mobilisierung genutzt. Informationen werden über mehrere Stationen weitergegeben und ändern dabei teilweise ihre mediale Form. Um Eintragungen mobilisieren zu können, wurden diese reduziert, sodass nur noch abstrakte Repräsentationen der ‚realen‘ Vorgänge in dem Artefakt übrigblieben. Durch „abstracting“ und „simplifying“ (Star 1995: 90) entsteht die Bedingung der Möglichkeit, dass Eintragungen sich über Raum und Zeit hinweg mobilisieren lassen. In dem Zusammenspiel aus digitalem Artefakt und menschlichen Partizipant entsteht eine Schnittstelle zwischen den räumlich verteilten Einrichtungen. Auch innerhalb der Werkstatt koordinieren sich die menschlichen Partizipanten, etwa der Sozialdienst und die Gruppenmitarbeiter:innen, mit dem digitalen Artefakt. Sie nutzten es, um Absprachen festzuhalten, weitere Termine zu kommunizieren, vorläufige Entscheidungen mitzuteilen oder ‚Vorfälle‘ aus dem Arbeitsalltag festzuhalten. Damit produzieren die menschlichen Partizipanten im Zusammenspiel mit dem digitalen Artefakt zurechenbare Eintragungen, die allerdings gegenüber den reichhaltigen Details der tatsächlich entfaltenden Aktivitäten der Praxis vage und unterspezifisch bleiben (Schmidt/Simone 1996). Die vorliegende Unbestimmtheit oder Unterspezifizität stellt keinen Mangel dar, sondern ist gemäß Suchman (1987) als Ideal zu betrachten. Dies ist dadurch bedingt, dass die Einzelheiten der Absicht und der Handlung von den Wechselwirkungen der konkreten Situationen abhängig gemacht werden müssen (ebd.: 123). In diesem Spannungsverhältnis zwischen Unbestimmtheit und Identität agieren die Grenzobjekte und ihre Inskriptionen.
„It is unrealistic and counter-productive to try to destroy all uncertainty and ambiguity in boundary objects. By their very nature, boundary objects need appropriate degrees of both in order to work – only in a totally uniform world (within a given speciality) would it be even conceivable to try to impose total precision“ (Bowker/Star 1991: 78).
Um die Inskriptionen zu verstehen und in konkreten Praktiken angemessen re-kontextualisieren zu können, benötigen die menschlichen Partizipanten ein spezifisches Wissen. Die Inskriptionen in dem Grenzobjekt sind nur dann Ressourcen, wenn die menschlichen Partizipanten als „Knowledgeable agents“ wissen, „wie man diese in sozialen Praktiken adäquat anwendet [Hervorh. im Original]“ (Windeler 2013: 239). Die Akkumulation im Sinne Latours bleibt folgenlos, solange die Partizipanten über kein entsprechendes organisationales Know-how verfügen. In den untersuchten Praktiken hat sich ein praktisches Verständnis der Inskriptionen materialisiert. Die menschlichen Partizipanten konnten mit den Inschriften umgehen, sie handhaben, übertragen und weiterleiten. Erst dadurch erhielten sie ihren praktischen Stellenwert. Windeler (2013) bemerkt dazu: „Ihr praktisches Verständnis sagt ihnen, wie man passend etwas macht. Nicht alle handeln jedoch gleich meisterlich“ (ebd.: 239).
Die Gruppenmitglieder und der Sozialdienst hatten Zugriff auf das Artefakt und konnten Einträge vornehmen und sie entsprechend interpretieren. Diejenigen, die als Objekte der Eintragungen in Erscheinung traten, waren von diesen Prozessen ausgeschlossen. In diesem Zusammenhang kann Merchel (2018) zugestimmt werden, wenn er konstatiert, dass über die Betroffenen der Aktenführung etwas festgehalten wird, „zu dem sie kaum Zugangsmöglichkeiten haben“ (ebd.: 24). Im Bezug auf räumliche Anordnungen und menschliche sowie nicht-menschliche Partizipanten konnten Praktiken im Kontext des Artefakts rekonstruiert werden, in denen die Adressat:innen als Objekte des Ansammelns und Weiterleitens von Eintragungen objektiviert wurden. Die Reduktion realer Vorgänge und menschlichen Handelns in digitalen Inskriptionen wirkt sich auf die Herstellung spezifischer Subjekte aus (Kutscher/Seelmeyer 2017; Abschn. 11.​1). Räume, um gegen diese Adressierungen aufzubegehren oder ihnen zu widersprechen, eröffneten sich in den von mir analysierten Praktiken kaum, da die Adressat:innen selbst keine Partizipanten waren. Wie noch zu zeigen sein wird, gibt es diese Räume des Widerstandes.
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Fußnoten
1
Während in den einleitenden und analysierenden Kapiteln von Artefakten gesprochen wird, soll der Begriff der Grenzobjekte erst in den zusammenfassenden und theoretisierenden Abschnitten Anwendung finden. Grund hierfür ist, dass Artefakte sich erst in ihrer praktischen Einbindung als Grenzobjekte ‚beweisen‘ müssen.
 
2
Die hier präsentierten Analysen haben nicht zum Ziel, alle mit dem Artefakt verbundenen Praktiken zugänglich zu machen; ein solches Unterfangen würde dem Ereignischarakter von Praktiken nicht entsprechen. Unter die jeweiligen Konzepte und Kategorien ließen sich noch weitere Praktiken und digitale Grenzobjekte subsumieren, allerdings hätte das am Ende den Rahmen dieser Arbeit gesprengt und keine weiteren Erkenntnisse zu Tage treten lassen.
 
3
Hauptunterschied zwischen Notiz und Dokumentation ist einerseits die Länge. Dokumentation impliziert Sätze, einen Verlauf oder zumindest eine gewisse Ausführung. Mit einer Notiz sind wenige Worte assoziiert, die beispielsweise an etwas erinnern. Warum sich wiedersprechende Begriffe auftauchen, bleibt unklar. Denkbar ist, wie auch in Interpretationswerkstätten als Hinweis aufkam, dass Notizen Teilstücke der Verlaufsdokumentation sind. In dieser Lesart bleibt allerdings das „erfassen“ in der obersten Überschrift missverständlich, da es suggeriert, dass die Dokumentation erfasst werden soll und nicht Notizen.
 
4
Es ist wichtig zu betonen, dass diese Begegnungen meine Forschung ermöglicht haben. Mein Fokus liegt in der Sequenz auf den digitalen Artefakten. Zu Beginn der Forschung gab es noch keinen klaren Schwerpunkt. Erst im Laufe der Erhebung und parallelen Auswertung hat sich meine Aufmerksamkeit verschoben. Ohne die Erklärungen der Fachkräfte zu ihren verwendeten Medien hätte ich die Infrastruktur nicht verstehen können. Sie haben meinen Forschungsgegenstand und meine Analysen maßgeblich geprägt.
 
5
Da Martin das Kreuz nicht woanders gesetzt hat, speichert das Artefakt die Notiz in dieser Kategorie. Natürlich wäre eine andere Kategorisierung möglich gewesen.
 
6
Hier wurde ein idealer ‚Strom‘ der Inskription durch mich konstruiert. Eigentlich handelt es sich um zwei verschiedene Beobachtungstage, die allerdings in eine chronologische Reihenfolge gebracht wurden. Solche ‚konstruierten‘ Abläufe sind, sofern sie durch umfangreiche Beobachtungen abgesichert und fundiert sind, in der Ethnografie möglich und sinnvoll.
 
7
Sie besitzt einen eigenen Schlüssel, was eben nur für die Mitarbeitenden der Werkstatt zutrifft.
 
8
Ich habe den ersten Teil der Sequenz erneut in die Analyse aufgenommen, da er mir eine typische Haltung der Mitarbeitenden gegenüber verdeutlicht. Wenn ich mich mit einzelnen Personen zu einer beobachtenden Begleitung verabredet habe, empfingen sie mich oft an ihren Computern. Zu Beginn der Forschung wurde nie erwähnt, dass es um die Cyberinfrastruktur und die einzelnen digitalen Grenzobjekte ging. Ich habe versucht, mein Vorhaben so offen wie möglich zu beschreiben und von einem Kennenlernen aller Arbeitsabläufe zu sprechen. Im Laufe der Besuche öffneten sich die Personen auch mir gegenüber und arbeiteten weiter wie gewohnt.
 
9
Diese Hintergrundinformationen stammen aus informellen Gesprächen mit Carina und den Gruppenmitarbeiter:innen.
 
10
Bei der Verfahrensanweisung handelt es sich um ein 14-seitiges Dokument, in dem formalisiert ist, was in der Verlaufsdokumentation, dem Entwicklungsbericht und vielen anderen digitalen Artefakten eingetragen werden soll. Die Verfahrensanweisung spielt insofern keine gesonderte Rolle in dieser Studie, da sie nicht als Erklärung für die Inskriptionen herangezogen werden kann. Erst wenn diese Forminvestitionen (Thevenot 1984) thematisch werden, können sie mit in die Analyse integriert werden. In der Verfahrensanweisung ist lediglich ein Satz zur Verlaufsdokumentation vermerkt. Dieser lautet: „Tagesaktuelle Dokumentation von Besonderheiten / Auffälligkeiten (z. B. Verhalten, Befinden oder Absprachen mit gesetzlichen Betreuern/Wohnbereichen)“ (Auszug Feldprotokoll).
 
11
Bei dem Artefakt ‚Stammdaten‘ handelt es sich um eine Zusammenfassung der Daten der Adressat:innen in einem Interface, dass durchgescrollt werden kann. Zu finden sind dort unter anderen Informationen zu Wohnort, Alter, Gruppenzugehörigkeit usw.
 
12
Natürlich werden nur all diejenigen besprochen, die sich in der Gruppe der Mitarbeitenden befinden, was um die 12–15 Adressat:innen sind.
 
Metadaten
Titel
Inskriptionen – Festhalten und Mobilisieren von Wissen
verfasst von
Konstantin Rink
Copyright-Jahr
2025
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-47994-7_7

    Marktübersichten

    Die im Laufe eines Jahres in der „adhäsion“ veröffentlichten Marktübersichten helfen Anwendern verschiedenster Branchen, sich einen gezielten Überblick über Lieferantenangebote zu verschaffen.