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Open Access 2025 | OriginalPaper | Buchkapitel

4. (Inter-)disziplinäre Verortung II: Cyberinfrastruktur

verfasst von : Konstantin Rink

Erschienen in: Digitale Werkstätten

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Der Beitrag untersucht die Entwicklung und Bedeutung von Cyberinfrastrukturen in der Sozialen Arbeit. Es wird die historische Entwicklung digitaler Technologien in der Sozialen Arbeit nachgezeichnet, von den ersten EDV-Anwendungen in den 1980er Jahren bis hin zu modernen Cyberinfrastrukturen. Dabei wird deutlich, wie sich die Technologien von administrativen Hilfsmitteln zu integralen Bestandteilen der sozialen Praxis entwickelt haben. Der Text beleuchtet die Herausforderungen und Chancen, die mit der Einführung digitaler Technologien in der Sozialen Arbeit verbunden sind, und analysiert, wie diese Technologien die Arbeitsprozesse und die Organisation in sozialen Einrichtungen verändern. Ein zentraler Aspekt ist die Rolle von Cyberinfrastrukturen als komplexe, verschachtelte und integrierte Informationstechnologien, die die Koordination und Vernetzung innerhalb von Organisationen unterstützen. Der Beitrag diskutiert auch die empirische Forschungslage und zeigt auf, dass es bislang wenige Studien gibt, die sich mit der konkreten Nutzung und den Praktiken rund um digitale Arbeits- und Organisationstechnologien in der Sozialen Arbeit auseinandersetzen. Es wird die Notwendigkeit betont, die impliziten Strukturen und Prozesse der Beteiligtheit von Technik in der Sozialen Arbeit weiter zu erforschen. Der Text schließt mit der Vorstellung eines sensibilisierenden Konzepts der Cyberinfrastruktur, das als heuristisches Werkzeug dient, um die Koordinierungs- und Strukturierungsleistung digitaler Technologien in der Sozialen Arbeit zu analysieren. Dabei wird die besondere Vernetzungsleistung von Cyberinfrastrukturen hervorgehoben, die über verschiedene Bereiche innerhalb von Organisationen hinweg wirken und die Zusammenarbeit von Fachkräften unterstützen. Der Beitrag bietet eine tiefgehende Analyse der Cyberinfrastrukturen und deren Bedeutung für die Soziale Arbeit und regt dazu an, die Rolle digitaler Technologien in der sozialen Praxis weiter zu erforschen.
Informationstechnologien haben in den letzten Jahrzehnten einen wahren Siegeszug erlebt, so dass mancherorts vom „Informationszeitalter“ (Castells 2004) gesprochen wird – eine Informationsmythologie, wie Bowker (1994) kritisch anmerkt. „Informationstechnologien haben in den letzten Jahrzehnten die Arbeitswelt in vielen Branchen so nachhaltig verändert wie kaum eine andere Innovation“ (Ley/Seelmeyer 2018: 655). Das gilt gleichermaßen für die Soziale Arbeit. Unter dem Label ‚EDV‘ wurden spätestens seit den 1980er Jahren vermehrt digitale Technologien als Arbeits- und Organisationsmittel in sozialarbeiterischen Einrichtungen eingeführt (Ley/Seelmeyer 2018, Kreidenweis 2011). Dabei kamen „Fachanwendungen im Bereich der Verwaltung, der finanziellen Abwicklung von Hilfe sowie deren statistische Erfassung“ zum Einsatz (Ley/Seelmeyer 2018: 657). Aufgrund des stark textorientierten Interfaces, das im Vergleich zu heutigen Anwendungen wenig intuitiv aufgebaut war, und „ihrer administrativen Ausrichtung waren sie kaum für Fachkräfte aus der Sozialen Arbeit […] geeignet“ (Kreidenweis 2011: 16). Erst ab Mitte der 1990er Jahre wurden fachspezifische Softwareanwendungen entwickelt, die Aspekte wie Planung, Dokumentation und Evaluation von Hilfen beinhalteten, wodurch eine Ausdehnung auf fachliche Bereiche erfolgte. „Etwa seit der Jahrtausendwende werden Informationsverarbeitung und Prozessunterstützung auf der pädagogisch-fachlichen, der personal- und betriebswirtschaftlichen sowie der Management- und Steuerungsebene zunehmend miteinander verknüpft“, stellen Ley und Seelmeyer fest (2018: 657).
Dass die Bedeutung digitaler Technologien in der Sozialen Arbeit für Profession und Organisation umfangreich empirisch untersucht worden wäre, kann in Anbetracht der derzeitigen schwachen empirischen Forschungslage kaum behauptet werden. Vielmehr kristallisiert sich ein Ungleichgewicht zwischen der zunehmenden Zahl an Studien von „Phänomenen im Kontext digitaler Technologien und Praktiken in der Sozialen Arbeit“ (Helbig et al. 2021: 432) heraus: Während sich der Großteil der Forschungen im Bereich der Digitalisierung Sozialer Arbeit mit Fragen von Mediatisierungsprozessen von Adressat:innen auseinandersetzt (Bollig 2020, Bosse/Haage 2020), stellen Forschungen zu „professionalisierten Alltagspraktiken von Akteur*innen als auch Organisationshandeln im Kontext digitaler Technologien trotz weit voranschreitender Entwicklungen in der Praxis immer noch vielfach Desiderata“ dar (Helbig et al. 2021: 432). Digitale Technologien im Kontext Sozialer Arbeit werden „fast durchgängig als Verbreitungs- und Konsumtionsmedien in den Blick genommen, deren Rezeption primär in der Freizeit und Privatsphäre erfolgt“ (Bergmann 2006: 392). Institutionelle und organisationale Kontexte sind bislang wenig untersucht (Ausnahmen etwa: Breiter et al. 2012; Welling et al. 2015). Zwar gibt es seit Jahren zunehmend ausdifferenzierte Forschungen zu Professionalisierungsentwicklungen (Becker-Lenz et al. 2013; Dewe/ Otto 2011) sowie eine breite Adressat:innen- bzw. Nutzer:innenforschung (exemplarisch Graßhoff 2013; Bitzan et al. 2006; Oelerich/ Schaarschuch 2005). „Noch kaum erforscht sind die impliziten Strukturen und Prozesse der Beteiligtheit von Technik an Vollzügen Sozialer Arbeit auf der Ebene der Artefakte“ (Kutscher 2020: 51).
Wie eine mikrologische Perspektive mit Fokus auf digitaler Technologie in Organisations- und Arbeitsvollzügen empirisch untersucht werden kann, ohne einen ‚Faktor‘ (die Technik oder die Organisation) als Explanans heranzuziehen, wird in den Workplace Studies deutlich (Bergmann 2006; Knoblauch/Heath 2006; Knoblauch 2004; Heath et al. 2004). In diesem disparaten und heterogenen Techniksoziologie-Forschungszweig werden Arbeitsvollzüge untersucht und versucht, neue Zugänge in der Verschränkung von Organisation und Technik auszuloten (Rammert/Schubert 2006). Die Workplace Studies stehen Pate für die folgende Studie und stellen einen ersten Zugang zu der Frage dar, wie Cyberinfrastrukturen als Organisationstechnologien analysiert werden können (Abschn. 4.1). Im Anschluss daran soll eine disziplinäre Verortung im Feld der Sozialen Arbeit vorgenommen werden, wobei diejenigen Forschungen im Zentrum stehen, die – wenn auch im weiteren Sinne – ‚Technologien in Aktion‘ untersucht haben (Abschn. 4.2). Zur empirischen Untersuchung von Cyberinfrastrukturen wird anschließend ein sensibilisierendes Konzept entwickelt, das sich zur Analyse von unterschiedlichen Infrastrukturen anbietet und zugleich auf die zunehmende Konvergenz moderner Informationstechnologien reagiert (Abschn. 4.3). Das relationale Konzept geht über die Betrachtung solitärer Technologien im Organisationskontext hinaus, integriert ‚ökologische‘ Aspekte (dazu später mehr) und fokussiert sowohl die Vernetzungsleistung als auch die Koordinierung zwischen diversen Fachkräften.

4.1 Workplace Studies – Vorbildfunktion für Soziale Arbeit und die Technologie in Aktion

Unter dem Label Workplace Studies ist ein Forschungsansatz zu verstehen, der sich „in detaillierten Untersuchungen mit Arbeit, Technologie und Interaktion in komplexen Organisationen“ (Knoblauch/Heath 1999: 164) beschäftigt. Ohne zu übertreiben, stellt die bis heute einschlägige Dissertation Suchmans Plans and Situated Actions (1987) einen Gründungsbaustein1 der von ihr mitbegründeten Workplace Studies als auch für das Untersuchungsfeld der Computer Support Co-Operative Work dar (Pentenrieder/Weber 2020). In ihrer ethnografisch-konversationsanalytisch angelegten Studie analysierte Suchman, „wie Büroangestellte ein Kopiergerät bedienen, das Xerox zu jener Zeit auf den Markt brachte und das mit einem schon damals als ‚intelligent‘ gelabelten Hilfssystem ausgestattet ist“ (Pentenrieder/Weber 2020: 215). Die Arbeit war für die 1980er Jahre bahnbrechend, weil das vorherrschende Paradigma in den Disziplinen der Human-Computer-Interaction (HCI) oder der Artificial Intelligence (AI) von einer maschinellen Reproduktion menschlicher Kognitionsprozesse ausging (Knoblauch/Heath 1999: 166). Laut dieses Paradigmas folge die menschliche Informationsverarbeitung Plänen und Zielen, wodurch sie sich technisch in Form von Computersystemen nachbilden lasse – letztlich mittels technischer Manipulation von Symbolen (ebd.). Suchmann wandte sich mit dem Konzept der situierten Handlung (situated action) gegen das bis dato hegemoniale, rationalistische Verständnis von menschlichem Handeln sowie Kognition. Ihrer Auffassung zufolge unterschätzt das kognitive Paradigma die Bedeutung des unmittelbaren Kontextes, „der Handlungen in ihrem praktischen Vollzug zu einer fortwährenden Anpassung an situative Kontingenzen zwingt“ und, dass der Sinn von Plänen oder Skripten „von den Umständen abhängt, unter denen sie realisiert werden (Knoblauch/Heath 1999: 167).
Im Rückbezug auf Technologie bedeutet das, dass sich der Umgang mit und der Zweck von Technologie nicht allein aus den Interfaces, den Bedienelementen oder den Anleitungen ergibt, sondern ihrer situativen Einbindung. Für die Erforschung der „situated actions“ (Suchman 1987) knüpfte Suchman an die aus der Ethnomethodologie hervorgegangenen Studies of Work an, in denen die Arbeitsvollzüge und die inkorporierten Kenntnisse nachvollzogen werden sollen (Knoblauch 1997: 627). Zentrales Ziel der Studies of Work, dessen Programm Garfinkel maßgeblich mitbegründet hat, ist die „Untersuchung und Herausarbeitung der ‚Ethno-Methoden‘, die in unterschiedlichen Berufen im Gebrauch sind“ (Greiffenhagen/Sharrock 2021: 333 f.). Das Programm verfolgt das Ziel, „das Einzigartige von bestimmten Berufsgruppen zu identifizieren, sprich zu spezifizieren, inwiefern sich bspw. Lastwagenfahren vom Taxifahren unterscheidet“ (ebd.).
An der Ausrichtung der Studies of Work haben sich auch die Studien, die auf Plans and situated Actions folgten, orientiert. Nach ihren methodischen und methodologischen Einsichten konzentrieren sich die Studien, die unter dem Label Workplace Studies zusammengefasst sind, auf die Analyse der Bedeutung von (digitalen) Technologien für die Interaktionen im organisatorischen Umfeld (Heath et al. 2000: 303). Hintergrund ist die zunehmende technologische Durchdringung vieler Arbeitsfelder, wobei klassische Organisationsartefakte, etwa Dokumente, ebenfalls im Zentrum der teils intensiven Videoanalyse stehen. „The studies serve as a foundation with which to consider how artefacts, ranging from seemingly mundane tools such as pen and paper, through to highly complex systems, feature in the production and co-ordination of social actions and activities“ (ebd.: 306).
Ein substantieller Teil dieser Forschungen beschäftigt sich mit dem, was Suchman (2011) unter Centers of Coordination fasst. Dabei gelangen allen voran Flughäfen, Börsen, U-Bahn-Kontrollzentren oder Technologieentwicklungszentren in den Blick. „Centers of coordination […] are concerned with problems of space and time, specifically the deployment of people and equipment across distances according to a canonical timetable, or in response to the emergent requirements of a time-critical situation“ (Suchman 2011: 24). Paradigmatisch gehen die empirischen Untersuchungen innerhalb der Workplace-Studies nicht von einem deterministischen Technikverständnis aus. Zentraler Bestandteil der Forschungen ist vielmehr das komplexe Geflecht aus technischen und menschlichen Akteuren. Suchman (2011) greift – beispielsweise – in ihrer überarbeiteten, zweiten Auflage von Plans and Situated Actions auf das Konzept des sozio-materiellen Arrangements zurück, um die wechselseitige Konstitution auf den Begriff zu bringen. Suchmans zentrale Untersuchungsfragen lauten „wie und wann die Kategorien Mensch oder Maschine wichtig werden, welche Relationen von Gleichheit und Unterschiedlichkeit zwischen ihnen bei welchen Gelegenheiten aktiviert werden und welche diskursiven und materiellen Folgen das zeitigt“ (Rammert 2007: 13).
Das Verdienst der Workplace Studies für die Soziale Arbeit liegt unter anderem darin, dass grundlegend nach der Einbindung (digitaler) Technologien in Arbeitsvollzüge gefragt wird. Technologie dient aus Sicht der Workplace Studies dazu, „Arbeitsvollzüge zu strukturieren, sie stellt die Mittel bzw. Ressourcen zur Verfügung, mit denen Handelnde sich und ihren Mitarbeitenden den Sinn ihrer Handlung aufzeigen können“ (Knoblauch 1997: 629). In diesem Sinne werden Technologien durch die Praktiken definiert, „die mit und an ihnen vollzogen werden“ (ebd.). Technologien sind demnach kein Störfaktor oder bloßes Beiwerk von Organisations- und Arbeitsvollzügen, sondern tragen wesentlich zu deren Strukturierung und Konstitution bei. „Die Workplace Studies behandeln Technologie nicht als etwas, das einen ‚Einfluss‘ auf den Vollzug von Handlungen oder Interaktionen ausübt, sondern eher als etwas, das Teil dieser Handlungen ist und dessen Sinn erst in diesen Handlungen konstituiert wird“ (Knoblauch/ Heath 1999: 171).

4.2 Technologie im Vollzug Sozialer Arbeit

Das Forschungsvorhaben dieser Studie versteht sich als sozialarbeiterische Workplace-Study, lehnt sich entsprechend an deren Perspektivierung an und konzipiert Technologien praxeologisch. Dabei gilt das besondere Interesse der Workplace-Studies nicht primär der fokussierten 1:1-Interaktion, sondern den Formen der Koordination, der Kooperation und der Mobilisierung von Informationen im Kontext digitaler Technologien. Es soll in der vorliegenden Studie darum gehen, wie Cyberinfrastrukturen als komplexe, verschachtelte, modulare und integrierte Informationstechnologie in die Herstellung organisationaler Ordnungen eingebunden sind.
Vor der Erläuterung dessen, was unter dem theoretischen Konzept der Cyberinfrastruktur verstanden werden kann, soll der Diskurs über Informationstechnologien in Organisationen der Sozialen Arbeit betrachtet werden. Im Folgenden konzentriert sich die Darstellung auf Studien, die im weiteren Sinne unter den Diskursstrang Sozialinformatik fallen (Seelmeyer/Kutscher 2021, Kreidenweis 2012, Wendt 2000) und die sich mit konkreten Arbeits- und Organisationsvollzügen befassen. Andere Forschungen aus dem weiteren Bereich der Medienpädagogik, die durch „eine Fokussierung auf Medien als Mittel mit sozialisatorischer Bedeutung, um bestimmte Ziele – wie die Entwicklung als souveränes Subjekt oder kreative, innovative Ausdrucksformen – zu erreichen“ (Kutscher/ Seelmeyer 2021: 19), gekennzeichnet sind, bleiben ausgespart. Im Gegensatz zur Medienpädagogik hat die Sozialinformatik ihren Gegenstand in den Informations- und Kommunikationssystemen von Organisationen Sozialer Arbeit. „Sie befasst sich mit der systematischen Verarbeitung von Informationen im Sozialwesen in ihrer technischen Konzipierung, Ausführung und Evaluation, und sie geht damit verbunden den Bedingungen, Wirkungen und sozialen Begleiterscheinungen des Technologieeinsatzes nach“ (Kreidenweis 2012: 19). Ein großer Teil der Debattenbeiträge widmet sich der konzeptionellen Reflexion des Einsatzes von Informationstechnologien, wenige der im Folgenden skizzierten Beiträge fußen auf empirischen Erhebungen. Einschränkend ist anzumerken, dass viele dieser Arbeiten ihren Bezugspunkt in der Frage der Professionalität haben. Nur sehr wenige fokussieren Organisationen als genuines Thema. Hierin liegt ein Forschungsdesiderat, welches die vorliegende Arbeit füllen möchte.
Eine erste Welle von Beiträgen, die sich mit dem konkreten Einsatz von Technologie in der Sozialen Arbeit auseinandersetzten, begann Ende der 1980er Jahre. Ein Großteil der Stimmen, insbesondere von Praktiker:innen und Wissenschaftler:innen, warnten vor potentiellen Gefahren der neuen Technologie (Frommann 1987). Herausforderungen wie „Berichte von der Stange“ (Lumma, 1991: 92), eine „Computerisierung des Denkens“ (Schurz, 1991: 22) oder „programmierte Entscheidungen“ (Meyer, 1991: 12) wurden bei zunehmender Durchdringung mit digitaler Technologie prognostiziert. Mit Hilfe von Dichotomisierungen zwischen einem Kernbereich Sozialer Arbeit – die Interaktion mit den Hilfsbedürftigen – und sogenannten nicht-professionellen Nebentätigkeiten verwies etwa Ehlert (1991) darauf, dass neben „Zahlen und Berechnungen“ (Ehlert 1997: 41), sprich einer automatisierten Datenverarbeitung, auch „die einfachsten Schreib-, Dokumentations-, Informations- und Entscheidungsarbeiten“ (ebd.) durch Computer ausgeführt werden könnten. Beim professionellen Bereich handele es sich wiederum nicht um eine in die Logik von Computern zwängbare Tätigkeit (ebd.). Auch Mehlich (1997) sah eine Grenze der Informatisierung „in der begrenzten Algorithmisierbarkeit insbesondere derjenigen Situationen, die den Kern der Sozialarbeit ausmachen“ (Mehlich 1997: 17). Vergleichbare Abwehrhaltungen eines sozialarbeiterischen Kerns fanden sich bei Hanewinkel und Viefhues (1993: 9 ff.), die vor dem Computerbildschirm und dessen inhärenter Gefahr, verstärkt Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und damit die Interaktion sowie die Beziehung zu den Hilfsbedürftigen zu überlagern, warnten. Brinckmann (1993) sprach davon, dass durch die Technisierung „die Anpassungsfähigkeit der Sozialen Arbeit an immer wechselnde Problemlagen und schließlich auch der Kontakt zum Klienten“ erschwert werden würde (ebd.: 263).
Gekennzeichnet waren die frühen Thematisierungen des Computereinsatzes in der Sozialen Arbeit von der Befürchtung, dass der Kern professionellen Handelns durch bürokratische Rationalisierungs- und Formalisierungsprozesse bedroht sei. Hierbei verengte sich der Diskurs einseitig auf den Konflikt zwischen einem erhaltenswerten, interaktiven sowie vermeintlich technikfreien Kern der Profession und technikimmanenten Zwängen, die diesen bedrohen würden. Differenzierte Positionen fehlten fast völlig, da es kaum empirische Untersuchungen zum konkreten Technikeinsatz gab2. Die Mehrheit der Beiträge zum Einsatz von Informationstechnologien basierten auf fragwürdigen Präsuppositionen über ein vermeintliches Sein von Technik und auf einem deterministischen Verständnis technologischen Wandels, welcher die Welt der Professionellen quasi kolonialisiere und überforme.
Zu Beginn der 2000er Jahre hatte sich die Forschungslage zum Einsatz von Informationstechnologien verschoben und deutlich ausdifferenziert. Nach dem Aufkommen und der sukzessiven Verbreitung von Fachanwendungen in der Sozialen Arbeit entwickelte sich eine professionsbezogene Thematisierung, die gegenüber dem zuvor dargestellten Diskurs neue Facetten ins Spiel brachte. Wesentlich unvoreingenommener widmeten sich beispielsweise Axhausen (2000) oder Grab (2001) in ihren Beiträgen zur Leistungsfähigkeit von Dokumentationssoftware in der Sozialen Arbeit (siehe dazu auch Kirchlechner 2001). Schulze-Krüdener (2000) sah in diesen und ähnlichen Beiträgen eine zunehmende „Entmytifizierung der Computernutzung“ (ebd.: 193) im Diskurs Sozialer Arbeit. Neben „Fragen der Anwendungsmoral und der Machbarkeit“ (ebd.) wurden zudem „praxisorientierte Anwendungsbeispiele und Fallbeispiele“ (ebd.) publiziert.
Doch auch für diese Periode lässt sich konstatieren, dass die breite „Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit […] weiterhin unbeobachtet von der Forschung geblieben ist“ (ebd.). Mehrheitlich werden in den publizierten Beiträgen entweder Praxisbeispiele von gelungenen bzw. misslungenen Technikimplementierungen und -anwendungen reflektiert (u. a. Schnurr 2001, Hennig 1999) oder es wird nach generellen Einsatzgebieten, Grenzen und Herausforderungen von digitaler Technologie in der Sozialen Arbeit gefragt (u. a. Staub-Bernasconi 2001, Marotzki/ Ortlepp 2003). Arbeiten mit ausgewiesenem methodologischem Zugriff auf die Frage des Einsatzes, der Anwendungen und Herausforderungen digitaler Technologie in Organisationen Sozialer Arbeit fehlen auch in diesen Jahren.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die anglo-amerikanische Forschung bereits einen deutlich fortgeschritteneren Stand erreicht. Autor:innen wie Harris (1998), Hughes (1999) oder Harlow und Webb (2003) untersuchten empirisch die Einführung neuer digitaler Technologien in Sozialen Diensten, wobei sie diese im Verhältnis zu gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen reflektierten. Vor dem Hintergrund eines sich transformierenden Wohlfahrtsstaates in Großbritannien kamen diese Beiträge zu dem Schluss, dass Informationstechnologien die digitale Verlängerung neuer Steuerungsmodelle und der Privatisierung Sozialer Dienste seien. „The applications of ICTs are not political ‚neutral’; they are a reflection of the economic trends, cultural influences and power relations in which they exist” (Harlow 2003: 19). Harlow (2003) sah mit dem Aufkommen des Managerialismus und der damit zusammenhängenden Technologien auch die Autonomie der Sozialarbeiter:innen als gefährdet (ebd.). Zahlreiche weitere Beiträge warnten vor einer Abwendung von professionellen Standards hin zu einer „bureaucratization of social work“ (Burton/van den Broek 2009: 1326 ff.), einem „informational approach“ (Patron 2006: 264 f.) oder einem „electronic turn“ (Garrett 2005: 531). Sie taten dies vermehrt auf Basis von empirischem Material wie Interviews – das unterscheidet sie von der deutschsprachigen Debatte (Regan 2003, Riley/Smith 1997).
Allerdings basiert auch diese Debatte mehrheitlich auf einem theoretischen Abstraktionsniveau jenseits empirisch differenzierter Ergebnisse. Die Beiträge zogen Verbindungen von Digitalisierung Sozialer Organisationen zum New Public Management und dessen Rationalisierungs- sowie Ökonomisierungsbemühungen. Aus Sicht vieler Autor:innen würden standardisierte Tools an die Stelle von professioneller Kreativität, Diskretion und der Toleranz von Unsicherheit sowie Komplexität treten (Parton 2009: 718).
Die Studie von Gillingham (2006 & 2009) setzt sich meines Erachtens von anderen Beiträgen deutlich ab, da sie mit Hilfe eines ethnografischen Settings untersuchte, wie im Bereich des Kinderschutzes sogenannte “decision-making-tools” (ebd.) konkret zum Einsatz kamen und welche Rolle sie im praktischen Vollzug übernahmen. Seine Arbeit sticht insofern heraus, als dass er ein nuanciertes Bild der Praxis und des technologischen Einsatzes zeichnete. So resümierte er seine Forschung:
“For less experienced staff the SDM (Structured-Decision-Making) tools had become central to their practice and they felt they relied on them. More experienced participants were concerned about this apparent reliance on the tools but acknowledged that, as a framework for practice, SDM has potential as a learning tool for inexperienced staff. Some participants reflected that the ‘tick and flick’ nature of the SDM tools tended to oversimplify the complexities of the situations they faced and tended to restrict their practice” (Gillingham 2009: 263)
Im deutschsprachigen Raum fehlte über einige Jahre hinweg ein differenzierender – womöglich an den Workplace-Studies angelehnter – Ansatz, der die Nutzung und die Praktiken rund um digitale Arbeits- und Organisationstechnologien untersuchte. Mitte der 2010er Jahre erschienen erste, empirisch fundierte Beiträge, die ebenfalls mit einem anspruchsvollen methodologischen Repertoire antraten, die Verflechtung von digitalen Artenfakten sowie menschlichen Akteuren analysierten und die sich von einer technikdeterministischen Perspektive distanzierten.
Exemplarisch sollen hier zwei empirische Beiträge hervorgehoben werden, die die Herausforderungen der Profession durch digitale Technologien explizit thematisieren. Einerseits die Monografie von Ley (2021), andererseits eine Studie von Bastian und Schrödter (2015). In beiden geht es um eine empirische Auseinandersetzung der Profession der Sozialen Arbeit mit digitalen Technologien. Ausgangspunkt der auf Interviewmaterial basierenden Arbeit von Ley ist die Untersuchung der Nutzung digitaler Dokumentationssysteme im Jugendamt. Auf der Basis seiner Ergebnisse arbeitet Ley punktuelle Weiterentwicklungen des Professionsverständnisses im Kontext informatisierter Arbeitsumgebungen heraus. Bastian und Schrödter (2015) zeigen wiederum in ihrer Studie zu Entscheidungsunterstützungssystemen im Kinderschutz, dass die Sorge vor der Einschränkung professioneller Ermessensspielräume durch Techniknutzung dem Phänomen nicht gerecht wird (Bastian/Schrödter 2015: 204). Professionelle Urteilsbildungen würden durch den Einsatz digitaler Tools nicht obsolet, vielmehr könne der Ermessensspielraum fokussierter genutzt werden (Bastian/Schrödter 2015: 204). Die benannten Studien zielen nicht auf eine Dichotomisierung von interaktivem professionellem Handeln und digitalisierter De-Professionalisierung ab, die standardisiere, rationalisiere, ökonomisiere oder verobjektiviere (Kutscher/Niermann 2022: 332). Indes geht es ihnen um eine empirisch fundierte Analyse des Status Quo, aus der heraus sich entsprechende Erweiterungen des Professionsverständnisses ableiten lassen.
An die beiden letztgenannten Studien und auch an die von Gillingham (2009), wird in der vorliegenden Studie angeschloßen. Hierbei werde ich mich allerdings nicht auf die Frage von Professionalität fokussieren, sondern das Organisieren – die Herstellung organisationaler Ordnung – im Geflecht einer Cyberinfrastruktur herausarbeiten. Die Besonderheit solcher Cyberinfrastrukturen ist, dass sie nicht auf einen eng abgegrenzten Funktionsbereich beschränkt sind, sondern oft quer liegen und sich auf diverse Bereiche innerhalb von Organisationen erstrecken und diese vernetzen (Büchner 2018a). Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird dem Aspekt der Relationierung eine besondere Hervorhebung zuteil, da in ihm ein wesentliches Charakteristikum von Infrastrukturen begründet liegt. Es handelt sich bei Infrastrukturen nicht um ein solitäres Dokumentationstool, vielmehr um eine ganze Reihe von digitalen Artefakten – sogenannten digitalen Grenzobjekten –, die über Raum und Zeit verteilte Arbeit miteinander relationieren. Insofern unterscheidet sich die vorliegende Forschung von der von Bastian/Schröder oder der von Ley, da es um komplexe, verschachtelte und miteinander verkoppelte Prozesse mittels eines stabilen Regimes digitaler Grenzobjekte geht, die sich nicht auf Dokumentation oder Entscheidungen reduzieren lassen.
Sinnvollerweise sollte nur dann von Infrastruktur gesprochen werden, wenn das Phänomen von einer bestimmten Breite, das ist einer bestimmten Sozialdimensionalität, gekennzeichnet ist. Eine Dokumentationssoftware, wie sie unter anderem in Jugendhilfeeinrichtungen von den dort tätigen Sozialarbeiter:innen genutzt wird, stellt insofern noch keine Infrastruktur dar. Aufgrund ihrer Vernetzungs- und Koordinierungsleistung grenzen sich Infrastrukturen von solchen Stand-alone-Technologien ab. Zu beobachten ist, dass sich Infrastrukruren seit einigen Jahren im Kontext von Organisationen etablieren und im Zuge dessen sich das „menschliche Denken, Kommunizieren, Handeln zunehmend auf Computer und ihre Vernetzungen“ (Krotz 2022: 107) bezieht. Im Alltag und in der Arbeitswelt vernetzen sich Computer in zunehmendem Maße funktional und tauschen Daten auf gleichberechtigter Basis aus. Infrastrukturen können von mehreren Standpunkten aus interpretativ angeeignet und zwischen einer Vielzahl an Akteuren übersetzen sowie vermitteln (many-to-many).
Bisherige Forschungen in der Sozialen Arbeit haben sich, sofern überhaupt empirische Studien vorliegen, auf Stand-alone-Technologien respektive auf situierte digitale Artefate fokussiert, wobei deren methodisches Vorgehen und theoretisch-sensibilisierenden Konzepte in weiten Teilen (ausgenommen im deutschsprachigen Raum Ley 2021, Bastian/Schrödter 2015) noch einem Technikdeterminismus folgen. Abgesehen auch von Bastian (2017), der in einer ethnografischen Studie den Einsatz eines Entscheidungstools in situ und in praxi untersucht hat und dessen Fokus auf der Frage nach Entscheidungen sowie Professionalität lag, ist eine empirische Untersuchung von komplexen digitalen Informationstechnologien in Organisationen der Sozialen Arbeit, die sich wie die Workplace Studies dem Organisieren unter Bedingungen digitaler Technologie widmet, bislang einzigartig. Im Zuge einer zunehmenden Komplexität digitaler Technologien müssen sich Forschungen neuen Herausforderungen stellen, um ein adäquates Beobachtungsinstrumentarium zu entwickeln. Für meine Forschung nutze ich das sensibilisierende Konzept der Cyberinfrastruktur, auf das ich im Weiteren eingehen werde. Mit dem Konzept können ganze Ensembles von digitalen Grenzobjekten, die in Organisationen zusammenkommen, in ihrer Koordinierungs- und Strukturierungsleistung untersucht werden. Gleichzeitig ist das Konzept offen genug, um ganz heterogene Phänomene zu analysieren.

4.3 Eigene Verortung: Cyberinfrastrukturen

„The act of defining an infrastructure is a categorizing moment. Taken thoughtfully, it comprises a cultural analytic that highlights the epistemological and political commitments involved in selecting what one sees as infrastructural (and thus causal) and what one leaves out“ (Larkin 2013: 330). Im nachfolgenden Kapitel soll ein für die Studie leitendes Verständnis von Cyberinfrastruktur entwickelt werden. Angesichts der seit 40 Jahren fortschreitenden Infrastrukturforschung ist dies eine anspruchsvolle Aufgabe. Das heterogene Feld betont verschiedene Aspekte des Phänomens, sei es technischer, sozialer, ökologischer, politischer oder organisatorischer Natur. Da aber keineswegs alle Facetten des sozialen Phänomens mitberücksichtigt werden können, ist der Einzelne auf „die problematische Isolierung von Teilaspekten“ (van Laak 1999: 290) angewiesen. Mit dem Merkmal der Technizität greifen viele der Beiträge auf eine Eigenschaft von Infrastrukturen zurück, die in ihrer ursprünglichen Ausarbeitung mit angelegt war. Gemeint ist das techniksoziologische Verständnis, das bei Gründungsfiguren wie Mayntz (1988 & 1993) oder Hughes (1993 [1988]) das Zentrum bildete. In der kurzen Rekonstruktion des Begriffes soll ein Schwerpunkt auf diejenigen Konzeptionen von Infrastruktur gelegt werden, die im weiteren Sinne aus dem Feld der STS stammen und die die Technizität neben weiteren Merkmalen besonders ins Zentrum rücken. Hintergrund ist die Frage, was Cyberinfrastrukturen ausmacht und wie sie sich von anderen Informations- und Kommunikationstechnologien allgemein unterscheiden. Hierbei sei darauf verwiesen, dass es weder um ein zu stark eingeschränktes Verständnis von Infrastrukturen noch um eine Bestimmung von Technik im Allgemeinen geht. „It is the step away from generalizations about technology uberhaupt [sic] and a step into the examination of technologies in their particularities [Hervorh. im Original]“ (Ihde 2009: 22). Mit einer gegenstandsgeleiteten Begriffsklärung soll das Spezifische von Cyberinfrastrukturen bestimmt werden. Es soll abgegrenzt werden, worin sie sich von anderen Informationstechnologien, die in der Sozialen Arbeit zum Einsatz kommen, unterscheiden.
Zu diesem Zweck soll die Bedeutung des Begriffs der Infrastruktur erläutert werden. Diese erschließt sich durch die Betrachtung der Art und Weise, wie er jeweils verwandt wurde. Daher werde ich im nächsten Teil (Abschn. 4.3.1 bis 4.3.3) in groben Zügen nachzeichnen, wie Infrastrukturen im Diskurs der STS und angrenzenden Feldern wechselnd bestimmt wurden. Aus dieser kurzen Genealogie des Infrastrukturbegriffs kann eine sukzessive Expansion auf weitere, nichttechnische Bereiche herausgelesen werden, der eine stärkere technische Fokussierung entgegensetzt wird. Anschließend an Larkin (2013) ist die Bestimmung dessen, was als Infrastruktur verstanden wird, ein „categorizing moment [Hervorh. im Original]“ (ebd.: 330). Die folgende Arbeit kategorisiert die in den WfbM zum Einsatz kommende, digitale Technologie als eine Cyberinfrastruktur und argumentiert auf der Grundlage dieses sensibilisierenden Konzeptes. Mit dieser Weichenstellung liegt das Erkenntnisinteresse in der besonderen Vernetzungsleistung der in den WfbM angetroffenen, digitalen Technologie und wie im Zusammenspiel mit der Cyberinfrastruktur organisationale Ordnungen entstehen.
Es soll in diesem Kapitel erläutert werden, was Cyberinfrastrukturen als sensibilisierendes Konzept (Kelle/Kluge 2010) ausmacht und warum das Konzept dazu geeignet ist, komplexe und verschachtelte Informationstechnologien in Organisationen Sozialer Arbeit als stabiles Regime digitaler Grenzobjekte zu erforschen. Sensibilisierende Konzepte, wie das der Cyberinfrastruktur, sind keine analytischen Kategorien, aus denen sich Propositionen oder Hypothesen ableiten ließen. Vielmehr handelt es sich um heuristische Werkzeuge. Sie dienen als „theoretisches Skelett, zu dem das ‚Fleisch‘ der empirisch gehaltvollen Beobachtung hinzugefügt wird“ (Kelle/Kluge 2010: 38). Zu diesem Zweck werde ich im Anschluss an das Infrastrukturkonzept das Technische von Cyberinfrastruktur umreißen und eine Perspektive auf digitale Technologie einführen (Abschn. 4.3.4). Im Anschluss daran (Abschn. 4.3.5) werde ich gegenstandsorientiert erläutern, wie digitale Technologien in Praktiken mithandeln bzw. partizipieren. Am Ende werden alle Überlegungen (Abschn. 4.3.6) zusammengeführt. Doch zuvor werde ich kurz die Ursprünge von Infrastrukturen im STS-& CSCW-Feld nachzeichnen, beginnend mit den Arbeiten von Hughes und Mayntz.

4.3.1 Große technische Systeme

Dem Technikhistoriker Hughes kommt aus heutiger Sicht der besondere Verdienst in den sozialwissenschaftlichen Arbeiten zu Infrastrukturen zu, dass er sich in seiner materialreichen Studie zur Entwicklung der modernen Elektrizitätsnetzwerke nicht den individuellen Erfinder bzw. die persönliche Einzelleistung ins Zentrum gestellt hat, sondern stattdessen eine systemische Perspektive auf Technikgenese einnahm (Joerges 1983). Hughes beschäftigte sich mit dem Phänomenbereich, der einige Jahre später als Infrastruktur tituliert wurde. Er selbst verwandte aber mit „technical systems (Hughes 1993 [1988]) einen anderen Terminus. Für Hughes ist ein technologisches System ein Netzwerk aus zusammenhängenden Teilen oder Komponenten. Diese Komponenten werden häufig zentral gesteuert und die Grenzen des Systems werden in der Regel durch den Umfang dieser Steuerung festgelegt. Da die Komponenten durch eine Vernetzung zusammenhängen, beeinflusst der Zustand oder die Aktivität einer Komponente den Zustand oder die Aktivität anderer Systemkomponenten (Hughes 1993 [1988]: 5).
Es war das Verdienst von Hughes, dass seine Arbeiten nicht auf die Innovation von Technik allein abhoben, sondern sowohl technische als auch soziale Komponenten gleichermaßen mit einbezogen. Alle „messy, complex, problem-solving“ Komponenten zusammen (Hughes 2012 [1987]: 45), wozu Organisationen (Versorgungsunternehmen, Banken, Produktionsbetriebe), wissenschaftliche Arbeiten (Bücher, Artikel) oder natürliche Ressourcen gehören können (ebd.), bildeten ein „seamless web“ (Hughes 1986). Mit der ANT teilte er allerdings das Problem, dass die Beziehungen zwischen den Komponenten kaum Grenzen aufwiesen. „Das Nachverfolgen von Beziehungen zwischen Komponenten führt aber unweigerlich in einen Ursachen-Wirkungsregress, da jede Komponente in Beziehung mit anderen Dingen steht“ (Taubert 2019: 58 f.).
Anknüpfend an die Arbeiten von Hughes hat sich (u. a.) Mayntz (1993) mit sogenannten „Großen technischen Systemen“ (ebd.) auseinandergesetzt, die sie explizit auch als Infrastruktursysteme bezeichnete. Auch Mayntz interessierte sich für Netzwerke heterogener technischer und sozialer Komponenten, die der weiträumigen und dauerhaften Erfüllung eines spezifischen Zweckes dienten (ebd.). Zudem hob sie hervor, dass Infrastruktursysteme „gesellschaftsweit etabliert und durch eine hohe Inklusivität gekennzeichnet“ sind (Mayntz 1988: 234). Im Unterschied zu Hughes lag ihr Schwerpunkt stärker auf der „spezifischen technischen Fundierung“ (Mayntz 1993: 101). Technische Innovationen, zum Beispiel der interaktive Videotext, dessen Entwicklung und Einführung in Deutschland und Frankreich von Mayntz zusammen mit Schneider untersucht worden ist (Mayntz/ Schneider 1988), wirkten sich in einem „sehr konkreten Sinn systembildend“ aus (Mayntz 1993: 101). Die technische Fundierung prägte aus ihrer Sicht die „sozialstrukturelle Beschaffenheit, die Binnenstruktur der modernen Infrastruktursysteme, die eng mit der Verwendung ganz bestimmter technischer Verfahren und Artefakte zusammenhängt“ (ebd.). Im Vokabular einer funktionalen Differenzierung und Teilsysteme stellte Mayntz fest, dass Infrastruktursysteme „intensivere Abhängigkeitsverhältnisse“ (Mayntz 1993: 104) schaffen. Diese Systeme ragen in „politische, ökonomische oder militärische Abläufe“ hinein (ebd.), so dass eine Abhängigkeit von diesen entsteht. Entsprechend führen technische Innovationen im Bereich großer, technischer Systeme zu einer gesteigerten Komplexität, denn sie verbinden Teilsysteme, zwischen denen vorher noch keine Interdepenzen bestanden.
Mit der Verflechtung von Funktionssystemen kommt es zu einer „Beschleunigung und räumlichen Expansion von Transaktionen“ (Mayntz 1993: 104). Infrastruktursysteme bestimmten mit, „welche sozialen Strukturierungswirkungen diese spezifischen Funktionssysteme in anderen sozialen Systemen verankern und wie sie soziale Teilsysteme miteinander vernetzen“ (Barlösius 2019: 42). Zentral ist, dass große technische Systeme nicht allein für eine gesteigerte Komplexität verantwortlich sind, vielmehr „besteht zugleich ein enger Zusammenhang zwischen der Organisationsweise großer technischer Systeme und den jeweils gesamtgesellschaftlich dominierenden Governance-Formen“ (Mayntz 1993: 105). Einerseits haben Infrastruktursysteme zur Entwicklung eines starken Staates geführt, beide haben sich in ihrem „Wachstum stimuliert und in ihrer Zentralisierung gefördert“ (ebd.). Andererseits haben sie auch zu einer Hierarchisierung in der Ökonomie beigetragen, da solche Systeme die Ausbildung „vertikal integrierter Großunternehmen“ (ebd.) begünstigten.
Insgesamt betont Mayntz deutlich stärker als Hughes die Technizität von Infrastrukturen, was sicherlich damit zusammenhängt, dass sie als Soziologin sich mit Fragen von Technik in Abgrenzung gegenüber konstruktivistischen Perspektiven auseinandersetzte, wozu sie auch Latour zählte (Mayntz/Schneider 1995: 75). Mayntz und Hughes haben gemein, dass sie die Vernetzung von technischen und nichttechnischen Komponenten fokussieren und die gesellschaftlichen Wirkungen betonen, die von solchen Systemen für die moderne Gesellschaft ausgehen können.

4.3.2 Boundary-Infrastruktur

Die für die STS wegweisende Arbeit von Star und Ruhleder (2017[1996]) baut auf dem Gedanken einer Raum- und Zeit überspannenden Kollaboration auf Basis von komplexen Technologien auf und setzt die Arbeit der ‚Großen technischen Systeme‘ fort. Statt sich auf einzelne (digitale) Objekte zu fokussieren, wenden sich die beiden einem ganzen Netzwerk an Objekten zu. In ihrem 1996 erschienenen Artikel über das Worm-Community-System (WCS) analysieren sie die Zusammenarbeit von Biolog:innen beim Sequenzieren der Genstruktur. „Das WCS ist eine verteilte ‚Hyperbibliothek‘, die die informelle wie formelle Kommunikation und den Datenzugang über viele Arbeitsplätze ermöglicht“ (Star/Ruhleder 2017[1996]: 365). Das heißt, das WCS war eine maßgeschneiderte Software, die die Kollaboration unterstützen sollte und die für ganz unterschiedliche Gemeinschaften entworfen worden war. Vergleichbar mit den Arbeiten von Mayntz oder Hughes vor ihnen untersuchten Ruhleder und Star, inwiefern sich die dezentrale Technologie des WCS über große geografische Distanzen erstreckte, welche strukturierenden Wirkungen davon ausgingen und wie neue Strukturen daraus entstanden. Als „analytisches Framework“ (Schmidt 2018: 186) entwarfen sie zu diesem Zweck das Konzept der Informationsinfrastruktur, welches später von Star in Zusammenarbeit mit Bowker Weitentwicklung erfuhr (Bowker/Star 1999). Sie griffen dabei auf die Arbeiten von Kling und Scacchi (1982) zurück. Kling und Scacchi (1982) führten einen Infrastrukturbegriff ein, der neben dem Computersystem auch organisationale, praktische und vor allem finanzielle Aspekte mitberücksichtigte, die aus ihrer Sicht sonst unsichtbar geblieben sind, wenn es um die Einführung eines Computersystems ging (Kling/Scacchi 1982: 18). „The authors explicitly distinguished between ‘the focal’ computing facility on the one hand and on the other the supplementary technical resources, organizational arrangements, and human skills required for it to operate“ (Schmidt 2018: 180). Kling und Scacchi bezeichneten mit Infrastruktur die unterstützende Struktur, die sich auf Basis des Computersystems ergibt, wodurch sie den Schwerpunkt vom System auf seine praktische organisatorische Einbettung verlagerten (ebd.). Star und Ruhleder formulierten ihr Anliegen im Anschluss daran.
„Infrastruktur [ist] ein grundlegend relationaler Begriff. Sie wird zur Infrastruktur in Relation zu organisierten Praktiken […] Daher fragen wir nicht, was eine Infrastruktur ist, sondern wann [Hervorh. im Original]. sie eine ist. Analytisch gesehen erscheint Infrastruktur nur als eine relationale Eigenschaft, nicht als ein von seiner Nutzung befreites Ding. Bowker beschreibt dies mittels einer ‚infrastrukturellen Inversion‘ eine starke Gestalt-Verschiebung von Figur und Grund (figure-ground gestalt shift) in Untersuchungen zur Entwicklung einer großangelegten technologischen Infrastruktur bezeichnet [Hervorh. im Original]“ (Star/Ruhleder 2017[1996]: 362)
In dem relationalen Sinne sind Infrastrukturen im Sozialen verankert, „ohne zu relativieren oder gar zu bestreiten, dass viele Infrastrukturen enorme technische Voraussetzungen haben, auf technischem Wissen basieren und die Technik für die Praxis von Infrastrukturen immens wichtig ist“ (Barlösius 2019: 44). Infrastrukturen zu denken, heißt für Bowker et al. (2010), gängige Ansichten zu ändern: „from transparency to visibility, from substrate to substance, from short term to long term“ (Bowker et.al 2010: 99). Star und Ruhleder verwerfen die Vorstellung, „ein Arrangement stelle von sich aus eine Infrastruktur dar – vielmehr könne von ‚Infrastruktur‘ nur im Kontext einer organisierten Praxis gesprochen werden“ (Taubert 2019: 60). Aus der relationalen Perspektive lässt sich die Frage, was eine Infrastruktur ‚ist‘ gar nicht endgültig beantworten. Stattdessen ist es die Aufgabe der Forschung und des Forschenden zu klären, ob es analytisch sinnvoll ist, ein Phänomen als Infrastruktur zu bezeichnen oder nicht3 (Ribes/Lee 2010: 234).
Wenn Infrastrukturen relational sind und aus einer Inversion emergieren, bleibt jedoch fragwürdig, was dann eigentlich keine Infrastruktur in diesem Sinne ist. Star und Ruhleder konkretisieren ihr Verständnis, indem sie Dimensionen einführen, deren Konfiguration eine Infrastruktur bildet. Diese Dimensionen sind (Star/Ruhleder 2017[1996]: 362 f.):
  • Eingebettetsein. Infrastruktur ist im Inneren anderer Strukturen ‘versunken‘.
  • Transparenz. Infrastruktur ist für die Nutzung in dem Sinne transparent, dass sie nicht jedes Mal neu erfunden werden muss.
  • Reichweite oder Geltungsbereich. Infrastrukturen reichen über einzelne Ereignisse oder Orte hinaus.
  • Erlernt als Teil von Mitgliedschaft. In Organisationen ist es eine Zugangsvoraussetzung für eine Mitgliedschaft, die Infrastruktur zu erlernen.
  • Verknüpft mit Praxiskonventionen. Die Infrastruktur formt die Konventionen einer Praktiker:innengemeinschaft und wird von ihnen geformt.
  • Verkörperung von Standards. Sie ist an andere Infrastrukturen angeschlossen und beinhaltet Standards.
  • Errichtet auf einer installierten Basis. Infrastruktur erwächst nicht aus dem Nichts. Sie knüpft an Bestehendes an.
  • Wird beim Zusammenbruch sichtbar.
  • In einer späteren Arbeit von Star (2017[1999]) ergänzt sie noch die Eigenschaft „Ist in modularen Abstufungen fixiert, nicht auf einmal änderbar [Hervorh. im Original]“ (ebd.: 425).
Die entwickelten Dimensionen rücken die Medialität von Informationsinfrastrukturen in den Mittelpunkt. Infrastrukturen verbinden, verkoppeln, mediieren lokale Praktiken sowie „communities of practice“4 (Bowker/Star 1999) miteinander und lösen damit die „Spannung zwischen dem Lokalen und dem Globalen“ (Star/Ruhleder 2017[1996]: 364). Infrastrukturen besitzen insofern keinen exklusiven physischen Ort, vielmehr handelt es sich um eine funktionierende Beziehung. „Sie sind eingebunden in je verschiedene Praxiszusammenhänge und erfahren erst durch diese Situations- und Gebrauchskontexte ihren jeweiligen Sinn“ (Schabacher 2017: 405).
Um diese Relationalität stärker zu betonen, führen Star und Bowker (1999) ein paar Jahre später den Begriff der boundary infrastructure (Grenzinfrastrukturen) ein. „Any working infrastructure serves multiple communities of practice simultaneously be these within a single organization or distributed across multiple organizations“ (ebd.: 313). Damit sind Grenzinfrastrukturen dazu geeignet, Arbeitszusammenhänge über Zeit und Raum hinweg zu koordinieren. Die Besonderheit ist, dass diese communities of practice (Bowker/Star 1999: 293) miteinander kooperieren, ohne dass es einen Konsens zwischen ihnen geben muss (Star 2004). Wie im Falle des WCS verfolgen „die beteiligten Wissenschaftlerinnen ein kongruentes gemeinsames Forschungsinteresse und -ziel […] und ohne, dass sie über ein einheitliches Verständnis der Methoden, Theorien und Gegenstände ihres Forschens verfügen [müssen]“ (Strübing 2014: 238). Was mit der infrastrukturellen Inversion in den Vordergrund gerückt wird, sind die eigentlichen Hintergrundelemente von Organisations- und Arbeitspraktiken. Grenzinfrastrukturen „ermöglichen den informationellen Grenzverkehr zwischen sozialen Welten, ohne dass sich diese dazu weitgehend aufeinander ausrichten müssten“ (Schubert 2017: 208). Um das zu erreichen, errichten Grenzinfrastrukturen ein „stable regime of boundary objects“ (Bowker/Star 1999: 313). Grenzinfrastrukturen schaffen ein Regime von Grenzobjekten, das lokale Variationen ermöglicht und gleichzeitig eine ausreichend kohärente Struktur aufweist, um die Anwendung aller organisationalen Instrumente wie Formulare und Statistiken zu gestatten (ebd.: 314). Zum Verständnis von Grenzinfrastrukturen ist es daher notwendig, zu begreifen, was es mit Grenzobjekten (boundary objects) auf sich hat.
Boundary objects und ihre Formen
Entwickelt wurde das Konzept der Grenzobjekte in einer wissenschaftshistorischen Fallstudie über die Einrichtung eines Naturkundemuseums für Wirbeltiere und über die Rolle von Amateuren sowie Professionellen (Star/ Griesemer 2017[1989]). Der Direktor des Museums, Grinnell, forderte bei der Entwicklung des Museums die Mitarbeit von „Verwaltungsmitarbeitern der Universität, von Professoren, Forschern, Kuratoren, Amateursammlern, privaten Sponsoren und Schirmherren, gelegentlichen Hilfskräften bei der Feldarbeit, Regierungsbeamten und Mitgliedern wissenschaftlicher Clubs“ (ebd.: 86). Bei der Organisierung der Vielfalt und Heterogenität von Kooperationen kamen aus Sicht von Star und Griesemer Grenzobjekte zum Einsatz.
„Boundary objects are those objects that both inhabit several communities of practice and satisfy the informational requirements of each of them. Boundary objects are thus both plastic enough to adapt to local needs and constraints of the several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites. They are weakly structured in common use and become strongly structured in individual-site use“ (ebd.: 297).
Grenzobjekte ermöglichen die Zusammenarbeit zwischen Gemeinschaften, sie erfüllen notwendigerweise „Informations- und Arbeitserfordernisse“ (Star 2017[2010]: 214). Hieraus folgt, dass nicht alle Objekte, die eine gewisse interpretative Flexibilität aufweisen, gleich Grenzobjekte sind. Gleichwohl fasst Star vieles unter das Phänomen, so unter anderem Theorien, Landkarten wie auch Autos (ebd.). Ein Auto kann aber nur dann ein Grenzobjekt sein, wenn es auf bestimmte Arbeitserfordernisse antwortet und zwischen Gemeinschaften genutzt wird. Es ist kein Grenzobjekt (Star 2017[2010]), wenn es lediglich von einer Person für das Pendeln zur Arbeit eingesetzt wird.
In ihrem Artikel über die „Struktur schlecht strukturierter Lösungen“ (Star 2017[1988]) arbeitet Star vier Formen heraus5, die diese Objekte annehmen können (ebd.: 144 f.):
  • ‚Repositorium‘ (das sind geordnete Stapel von Objekten, die auf standardisierte Weise indiziert werden; beispielsweise eine Website mit mehreren Unterseiten),
  • ‚Idealtypus‘ (Objekt wie eine Karte oder einen Atlas),
  • Gebiet mit sich überlagernden Grenzen‘ (gemeinsame Objekte, die dieselben Grenzen aufweisen, aber unterschiedliche interne Inhalte haben),
  • und als letztes, für die folgende Arbeit besonders relevante Form des Grenzobjektes sogenannte ‚Formulare und Etiketten‘ („standardized forms“).
Beim Grenzobjekt ‚Formulare und Etiketten‘ handelt es sich um solche Objekte, die in der Zusammenarbeit zwischen vertrauten Arbeitsgruppen zum Einsatz kommen können und die im Ergebnis zu „standardisierten Indizes und das, was Latour ‚immutable mobiles‘ nennen würde […]“ führen (ebd.: 145). Das heißt, es geht bei ‚Formulare und Etiketten‘ um Objekte, die in der Lage sind, Informationen über längere Distanzen hinweg und unveränderlich transportieren zu können. „Die Vorzüge solcher Objekte liegen in der Löschung lokaler Unsicherheiten“ (ebd.). Star veranschaulicht diese Grenzobjektform mit Hilfe eines Diagrammes.
Abbildung 4.1
Grenzobjektform Formulare und Etiketten‘.
(Quelle: Star 2017[1988]: 146)
Das von Star erstellte Diagramm (Abb. 4.1) lässt sich so lesen, dass ein Formular, das zentral in die Mitte gesetzt und mit einer Textur aus Querlinien versehen ist, in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen verschiedentlich Anwendung findet. Das zumindest deuten die kleineren, ebenfalls mit Querlinien versehenen Rechtecke an, die sich von dem zentralen Motiv in ihrer Größe und Form unterscheiden. Was im Diagramm und auch im Konzept Latours von immutable mobiles unterbelichtet bleibt, sind die „vielen kleinen Schritte, mit denen Information immer wieder neu übersetzt, re-repräsentiert und stabilisiert“ werden (Gießmann 2017: 163). Denn die Stabilisierung von ‚Formulare und Etiketten‘ sind die Ergebnisse von multiperspektivischen Übersetzungs- und Stabilisierungsprozessen, die sich im Rahmen der Möglichkeiten der entsprechenden Grenzobjekte abspielen. Gerade die Prozessperspektive von Grenzobjekten im Allgemeinen und von ‚Formulare und Etiketten‘ im Speziellen ermöglicht es, die doppelte „Vermachtung von Objekten“ (Strübing 2005: 283) sichtbar zu machen. Auf der einen Seite ist Macht ein Thema im Prozess der Aushandlung dessen, was in die Objekte eingeschrieben werden soll. Auf der anderen Seite ist der Umgang mit diesen Repräsentationen in den Grenzobjekten ein machtvolles Unterfangen, da sich hier Sichtweisen gegenüber anderen durchsetzen können6 (ebd.). Dementsprechend zeichnen sich ‚Formulare und Etiketten‘ gegenüber den immutable mobiles von Latour dadurch aus, dass sie einerseits die von Latour ins „analytische Off gedrängte ‚Mutabilität‘ von ‚immutable mobiles‘ in den Mittelpunkt gerückt“ (Strübing 2004: 227) werden und andererseits kommen „die Politiken des Repräsentierens und die Mikroprozesse der ‚Vermachtung‘ von Objekten“ (ebd.) in den Blick. Demzufolge besitzen Grenzobjekte, beispielsweise in Form von ‚Formulare und Etiketten‘, das besondere Spannungsverhältnis aus situativer Anpassungsfähigkeit bei gleichzeitiger Identität.
Die Abwendung von einzelnen Grenzobjekten hin zu Grenzinfrastrukturen lässt sich „als Versuch auffassen, die Skalierung von Grenzobjekten, ihre Verfestigung, Stabilisierung und Härtung nachzuvollziehen und, wo möglich, flexibel zu gestalten“ (Gießmann/Taha 2017: 42). Grenzinfrastrukturen sind im Sinne von Bowker & Star (1999) ein „Network of boundary objects“ (313). Verfestigte und stabilisierte Grenzinfrastrukturen bilden ein Ordnungssystem, das menschlichen wie nichtmenschlichen Partizipanten einen Ort in einem potenziell starren Raster zuweist. Mit der Fokussierung auf Grenzinfrastrukturen können auch machtanalytische Fragestellungen mit in die Analyse einfließen. „When an object becomes naturalized in more than one community of practice, its naturalization gains enormous power to the extent that a basis is formed for dissent to be viewed as madness or heresy“ (Bowker/Star 1999: 312). Bei einem gemeinschaftsübergreifenden Netzwerk aus Grenzobjekten generieren sich Asymmetrien im Hinblick auf Machtkonstellationen und Teilhabemöglichkeiten (Schabacher 2021). Grenzinfrastrukturen sind für Bowker und Star keine neutralen Netze, sondern wirkmächtige Agenten in der Herstellung von Asymmetrien. Neben der Kategorisierung von Personen spielen die Teilhabe an Infrastrukturen und der Aspekt der Mitgliedschaft in Gemeinschaften eine Rolle für Star und Bowker. “People live, with respect to a community of practice, along a trajectory (or continuum) of membership that has elements of both ambiguity and duration. They may move from legitimate peripheral participation to full membership in the community of practice“ (Bowker/Star 1999: 294). Nicht für jeden Partizipanten an einem solchen Netzwerk steht dasselbe Grenzobjekt zur Verfügung. Durch die Naturalisierung von Infrastrukturen geraten diese Asymmetrien sowie ihre politische Dimension in den Hintergrund und müssen aus der Perspektive der Inversion (wieder) freigelegt werden. Star und Co. haben das politische Anliegen, das sie mit der „Ethnographie von Infrastrukturen“ (2017[1999]) verfolgen, auch als die Analyse von „mannigfaltigen Mitgliedschaften, mannigfaltigen Marginalitäten“ tituliert (Star 2017[1990]: 264).
Alles in allem besitzen Grenzinfrastrukturen ein eigentümliches Sein: Sie sind Dinge und zugleich die Beziehung zwischen diesen Dingen (Larkin 2013: 329). Wie sich im Laufe der Arbeit zeigen wird, besteht die zu untersuchende Cyberinfrastruktur aus einer Reihe von digitalen Grenzobjekten. Bei der relationalen Perspektive, die von Bowker und Star ausgearbeitet wurde, handelt es sich um ein offen angelegtes, heuristisches Konzept, mit dem Praktiken, an denen computerbasierte Informationstechnologien als Infrastrukturen beteiligt sind, untersucht und auf ihre politische Dimension hin befragt werden können. An diesen kritischen Impuls soll angeknüpft werden, allerdings soll das Konzept von Star und Bowker vor dem Hintergrund neuerer infrastrucuture studies stärker im Lichte der digitalen Materialität heraus verstanden werden. Denn das Digitale spielte bei Bowker und Star meist nur am Rande eine Rolle. Dieser Aspekt wird seit rund 20 Jahren jedoch zunehmend hervorgehoben.

4.3.3 Digitale Infrastrukturen, eInfrastrukturen und Cyberinfrastrukturen

Mit dem Internet und einer damit verbundenen Dezentralität beginnen Autor:innen aus den STS, den HCI und den CSCW, die neue Materialität moderner Infrastrukturen gegenüber dem alten Typus abzugrenzen. Anstelle der großen technischen Systeme sind digitale Äquivalente getreten (Edwards 2009: 366). Diese sind in Sachen Robustheit und Zuverlässigkeit den physischen Systemen in Nichts nachstehend, werden aber nicht zentral, sondern lokal gesteuert. Aus Sicht der Protagonist:innen von Cyberinfrastrukturen und co. handelt es sich bei der Digitalisierung um eine entscheidende Transformation hin zu heterogenen und weit verteilten Netzen. In diesen Netzen kann die zentrale Steuerung durch eine Koordinierung ersetzt werden (ebd.). Ein Ausdruck dieser Umwälzung ist die Informationsverarbeitung, die sich gewandelt hat: “from individual computers and local networks to more distributed grid or cloud paradigms dependent on ubiquitous links to and through the global Internet” (ebd.).
Um die Jahrhundertwende entstanden im Rahmen der National Science Foundation, kurz NSF, eine Reihe von Workshops, Evaluationen und Berichten (Lee/Schmidt 2018), die sich mit den Auswirkungen des Internetworkings in der Wissenschaft auseinandersetzten. „The term ‘cyberinfrastructure’ was coined in the early 2000 s by a ‘Blue Ribbon’ panel formed by the NSF on the future of scientific computing in a publication colloquially referred to as the ‚Atkins Report‘“ (Lee/Schmidt 2018: 201). Der in den Diskurs als Atkins-Report eingegangene Beitrag von Atkins et al. (2003) legte den Schwerpunkt deutlich auf die technische Konnotation von Infrastrukturen und kreierte dafür die Substantivkonstruktion „Cyberinfrastructure“ (ebd.), womit auf die Neuartigkeit dieser Form von Infrastrukturen aufmerksam gemacht werden sollte. „If infrastructure is required for an industrial economy, then we could say that cyberinfrastructure is required for a knowledge-economy“ (Atkins et al. 2003: 5). Vor dem Hintergrund dieser Umwälzung referierte der Begriff der Cyberinfrastruktur auf eine Infrastruktur, basierend auf verteilter Computer-, Informations- und Kommunikationstechnologie, die ineinander verschachtelt ist und mehrere Funktionsbereiche abdeckt (ebd.). Nichtsdestotrotz beschränken sich Cyberinfrastrukturen nicht allein auf ihre technischen Komponenten.
„The base technologies underlying cyberinfrastructure are the integrated electro-optical components of computation, storage, and communication that continue to advance in raw capacity at exponential rates. Above the cyberinfrastructure layer are software programs, services, instruments, data, information, knowledge, and social practices applicable to specific projects, disciplines, and communities of practice. Between these two layers is the cyberinfrastructure layer of enabling hardware, algorithms, software, communications, institutions, and personnel“ (ebd.: 5).
Schon wenige Jahre später stellte sich eine semantische Verschiebung ein, wodurch der Begriff der Cyberinfrastruktur stärker in das Umfeld der Arbeiten von Star, Ruhleder und Bowker gerückt wurde und sich der Fokus auf das Technische erst abschwächte und später sogar ganz nivellierte (Lee/Schmidt 2018). Zunächst erschienen Beiträge von Finholt & Birnholtz (2006) und im selben Jahr von Lee et.al (2006) auf der Conference on Computer supported coorperative work. Beide Arbeiten schlossen an das technische Verständnis des Atkins Reports an, ergänzten dieses jedoch um ‚soziale‘ Aspekte. So hoben Lee et al. (2006) eine „human infrastructure“ (Lee et al. 2006: 483) gegenüber einer technischen Cyberinfrastruktur hervor. Explizit bezugnehmend auf Star und Ruhleder bestand ihre Intention darin, spezifische soziale Praktiken, die das Technische unterstützen, zu beschreiben (ebd.: 484). Das heißt, einer technischen Infrastruktur stellten Lee et al. (2006) eine menschliche Infrastruktur zur Seite, die für deren Funktionieren und Erhaltung essenziell ist. Als Fortsetzung, zu der aus ihrer Sicht artefaktischen Infrastruktur von Star und Ruhleder wollten diese Autor:innen beobachten, inwiefern sich die menschliche Infrastruktur7 in Wechselwirkung mit der artifiziellen Infrastruktur Eigenschaften sowie Dimensionen teilten (ebd.). Sie kamen zu dem Schluss: „They [human and artifactual] recede into the background; they become transparent in use“ (ebd.: 491).
Während Lee et al. (2006) eine technische und eine menschliche Infrastruktur voneinander trennten, um sodann die menschliche Infrastruktur mit denselben Eigenschaften zu beschreiben, ebneten wiederum Edwards et al. (2007) diese Trennung ein. Abermals mit Hilfe vom NSF gesponsort, erschien 2007 erneut ein Report, dieses Mal geschrieben von Edwards, Jackson, Bowker und Knobel (2007), welche unter Cyberinfrastruktur ein Set aus organisationalen Praktiken, technischer Infrastruktur und sozialen Normen fassten (Edwards et.al 2007: 6). Unter Berufung auf das Grenzinfrastruktur-Konzept galten Cyberinfrastrukturen nicht als technische Systeme, stattdessen handelt es sich aus ihrer Sicht um große Netzwerke, die es lokal kontrollierten Systemen ermöglichen, mehr oder weniger nahtlos zu interagieren (ebd.: 11).
Wo Lee et al. (2006) das Dinghafte von Cyberinfrastrukturen beibehielten, betonten Edwards et.al (2007; auch 2009) die Relationalität – jenes Da-Zwischen-Sein, das im Konzept der Grenzinfrastrukturen einen besonderen Stellenwert innehat. Unter diesen Vorzeichen griff die Arbeit von Edwards et al. (2007) auf dieselben Dimensionen von Grenzinfrastrukturen zurück, die schon von Star und Ruhleder ausgearbeitet worden waren. Die wirkliche Neuerung stellte das Digitale dar, welches die Relationalität mit durchdringt und als zusätzliche Komponente mit integriert wird. Für Edwards et al. (2007) ist Cyberinfrastruktur lediglich ein Schlagwort in einer langen Reihe von Phrasen. “Similarly, the NSF, like other research funding agencies, cycles through new buzz phrases about once every five years, most recently collaboratories (late 1990 s) to cyberinfrastructure (early 2000 s)“ (Edwards et al. 2007: 365).
Zentral für diesen Zweig der Forschung zur Cyberinfrastruktur ist nicht die Technologie als solche, sondern der Bezug zur Praxis. Dieser hat eine leitende Funktion für die Analyse (Taubert 2019: 61). Das Ziel dieses Zweigs besteht darin, den Begriff der Cyberinfrastruktur in Bezug auf das umfassende Ökosystem zu erweitern (Star/Ruhleder 1996/2017). Trotz oder gerade wegen der damit verbundenen Ausweitung der Cyberinfrastruktur-Studien wurde das Konzept sehr unübersichtlich. „By this time, ‘infrastructure’ was conceived of as including, in addition to the technical substrate, services that overlay the technical substrate; skilled staff; organized practices; social norms; virtual organizations; and […] anything that routinely and unproblematically supports any organized practices“ (Lee/Schmidt 2018: 203).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den letzten Jahren vermehrt Forschungen zu Cyberinfrastrukturen durchgeführt wurden, die sich – in unterschiedlichem Ausmaß – an das Vokabular von Star und Ruhleder anlehnen. Es gibt einerseits eine verstärkt technisch-artifizielle und substantialistische Sichtweise auf Cyberinfrastrukturen, die diesen eine humane Infrastruktur zur Seite stellen (u. a. Beitz et al. 2009, Beitz et al. 2010, Lee et al. 2010). Auf der anderen Seite des Spektrums stehen Arbeiten, die eher einer relationalen Perspektivierung zuzuordnen sind (Pollo et al. 2007, Pipek/Wulf 2009, Ribes 2006). Entgegen etwaigen Kritiken, die etwa von Lee/Schmidt (2018) gegen das Konzept der Infrastruktur allgemein hervorgebracht wurden, sollte in der Heterogenität der Arbeiten keinen Mangel oder gar eine Fehlentwicklung gesehen werden. Die Ambivalenz liegt im Gegenstand selber: „Infrastructures of all kinds are fair game, both material and cultural; indeed, the very concept suggests the impossibility of making that distinction firmly“ (Peters 2015: 43). Statt eine Perspektive zu negieren, ist es sinnvoll, die Dimensionalität, die im Konzept der Grenzinfrastruktur steckt, als produktives Moment aufzunehmen und als sensibilisierendes Konzept zu nutzen. Die von Star und Ruhleder ausgearbeiteten Dimensionen ließen sich dann etwa als Distributionen entlang zweier Achsen verstehen (Abb. 4.2), bei der die eine sozial/technisch und die andere räumlich (lokal/global) verfasst ist8 (Schabacher 2013: 137).
Abbildung 4.2
Dimensionen von Infrastrukturen entlang zwei Achsen.
(Quelle: Bowker et al. 2010: 101)
Die Eigenschaften der ‚Standardisierung‘, des ‚Zusammenbruchs‘, der ‚Transparenz‘ und der ‚installierten Basis‘ werden allesamt als technische Attribute verstanden, während das ‚Eingebettetsein‘ oder die ‚Mitgliedschaft‘ als stärker sozial geprägte Eigenschaften erscheinen (Abb. 4.2). Indem das sensibilisierende Konzept der Grenzinfrastruktur die Dichotomie von sozial/ technisch unterläuft und es stattdessen als ein Kontinuum auffasst, eignet sich der Infrastrukturbegriff als „soziotechnischer Schlüsselbegriff […], der die Kooperationsbedingungen, aber auch die ‚kooperative Materialität‘ von Einzelmedien und intermedialen Verbünden“ erschließen kann (Schüttpelz/ Gießmann 2015: 26). Die Sicht auf Infrastrukturen, die auch in Konzepten der Cyberinfrastrukturen mit aufgenommen wurden, ist nach Bowker et al. (2010) eine ökologische (Bowker et al. 2010: 101). Aus dieser ökologischen Perspektive heraus erfordert die Untersuchung von Infrastrukturen, diese als eine Reihe von verteilten Aktivitäten zu betrachten.
Hiermit ist ein klassisches Anliegen der Medientheorie erreicht: Medien, wie z. B. Infrastrukturen, sind im Sinne von „enabling environments“ (Peters 2015: 46) zu verstehen. „The ecological vocabulary of systems and environments would, in this view, provide a tool, with which to envision the mutual interdependence of human and nonhuman actors, and thereby a means of resistance to the forces that would want to ignore this interconnectedness“ (Heise 2012: 159). Die vorliegende Arbeit knüpft an dieses ‚ökologische‘ Vokabular von Cyberinfrastrukturen an, nimmt jedoch eine stärker technikorientierte Verortung ein. Aus Sicht der ökologischen Perspektive gleichen Infrastrukturen ermöglichenden Umgebungen. „Both environments and media are habitats buzzing with the informational and energetic provisions that nourish, undergird and destroy forms of life (Peters 2015: 47.). Es ist von entscheidender Bedeutung, die organisierten Praktiken zu untersuchen, in die die Cyberinfrastruktur eingebunden ist, die sie instand hält und betreibt – sie als ermöglichende Umgebung zu konzipieren. Aber, und hier stimme ich Lee und Schmidt (2018) zu, ist es eine Quelle massiver Verwirrung, wenn unter Infrastruktur auch alle Praktiken, Menschen, Fähigkeiten etc. subsumiert werden, die die Infrastruktur ermöglicht, strukturiert, verstärkt oder selektiert (Peters 2015: 47). Aus ‚ökologischer‘ Perspektive geht es um die wechselseitige Konstitution von Menschen und Technologie, um das, was unter sozio-technischen Konstellationen firmiert wird (Rammert/ Schulz-Schaeffer 2007). Cyberinfrastrukturen sollen technisch verstanden werden, wobei der Fokus dieser Arbeit auf der partikularen technischen Struktur und den Praktiken liegt, die sie ermöglichen, instandhalten, pflegen, mit Informationen ‚füttern‘ und unterstützen, einschließlich der Praktiken, die ansonsten möglicherweise nicht miteinander in Verbindung stünden (Lee/Schmidt 2018: 216).
Der vorliegenden Studie liegt ein praxistheoretisches Verständnis von Cyberinfrastruktur zugrunde, das sich vorrangig auf organisationelle Zusammenhänge konzentriert (Schüttpelz/Gießmann 2015: 27). Wie bereits an der sozialtheoretischen Fundierung dieser Arbeit deutlich wurde, heißt das aber auch, Cyberinfrastrukturen eine gewisse Partizipantenrolle zuzuschreiben. Digitale Technologie und Soziales sollen nicht gegenübergestellt werden, jedoch gehen sie auch nicht ineinander auf. Cyberinfrastrukturen und ihre einzelnen digitalen Grenzobjekte erhalten nur in der Relationalität „ihre Bedeutung und Wirkmacht“ (Kalthoff et al. 2016: 30). Damit ist nicht gleichzusetzen, dass die Dinge „als austauschbare Produkte dieser Relationen anzusehen“ (ebd.) sind. Es wird hier die Auffassung vertreten, dass Dinge, Grenzobjekte und Grenzinfrastrukturen widerstandsfähig sind: Cyberinfrastrukturen und ihre digitalen Grenzobjekte haben eine Eigenständigkeit, die sich der sozialen Praxis des Umgangs oder des Gebrauchs entzieht.
Die spezifische Materialität von Cyberinfrastrukturen soll in Abschnitt 4.3.4 erläutert werden. Anschließend wird das Modell der Affordanzen in Abschnitt 4.3.5 erläutert, welches für die empirische Arbeit grundlegend ist. Am Ende (Abschn. 4.3.6) werde ich alle Gedanken zu einem Konzept zusammenführen.

4.3.4 Digitale Materialität der Cyberinfrastruktur

Spätestens seit den 1990er Jahren rücken die unvorstellbaren Eigenschaften neuer, digitaler Technologien in den Fokus populärer Diskurse. Unter virtueller Realität, Cyberspace oder Hypertext gelangen BuzzWords ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die suggerieren, dass es sich bei digitalen Technologien um immaterielle, referenzlose Datenstrukturen handelt (van Boomen 2009: 7). Auch Cyberinfrastrukturen müssen in diesen Kontext gestellt werden. „New media and their effects were thus framed as being ‘hyper’, ‘virtual’, and ‘cyber’ – that is, outside of the known materiality, existing independently of the usual material constraints and determinants, such as material bodies, politics, and the economy“ (ebd.: 8). Entgegen dieser Position sehen medienkritische Ansätze darin einen hegemonialen Mythos der Immaterialität, der durch die „Beschwörung einer Referenzlosigkeit der Zeichen“ (Krämer 2007: 12) dem postmodernen Denken nahesteht. Der Mythos der Immaterialität digitaler Medien resultiert, Kirschenbaum (2008) folgend, aus der verengten Orientierung an der Oberfläche – den Interfaces und den dort ablaufenden Performanzen der Nutzer:innen (Burkhardt 2018: 82) – der Medien. „At the core of a medial ideology of electronic text is the notion that in place of inscription, mechanism, sweat of the brow (or its mechanical equivalent steam), and cramp of the hand, there is light, reason, and energy unleashed in the electric empyrean“ (Kirschenbaum 2008: 39). In Absetzung zur medialen Ideologie des Immateriellen gibt es Positionen, die der Suggestion eines „referenzlosen Flotierens der Zeichen” (Krämer 2007: 13) im Digitalisierungsdiskurs und dessen semiotischer Perspektive durch eine „Art ‚Dingsemantik’” (ebd.) etwas entgegenhalten und den Diskurs erden.
Eine besondere Radikalität nimmt diesbezüglich die Medienwissenschaft deutscher Provenienz in Persona von Kittler ein. Auf prägnante Weise kommt dies in Kittlers vertretener These zum Vorschein, den an der Interface-Oberfläche erscheinenden Sinn als das „Abfallprodukt strategischer Programme“ (Kittler 1986: 8) und insofern als bloßes „Blendwerk“ (Kittler 1986: 7) zu bezeichnen. Mit seinem berühmt gewordenen Artikel „Es gibt keine Software (1993) führte Kittler den „babylonischen Turm“ (ebd.: 234) an Programmierhochsprachen auf „elektrische Potentiale“ (ebd.: 232) zurück. Die Feststellung, dass „kein Computerprogramm ohne entsprechende elektrische Ladungen in Siliziumschaltkreisen“ (ebd.: 236) je laufen könnte, impliziert eine „Vorgängigkeit von Hardware“ (ebd.: 237). Mit Hardware, und das ist durchaus entscheidend, meinte Kittler den maschinenlesbaren Code (sowie Assembler), der von der Syntax höherer Programmiersprachen zu unterscheiden sei. „Ausgehend von der Kritik höherer Programmiersprachen und deren Referenz auf menschliche(n) Sinne und Sinn wird ‚Software‘ bei Kittler zur Chiffre für sämtliche Formen und Folgen der Computerprogrammierung, die auf sogenannte Endanwender gerichtet sind“ (Heilmann 2018: 165). Heilmann (2018) formuliert treffend Kittlers Diktum von der Software um, so dass es für Menschen „überhaupt nur Software“ gebe (ebd.: 166). Sprich, die meisten Nutzer:innen können digitale Artefakte nur über Software bedienen – Assembler und Co. blieben ihnen, zumindest seitdem sich Betriebssysteme und erste Programmiersprachen wie BASIC oder COBOL ab den 1960er Jahren durchgesetzt haben, verborgen. Was also in der Tiefe passiert, ist weitgehend eine Blackbox.
Die Entschleierung eines immateriellen Mythos, der eine generelle Transformation von Atomen zu Bits diagnostiziert und eine sukzessive Dematerialisierung propagiert, um einer Überbetonung des Dinghaften zu begegnen, geht jedoch auch am Kern der Sache vorbei. Hiermit ist noch nicht der rettende Ariadnefaden gefunden, von dem Krämer (2007) spricht und der aus der Zeichenwelt hinausführt. „Sicherlich sind feste Verkörperungen technischer Abläufe in materiellen Trägermedien wie metallischen Maschinen oder Speichermedien aus Silizium notwendig, machen aber nicht das Wesen moderner Technologien aus“ (Rammert 2016: 108). Um zu verstehen, was das Besondere an digitaler Materialität ist, braucht es ein anderes Vokabular, als es die dichotome Sprechweise immateriell/materiell anbietet, denn weder schwebt die Software als metaphysische Substanz in einem virtuellen Raum, noch können digitale Artefakte ausgehend von ihren Siliziumschaltkreisen oder ihrem Maschinencode verstanden werden. „Denn was nach der Reduktion um Software von einem Computer übrigbleibt, ist eben bloße Hardware. Und die interessiert, wenn es um die spezifische mediale Leistung von Computern geht, wenig“ (Heilmann 2019: 39). Stattdessen gelte es, aus Sicht von Autor:innen wie Kallinikos et.al (2013), Kirschenbaum (2008), Yoo et.al (2010) oder Schäfer (2011), die digitale Materialität aus ihrer verschachtelten Komplexität heraus zu verstehen. Sie alle entwickeln mehr oder weniger systematisch Konzepte aus, in denen es mehrere ontologische Modifikationen (Passoth 2017) oder Topologien (Burkhardt 2015) gibt, die das Digitale auszeichnen.
Für Kirschenbaum (2008) bildet den Ausgangspunkt seiner Argumentation die Kritik an der “medial ideology“ (ebd.: 50), in deren Bann sich auch Medienwissenschaftler:innen wie Manovich (2001) befinden. Kirschenbaum fasst unter dem Begriff der medialen Ideologie, Positionen zusammen, die elektronische Texte als vergänglich, austauschbar, identisch, formbar und flüssig verstehen (ebd.). Anhand der Kritik dieser geläufigen Mythen über das Digitale führt er seine materialistische Entzauberung ein: „[T]here is no computation without data’s representation in a corresponding physical substratum, the specifics of which very quickly get us into a messy world of matter and metal“ (ebd.: 27). Und weil digitale Technologien diese „irreduzible materielle Seite besitzen, hinterlassen digital generierte und prozessierte Daten Spuren“ (Rothöhler 2021: 86). Gleich einem Spurenleser gilt Kirschenbaums Interesse dieser tieferliegenden, physikalischen Materialität, auf der „jede Informationseinheit als einzigartige ‘Einschreibung‘“ (Heilmann 2010: 96) als ein materielles Substrat existiert. Er bezeichnet sie als forensische Materialität.
„In brief: forensic materiality rests upon the principle of individualization (basic to modern forensic science and criminalistics), the idea that no two things in the physical world are ever exactly alike. If we are able to look closely enough, in conjunction with appropriate instrumentation, we will see that this extends even to the micronsized residue of digital inscription, where individual bit representations deposit discret legible trails that can be seen with the aid of a technique known as magnetic force microscopy“ (ebd.: 10)
Selbst bei einem Löschvorgang bleiben Spuren von Daten auf dem Datenträger, die auch erst dann restlos getilgt sind, wenn sie bis in den Nanobereich des beanspruchten Speicherplatzes überschrieben wurden (Rothöhler 2021: 89). Mit der forensischen Materialität sind nun diese stets präsenten Restbestände bzw. Rückstände von Speichervorgängen gemeint. Demgegenüber konzipiert Kirschenbaum eine formale Materialität, die sich auf die symbolische Ebene von digitalen Objekten bezieht; etwa Standards, Prozeduren, Protokolle und Formate, die deren Gestalt, Beziehung und Möglichkeiten formieren“ (Engemann 2010). Das heißt, aus der Perspektive der logisch-abstrakten Operationen „ist jeder Akt der Speicherung, Übertragung und Verarbeitung digital kodierter Daten hinsichtlich deren formaler Materialität mit restlos identischem Ausgang wiederholbar“ (Heilmann 2010: 96).
Aber auch diese Auffassung greift zu kurz, denn Kirschenbaum betrachtet die formale Materialität ausschließlich aus der Perspektive der technischen Zeichenverarbeitung. Bei der formalen Materialität handelt es sich allerdings um eine besondere Art von Zeichen (Nake 2001: 739). „The screen is the surface, the display buffer is the subface of the algorithmic thing that the two of us – we ourselves and the program – are engaged in“ (Nake 2008: 105). Mit Nake (2008) gesprochen gibt es bei digitalen Artefakten eine sichtbare Oberfläche (surface), die auch die Funktion des Interfaces für Nutzer:innen annehmen kann, und die bearbeitbare Unterfläche (subface), was so ziemlich gleichzusetzen ist mit dem Begriff der formalen Materialität bei Kirschenbaum. „Die Oberfläche ist sichtbar. Sie ist für uns. Die Unterfläche ist unsichtbar. Sie ist für den Computer. Die Unterfläche kann der Computer verändern, er kann sie manipulieren“ (Nake 2008: 149). Das Medium der unsichtbaren Maschine ist insofern der digitale Code, was sowohl den Code in höheren Programmiersprachen als auch Assembler und Compiler beinhalten kann, während auf der Oberfläche des Bildschirms die sinnliche Dimension des Digitalen in Erscheinung tritt. Bei der Unterscheidung von Sub- und Surface ist es bedeutend, dass beide Ebenen aneinandergekoppelt sind. „What is usually called the interface between human and machine, appears as the coupling of surface and subface. Both are machine-bound. Both are faces at which one process ends, and another process starts“ (Nake 2007: 107). Letztlich ist damit die „Modellierung und parametrisierbare Verwendung von Materialität innerhalb von Software“ (ebd.: 62) angesprochen.
Insgesamt ist es die Besonderheit digitaler Materialität, dass Daten gespeichert, präsentiert, artikuliert, prozessiert sowie selektiert werden können und all das in einer geschlossenen Prozesskette abläuft. Winkler (2004) vergleicht den Computer entsprechend mit einem Fließband, in dem die heterogenen Einzelprozesse zu einer Kette verknüpft sind (ebd.: 213). Der Computer stellt ein „Kontinuum her zwischen den Modi der Übertragung, der Speicherung und der Möglichkeit, Signifikanten zu prozessieren/permutieren“ (ebd.). Bei bisherigen Medien wie dem Buch fallen diese Modi weit auseinander: „[B]ücher werden mit anderen Mitteln hergestellt als verteilt und gelagert, und selbst die Videokassette muß noch, wenn sie zirkulieren will, physisch transportiert werden“ (ebd.)
Vor dem Hintergrund des digitalen Triptychons nach Nake (2008) existieren Cyberinfrastrukturen auf den Ebenen einer forensischen Materialität (Festplatten, Prozessoren), einem Subface (Algorithmen, Codes) und des Surface (Graphical user interfaces) – selbstverständlich müssen diese drei Ebenen relational gefasst werden – es handelt sich nicht um autonome Entitäten. Des Weiteren zeichnet sich digitale Materialität dadurch aus, dass die drei Ebenen zwar in Relation zueinanderstehen, diese Relationalität aber keinen Determinismus beinhaltet (Kallinikos et.al 2013: 359). Beispielsweise determiniert ein digitaler Code nicht seine Darstellungsweise auf der Benutzeroberfläche und auch Dateiformate, etwa Bilddateien, können unterschiedlich visualisiert werden. Auf der Ebene des Subfaces besitzen digitale Artefakte eine Granularität, die sie von anderen Medien unterscheidet. „Physical objects and, even more so, analog systems are seldom granular. They are made of blocks or elements thus bundled as to be not readily decomposable and traceable down to elementary units“ (ebd.). Algorithmen und Codes sind außerdem „editable“ und „open“ (ebd.). Digitale Artefakte sind im Vergleich zu Büchern auf der Subface-Ebene grenzenlos: Ein Dateiformat, wie beispielsweise eine Bilddatei, kann jederzeit seinen Speicherort ändern. Gleiches gilt, wenn die Datei in einer Cloud gespeichert ist, auf die dauerhaft vom Computer aus zugegriffen werden kann. „Any digital contents (audio, video, text, and image) can be stored, transmitted, processed, and displayed using the same digital devices and networks“ (Yoo et.al 2010: 729). Insofern sind digitale Codes, Dateien etc. verteilt und selten auf eine einzige Quelle beschränkt (Kallinikos 2013: 360). Cyberinfrastrukturen unterscheiden sich von analogen Infrastrukturen dadurch, „dass sie Informationsverarbeitung und -distribution quasi in Echtzeit leisten, hochgradig skalierbar sowie recht flexibel (re-)kombinierbar sind“ (Ley/Seelmeyer 2020: 377).
Mit der Beschreibung und Analyse dieser Ebenen, sprich der Analyse der Cyberinfrastruktur in ihrer digitalen Materialität, können keine sachlogischen Aussagen über etwaige Praktiken getroffen werden, die sich mit ihnen verbinden. Die drei Ebenen erzwingen für sich oder in ihrem Zusammenspiel keine Praktiken, sie fordern nicht mittels eines kommunikativen Aktes zu etwas auf. Die Differenzierung dient jedoch dazu, den methodischen Zugriff und Analysefokus zu schärfen. Denn in der nachfolgenden Studie bleibt die forensische Materialität weitgehend ausgeblendet, stattdessen liegt der Fokus auf dem, was Nake mit Subface und Surface beschreibt. Besonderer Schwerpunkt liegt in der Surface der einzelnen digitalen Grenzobjekte.
Erst im Gebrauch, in der Einbindung in Praktiken, klärt sich die Bedeutung von digitalen Artefakten. Die Ebenen „sind [Hervorh. im Original] nicht, sondern werden gemacht, eingerichtet, konfiguriert, verteidigt, bekämpft, umgestaltet und entsorgt“ (Passoth 2017: 69). Ganz dem prozessualen und relationalen Verständnis folgend, geht es in der vorliegenden Studie um die ‚Cyberinfrastruktur in Aktion‘, um ihr Stattfinden. Diese Relationalität soll gegenstandsgeleitet, kurz entfaltet werden.

4.3.5 Cyberinfrastrukturen in Aktion

Als Akteure manifestieren sich Cyberinfrastrukturen ausschließlich in Praktiken, in welchen sie zugleich als „Effekte in Mitleidenschaft gezogen werden“ (Schüttpelz 2016: 237). Unter kulturalistischen Vorzeichen fragt die vorliegende Arbeit im Anschluss an Couldry (2004) oder Hörning (2004) nicht nach festgelegten Funktionen von Cyberinfrastrukturen. „Die Technik gibt in diesem Verständnis ihre Bedeutung nicht einmal mehr ihr ‚Funktionieren‘ im Verwendungskontext vor, sondern gewinnt sie in kontextspezifischen Aneignungs- bzw. ‚Kultivierungsprozessen‘“ (Hörning/ Dollhausen 1997: 29). Daran anschließend soll die Relationalität ins Zentrum gerückt werden. Es gilt mit Couldry (2004: 118) zu fragen: „What types of things do people do in relation to media? And what types of things do people say in relation to media?“. Konkret auf den Untersuchungsgegenstand bezogen, müsste es lauten: What types of things do people with cyberinfrastructures in social organizations? Oder anders formuliert: Wie organisieren sich Menschen mit Cyberinfrastrukturen und welche organisationale Ordnungen entstehen?
Eine relationale Perspektive auf digitale Technologien distanziert sich von der Annahme, Technologie sei gestalt- oder formlos und könne nach Belieben gestaltet werden. Gleichzeitig wird in dieser Perspektive der Technologie keine ‚letzte‘ Bedeutung, kein ‚eigentliches‘ Ziel und kein ‚immanenter‘ Zweck zugesprochen. Übereinstimmend mit konstruktivistischen Positionen kann zugestanden werden, dass es „zwar prinzipiell den jeweiligen kulturellen Zusammenhängen überlassen bleibt, die Technik für sich sinnhaft auszuformen, dass sich die Prozesse der Bedeutungszuweisung jedoch im technischen Artefakt zu nicht beliebigen Bedeutungskomplexen verdichten“ (Hörning/Dollhausen 1997: 29). Weder determinieren technologische Artefakte die Praktiken, noch handelt es sich um ein völlig offenes Geschehen, sondern um einen „fortlaufenden Prozess“ (Zillien 2008: 177) der wechselseitigen Bezugnahme. „[T]hey do set limits on what it is possible to do with, around, or via the artefact“ (Hutchby 2001: 453). In der aktuellen praxeologischen Literatur ist der Affordanzbegriff zu einem wesentlichen konzeptuellen Baustein in der Analyse des Verhältnisses von Menschen und Technologie avanciert. Allerdings muss der Affordanzbegriff mit Hilfe eines relationalen Verständnisses gegen seine mögliche, substantialistische Vereinseitigung abgegrenzt werden.
„Der Begriff der affordance geht auf den amerikanischen Wahrnehmungspsychologen James J. Gibson (1979) zurück und lässt sich als Angebotscharakter eines Objektes definieren“ (Zillien 2009: 163). Gibson knüpft mit dem neuentwickelten Begriff, für den es so keine Entsprechung im Deutschen gibt, an das englische Verb ‚to afford‘ an und zielt auf ein relationales Verhältnis von Umwelt und Organismus. „The affordances of the environment are what if offers the animal, what it provides and furnishes, either for good or ill“ (Gibson 2014: 119). Im Gegensatz zu einer gegenständlichen Betrachtungsweise sind Affordanzen „relative to the animal“ (ebd.: 120). Eine Oberfläche kann „walk-on-able and run-over-able“ in Bezug auf ein spezifisches Tier, Organismus oder Mensch sein. „Sie sind zugleich real und existieren doch nur in der Relation zwischen dem jeweiligen Organismus und seiner Umwelt“ (Schröder/Richter 2022: 149).
Gibsons Arbeit changiert zwischen einem relationalen und substantialistischen Affordanzverständnis, was entsprechend ambivalente Lesarten seines Konzeptes in den Medienwissenschaften und anderen Feldern nach sich gezogen hat (Schröder/Richter 2022). Um einen produktiven Affordanzbegriff zu entwickeln, gilt es, einen technologischen Determinismus sowie einen arbiträren Sozialkonstruktivismus zu vermeiden. „The affordances of an artefact are not things which impose themselves upon humans´actions with, around, or via that artefact“ (Hutchby 2001: 453). Hutchby folgend sind Affordanzen relational.
„Affordances are functional in the sense that they are enabling, as well as constraining, factors in a given organism’s attempt to engage in some activity, be it walking, hiding, hunting, photocopying a document, making a phone call, and so on. Affordances can also shape the conditions of possibility associated with an action: it may be possible to do it one way, but not another. The relational aspect draws attention to the way that the affordances of an object may be different for one species than for another [Hervorh. im Original] “ (Hutchby/ Barnett 2005: 151).
Der relationale Charakter zeichnet sich dadurch aus, dass ein digitales Artefakt materielle Eigenschaften besitzen kann – diese aber noch keine Affordanzen sind. Digitale Technologien – und so eben auch Cyberinfrastrukturen – verfügen über materielle Eigenschaften, jedoch sollten diese Eigenschaften nicht per se mit Affordanzen verwechselt werden (Kammer 2020). „[T]here is not one but a variety of ways of responding to the range of affordance for action and interaction that a technology present“ (Hutchby 2001: 353). Das Interface eines Programmes oder seinen Code zu analysieren, beschreibt materielle Eigenschaften. Affordanzen emergieren allerdings erst aus dem wechselseitigen Verhältnis im Rahmen eines praktischen Vollzugs. Digitale Materialität existiert, selbst wenn sie von den Akteuren nicht verwendet wird, aber sie manifestiert sich in Form von Affordanzen, wenn sie praktisch vollzogen wird (Hutchby/Barnett 2005: 152).
Besonderheit digitaler Materialität ist, dass die visuellen Eigenschaften in Form von symbolischen Zeichen – oder besser: Spuren (Krämer 2007) – überwiegen und für die meisten Nutzer:innen allein das Surface in Erscheinung tritt (Heilmann 2019). „Spuren repräsentieren nicht, sondern präsentieren. Und überdies: Wie alle Dinge zeigen sie nur und reden nicht“ (Krämer 2007: 16). Da sie nicht von sich aus reden, müssen die menschlichen Partizipanten über ein besonderes Wissen verfügen, um das Gesehene einzuordnen und die visuellen Spuren zu lesen. „Die Affordanzen der Geräte, ihre praxisbezüglichen Eigenschaften und Vermögen, werden nur dann zu realen Gebrauchsmöglichkeiten, wenn sie auf entsprechende Realisierungsdispositionen bei den Akteuren treffen“ (Alkemeyer/ Schmidt 2006: 576). Aufgrund fehlender haptischer Eigenschaften sind digitale Artefakte weitaus abhängiger vom praktischen Wissen der menschlichen Partizipanten als es beispielsweise bei einem Fußball der Fall sein mag. Für beide Artefakte – Fußball und digitale Artefakte – gilt jedoch, dass Affordanzen aufgrund ihres relationalen Charakters emergente Eigenschaften markieren (Schröder/ Richter 2022: 159). Affordanzen sind nicht in die Geräte eingeschrieben, sondern „emergieren Gibson zufolge immer erst aus dem Wechselverhältnis der materialen Eigenschaften des Objekts und der körperlichen Disposition des Wahrnehmenden“ (Hoklas/Lepa 2017: 284).
Hiermit geht eine Verschiebung in der analytischen Perspektive einher, denn es gilt grundlegend, den materiellen Eigenschaften mehr Aufmerksamkeit zu schenken (Hutchby 2001: 450). Eine Engführung von Affordanzen als in den Dingen angelegten Strukturmerkmalen muss dabei jedoch überwunden werden. Je nach Forschungsinteresse ließe sich dabei in den Blick nehmen, was eine Technologie für einen Menschen in praxi leisten kann. Hierfür ist es sinnvoll, sich seiner materiellen Eigenschaften (Abschn. 5.​3.​2) zu vergegenwärtigen.

4.3.6 Das sensibilisierende Konzept der Cyberinfrastruktur

Alles in allem möchte ich mein für die Untersuchung leitendes, sensibilisierendes Konzept von Cyberinfrastrukturen zusammenfassen und nochmals verdeutlichen, was Cyberinfrastrukturen von anderen Formen digitaler Informationstechnologie unterscheidet. Hierzu greife ich das von Star und Ruhleder entwickelte Konzept der Grenzinfrastruktur wieder auf und verbinde es mit Arbeiten zu digitaler Materialität (siehe auch Taubert 2019).
Von einer Cyberinfrastruktur kann nur dann sinnvoll gesprochen werden, wenn sie zum Ersten eine gewisse Reichweite besitzt. Sie verkoppelt das Lokale und das Globale miteinander, das heißt, eine Cyberinfrastruktur vernetzt mehrere Gemeinschaften miteinander und besteht aus einem stabilen Regime von digitalen Grenzobjekten, die in den Gemeinschaften situativ zum Einsatz kommen. Cyberinfrastrukturen besitzen insofern die Eigenschaft, dass das Lokale jeweils über sich hinausweist und mit einer übergreifenden Ordnung verknüpft ist. Daran anschließend sind sie zum Zweiten modular, vielschichtig und komplex aufgebaut. Cyberinfrastrukturen konstituieren sich aus „einem ganzen Korpus von gegenseitig aufeinander verweisenden Dokumenten und Instrumenten, wie Dienstanweisungen, Prozessbeschreibungen, Formularvorlagen, Diagnosetabellen oder Checklisten“ (Ley/Seelmeyer 2020: 383). Wegen ihrer Lokalität besitzen sie in den Gemeinschaften eine unterschiedliche Bedeutung, was dazu führt, dass sie niemals von oben einfach geändert werden können. Zum Dritten zeichnen sie sich in ihrer Verwendung durch Transparenz aus, indem sie bei der Erledigung von Aufgaben in den Hintergrund rücken. „[D]as Selbstverständliche ihrer Nutzung in ‚communities of practice‘ ist dabei als eine Art ‚collective forgetting‘ zu verstehen, in der sie geradezu naturalisiert werden“ (Schabacher 2013: 139). Damit – zum Vierten – treten Cyberinfrastrukturen erst aus dem Zustand der Naturalisierung für die Nutzenden hinaus, wenn sie Zusammenbrechen oder Störungen aufweisen. Fünftens gelten digitale Technologien dann als Cyberinfrastrukturen, wenn sie spezifische Standards verkörpern. Und zu guter Letzt zeichnet sich die Cyberinfrastruktur durch eine digitale Materialität aus. Das heißt, sie finden auf den Ebenen einer forensischen Materialität (Festplatten, Prozessoren), einem Subface (Algorithmen, Codes, relationaler Datenbank) und des Surface (Graphical user interfaces) statt – selbstverständlich müssen diese drei Ebenen relational gefasst werden.
Um diesem sensibilisierenden Konzept zu entsprechen, werde ich die Eigenschaften und Materialität der Cyberinfrastruktur in ihren einzelnen Grenzobjekten zunächst beschreiben und dann den konkreten Praktiken folgen. Dieser doppelte Aufbau wird für den gesamten empirischen Abschnitt (Kap. 7. bis 10.) leitend sein. Doch hierfür bedarf es eines geeigneten methodologischen Zuschnitts, auf den ich nun eingehen werde.
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Fußnoten
1
Zwar untersuchte Turkle (1984) knapp drei Jahre vor Erscheinen von Plans and Situated Actions das Entstehen der Computerkultur und beobachtete KI-Wissenschaftler bei ihrer Arbeit. Allerdings lag der Fokus bei ihr weniger auf der Mensch-Maschine-Interaktion, wie es bei Suchman der Fall war.
 
2
Abgesehen von den prominenten Forschungen von Bolay/Kuhn 1993 & Bolay 1993, die in ihrer Reflexivität und technosoziologischen Zugang für die damalige Zeit exzeptionell waren.
 
3
Wie bereits weiter oben erläutert, handelt es sich um einen kategorialen Akt. Infrastrukturen werden sehr selten als solche in der Praxis bezeichnet. So verhält es sich auch bei der vorliegenden Studie. Der Infrastrukturbegriff stammt selbst nicht von den heterogenen Akteuren der WfbM.
 
4
Der Begriff Communities of practice wird von Bowker & Star (1999) mit dem der Sozialen Welten gleichgesetzt (ebd.: 294). Im Verlauf der weiteren Arbeit verwende ich einen anderen Begriff (communities of practitioners; siehe Abschn. 5.​6.​5) anstelle von Sozialen Welten und anstelle von communities of pracitices, da dieser anschlussfähiger an das theoretische Vokabular von Praxistheorien ist.
 
5
Diese Formen stellen aus Sicht Stars nur den Anfang eines allgemeineren Katalogs dar.
 
6
Auf diesen doppelten Aspekt weisen u. a. Bollig et.al 2012 im Kontext von Kindervorsorgeuntersuchungen hin.
 
7
Darunter verstanden Lee et.al (2006) “the arrangements of organizations and actors that must be brought into alignment for work to be done“ (ebd.: 491).
 
8
„We think of infrastructures and their construction as distributions along these axes rather than as tensions between polar opposites“ (Bowker et.al 2010: 101).
 
Metadaten
Titel
(Inter-)disziplinäre Verortung II: Cyberinfrastruktur
verfasst von
Konstantin Rink
Copyright-Jahr
2025
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-47994-7_4

    Marktübersichten

    Die im Laufe eines Jahres in der „adhäsion“ veröffentlichten Marktübersichten helfen Anwendern verschiedenster Branchen, sich einen gezielten Überblick über Lieferantenangebote zu verschaffen.