Der Autositz scheint wenig im Fokus von Autoherstellern wie -fahrern zu stehen. Dabei sorgt er doch als zentrale Mensch-Maschine-Schnittstelle für Komfort und Wohlbefinden. Und der Autositz der Zukunft verspricht noch mehr.
Technologieträger "BMW M Visionary Materials Seat"
BMW Group
Automatisierte Fahrfunktionen, fortschrittliche Sicherheitstechnologien und leistungsfähige Infotainment-Systeme: Die Liste der technischen Innovationen, die moderne Autos komfortabler machen sollen, ist lang. Dabei wird jedoch ein wichtiger Komfortfaktor häufig übersehen: der Autositz.
Durchschnittlich 9,2 Stunden verbringen die Deutschen werktags im Sitzen – einen Großteil davon im Auto, wie der Verein Aktion Gesunder Rücken (AGR) angibt. 68 % der deutschen Pendler würden den Pkw für den Arbeitsweg nutzen und jährlich bis zu 79 Stunden im Stau stehen – oder besser "sitzen". Wenn sich vor allem lange Autofahrten nicht vermeiden lassen, sind gesundes Sitzen und ein ergonomischer Autositz daher umso wichtiger. Durch optimale Einstellmöglichkeiten gemäß der Körperergonomie und die Integration von Komfortfunktionen soll der Sitz in erster Linie Wohlbefinden herstellen.
Fortschritte bei der Ergonomie
Tatsächlich hat sich in puncto Sitz-Ergonomie viel getan. "In den letzten Jahrzehnten hat sich bei den führenden Autoherstellern in Hinblick auf die Ergonomie einiges bewegt. Die Nachfrage nach rückenfreundlichen Autositzen steigt auch auf Seiten der Kunden. Viele Modelle sind bereits serienmäßig mit AGR-zertifizierten Autositzen ausgestattet, bei manchen können sogar die Rücksitz-Passagiere rückenfreundlich mitfahren“, sagt Detlef Detjen, Geschäftsführer der AGR.
Das AGR-Gütesiegel dient als fachlich anerkanntes Zertifikat für gesunde Autositze. Dennoch gebe es laut Detjen auch weiterhin Sitze, die kaum den grundlegenden ergonomischen Anforderungen entsprächen. Damit ein Autositz das Gütesiegel "Geprüft und empfohlen" erhält, muss er viele Kriterien erfüllen. Zu den Mindestanforderungen zählen laut AGR unter anderem eine verlängerbare Sitzfläche, eine verstellbare Höhe und Neigung sowie eine Vier-Wege-Lordosestütze.
Anforderungen an Autositze steigen
Damit aber nicht genug: Die Anforderungsbereiche an Fahrzeugsitze und ihre Relevanz für Komfort steigen stetig. Heute schon bieten Sitzdynamiksysteme mit aufblasbaren Kissen seitlichen Halt in den Kurven und Komfortkopfstützen entlasten die Halswirbelsäule in Ruhepausen. Weiteren Komfort bieten eine elektrische Lehneneinstellung, integrierte Massagefunktion, Memory-Funktion und Sitzheizung. Atmungsaktive Materialien sorgen für ein optimales Sitzklima. Zudem seien Technologien wie sensorgesteuerte Anpassungen an individuelle Körperformen und Autositze, die das Beckenpendeln beim Gehen simulieren, bereits in der Entwicklung, erklärt AGR. Kurzum: Von Sitzsystemen wird neben Sicherheit erwartet, dass sie zum einen funktional und ergonomisch sind und zum anderen individuelles Wohlbefinden fördern.
Wie sich zum Beispiel das Mikroklima im Kontaktbereich zwischen Sitz und Mensch auf die Konzentration und die Leistungsfähigkeit des Fahrers auswirkt, haben die Hochschule München und Inside Climate untersucht. Ein zur Komfortwahrnehmung weiterentwickelter Forschungsansatz soll neben einer geeigneten Mess- und Prüftechnik neue Erkenntnisse für die Auslegung von Fahrzeugsitzen liefern. Das betreffe insbesondere autonom fahrende Fahrzeuge, so die Forscher, da abnehmende Fahraufgaben die Anforderungen an Fahrzeugsitze erweiterten.
Von Ergonomie bis Automotive Health
Künftig wird sich daher das Nutzungsportfolio von Fahrzeugsitzen noch weiten und Fahr-, Liege- und Arbeitspositionen umfassen, die sich im Zuge des automatisierten Fahrens ausbilden – was einerseits zusätzliche Komfortfunktionen ermöglicht, andererseits aber auch neue Sicherheitsstandards notwendig macht, um Insassen im Falle eines Unfalls auch in ungünstigen Sitzpositionen zu schützen. Immer mehr zum Standard wird bereits die Sitzbelegungserkennung – zum Teil mit Gewichtsdetektierung – mit Rückkoppelung auf die Systeme der passiven Sicherheit und auf Warnsysteme, wie die Springer-Autoren um Karsten Lemmer im Kapitel Mensch-Technik-Kooperation und Fahrzeuginnenraum aus dem Vieweg Handbuch Kraftfahrzeugtechnik erklären.
Der Autositz soll künftig auch verstärkt Gesundheitsdaten erfassen: "Wir stehen vor einer Revolution im Bereich der Autositzergonomie und -funktion", prognostiziert AGR-Geschäftsführer Detjen. "Künftige Sitzsysteme werden vermehrt medizinische Daten auswerten, wie Herzfrequenz, Atemrhythmus und Blutzuckerspiegel, um z. B. Ermüdungserscheinungen frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern." Schon heute würden Autohersteller mit Herstellern von Fitnessuhren kooperieren oder mit Brain-Computer-Interfaces experimentieren, um den Innenraum des Autos der Zukunft optimal an die Bedürfnisse der Passagiere anzupassen. Das alles wir unter dem Begriff "Automotive Health" zusammengefasst. Das Konzept umfasst Gesundheitsdienstleistungen im Auto bis hin zur Früherkennung von Erkrankungen. Ein zentrale Rolle spielt dabei auch der Autositz.
Ressourcenschonendes Sitzdesign
Neben der Gesundheitsförderung kann der Fahrzeugsitz auch zur Emissionsreduzierung und Ressourcenschonung beitragen. Wie das gelingt, zeigt BMW zusammen mit Partnern an einem Technologieträger. Der sogenannte "BMW M Visionary Materials Seat" soll als Forschungsplattform bei der Entwicklung zukünftiger Materialien dienen, der Fokus liege dabei auf folgenden Themen, wie BMW aufzählt: den Einsatz von pflanzenbasierten Materialen voranzutreiben sowie im Zuge von "Design for Circularity" mehr Sekundärrohstoffe einzusetzen und die Recyclingfähigkeit am Ende des Lebenszyklus zu erhöhen.
So verfügt der "BMW M Visionary Materials Seat" über eine ultraleichte, robotergewickelte Faserverbund-Sitztragstruktur und setzt auf Materialien aus der Natur. Beispielsweise wurden Naturfasern, Faserverbundwerkstoffe, Lederalternativen sowie Polymere auf Algenbasis im Sitz verbaut. Er verzichtet komplett auf Stützstrukturen, chemische Nachbehandlung und Finishing. Weniger komplexe Baugruppen und sortenrein trennbare Materialien sollen die Recyclingfähigkeit des Sitzes erleichtern. Seine Wertschöpfungstiefe sei bewusst flach, so BMW, und soll neben der geringen Anzahl an Veredelungsschritte zu weniger Energieverbrauch und Ressourcenschonung führen. Gegenüber einem heute verbauten BMW-M-Carbon-Schalensitz habe BMW den CO2e Footprint des Sitzes um 90 % verringern können.
Intelligent, sicher und nachhaltig
Fest steht: Der Autositz von morgen muss eine Vielzahl neuer Funktionen erfüllen. Neue Freiheitsgrade werden mithilfe von intelligenten Aktuatoren und Sensoren realisiert. Technische Textilien, die Vorteile bei Gewicht, Funktion und Design bieten, halten Einzug ins Auto und optimieren das Wohlbefinden der Fahrzeuginsassen. Auch die Nachhaltigkeit und umweltfreundliche Materialien spielen für den Autositz eine immer größere Rolle. Und mit Blick auf das automatisierte Fahren muss die Sicherheitsausstattung neu gedacht werden.