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2016 | Buch

Inter- und Transdisziplinarität bei der Entsorgung radioaktiver Reststoffe

Grundlagen – Beispiele – Wissenssynthese

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Über dieses Buch

Dieses Buch zeigt am Beispiel des komplexen Themas Entsorgung radioaktiver Reststoffe die Herangehensweise für disziplinübergreifende Zusammenarbeit und die transdisziplinäre Verknüpfung von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Es bietet Praxisbezogene Vorschläge aus einem Forschungsprojekt zur Problematik der wissenschaftlichen Vorbereitung der Endlagersuche sowie wissenschaftstheroetische Hintergründe zur inter- und transdisziplnären Zusammenarbeit. Das Buch richtet sich an Dozenten und Wissenschaftler sowie Entscheidungsträger in Verwaltung und Politik.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Die Entsorgung radioaktiver Reststoffe als inter- und transdisziplinäre Herausforderung – eine Einführung
Zusammenfassung
Der Band folgt einem dreiteiligen Aufbau. Im ersten Teil werden einzelne, in ENTRIA vertretene Disziplinen hinsichtlich ihres Beitrags zur Entsorgungsforschung vorgestellt und ihre Anknüpfungspunkte für interdisziplinäre Zusammenarbeit diskutiert. Im zweiten Teil werden Beispiele der interdisziplinären Arbeit in ENTRIA und der Umgang mit Herausforderungen, die sich aus dieser Zusammenarbeit ergeben, präsentiert. Der dritte Teil befasst sich mit der Frage der Synthese des erarbeiteten disziplinären und interdisziplinären Wissens.
Sophie Kuppler, Saleem Chaudry, Ulrich Smeddinck
2. Die Politikwissenschaft und Nuclear Waste Governance
Zusammenfassung
Die Aufgabe der Politikwissenschaft im Rahmen der interdisziplinären Forschungsplattform ENTRIA besteht – wie oft im Fächerkanon – in der Beleuchtung insbesondere der Dimensionen von Macht, Herrschaft und Einfluss in der Entscheidungsfindung im Rahmen eines Standortauswahlverfahrens. Eine solche politikwissenschaftliche Untersuchung im Rahmen eines Optionenvergleiches muss, wie oben gezeigt wurde, mindestens drei Bereiche umfassen: den politischen und institutionellen Rahmen, die Rolle unterschiedlicher Akteure in den Prozessen und den gesamtgesellschaftlichen Diskurs zum Thema. In allen diesen Bereichen ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit möglich und notwendig, wenn die Problemstellung nicht nur formal, sondern auch substanziell bearbeitet werden soll.
Daniel Häfner
3. Interdisziplinäre Analysen von Entsorgungsoptionen für radioaktive Reststoffe – der Beitrag geochemisch-basierter Analysen
Zusammenfassung
Geochemisch-basierte Analysen dienen zur Entwicklung von Bewertungsgrundlagen und dem Vergleich der Entsorgungsoptionen wartungsfreie Tiefenlagerung, Tiefenlagerung mit Rückholbarkeit und Oberflächenlagerung, da sie Radionuklidquellterme und Variationsbreiten von Radionuklidkonzentrationen liefern, die zu Sicherheits- bzw. Risikoindikatoren für die untersuchten Lagersysteme führen. Diese Arbeiten erfolgen in den Spannungsfeldern Risiko und Sicherheit und Sicherheit und Reversibilität, die in „ENTRIA 2014: Memorandum zur Entsorgung hoch radioaktiver Reststoffe“ (Röhlig et al. 2014) ausführlich diskutiert wurden.
In der Diskussion dieser Spannungsfelder und darüber hinaus wird deutlich, dass die Beurteilung der Entsorgungsoptionen in der Gesellschaft nicht ausschließlich einer naturwissenschaftlich/technischen Argumentation folgt; stattdessen wirken sich unterschiedliche sozio-politische Faktoren stark auf die Bevorzugung dieser oder jener Option aus (Brunnengräber und Schreurs 2015; Häfner in diesem Band, Kap. 2). Vor dem Hintergrund, dass eine Risikoanalyse neben ingenieur- und naturwissenschaftlichen auch geisteswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche, ethische und rechtliche Betrachtungsweisen einschließt, bedürfen die Ergebnisse geochemisch-basierter Analysen wie auch anderer naturwissenschaftlicher Expertisen einer ausführlichen und für fachfremde Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie für die Öffentlichkeit verständlichen Übersetzung der Wissensbestände einschließlich einer Erläuterung der Ungewissheiten (Hocke 2006), die sich aus dem derzeit vorhandenen wissenschaftlichen Verständnis der Lagersysteme und ihrer langfristigen Entwicklung ergeben. Wie auch bei anderen Ansätzen zur Analyse der Entsorgungsoptionen bedarf es einer Reduktion der Komplexität, um für Fachfremde verständlich zu werden. Die Herausforderung ist, einerseits die disziplinären Wissensbestände allgemein verständlich auszudrücken, andererseits nicht in Banalität oder (Über-)Simplifizierung abzugleiten (siehe Smeddinck in diesem Band, Kap. 4).
Das Hauptergebnis geochemisch-basierter Analysen der Entsorgungsoptionen sind weniger numerische Resultate hinsichtlich potenzieller radiologischer und chemotoxischer Auswirkungen der untersuchten Entsorgungsoptionen, sondern der Vertrauensgrad in die angewendete Methodik und die untersuchten Multibarrierensysteme. Die numerischen Resultate und die begleitende Argumentation zu den Resultaten dienen als Sicherheits- und Risikoindikatoren für einen offenen und fairen Vergleich der Optionen wartungsfreie Tiefenlagerung, Tiefenlagerung mit Rückholbarkeit und Oberflächenlagerung, der im Zusammenwirken mit sozio-politischen, ethischen und rechtlichen Analysen zu erfolgen hat.
Volker Metz
4. Atommüllentsorgung und robuste Rechtswissenschaft – zugleich zum intradisziplinären Verständnis von Multi-, Inter- und Transdisziplinarität
Zusammenfassung
Interdisziplinarität ist für die Rechtswissenschaft unverzichtbar (Kaiser 2013, S. 99, 100 m.w.N.). Für die Überprüfung der Richtigkeit und der durch Recht vermittelten Gerechtigkeit (oder Ungerechtigkeit) bedarf es des Rückgriffs auf Einsichten und Erkenntnisstand anderer Disziplinen (Wissenschaftsrat 2012, S. 27). Die disziplinenübergreifende und am Problem orientierte Zusammenarbeit ist eine Möglichkeit, das „Unbehagen am Recht“ (Wiethölter 1968, S. 26 ff.) zu reduzieren (Wissenschaftsrat 2012, S. 27). Die einstmals in den 1960er-Jahren konstatierte Isolation und das Dahinsiechen des Rechts sind durch die interdisziplinären Auseinandersetzungen in der Rechtswissenschaft zur Interdisziplinarität überwunden, mindestens aber drastisch reduziert worden. Die Veränderung des wissenschaftlichen Herangehens hat Rückwirkungen bis in die Rechtswissenschaft hinein und damit für die fachlich disziplinären Grundlagen von Gesetzgebung, die selbst wieder auf Interdisziplinarität angewiesen ist (Smeddinck 2006, S. 35 ff.; Kluth 2014, § 1 Rz. 46). Dank der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, der entwickelten neuen Perspektiven und methodischen Formen ist die Rechtswissenschaft für die interdisziplinäre Zusammenarbeit bestens gerüstet (vgl. Voßkuhle 2012, § 1).
Neben den Begriffsklärungen von Multi- und Interdisziplinarität hat vor allem die Akzentuierung der Transdisziplinarität die Notwendigkeit einer robusten Rechtswissenschaft unterstrichen, die sich auch in fremdem Umfeld und Diskurs produktiv einbringen kann. Es besteht ein auch gesellschaftlicher Bedarf zur Bearbeitung und Lösung der Endlagersuche beizutragen.
Zum Arbeitsprogramm der Rechtswissenschaft gehört es, die Neuerungen und Modifizierungen, die insbesondere das StandAG gebracht hat, an den bestehenden Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu messen und bezogen auf diesen konkreten Kontext neu zu durchdenken (vgl. Wissenschaftsrat 2012, S. 30). Das interdisziplinäre Gespräch und die Auseinandersetzung innerhalb von ENTRIA werden dabei helfen, gemeinsame ggf. kontrastierende Konzepte und Vorstellungen zu entwickeln, die in den rechtswissenschaftlichen Diskurs übernommen und transformiert werden können.
Nur wenn man Rechtswissenschaft mit Rechtsdogmatik gleichsetzt, haben Wissenschaftstheorie und Jurisprudenz keine Bezugspunkte und bleibt die Rechtswissenschaft ohne Anschlussmöglichkeiten in Exzellenzclustern und Forschungsverbünden, schneidet sich Anschlussmöglichkeiten und Lernerfahrungen ab (Jestaedt 2014, S. 3). Wenn die Rechtswissenschaft dagegen offen und robust in inter- und transdisziplinären Zusammenhängen agiert, schafft sie Schnittstellen, profitiert wie auch die anderen Beteiligten vom Geben und Nehmen im Austausch und hat keinen Grund, um ihre Eigenständigkeit zu fürchten.
Ulrich Smeddinck
5. Der Beitrag der Geologie zur Tiefenlagerung hoch radioaktiver Reststoffe
Zusammenfassung
Die Entsorgung wärmeentwickelnder radioaktiver Reststoffe ist ein komplexes Problem. Da sich die Erdoberfläche nach geologischen Maßstäben schnell verändert, wird die Tiefenlagerung als mögliche Langzeitlösung angesehen. Geologische Prozesse laufen im Vergleich zu gesellschaftlichen Prozessen langsam ab.
Die wichtigsten Grenzen der Aussagekraft der Geologie liegen im geringen Aufschlussgrad des Gebirges und in den Grenzen des aktualistischen Prinzips. Dazu kommt, dass im Falle eines menschlichen Eingriffs in den Untergrund die natürlichen Verhältnisse gestört werden.
Ein Tiefenlager soll die Radionuklide sicher für einen langen Zeitraum von der Biosphäre isolieren. Daraus erwachsen eine Reihe von Anforderungen: Ein mögliches Wirtsgestein soll nur geringe Durchlässigkeit aufweisen, die Einlagerung radioaktiver Reststoffe soll möglichst keine Schäden im Wirtsgestein verursachen, Hohlräume sollen eigentragfähig sein. Keines der möglichen Wirtsgesteine kann all diese Anforderungen in gleicher Weise gut erfüllen. So kann Steinsalz einen dichten Einschluss der Reststoffe in das Wirtsgestein durch seine Kriechfähigkeit sicherstellen, während Tongesteine durch ihre hohe spezifische Oberfläche Radionuklide bedingt sorbieren können und nur geringen Grundwassertransport zulassen. In kristallinen Hartgesteinen muss dagegen der Einschluss der Radionuklide allein durch (geo-)technische Barrieren sichergestellt werden. Dafür sind Hohlräume in kristallinen Hartgesteinen langzeitstabil, was Konzepte, die eine Rückholbarkeit der Reststoffe vorsehen, erleichtert. Ein Vergleich unterschiedlicher Konzepte in den Wirtsgesteinen ist nicht trivial, vor allem, wenn konkrete Standorte fehlen. Die generelle Gegenüberstellung ist jedoch möglich. Konkrete Nachweise zur Langzeitsicherheit eines Tiefenlagers sind nur standortspezifisch belastbar zu führen.
Saleem Chaudry, Volker Mintzlaff, Joachim Stahlmann
6. Schutz vor ionisierender Strahlung – Ein Einblick in die Disziplin und interdisziplinäre Verknüpfungspunkte
Zusammenfassung
Die Aufgabe des Strahlenschutzes bei der Entsorgung radioaktiver Reststoffe gestaltet sich vielfältig. Während der Einlagerung muss der praktische Strahlenschutz den Schutz der Arbeiterinnen und Arbeiter gewährleisten. Dies erfolgt durch Messung und Überwachung von Strahlendosen sowie das Einhalten von rechtlichen Richtlinien und Strahlenschutzgrundsätzen.
Mithilfe von physikalischen Grundlagen und bekannten Resultaten kann der Strahlenschutz Strahlendosen an der Außenseite der Lagerbehälter abschätzen. Die Wärmeentwicklung der radioaktiven Reststoffe liefert zudem wirtsgesteinsabhängige Anforderungen an die Zwischenlagerzeit bzw. die Beladung der Endlagerbehälter. In Zusammenarbeit mit den Ingenieurwissenschaften, wie zum Beispiel der Werkstoffkunde, werden auf diese Weise optimale Anforderungen für Behälterbeschaffenheit und Lagerumgebung ermittelt.
Die Einbindung des Strahlenschutzes in einen rechtlichen und politischen Rahmen erfolgt einerseits durch die gesetzlichen Vorgaben und Verordnungen, die eine Rechtssicherheit für die Strahlenschutzverantwortlichen gewährleisten. Andererseits liefern beratende Gremien wie die ICRP und die SSK eine Zuarbeit für die Rechtswissenschaft und die Rechtsetzung, indem zum Beispiel neue Erkenntnisse der Gefährdung ionisierender Strahlung zu neuen, angepassten Grenz- und Richtwerten führen können.
Für einen konstruktiven Dialog bei einer so komplexen und gesamtgesellschaftlichen Problematik wie der Entsorgung radioaktiver Reststoffe ist unter anderem eine solide Kenntnis der Eigenschaften der zu lagernden Stoffe und ihrem Gefährdungspotenzial notwendig. Im Hinblick auf die Gesellschaft bietet die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaft die Möglichkeit, das Wissen über Radioaktivität und ionisierende Strahlung mit Rücksicht auf die unterschiedlichen Kontexte zu vermitteln sowie den gesellschaftlichen Diskurs zu dieser Thematik zu analysieren. Auch das Vertrauen der Gesellschaft in Politik und Wissenschaft, das zum Teil durch den früheren Versuch einer Standortsuche gelitten hat, kann durch die transparente Weitergabe von Informationen und wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie die Mitsprache in Entscheidungsprozessen wieder aufgebaut werden (Röhlig et al. 2014, S. 32).
Erik Pönitz, Frank Tawussi
7. Risikolandschaft
Zusammenfassung
Die Entsorgung von hoch radioaktiven Reststoffen ist eine komplexe technologische und gesellschaftspolitische Aufgabe. Die Forschung bei ENTRIA geht daher davon aus, dass Umgang mit den radioaktiven Reststoffen ein „wicked problem“ darstellt, für das es keine einfache Lösung gibt (Röhlig et al. 2014, S. 7). Auch beim risikoorientierten Vergleich von Entsorgungsoptionen bleiben einfache Ansätze unbefriedigend, weil sie lediglich Teilaspekte des Gesamtbilds wiedergeben. Verschiedene Fachdisziplinen, vor allem aus dem naturwissenschaftlich-technischen Bereich, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten vertieft mit den Risiken von Entsorgungsoptionen auseinandergesetzt. Bei ENTRIA wird nun an einem risikoorientierten Vergleich gearbeitet, der bestehende Erkenntnisse aus unterschiedlichen Fachdisziplinen einbindet. Die umfassende und ganzheitliche Betrachtung soll den Ansprüchen verschiedener Akteure gerecht werden. Insbesondere soll sie den Bedürfnissen politischer Entscheidungsträgern entgegenkommen, die vielfältige Interessen gegeneinander abwägen müssen. Ein wichtiges Anliegen ist es, normative Grundlagen risikoorientierter Entscheidungen transparent zu machen. Ein solcher Ansatz ist notwendigerweise interdisziplinär. Die für den Vergleich von Entsorgungsoptionen für hoch radioaktive Reststoffe entwickelten methodischen Instrumente sind auch auf ähnliche komplexe technologische und gesellschaftspolitische Fragestellungen rund um Risiko und Sicherheit übertragbar.
Anne Eckhardt, Jürgen Kreusch, Michèle Marti, Wolfgang Neumann
8. Möglichkeiten und Grenzen der Vereinheitlichung wissenschaftlicher Begriffe in der interdisziplinären Zusammenarbeit
Eine politik- und rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung
Zusammenfassung
Der Kampf um Begriffe ist ein heißes Thema. Die wissenschaftlichen Disziplinen sind aufgerufen, sich der Möglichkeiten und Grenzen der Begriffsvereinheitlichung analytisch und nüchtern anzunehmen. Die unkritische Verwendung von Begriffen in fachlichen Zusammenhängen ist dabei ebenso zu kritisieren, wie die Skandalisierung vermeintlicher Reizwörter als Ersatz für die intensivere inhaltliche Auseinandersetzung in gesellschaftlichen Debatten. Begriffskritik hilft, Sachverhalte nicht suggestiv zu vernebeln, sondern Realitäten möglichst klar zu benennen.
Ungeachtet dessen ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung unterschiedlicher Disziplinen über Begriffe alles andere als trivial: Hier treffen Traditionen der Begriffsverwendung und -deutung aufeinander. Aufs engste damit verknüpft sind die divergierenden Verarbeitungsweisen und Verwendungszusammenhänge in den Disziplinen, Selbstbild und Identität, die Kultur der Auseinandersetzung sowie die Offenheit und Reaktionsbereitschaft, die sich nicht nur an Disziplingrenzen, sondern auch entlang intradisziplinärer Strömungen unterscheiden kann.
So richtig es ist, die Frage der Begriffsvereinheitlichung in interdisziplinären Zusammenhängen aufzunehmen und zu erörtern, so konsequent und richtig scheint die Grundentscheidung der Forschungsverbundvorhaben ENTRIA, die gemeinsame Forschungstätigkeit nicht an der Begriffsarbeit aufzuhängen, sondern gemeinsam Problemlagen – also Spannungsfelder – zu identifizieren, die ebenso gehaltvoll wie orientierend zur weiteren interdisziplinären Arbeit motivieren.
Wissenschaft muss mögliche Kritik an ihren Begriffen und Formulierungen nicht in vorauseilendem Gehorsam bedenken und antizipieren. Die bewusste Auseinandersetzung über Begriffe muss sich immer fokussieren. Immer wieder wird es in der inter- und transdisziplinären Kommunikation und Kooperation geschehen, dass auch Formulierungen und Begriffe verwendet werden, die unreflektiert und belastet sind – die spontane Reaktion in freier Rede ist dafür anfälliger als die durchgearbeitete und von Kolleginnen und Kollegen geprüfte Form wissenschaftlicher Texte. Die Endlagerung wird auf absehbare Zeit eine kontroverse Reizvokabel bleiben!
Achim Brunnengräber, Ulrich Smeddinck
9. Safety Case, Interdisziplinarität und Transdisziplinarität
Zusammenfassung
Nachdem die Sicherheitsanalyse als reines Nachweisinstrument für die Langzeitsicherheit in den 1980er- und 1990er-Jahren in die Krise geraten war (Röhlig 2010), entwickelten sich in der Folgezeit neue konzeptionelle Vorstellungen. Diese hatten zwei Stoßrichtungen: Erstens wurde die Rolle der Systematisierung der Wissensbestände, die bei jedem Schritt der Sicherheitsanalyse herangezogen wurde, aber auch deren Dokumentation als wichtig eingestuft und damit auch Prozesse der rein sicherheitstechnischen interdisziplinären Debatte, also die Debatte zwischen verschiedenen Disziplinen vorangetrieben. Dies kann als klassische Optimierung eines vorhandenen Instruments begriffen werden. Zweitens wurden die Sicherheitsanalyse und der von ihr angestrebte Sicherheitsnachweis auch als Instrument der Vertrauensbildung betrachtet. Es standen zur rein naturwissenschaftlich-technischen Weiterentwicklung der Sicherheitsanalyse auch zusätzliche qualitative Erwartungen im Raum.
Klaus-Jürgen Röhlig, Peter Hocke
10. Das Konzept der Freiwilligkeit bei der Entscheidung über einen Endlagerstandort – eine philosophische und rechtswissenschaftliche Betrachtung
Zusammenfassung
Freiwilligkeit erfordert nicht nur nach der hier vertretenen Auffassung eine gewisse Gemeinwohlorientierung der zu beurteilenden Handlungen, soll von einem tugendhaften Agieren gesprochen werden können. Vielmehr setzen die hier skizzierten Denksysteme aus ethisch-moralischer Sicht eine derartige Komponente schon axiomatisch voraus – eine vollständige Ausrichtung auf ausschließlich persönliche Belange kann kaum als tugendhaftes Wirken bezeichnet werden.
Wollte man den Aspekt der Freiwilligkeit innerhalb originär rechtlicher Entscheidungen als Abwägungskriterium heranziehen, finden sich dazu bereits im geltenden Recht zahlreiche Anknüpfungspunkte.
Sie stoßen indes dann an ihre Grenzen, wenn es um Maßnahmen geht, die gefahrgeneigte Bereiche betreffen. Für den Komplex des Standortauswahlverfahrens kommt dem Gesichtspunkt in besonderer Weise Bedeutung zu, handelt es sich doch schließlich um eine Thematik, die hinsichtlich ihrer potenziellen Risiken bisher noch gar nicht vollständig zu erfassen ist.
Daher können gesellschaftliche oder politische Erwägungen so lange keine Rolle spielen, wie zuvor erwogene sicherheitsrechtliche Aspekte zu einer (eindeutigen) Bewertung führen. Die Konstellation einer „Patt-Situation“ zwischen unterschiedlichen Standorten könnte unter Umständen zu einer anderen Beurteilung führen, die in dem Zusammenhang klärungsbedürftigen Fragen sprengen indes Umfang wie Inhalt des hiesigen Beitrags.
So groß der Charme basis-demokratischer Entscheidungsprozesse – hier so verstanden, dass in der Zustimmung zu einem Projekt ein konstitutives Kriterium zu erblicken wäre – ist, treffen solche Ansätze dann auf Limitierungen, wenn es um Entscheidungen des Ausmaßes der Errichtung eines Endlagers für hoch radioaktive Abfallstoffe geht.
Sebastian Willmann, Philipp Schmidt
11. Interdisziplinarität als Induktion – Von Ingenieuren und Philosophen
Zusammenfassung
Am Anfang dieses Beitrags wurde darauf verwiesen, dass sich die Methode interdisziplinärer Forschung nicht deduktiv am Reißbrett zeichnen lässt. Vielmehr entwickelt sich in einem Prozess des Austausches eine gemeinsame Herangehensweise an den Forschungsgegenstand. Aus den verschiedenen Strängen der Einzelbetrachtung erwachsen Aussagen, die sich interdisziplinär treffen lassen können. Im Falle der Oberflächenlagerung und dieser zunächst bidisziplinären, ingenieurwissenschaftlichen und philosophischen Auseinandersetzung lassen sich die Wechselwirkungen interdisziplinären Arbeitens induktiv erkennen. Beide Disziplinen tauschen ihre Gründe, Perspektiven und Methoden aus, um in einem gegenseitigen Lernprozess differenziertere Aussagen treffen zu können. Dabei zeigt sich auch, wie stark gerade die Philosophie in der Reflexion auf die vorausblickende und konkrete Forschung der Ingenieurwissenschaft angewiesen ist, wenn sie sich am Diskurs um technische Fragestellungen beteiligen möchte. Zur gleichen Zeit eröffnet der interdisziplinäre Austausch immer neue Aspekte und Kriterien, die in die Beurteilung einer Entsorgungsoption miteinfließen. Die gebotene multikriterielle Bewertung gewinnt, neben der empirischen Erforschung von technischen Parametern, mit jeder Disziplin an Dimensionen und neuen Bewertungsmaßstäben. So entstehen eine Reihe von interdisziplinären Kriterienkatalogen, die iterativ gegeneinander verhandelt und abgeglichen werden. Die bidisziplinäre Auseinandersetzung mit dem MiniMax-Kriterium zeigt dies exemplarisch.
Weiterhin wurden in diesem Beitrag zwei Grundprobleme der Oberflächenlagerung skizziert: Die Notwendigkeit ihrer inter- und transdisziplinären Betrachtung und das Argument für die sorgfältige Planung einer langfristigen Oberflächenlagerung. Der transdisziplinäre Gehalt der Option Oberflächenlagerung erschließt sich schon aus den oben behandelten Implikaten. Die Notwendigkeit ihrer Erforschung trägt sich aus der fast trivialen lebensweltlichen Notwendigkeit an die Wissenschaft heran, dass radioaktive Reststoffe gelagert werden müssen. Gleichzeitig weist die Auseinandersetzung wieder in die Gesellschaft zurück, indem die verschiedenen Bewertungsmaßstäbe der Option gesellschaftliche Aushandlungsprozesse und Entscheidungen fordern. Das Argument für die Oberflächenlagerung als langfristig geplante Maßnahme ergibt sich aus einer gewissen Unzufriedenheit mit dem Status quo, ohne zunächst die Zuverlässigkeit der bestehenden Zwischenlager für ihren Zweck in Frage stellen zu wollen. Allerdings erscheint die Zwischenlagerung mit Blick auf die Dauer bis zur Bereitstellung eines Tiefenlagers zu kurz angelegt und es drängt sich die Frage auf, wie mit den relativ kurzen Genehmigungszeiträumen der Zwischenlager im Rahmen einer Entsorgungsstrategie umzugehen ist. Hierbei birgt die Option einer langfristigen Oberflächenlagerung den Vorteil der Entkoppelung von einem noch nicht verfügbaren „Endlager“ und wird so zu einer eigenständigen Option, die den Zeithorizonten und Aporien der dauerhaften Entsorgung Rechnung trägt. Wird die Lagerung an der Oberfläche verzeitlicht – das heißt auch, an die Zeithorizonte der Radiotoxizität gebunden – so muss in Konsequenz die Frage gestellt werden, wie weiter mit den Reststoffen verfahren wird. Dies gilt allerdings für alle Entsorgungsoptionen, solange sie auf Instandhaltungsmaßnahmen angewiesen sind. Auch ein „wartungsfreies“ Tiefenlager ist erst nach seinem vollständigen Verschluss wartungsfrei.
Werden die beiden Hauptlinien dieses Beitrags verbunden, so führt das auf die Frage der Bewertungsmaßstäbe zurück, die an die Option Oberflächenlagerung angelegt werden. Diese Bewertung ist ein interdisziplinär-iterativer Prozess und erfordert eine umfassende, multikriterielle Analyse. Die Ergebnisse dieser Analyse müssen zugleich transdisziplinär iterativ in die gesellschaftliche Debatte eingespeist werden, auch um zu prüfen, ob sie plausibel sind und sich auf dem Forum der Öffentlichkeit zu überzeugenden Argumenten herausbilden können.
Moritz Riemann, Dennis Köhnke
12. Wissenschaftliche Synthese bei der Forschung zur Entsorgung radioaktiver Reststoffe in der Forschungsplattform ENTRIA
Zusammenfassung
Wissensintegration in komplexen Problemlagen ist eine zentrale Voraussetzung für Problemlösungen. Sie umfasst interdisziplinäre und transdisziplinäre Anteile mit ihren je eigenen und recht gut bekannten methodischen Herausforderungen. In der Entsorgungsfrage hoch radioaktiven Abfalls stellt sich die Zusatzherausforderung der prozeduralen Integration des Wissens durch die enge Verbindung von epistemischen und politischen Prozessen. Ist diese Herausforderung ein generelles Kennzeichen in der Einbringung problemorientierter Forschung in politische Prozesse, so scheint sie die Debatten der Endlagerkommission aufgrund der hoch politisierten Natur der Endlagerdebatte in besonders intensiver Weise zu prägen.
Armin Grunwald
13. Wissensintegration auf dem Weg zur Entsorgung hoch radioaktiver Abfälle
Zusammenfassung
ENTRIA nähert sich Fragen der Entsorgung radioaktiver Reststoffe auf die beschriebene, breit angelegte interdisziplinäre Weise. Dies ist ein Alleinstellungsmerkmal in der deutschen Forschungslandschaft. Auch international findet wenig vergleichbare Forschung statt.
Über den im Projektnamen festgeschriebenen interdisziplinären Anspruch hinaus kann ENTRIA in Teilen als ein transdisziplinäres Projekt im Sinne einer starken Definition von Transdisziplinarität verstanden werden. Neben drei transdisziplinär angelegten Arbeitspaketen wird diese Feststellung vor allem durch die erfolgreiche Durchführung eines Bürgerforums untermauert. Indem das dort erstellte Bürgergutachten, wie auch weitere Resultate des Projekts, der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfälle als Arbeitsgrundlage dienen, wird ein reflexiver Bezug zu Gesellschaft und Politik hergestellt.
Entsprechend hohen Erwartungen sehen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Plattform ausgesetzt. Dabei betritt ENTRIA, bezogen auf das Themenfeld der Entsorgung radioaktiver Reststoffe, mit seiner wissenschaftsübergreifenden Kooperation Neuland. Im Gegensatz zur disziplinären Forschung existieren keine gemeinsame Fachsprache, kein konsensualer Methodenkanon, keine tradierten Leitlinien der Analyse und Synthese.
In der Forschungsplattform werden daher eigene Formen der Zusammenarbeit entwickelt. Viele Ideen und Prozesse entspringen der wissenschaftsübergreifenden Kommunikation im Projekt. Dabei werden Produkte Bottom-up entwickelt, interdisziplinär bearbeitbare Fragestellungen im Diskurs formuliert. Die Schaffung von Freiräumen ermöglicht diese kreative Gestaltung der Forschung. Gleichzeitig stellt das Fehlen verbindlicher Leitlinien und Methoden für die wissenschaftsübergreifende interdisziplinäre Zusammenarbeit eine Herausforderung dar, mit der sich alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Projekt von Beginn an konfrontiert sehen. Ihre Überwindung muss als Voraussetzung für das Gelingen einer Projektsynthese angesehen werden. Kern der Synthese ist die Entwicklung von Bewertungsgrundlagen für Entsorgungsoptionen im Diskurs der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und unter Einbeziehung disziplinär, interdisziplinär und transdisziplinär erzielter Forschungsergebnisse. Sie sollen einen Beitrag zur langfristig sicheren und gerechten Entsorgung der radioaktiven Reststoffe der Bundesrepublik Deutschland leisten.
Saleem Chaudry, Elmar Plischke
Backmatter
Metadaten
Titel
Inter- und Transdisziplinarität bei der Entsorgung radioaktiver Reststoffe
herausgegeben von
Ulrich Smeddinck
Sophie Kuppler
Saleem Chaudry
Copyright-Jahr
2016
Electronic ISBN
978-3-658-12254-6
Print ISBN
978-3-658-12253-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-12254-6