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Open Access 2025 | OriginalPaper | Buchkapitel

7. Interventionsstudie zur Analyse und Förderung politischer Urteilsbildung zum Transformationsfeld Landwirtschaft und Ernährung

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Zusammenfassung

Ziel der Interventionsstudie ist es, die Wirksamkeit der Lerneinheit im Hinblick auf die Förderung politischer Urteilsbildungsprozesse zu evaluieren. Unter Berücksichtigung der Prämisse, dass Urteilen immer nur konkret zu einem bestimmten Thema stattfinden kann, wurde exemplarisch eine Lerneinheit zum Transformationsfeld Landwirtschaft und Ernährung konzipiert, die in Kapitel 5 vorgestellt wurde. Die Ausrichtung der didaktischen Intervention orientiert sich an den Ansatzpunkten einer politischen Nachhaltigkeitsbildung und findet Ausdruck in einer problem- und konfliktorientierten sowie einer erfahrungsorientierten, außerschulischen Zugangsweise – jene konnte didaktisch, d. h. mit Blick auf die Ziele und Anforderungen des Lernbereichs begründend, hergeleitet werden (siehe Abschn. 2.6; 3.6; 4.6). Im folgenden Kapitel wird zunächst das methodische Vorgehen dargelegt und begründet, bevor die Ergebnisse präsentiert werden. Die Ergebnisse der Interventionsstudie werden abschließend im Hinblick auf die Forschungsfragen und die forschungsmethodischen Limitationen diskutiert.
Hinweise

Ergänzende Information

Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann https://​doi.​org/​10.​1007/​978-3-658-46149-2_​7.
Ziel der Interventionsstudie ist es, die Wirksamkeit der Lerneinheit im Hinblick auf die Förderung politischer Urteilsbildungsprozesse zu evaluieren. Unter Berücksichtigung der Prämisse, dass Urteilen immer nur konkret zu einem bestimmten Thema stattfinden kann, wurde exemplarisch eine Lerneinheit zum Transformationsfeld Landwirtschaft und Ernährung konzipiert, die in Kapitel 5 vorgestellt wurde. Die Ausrichtung der didaktischen Intervention orientiert sich an den Ansatzpunkten einer politischen Nachhaltigkeitsbildung und findet Ausdruck in einer problem- und konfliktorientierten sowie einer erfahrungsorientierten, außerschulischen Zugangsweise – jene konnte didaktisch, d. h. mit Blick auf die Ziele und Anforderungen des Lernbereichs begründend, hergeleitet werden (siehe Abschn. 2.​6; 3.​6; 4.​6). Im folgenden Kapitel wird zunächst das methodische Vorgehen dargelegt und begründet, bevor die Ergebnisse präsentiert werden. Die Ergebnisse der Interventionsstudie werden abschließend im Hinblick auf die Forschungsfragen und die forschungsmethodischen Limitationen diskutiert.

7.1 Methode

Im folgenden Kapitel wird das methodische Vorgehen der Interventionsstudie beschrieben. Die Lerneinheit zur komplexen Problemstellung Landwirtschaft und Ernährung, die zur Förderung der politischen Urteilsbildung entwickelt wurde, stellt die zu evaluierende didaktische Intervention dar. Der fachliche Hintergrund der Lerneinheit, die theoretisch abgeleiteten und realisierten Gestaltungsprinzipien sowie die konkrete Umsetzung der einzelnen Bausteine wurden im Kapitel 5 ausführlich erläutert. Nachfolgend wird zunächst auf das Untersuchungsdesign, die Durchführung der Erhebungen und die ausgewählte Stichprobe eingegangen. Anschließend erfolgt die Beschreibung der angewandten Erhebungsinstrumente zur Bestimmung urteilsrelevanter Lernprogressionen.

7.1.1 Untersuchungsdesign und -durchführung

Untersuchungsdesign
Die Untersuchung ist als nicht-experimentelle Interventionsstudie mit zwei Messzeitpunkten im Feld angelegt (Döring, 2022, S. 207). Der Schwerpunkt der Studie liegt auf der explorativen Evaluation einer konzipierten Lerneinheit mit außerschulischen Begegnungen mit regionalen Akteur*innen im Transformationsfeld Landwirtschaft und Ernährung, die das Ziel verfolgt, Prozesse der Urteilsbildung anzuregen. Zentral ist dabei die Frage, wie sich themenspezifische Vorstellungen und Positionierungen, die aufgabenbezogene Performanz im Bereich Analysieren und Urteilen sowie motivations- und einstellungsbezogene Aspekte unter dem Eindruck der Lerneinheit weiterentwickeln. Vor dem Hintergrund dieses qualitativ orientierten Erkenntnisinteresses wurde in beiden Schulklassen dieselbe didaktische Intervention angewandt und auf eine Variation der Unterrichtsansätze verzichtet. Ein quasi-experimentelles Design mit dem Gruppenfaktor „außerschulische Begegnung vorhanden/nicht vorhanden“ bzw. mit den Lernbedingungen „Lerneinheit mit außerschulischer Begegnung“ und „Lerneinheit ohne außerschulische Begegnung“ bot sich aufgrund des Erkenntnisinteresses, aber auch aus verschiedenen didaktischen und pädagogischen Gründen nicht an. Durch die komplexe Thematik war eine mehrwöchige Unterrichtseinheit angezeigt; zudem ist bekannt, dass der Lernerfolg außerschulischer Lernsituationen maßgeblich von der schulischen Einbettung abhängt (siehe Abschn. 4.​5.​3; Schmidt et al., 2011). Aufgrund des zeitlichen Umfangs des Vorhabens und der damit einhergehenden Multivariabilität der Lernsituation wäre ein quasi-experimentelle Anlage und ein Vergleich zwischen Lerngruppen mit und ohne außerschulische Begegnung mit Blick auf die interne und ökologische Validität forschungsmethodisch nicht aussagekräftig.
Zur empirischen Untersuchung wurde vor und nach der Lerneinheit eine Eingangs- und Abschlusserhebung durch einen Fragebogen mit offenen und geschlossenen Items vorgenommen. Die Veränderungen zwischen den zwei Messzeitpunkten wurden qualitativ-explorativ und quantitativ-statistisch betrachtet, um Rückschlüsse auf die Wirksamkeit der didaktischen Intervention zu ziehen (siehe Kap. 6). Abbildung 7.1 zeigt einen Überblick über die Aspekte der Urteilsbildung, die im Rahmen des Prä-Post-Designs betrachtet wurden.
Nachfolgend wird auf die zugrunde liegenden Konstrukte eingegangen. Die Darstellung der methodischen Umsetzung erfolgt in Abschnitt 7.1.3.
Themenspezifische Vorstellungen und Positionierungen
Im Sinne einer konstruktivistischen Lerntheorie wird angenommen, dass Lern- und Urteilsprozesse auf der Basis bestehender Vorverständnisse und Vorstellungen stattfinden, die es in Bildungsprozessen auszudifferenzieren und zu erweitern gilt (siehe Abschn. 3.​3.​3 „Zur Förderung politischer Urteilskompetenz“; Reinmann & Mandl, 2006, S. 625 f.; Lutter, 2021). Unter dem Begriff der Vorstellungen werden mentale Modelle zu einem bestimmten Phänomen oder Sachgebiet verstanden (Kattmann, 2005, S. 166). Vorstellungen stellen einen zentralen Aspekt der Urteilsbildung dar. Während die kognitive Psychologie terminologisch von Wissen spricht (Anderson, 2013), unterstreicht der Begriff der Vorstellungen den Charakter sozial konstruierter Wissensbestände, die als Deutungsmuster wiederum auf Lerngegenstände angewendet werden (Lutter, 2010). Es wird angenommen, dass Schüler*innenvorstellungen durch eine „individuelle orientierungsleitende Kohärenz und Änderungsresistenz“ gekennzeichnet sind (ebd., S. 74). Die Vorstellungen enthalten Werthaltungen und implizite Urteile (Seel, 2003, S. 51 f.) und stellen das Fundament, auf das explizite Urteile gefällt werden, dar. In konkreten Urteilssituationen fungieren die Schüler*innenvorstellungen als Prämissen, auf deren Basis argumentiert und ein politisches Urteil formuliert wird (Petrik, 2013a, S. 360–364). Der in politischen Bildungskontexten „angestrebte reflexive 'Um- und Neubau' konzeptuellen Wissens zielt in erster Linie auf die Erweiterung von individuellen Fähigkeiten politischen Urteilens und Handelns“ ab, d. h. die Vorstellungen haben sich „in der Bewältigung von politisch geprägten Problem- und Anforderungssituationen zu bewähren“ (Lutter, 2021, S. 65).
Das vorliegende Vorhaben leistet keine umfängliche Rekonstruktion von Schüler*innenvorstellungen zu einem Sachgebiet (Lutter, 2021), sondern betrachtet lediglich Vorstellungen und Positionierungen zu einem spezifischen Unterrichtsthema vor und nach der Lerneinheit. Auf diese Weise wird untersucht, inwieweit sich diese unter dem Eindruck der Lerneinheit entwickeln. Im Fokus steht damit die Genese der themenspezifischen Vorstellungen und Positionierungen unter spezifischen didaktischen Bedingungen.
Performanz im Bereich Analysieren und Urteilen
Wie in Abschnitt 3.​3.​2 dargelegt, können sich politische Kompetenzen wie die Analyse- und Urteilsfähigkeit auf verschiedenen Niveaus zeigen. Die Analyse von Argumentationen ermöglicht einen Zugang zu komplexen und für die Urteilsbildung bedeutsamen Denkprozessen (Duncan & Chinn, 2016; Kuhn, 1991; Mercier & Sperber, 2011). Argumentationen sind von einer dialektischen Dynamik gekennzeichnet, die sich zwischen Menschen, aber auch als innerer Dialog ereignen kann (Nussbaum, 2008). Jenes Abwägen ist eine zentrale Dimension der Analyse- und Urteilsfähigkeit (Autorengruppe Fachdidaktik, 2017, S. 146). Petrik (2012, S. 39 f.) zufolge kann über die formal-argumentative Performanz auf das politische Werturteil geschlossen werden.
Unter einer Förderung der politischen Urteilsbildung kann verstanden werden, dass sich der Grad der Komplexität in der Begründung eines Urteils erhöht (GPJE, 2004): Das kann etwa bedeuten, dass sich der Kreis antizipierter Akteur*innen-, Interessen- und Betroffenengruppen erweitert (Perspektivenübernahme), eine elaborierte Folgenreflexion gelingt sowie neben subjektiv-privaten Bezügen zunehmend systemisch-sozialwissenschaftliche Bezüge möglich sind (siehe Abschn. 3.​2.​2). Für die Auswertung war ursprünglich vorgesehen, die formale Komplexität der Argumentation in Anlehnung an das Vorgehen von Osborne et al. (2004) zu bestimmen. Sie unterscheiden fünf Niveaus: Auf dem niedrigsten Niveau finden unbegründete Behauptungen statt, Steigerungen der Niveaus ergeben sich aus einer zunehmenden Anzahl an Begründungselementen und dem Antizipieren von Einwänden.
Das Item, mit welchem die Performanz im Bereich Analysieren und Urteilen betrachtet werden sollte, konnte jedoch nicht ausgewertet werden (siehe Abschn. 7.1.4).
Themenspezifisches Selbstkonzept, themenspezifisches Interesse, nachhaltigkeitsbezogene Einstellungen
Interesse, Selbstkonzept sowie Einstellungen stellen relevante Facetten von Lernprozessen dar (Schiefele & Schaffner, 2020; Weinert, 2001; siehe Abschn. 2.​2). Sie haben einen Einfluss auf die Informationsverarbeitung in der Auseinandersetzung mit komplexen Themenstellungen und deren Bewertung (Hart et al., 2009; Sinatra et al., 2014). Sie stellen Bedingungen des Lernens und Urteilens, aber auch eigens zu fördernde Lernziele dar. Die Förderung von Interesse und intrinsischer Motivation wirkt sich günstig auf das Lernen aus, etwa wenn die Bedeutsamkeit des Lerngegenstands erfasst wird (Schiefele & Schaffner, 2020). Ein positives Selbstkonzept über die eigenen Fähigkeiten in einem bestimmten Bereich (Fähigkeitsselbstkonzept) kann sich, vermittelt über die Lernmotivation, positiv auf das Lernen in diesem Bereich auswirken (Hattie, 2013; Möller & Trautwein, 2020; Moschner & Dickhäuser, 2018). Das politische Interesse und eine positive Einschätzung der eigenen Fähigkeit, politische Themen zu verstehen, haben einen Einfluss auf die zivilgesellschaftliche Beteiligungsbereitschaft und die tatsächliche Beteiligung (Baumert et al., 2016; Westle, 2012). Im Kompetenzmodell von Detjen et al. (2012) zur Politikkompetenz stellen die einstellungs- und motivationsbezogenen Konstrukte – neben Fachwissen und Urteils- und Handlungsfähigkeit – zentrale Kompetenzfacetten dar, die sich fördernd auf die anderen Facetten auswirken (siehe auch Landwehr, 2017). Vor diesem Hintergrund kann angenommen werden, dass die genannten Konstrukte für den Bereich der politischen Urteilsbildung von zentraler Bedeutung sind. Wie im Abschnitt 3.​2.​1 dargelegt, sind für eine elaborierte Urteilspraxis, die mit einem hohen kognitiven Aufwand verbunden ist, Motivation und das Empfinden persönlicher Relevanz zentrale Einflussgrößen. Da sie die Verarbeitungsmotivation und somit die Tiefe der Verarbeitung (Elaboration) positiv beeinflussen können (Stroebe, 2014, S. 242), können sie sich damit auf die Urteilsbildung auswirken.
In der vorliegenden Studie wurden motivationale und einstellungsbezogene Aspekte vor und nach der Lerneinheit betrachtet. Die Konstrukte wurden dabei nicht global erfasst, sondern bereichsspezifisch, d. h. mit Blick auf die inhaltliche Ausrichtung der didaktischen Intervention. Erhoben wurde das themenspezifische Selbstkonzept im Umgang mit komplexen Problemstellungen, das themenspezifische Interesse zum Themenfeld Landwirtschaft und Ernährung als Konfliktfeld einer nachhaltigen Entwicklung und nachhaltigkeitsbezogene Einstellungen, wie etwa die Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Bereich Konsum- und Ernährungsverhalten (kognitive Ausrichtung bezüglich Effektivität der eigenen Einflussnahme) und die Bewertung des Nachhaltigkeitsdiskurses (affektive Ausrichtung bezüglich der gesellschaftlichen Thematisierung). Einstellungen zum Ernährungs- und Konsumverhalten (verhaltensbezogene Ausrichtung) sowie zur Beurteilung staatlichen Eingreifens (kognitive Ausrichtung) wurden erhoben, aber nicht ausgewertet, da sich die Skalen als inkonsistent erwiesen (siehe Abschn. 7.1.3). Darüber hinaus wurden in der Abschlusserhebung die Konstrukte zum subjektiven Lernzuwachs und zur Akzeptanz des außerschulischen Lernens erhoben.
Untersuchungsdurchführung
Im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit wurde die konzipierte didaktische Intervention in vier Durchgängen erprobt. Die erste Durchführung fungierte als Pilotstudie. Sie diente der Erprobung und Weiterentwicklung der Lerneinheit hinsichtlich der didaktischen Aufbereitung der Themenstellung und Integration der außerschulischen Begegnungen sowie der Pilotierung der Erhebungsinstrumente. Ein weiterer Durchgang musste aus organisatorischen Gründen vorzeitig abgebrochen werden. Somit werden in der vorliegenden Untersuchung zwei Durchgänge vollständig betrachtet, die im Folgenden mit Schulklasse 1 und Schulklasse 2 betitelt werden. Der Erhebungszeitraum umfasst die Jahre 2018/2019.
Die siebenwöchige Lerneinheit mit außerschulischen Begegnungen wurde als Unterrichtsprojekt in den regulären Fachunterricht integriert (zur Konzeption und zum Aufbau der Lerneinheit siehe Abschn. 5.​3). Die Kooperationen zu den Schulen und Lehrkräften wurden speziell für das Forschungsanliegen initiiert; entsprechende Genehmigungen wurden bei den Schulleitungen eingeholt. Im Vorfeld zur Durchführung wurden die Erziehungsberechtigen durch einen Elternbrief über das Projekt und die begleitende Untersuchung aufgeklärt und um Einverständnis gebeten.1 Der Ablauf der Untersuchung ist in der Tabelle 7.1 aufgeführt, aus der die einzelnen Untersuchungsschritte hervorgehen.
Tabelle 7.1
Ablauf der Untersuchung
Stunde
Lehr-Lern-Arrangement
Untersuchungsschritt
0
 
Eingangsdiagnostik
Argumentationsaufgabe
& Fragebogen
1
Landwirtschaft und Ernährung als Konfliktfeld einer nachhaltigen Entwicklung
Audiomitschnitt
2
Entwicklungen und Konflikte in der Landwirtschaft
Audiomitschnitt
3
Politik der Milch – Landwirtschaft und globalisierte
Audiomitschnitt
4
Außerschulische Begegnung mit konventionellen Landwirt*innen
Audiomitschnitt & Reflexionspapier
5
Exportorientierung. Das Für und Wider einer exportorientierten Milchwirtschaft
Audiomitschnitt
6
Außerschulische Begegnung mit den Umweltaktivist*innen
Audiomitschnitt & Reflexionspapier
7
Wie kann der Wandel der Landwirtschaft und Ernährung zur Nachhaltigkeit gelingen?
Audiomitschnitt
8
 
Abschlussdiagnostik
Argumentationsaufgabe
& Fragebogen
Sechs Wochen später:
 
Episodische Interviews zu Reflexions- und Sinnbildungsprozessen (siehe Kap. 8)
Die Eingangserhebung fand nach einer Begrüßung in der ersten Hälfte der ersten Doppelstunde statt (45 Min.); die Abschlusserhebung fand in der zweiten Hälfte der letzten Doppelstunde statt (45 Min.). Die Schüler*innen wurden im Vorfeld durch die verantwortliche Lehrkraft über das Vorhaben und den Ablauf der Erhebung informiert. Vor der ersten Bearbeitung des Fragebogens erhielten die Schüler*innen im Rahmen der Begrüßung die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Ihnen wurde die vertrauliche und anonymisierte Behandlung ihrer Daten zugesichert. Fragen, die sich auf das Verständnis der Items bezogen, wurden beantwortet – inhaltliche Fragen hingegen nicht, um die Untersuchung nicht zu beeinflussen. Von jeder Unterrichtsstunde wurden Audiomitschnitte und zum Teil auch Reflexionspapiere von den Schüler*innen angefertigt, die im Rahmen der vorliegenden Studie jedoch nicht berücksichtigt werden. Das Treffen fand bei der ersten Durchführung aufgrund inklusionsbedingter Besonderheiten der Lerngruppe in der Schule statt, die zweite Durchführung erfolgte in Räumlichkeiten der örtlichen Universität.
Die Interviewstudie ex post zur qualitativen Rekonstruktion längerfristiger, für die Urteilsbildung bedeutsamer Reflexions- und Sinnbildungsprozesse stellte den letzten Untersuchungsschritt dar und wird separat in Kapitel 8 dokumentiert.
Die gesamte Lerneinheit wurde von der forschenden Person durchgeführt. Dies war im Rahmen der schulischen Kooperationen und forschungspraktisch nicht anders zu ermöglichen und hatte den Vorteil, dass ein treatment check somit entfiel, um die erwünschte Umsetzung der Interventionsmaßnahme zu gewährleisten.

7.1.2 Stichproben

An der Untersuchung nahmen insgesamt 43 Schüler*innen des 11. Jahrgangs der gymnasialen Oberstufe teil – 25 Schülerinnen und 15 Schüler, drei Personen machten dazu keine Angabe.2 Vollständige Daten zu zwei Messzeitpunkten bestehen bei 34 Personen. Das durchschnittliche Alter der Schüler*innen lag bei 17 Jahren (M = 16.58, SD = .73). Die Untersuchungsgruppen stellen die Lerngruppen zweier Politikkurse dar. Die Teilnahme an der Lerneinheit war durch die Implementation in den Fachunterricht nicht freiwillig, die Teilnahme an den Studien (Eingangs- und Abschlusserhebung; Interviews) war den Schüler*innen jedoch freigestellt. Entsprechend des bundeslandspezifischen Kerncurriculums sollen sich die Schüler*innen u. a. mit dem Themenfeld Globale politische und ökonomische Prozesse auseinandersetzen.
In den zwei Schulklassen wurde die gleiche didaktische Intervention durchgeführt. Dennoch ist es mit Blick auf die Aussagekraft der Ergebnisse angezeigt, die Untersuchungsgruppen nicht zu einer Stichprobe zusammenzufassen. Die Schulklassen stellen Arbeitsbündnisse dar, die an einem spezifischen Unterricht teilgenommen haben, weshalb lerngruppenspezifische Unterschiede in den Ergebnissen möglich sind. Im Rahmen der Auswertung und Ergebnisdarstellung werden die jeweiligen Werte sowohl einzeln für die Schulklassen angegeben als auch in der Summe präsentiert.
Schulklasse 1
Die Schüler*innen der Schulklasse 1 des zweiten Untersuchungszyklus besuchten den 11. Jahrgang. Die Lerngruppe bestand insgesamt aus 20 Personen: 13 Schülerinnen, sechs Schülern und eine Person machte dazu keine Angabe. Im Rahmen der Prä-Post-Erhebung konnten 16 Teilnehmende berücksichtigt werden; jene waren zum Zeitpunkt der Eingangs- und Abschlusserhebung im Schulunterricht anwesend und füllten die Fragebögen und Tests aus. Das Durchschnittsalter lag bei 16 Jahren (M = 16.3, SD = .8). Die letzten Schulnoten in den Fächern Politik, Biologie, Physik, Philosophie bzw. Religion und Deutsch lagen im Mittel bei 2.23 (SD = .72; Politik: M = 2.32, SD = .67; Biologie: M = 2.11, SD = .81; Physik: M = 2.37, SD = .65; Philosophie/Religion: M = 2.05, SD = .85; Deutsch: M = 2.32, SD = .58). Ein Drittel der Befragten hat einen oder zwei Erziehungsberechtigte mit einem Hochschulabschluss.
Eingebunden wurde das Unterrichtsprojekt in das Fach Politik-Wirtschaft, wobei Stundenanteile aus dem Fach Erdkunde genutzt wurden. Aufgrund dessen standen mehrere Unterrichtsstunden innerhalb einer Woche zur Verfügung. Das Vorwissen der Lernenden konnte der Lehrkraft zufolge als gering eingeschätzt werden. In Berührung kam die Klasse mit Fragen um Nachhaltigkeit laut Angaben der Lehrkraft im Erdkundeunterricht des vergangenen Halbjahres. Eine gruppendynamische Besonderheit bestand darin, dass die Klasse erst kürzlich komplett neu zusammengesetzt wurde, wobei außerdem vier Schüler*innen mit Hörschädigung inkludiert wurden.
Schulklasse 2
Der dritte Untersuchungszyklus mit der Schulklasse 2 fand im Politik-Wirtschaft-Kurs einer 11. Klasse statt, den insgesamt 23 Personen besuchten – zwölf Schülerinnen und neun Schüler; zwei Personen machten keine Angabe. Im Rahmen der Prä-Post-Erhebung konnten 18 Teilnehmende berücksichtigt werden. Zwei Schülerinnen besuchten die Schule im Rahmen eines Schüleraustauschs; die Fragebögen wurden aufgrund geringer Deutschkenntnisse aus der Datenanalyse ausgeschlossen. Drei weitere Personen waren bei der Eingangs- und Abschlusserhebung nicht anwesend. Das Durchschnittsalter betrug 17 Jahre (M = 16.86, SD = .66).
Die letzten Schulnoten in den Fächern Politik, Biologie, Physik, Philosophie bzw. Religion und Deutsch lagen im Mittel bei 2.46 (SD = .88; Politik: M = 2.33, SD = .78; Biologie: M = 2.82, SD = .81; Physik: M = 2.62, SD = 1.12; Philosophie/Religion: M = 2.5, SD = .91; Deutsch: M = 2.05, SD = .78). Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass ein oder zwei Erziehungsberechtigte über einen Hochschulabschluss verfügen.
Eingebunden wurde das Unterrichtsprojekt in das Fach Politik-Wirtschaft. Das Vorwissen der Lernenden konnte der Lehrkraft zufolge als heterogen eingeschätzt werden und sei ebenfalls vor allem im Erdkundeunterricht vermittelt worden.

7.1.3 Instrumente: Fragenbogenerhebung im Prä-Post-Design

Zur Erhebung der für die politische Urteilsbildung bedeutsamen Lernprozesse, die möglicherweise im Rahmen der Lerneinheit angebahnt werden konnten, wurden die Konstrukte (siehe 7.1.1) themenspezifische Vorstellungen und Positionierungen, Performanz im Bereich Analysieren und Urteilen, themenspezifisches Selbstkonzept, themenspezifisches Interesse und nachhaltigkeitsbezogene Einstellungen untersucht und zu deren Erfassung ein Fragebogen konzipiert. Die Wahl des Erhebungsinstruments fiel auf den Fragebogen, da auf diese Weise alle Schüler*innen der Lerngruppen befragt werden konnten und so ein umfassendes Bild über potenzielle Konzeptdifferenzierung, Zuwächse hinsichtlich des Argumentationsniveaus und motivations- und einstellungsbezogene Effekte erfasst werden konnte. Je nach Konstrukt wurden offene oder geschlossene Items eingesetzt. Um die Wirkung der didaktischen Intervention zu prüfen, wurde eine Prä- und Post-Messung mit denselben Proband*innen durchgeführt (Döring, 2022, S. 209–212).
Im Folgenden werden die Erhebungsinstrumente vorgestellt.
Themenspezifische Vorstellungen und Positionierungen
Zur Erhebung der themenspezifischen Vorstellungen und Positionierungen wurden die Schüler*innen vor und nach der Lerneinheit mit offenen Items befragt. Die ersten beiden Fragen des Fragebogens bezogen sich auf die Entwicklung der Landwirtschaft und die damit verbundenen Auswirkungen (Frage 1a: „Wie hat sich die Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten verändert und welche Auswirkungen hat das?“) und die persönliche Meinung zur modernen Landwirtschaft (Frage 1b: „Wie ist Ihre Meinung zur modernen Landwirtschaft? Bitte begründen Sie Ihre Einschätzung.“). Sie zielen einerseits auf das Vorwissen zur Thematik und andererseits auf eine Positionierung der Jugendlichen ab. Auf diese Weise sollen das grundsätzliche Verständnis sowie etwaige Weiterentwicklungen infolge der didaktischen Intervention erfasst werden.
Performanz im Bereich Analysieren und Urteilen
Zur weiteren Untersuchung der Performanz im Bereich Analysieren und Urteilen wurden die Schüler*innen vor und nach der Lerneinheit aufgefordert, eine Argumentationsaufgabe unter der Überschrift Konfliktfeld „zukunftsfähige“ Landwirtschaft zu bearbeiten. Mit dieser Anforderungssituation sollte getestet werden, ob sich eine Komplexitätszunahme in der Argumentation der Schüler*innen feststellen lässt. Hierfür wurden die Schüler*innen mit einem fiktiven Zukunftsszenario konfrontiert: Für die Region soll beschlossen werden, dass lediglich eine ökologisch ausgerichtete Landwirtschaft betrieben werden und ein Großteil der regionalen Versorgung über direkten Verkauf zwischen Verbraucher*innen stattfinden soll (siehe Abschn. 5.​1). Zunächst wurden die Proband*innen zu einem Abwägen der Pro- und Contra-Argumente aufgefordert. Im zweiten Teil der Aufgabe wurden die Schüler*innen gebeten, zur Frage, ob die Maßnahme ihrer Meinung nach durchgesetzt werden soll, Stellung zu beziehen und ihre Meinung zu begründen („Was spricht dafür, was spricht dagegen? Nennen Sie möglichst viele Pro- und Contra-Argumente.“ und „Sollte die Maßnahme Ihrer Meinung nach durchgesetzt werden? Nehmen Sie begründet Stellung zu dieser Frage.“). Zur Anregung wurde der Hinweis gegeben, man könne beispielsweise auf verschiedene Perspektiven und Interessen, kurz- und langfristigen Handlungsfolgen, die regionale und globale Bedeutung sowie Werte, die für sie in dem Zusammenhang eine Rolle spielen, eingehen. Die Aufgabe zielte darauf ab, einen empirischen Eindruck davon zu erhalten, inwieweit es den Lernenden gelingt, sach- und wertbezogene Aspekte abzuwägen und ein politisches Urteil zu formulieren. Im Rahmen der Auswertung der Schüler*innenargumentationen sollte untersucht werden, inwieweit die Stellungsnahmen in ihrer Begründung an Komplexität gewinnen, um Erkenntnisse darüber zu generieren, ob eine elaboriertere Urteilsbildung angeregt werden konnte.
Erhebung motivations- und einstellungsbezogener Effekte
Zur Erhebung der motivations- und einstellungsbezogenen Effekte wurden die Schüler*innen mit geschlossenen Items befragt. Diese Items wurden im Rahmen einer Pilotierung getestet und zu Skalen zusammengefasst, die mit Blick auf ihre interne Konsistenz (Cronbachs Alpha) geprüft wurden. Alle Skalen wurden über die Selbsteinschätzung der Jugendlichen erhoben. Auf einer sechsstufigen Antwortskala wurde den Aussagen von „stimmt überhaupt nicht“ bis „stimmt genau“ von den Proband*innen eingeschätzt. Alle nachfolgend präsentierten Skalen liefern lediglich Hinweise für die Ausprägungen der jeweiligen Konstrukte. Alle Skalen und ihre jeweiligen Items sind im Anhang 1 im elektronischen Zusatzmaterial einsehbar.
Motivationsbezogene Aspekte. Die Erhebung motivationaler Lernvoraussetzungen erfolgte anhand verschiedener Skalen. Vor und nach der Lerneinheit wurde das themenspezifische Interesse und das themenspezifische Selbstkonzept bezüglich des Umgangs mit Komplexität erhoben. In den Formulierungen der jeweiligen Items wurde sich an Tyroller (2005) und Krause (2007) orientiert. Die Skalen umfassten a priori und a posteriori dieselben Items.
Die Skala zum themenspezifischen Selbstkonzept im Umgang mit Komplexität umfasste Items, die das Wissen um verschiedene Perspektiven (z. B. „Ich kenne verschiedene Perspektiven auf das Konfliktfeld Landwirtschaft.“) sowie affektiv-emotionale Dimensionen im Hinblick auf die Beurteilung (z. B. „Die Beurteilung komplexer politischer Problemstellungen um Nachhaltigkeit fällt mir schwer.“) erfassen. Dabei ist ebenfalls von Bedeutung, ob nachhaltigkeitsbezogene Problemstellungen eher als überfordernd (z. B. „Komplexe politische Problemstellungen um die Zukunft der Land- und Ernährungswirtschaft überfordern mich.“) oder anregend erlebt werden (z. B. „Die Komplexität von Fragen rund um das Thema Nachhaltigkeit regt mich zum Nachdenken an.“).
Das themenspezifische Interesse umfasste Items, die das Interesse an Landwirtschaft und Ernährung sowie an Fragen einer nachhaltigen Entwicklung (z. B. „Ich finde die Auseinandersetzung mit Fragen einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Gesellschaft spannend.“), an Problemen der modernen Landwirtschaft (z. B. „Ich finde es spannend, mich mit Problemen der modernen Landwirtschaft auseinanderzusetzen.“) sowie an regional-globalen Zusammenhängen (z. B. „Ich finde es spannend, Regionales in einen globalen Zusammenhang zu setzen.“) erfassen. Die Skalen umfassten ebenfalls a priori und a posteriori dieselben Items.
Im Rahmen der Abschlussdiagnostik wurden außerdem Skalen zum subjektiv empfundenen Lernzuwachs sowie zur Akzeptanz der außerschulischen Lernform eingesetzt. Die Skala zum subjektiven Lernzuwachs umfasste sieben Items. Auf einer sechsstufigen Skala schätzten die Jugendlichen ein, inwieweit sie den Eindruck haben, etwas gelernt zu haben (z. B. „Ich habe das Gefühl, durch die Auseinandersetzung mit den komplexen Zusammenhängen der Land- und Ernährungswirtschaft in der Region viel gelernt zu haben.“), ein tieferes Verständnis erlangt zu haben (z. B. „Durch das Unterrichtsprojekt habe ich ein tieferes Verständnis ernährungswirtschaftlicher Zusammenhängen erlangt.“) sowie insbesondere durch die außerschulischen Begegnungen etwas gelernt zu haben (z. B. „Durch die Begegnung mit der Vertreterin [der NGO] habe ich etwas dazugelernt.“3).
Die mit Blick auf eine höhere Reliabilität um ein Item bereinigte Skala zur Akzeptanz des außerschulischen Lernens bildete die Einschätzung der Schüler*innen ab, inwieweit die Integration außerschulischer Anteile positiv bewertet wird und als erwünscht gelten kann (z. B. „Ich würde die Integration außerschulischer Begegnungen in den Unterricht empfehlen.“).
Die folgende Tabelle 7.2 gibt einen Überblick über die Skalen und deren Reliabilitätskoeffizienten. Im Rahmen der statistischen Auswertung wurden nur jene Skalen ausgewertet, die einen akzeptablen Wert der internen Konsistenz aufwiesen (Cronbachs Alpha nicht unter .6) – dies trifft auf alle unten aufgeführten Skalen zu; alle anderen wurden aus der Auswertung ausgeschlossen. Lediglich bei der zuletzt aufgeführten Skala (Akzeptanz des außerschulischen Lernens) wurde aufgrund der Zwei-Item-Skala nicht Cronbachs Alpha, sondern der Spearman-Brown-Koeffizient zur Reliabilitätsanalyse berechnet (Eisinga et al., 2013).
Tabelle 7.2
Skalen zur Erfassung motivationaler Lernvoraussetzungen. Beispielitems, Itemanzahl und interne Konsistenz (Cronbachs α) bzw. Spearman-Brown-Koeffizient
Motivationale Aspekte
 
Schulklasse 1
Schulklasse 2
Variable
Beispielitem
N
α T1
α T2
α T1
α T2
Im Rahmen der Eingangs- und Abschlussdiagnostik
Themenspezifisches Interesse
Ich interessiere mich für die kontroverse Frage, wie die Landwirtschaft der Zukunft aussehen sollte.
15
.77
.94
.82
.77
Themenspezifisches Selbstkonzept
Ich kenne verschiedene Perspektiven auf das Konfliktfeld Landwirtschaft.
8
.73
.77
.73
.84
Nur im Rahmen der Abschlussdiagnostik
Subjektiver Lernzuwachs
Durch die intensive Beschäftigung mit dem Thema fühle ich mich nun sicherer, mich zu den kontroversen Fragen zu äußern.
7
 
.91
 
.62
Akzeptanz des außerschulischen Lernens
Ich würde gerne öfter Unterrichtsprojekte mit außerschulischen Anteilen erleben.
2
 
.81
 
.851
1 Reliabilitätsanalyse durch die Berechnung des Spearman-Brown-Koeffizienten
Nachhaltigkeitsbezogene Einstellungen. Zur Erhebung nachhaltigkeitsbezogener Einstellungen wurden zwei Skalen mit jeweils drei Items entwickelt, die ebenfalls mit einer sechsstufigen Likert-Skala erhoben wurden (von 1 „stimmt überhaupt nicht“ bis 6 „stimmt genau“). Sie zielten auf die Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Bereich des eigenen Konsum- und Ernährungsverhaltens sowie eine Bewertung des Nachhaltigkeitsdiskurses: Durch die Items wurde etwa erfasst, wie sehr die Jugendlichen den Eindruck haben, durch ein entsprechendes Ernährungsverhalten Einfluss auf die Umwelt zu nehmen oder inwieweit sie die Thematisierung von Nachhaltigkeitsfragen für wichtig erachten (siehe Anhang 1 im elektronischen Zusatzmaterial). Items, die die interne Konsistenz minderten, wurden ausgeschlossen. Die Skalen zur Erfassung nachhaltigkeitsbezogener Einstellungen sind der Tabelle 7.3 zu entnehmen.
Tabelle 7.3
Skalen zur Erfassung nachhaltigkeitsbezogener Einstellungen. Beispielitems, Itemanzahl und interne Konsistenz (Cronbachs α) je Schulklasse und Messzeitpunkt
Nachhaltigkeitsrelevante Einstellungen
 
Schulklasse 1
Schulklasse II
Variable
Beispielitem
N
α T1
α T2
α T1
α T2
Im Rahmen der Eingangs- und Abschlussdiagnostik
Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Bereich Konsum- und Ernährungsverhalten
Ich glaube, dass ich durch mein Ernährungsverhalten Einfluss auf die Umwelt nehmen kann.
3
.84
.74
.85
.69
Bewertung Nachhaltigkeitsdiskurs
Ich finde es wichtig, dass immer mehr über das Thema Nachhaltigkeit gesprochen wird.
3
.74
.85
.74
.87
Zwei weitere im Rahmen der vorliegenden Studie konzipierte Skalen4 zum Ernährungs- und Konsumverhalten sowie zur Beurteilung staatlichen Eingreifens wiesen niedrige Werte der internen Konsistenz auf, was entweder auf widersprüchliche Items oder widersprüchliches Antwortverhalten schließen lässt. Beide wurden deshalb aus der Auswertung ausgeschlossen.

7.1.4 Statistische und inhaltsanalytische Auswertung

Geschlossene Items. Die motivations- und einstellungsbezogenen Items wurden im Rahmen einer statistischen Auswertung analysiert. Zunächst wurden die Items zu Skalen zusammengefasst und hinsichtlich ihrer inneren Konsistenz geprüft (Reliabilitätsanalyse). Skalen wurden dann in die Auswertung miteinbezogen, wenn das Maß für die interne Konsistenz der Skala (Cronbachs Alpha) über einem Wert von .6 lag – ein Wert ab .8 gilt als aussagekräftig. In der nachfolgenden Analyse wurden die Mittelwerte vor und nach der Lerneinheit verglichen und zur statistischen Absicherung ein t-Test mit abhängigen Stichproben gerechnet, um die Signifikanz zu prüfen. Zur Einschätzung der ermittelten Effektstärke wurde Cohen’s d berechnet. Statistische Zusammenhänge mit den kognitiven Effekten konnten aufgrund des wie nachfolgend beschriebenen angepassten Auswertungsverfahrens nicht gerechnet werden.
Offene Items. Ursprünglich wurde das Ziel verfolgt, die offenen Items des Fragebogens einem Ratingprozess zu unterziehen, indem für jede Antwort ein Komplexitätsniveau bestimmt werden sollte – etwa indem die Mehrperspektivität, Folgenreflexion und Formulierung einer Beurteilung betrachtet wird (siehe Abschn. 3.​3.​2 und 3.​6). Auf diese Weise hätten Hinweise auf kognitive Effekte der Intervention ermittelt und in die statistischen Analysen miteinbezogen werden können. Aufgrund der Beschaffenheit des Materials wurde dieses Vorgehen im Auswertungsprozess nicht verfolgt: Insbesondere die Schüler*innenantworten der Abschlusserhebung waren sehr kurz, wenig elaboriert ausgeführt und meist ohne argumentative Struktur. Insofern erwies sich ein Ratingprozess als nicht zielführend.
Die Auswertung der Argumentationsaufgabe zur Untersuchung der aufgabenbezogenen Performanz im Bereich Analysieren und Urteilen wurde komplett aus der Auswertung ausgeschlossen. In nur acht Fällen wurde von den Schüler*innen eine Stellungnahme bzw. ein begründetes Urteil formuliert. Die vorbereitende Pro-Kontra-Auflistung war zwar überwiegend angefertigt; die Stellungnahmen wurden jedoch nur unzureichend mit einzelnen Sätzen oder gar nicht bearbeitet. Eine Bewertung der formalen Komplexität der Argumentation in Anlehnung an das Vorgehen von Osborne et al. (2004) war nicht möglich, da Begründungen für die Argumentationen meist nicht sorgfältig dargelegt wurden. Eine forschungsmethodische Diskussion erfolgt in Abschnitt 7.3.2.
Aufgrund dessen wurden Anpassungen in der Auswertungsstrategie vorgenommen und sich für eine inhaltsanalytische Auswertung entschieden. Die offenen Items zur Erhebung der themenspezifischen Vorstellungen und Positionierungen wurden mit einem Kategoriensystem sowie der Ermittlung von Besetzungshäufigkeiten zum ersten und zweiten Messzeitpunkt ausgewertet. Zur Erfassung der themenspezifischen Vorstellungen und Positionierungen vor und nach der Lerneinheit wurde gemäß des explorativen Forschungsinteresses eine induktive Kategorienbildung am Material vorgenommen. Die Modelle aus Abschnitt 3.​3.​2 dienten als Heuristiken und gewissermaßen deduktive Hintergrundfolien im Auswertungsprozess. In einem ersten Materialdurchlauf wurden relevante Ausprägungen der Aussagen der Schüler*innen herausgearbeitet und zu Kategorien verdichtet; in einem zweiten Materialdurchlauf wurde das finale Codierschema angewandt (siehe Anhang 2 im elektronischen Zusatzmaterial). Um einen systematischen Vergleich zwischen Eingangs- und Abschlusserhebung zu ermöglichen, wurden dabei die Besetzungshäufigkeiten der einzelnen Kategorien in Tabellen vermerkt (Auswertungsstrategie in Anlehnung an Fischer et al., 2016, S. 21 f.). 50 % des Materials wurden von einer weiteren Person codiert, um die Nachvollziehbarkeit der Kategorien sicherzustellen.

7.1.5 Forschungsethischer Kommentar

Über den gesamten Forschungsprozess wurden forschungsethische Aspekte berücksichtigt und realisiert, um einen ethisch verantwortungsvollen Umgang mit den Untersuchungspersonen zu garantieren (Döring, 2022, S. 119–129). Im Folgenden werden die Maßnahmen zur Einhaltung der Forschungsethik in der Datenerhebung und Datenanalyse dargelegt. Dabei wurde sich an den drei Prinzipien nach Sales und Folkman orientiert (2000; zit. nach Döring, 2022, S. 121):
1.
„Freiwilligkeit und informierte Einwilligung,
 
2.
Schutz vor Beeinträchtigung und Schädigung und
 
3.
Anonymisierung und Vertraulichkeit der Daten.“
 
In besonderer Weise wurde auf die Gewährleistung von Anonymität und Datenschutz geachtet. Der Schutz der Personen und ihrer Persönlichkeitsrechte ist in der vorliegenden Studie auch deshalb als besonders zentral herauszustellen, da es sich um eine Studie mit Minderjährigen handelt. Zum einen war daher die Aufklärung und Zustimmung der Erziehungsberechtigten erforderlich, zum anderen war die Transparenz und Zusicherung von Vertraulichkeit im pädagogischen Setting gegenüber den Schüler*innen von Bedeutung. In den Lerngruppen stimmten alle Schüler*innen einer Teilnahme zu.
Wie im Abschnitt 7.1.1 dargelegt (Abschnitt „Untersuchungsdurchführung“) wurden zunächst die Genehmigungen der Schulleitungen eingeholt. Die Erziehungsberechtigten wurden in einem Brief mit beiliegender Einverständniserklärung vorab über das Unterrichtsprojekt sowie die Ausrichtung und den Zweck der begleitenden Untersuchung aufgeklärt. Diese Aspekte wurden im Vorfeld durch die Lehrkraft und zu Beginn des Unterrichtsprojektes mit den Jugendlichen thematisiert und offene Fragen geklärt (Briefing). Die Freiwilligkeit der Teilnahme wurde betont und Anonymität zugesichert. Aufgrund des schulischen und damit leistungs- und beurteilungsbezogenen Rahmens wurde betont, dass das Recht besteht, die Teilnahme abzulehnen. Die Erziehungsberechtigten und die Schüler*innen wurden darüber informiert, dass sich aus einer Nicht-Teilnahme an der wissenschaftlichen Erhebung keine Nachteile und Konsequenzen für die schulische Leistungsbewertung ergeben. Dieser Aspekt wurde explizit auch von der zuständigen Lehrkraft gegenüber den Jugendlichen verbalisiert. Des Weiteren wurde verdeutlicht, dass eine Teilnahme am Unterricht davon unabhängig ist. Auf diese Weise wurde dem besonderen Abhängigkeitsverhältnis, in dem die Schüler*innen stehen, Rechnung getragen (Döring, 2022, S. 122).
Im Rahmen der Datenerhebung nahmen Schüler*innen unter einem selbstgenerierten Code teil, sodass eine Zuordnung der erhobenen Daten zu T1 und T25 möglich war. Diese Art der Anonymisierung hatte den Vorteil, dass sie auch für die Jugendlichen transparent, eingängig und plausibel ist. Auf diese Weise war das Rohdatenmaterial, das im Rahmen der Eingangs- und Abschlusserhebung generiert wurde, bereits weitestgehend anonymisiert, da keine Namen der Untersuchungsteilnehmenden vorkamen. Zur computergestützten Datenanalyse wurde das Datenmaterial digitalisiert und die Primärdatensätze wurden ordnungsgemäß archiviert. Im Rahmen der Datenaufbereitung wurde geprüft, ob die Datensätze der offenen Items Informationen enthalten, die zur Identifizierung von Personen führen könnten (Döring, 2022, S. 572) – dies war nicht der Fall.

7.2 Ergebnisse

Im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse der Interventionsstudie dargestellt, um die Forschungsfrage zu beantworten, inwieweit die Lerneinheit als didaktische Intervention Prozesse der politischen Urteilsbildung zu unterstützen vermochte. Zunächst werden die themenspezifischen vorstellungsbezogenen Progressionen (7.2.1) und etwaige Besonderheiten der Urteilsentwicklung dokumentiert (7.2.2). In einem darauffolgenden Schritt werden die Ergebnisse der quantitativen Evaluation und damit die motivations- und einstellungsbezogenen Effekte der Intervention vorgestellt (7.2.3).

7.2.1 Themenspezifische Vorstellungen und Positionierungen

Forschungsfrage 1a: Welche themenspezifischen Vorstellungen und Positionierungen zum Transformationsfeld Landwirtschaft und Ernährung zeigen sich bei den Jugendlichen und (wie) entwickeln sich diese weiter?
Die inhaltsanalytische Auswertung des offenen Items „Wie hat sich die Landwirtschaft entwickelt und welche Auswirkungen hat das?“ von insgesamt 34 Schüler*innen vor und nach der Lerneinheit ergab ein breites Spektrum an thematischen Bezügen und Bewertungen. Dabei wurde eine induktive (data-driven statt concept-driven) Kategorienbildung vorgenommen. Eine einzelne Codierung ist einer Person zuzuordnen – eine Person kann aber mehrere Aussagen getätigt haben, die verschiedenen Kategorien zugeordnet wurden. Die Abbildung 7.2 zeigt eine Übersicht der kategorial erfassten Aussagen der Schüler*innen im Rahmen der Eingangs- und Abschlusserhebung mit Haupt- und entsprechenden Subkategorien und stellt die fallübergreifende Struktur dar, wie sie sich in den Schüler*innenaussagen rekonstruieren ließ.
Im Folgenden werden die themenspezifischen Vorstellungen und Positionierungen zum Transformationsfeld Landwirtschaft und Ernährung vor und nach der Lerneinheit in separaten Abschnitten dargelegt. Der Vergleich zwischen den Messzeitpunkten erfolgt durch eine Betrachtung der jeweiligen Besetzungshäufigkeiten der Haupt- und Subkategorien. An die Analysen schließt jeweils eine Zusammenfassung an. Das gesamte Codierschema samt Besetzungshäufigkeiten je Schulklasse findet sich im Anhang 2 im elektronischen Zusatzmaterial.
Themenspezifische Positionierungen zur modernen Landwirtschaft
Die fallübergreifende Analyse ergab, dass die Jugendlichen den Entwicklungsprozess der Landwirtschaft als einen Modernisierungsprozess mit zunehmender Mechanisierung, Technisierung und Automatisierung erfassten, begleitet durch die intensivierte Globalisierung des Handels mit landwirtschaftlichen Gütern und Produkten. Dies hat bzw. hatte einen Strukturwandel der Landwirtschaft zufolge. Die zunehmende Effizienz der Landwirtschaft wurde in ihrer Ambivalenz wahrgenommen: positiv hinsichtlich der Produktivität sowie der Erleichterung der Arbeit als auch negativ hinsichtlich der Schwierigkeiten, die sich aus der Massenproduktion ergeben. In den Aussagen wurde auf die ökonomischen und ökologischen Folgen der modernen Landwirtschaft und damit verbundene Vor- und Nachteile für die Konsument*innen eingegangen.
Im Vergleich der Hauptkategorien mit Blick auf die Besetzungshäufigkeiten zum Zeitpunkt der Eingangs- und Abschlusserhebung offenbarten sich zunächst keine Zuwächse, was die Anzahl der Codierungen pro Kategorie betrifft – in sechs von sieben Hauptkategorien nahm die Anzahl ab, in einer blieb sie gleich. Die befragten Jugendlichen produzierten im Rahmen der Eingangserhebung mehr Text als in der Abschlusserhebung; dies spiegelte sich in der Anzahl an Codierungen wider. Die Tabelle 7.4 zeigt die thematischen Codes, die in den Aussagen der Jugendlichen zum Zeitpunkt der Eingangs- und Abschlusserhebung identifiziert werden konnten, ohne Aufführung der Subkategorien.
Tabelle 7.4
Besetzungshäufigkeiten der Hauptkategorien zu den themenspezifischen Vorstellungen (Anzahl der Codierungen) zu T1 und T2
Hauptkategorien
T1
T2
Schulklasse 1
Schulklasse 2
Insgesamt
Schulklasse 1
Schulklasse 2
Insgesamt
Modernisierung
13
19
32
7
15
22
Strukturwandel
12
8
20
11
7
18
Effizienz der Landwirtschaft
13
9
22
14
8
22
Globalisierung
12
7
19
7
5
12
Konsumbezogene Folgen
10
6
16
11
3
14
Ökonomische Folgen
16
3
19
13
5
18
Ökologische Folgen
5
24
29
16
9
25
Im Folgenden werden die einzelnen Kategorien in ihren Ausprägungen zur Eingangs- und Abschlusserhebung sowie hinsichtlich lerngruppenspezifischer Unterschiede vorgestellt. Die Werte, die zu T1 und T2 angegeben werden, stellen die Anzahl an Codierungen, also der kategorial erfassten Schüler*innenaussagen, dar. Weiterentwicklungen infolge der didaktischen Intervention lassen sich als Fokusverschiebungen innerhalb der Kategorien auf Ebene der Subkategorien nachvollziehen – dabei wird in der Ergebnisdokumentation ein Schwerpunkt darauf gelegt, welche Aspekte nach der Lerneinheit hinzukommen. Das gesamte Codierschema samt Besetzungshäufigkeiten je Schulklasse kann im Anhang 2 im elektronischen Zusatzmaterial nachvollzogen werden.
Ein Großteil der befragten Jugendlichen verwies auf die Modernisierung der Landwirtschaft (t1: 32; t2: 22 Codierungen), diese wurde überwiegend mit einer Technisierung bzw. dem Einsatz von Maschinen in Verbindung gebracht (t1: 24; t2: 10 Codierungen). Vereinzelt wurde auch auf den Einsatz von Düngemittel sowie die Züchtung von Lebensmitteln (t1: 6; t2: 1 Codierungen sowie zu t1: 2; t2: 0) eingegangen. In der Abschlusserhebung bezogen sich drei Personen auf die Spezialisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft, insgesamt nahmen die Bezüge zur Modernisierung der Landwirtschaft aber ab.
Ein weiteres Charakteristikum wurde in der Globalisierung der Landwirtschaft gesehen (t1: 19; t2: 12 Codierungen). Dabei bezogen sich einige Aussagen allgemein auf den internationalen Handel mit landwirtschaftlichen Gütern (t1: 8; t2: 6 Codierungen), andere ausschließlich auf die Bedeutung des Imports ausländischer Produkte (t1: 3; t2: 1 Codierungen) sowie auf die günstigere Produktion im Ausland (t1: 2; t2: 0 Codierungen) und die Vielfalt an Lebensmitteln (t1: 5; t2: 0 Codierungen), die dadurch gegeben ist. Im Rahmen der Abschlusserhebung führten die Jugendlichen ebenfalls die Exportorientierung auf. Da zugleich die Aussagen zum Import zurückgehen, kann dies als Hinweis auf eine Fokusverschiebung gedeutet werden (Import: t1: 4; t2 Codierungen: 0; Export: t1: 0; t2: 6 Codierungen).
Als Folgen dieser vor allem als Modernisierungs- und Globalisierungsprozess aufgefassten Entwicklungen wurden Auswirkungen beschrieben, die unter der Kategorie des Strukturwandels zusammengefasst wurden (t1: 20; t2: 18 Codierungen): Dabei entfielen die meisten Äußerungen auf den Aspekt, dass durch die Technisierung weniger Beschäftigte in der Landwirtschaft tätig sind und die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe abgenommen hat (t1: 15; t2: 7 Codierungen). Einige Jugendlichen schrieben in der Eingangserhebung von „Kündigungen“ der Beschäftigten, wobei dies möglicherweise ein Hinweis darauf ist, dass ihnen die überwiegende Selbstständigkeit von Landwirt*innen nicht bekannt ist. Zugleich wurde die steigende Zahl und Bedeutung von Großbetrieben angeführt: von t1 zu t2 stieg die Anzahl der Codierungen von fünf auf elf. Diese Fokusverschiebung kann als Hinweis gedeutet werden, dass verstärkt die Veränderungen unternehmerischer Strukturen erfasst wurden.
Im Kontext des Strukturwandels konnten Aussagen der Jugendlichen kategorisiert werden, die sich auf die gestiegene Effizienz in der Landwirtschaft bezogen (t1: 22; t2: 22 Codierungen). Dabei konnten die Aussagen in solche, die die gestiegene Produktivität und Erleichterung der Arbeit positiv herausstellten (t1: 13; t2: 6 Codierungen), und solche, in denen die Massenproduktion von Lebensmitteln sowie auch Massentierhaltung in negativer Konnotation angeführt wurde (t1: 9; t2: 16 Codierungen), differenziert werden. Die Anzahl der kritisch konnotierten Codierungen stieg in der Ausgangserhebung in beiden Lerngruppen.
In vielen Aussagen wurden die positiven und problematischen Folgen für die Konsument*innen thematisiert. Während die Vorteile vor der Lerneinheit überwogen (t1: 11; t2: 6 Codierungen), überwogen die Probleme zum Zeitpunkt der Abschlusserhebung (t1: 5; t2: 8 Codierungen). Grundlegend positiv hervorgehoben wurde das vergrößerte Angebot an Lebensmitteln für eine gewachsene und wachsende Weltbevölkerung (t1: 6; t2: 5 Codierungen), die erschwinglichen Lebensmittel (t1: 4; t2: 1 Codierung) sowie das wachsende Bewusstsein der Konsument*innen (t1: 1; t2: 0 Codierungen). Als problematische Aspekte wurden der hohe Fleischkonsum (t1: 4; t2: 2 Codierungen), das Desinteresse der Konsument*innen (t1: 0; t2: 2 Codierungen), die Intransparenz für die Konsument*innen (t1: 0; t2: 2 Codierungen) sowie die Minderung der Qualität (t1: 1; t2: 2 Codierungen) thematisiert.
In einer weiteren Kategorie wurden die Aussagen codiert, in denen die ökonomischen Folgen thematisiert werden (t1: 19; t2: 18 Codierungen). Diese konnten differenziert werden in Aussagen, die die betriebswirtschaftliche Perspektive betrafen (t1: 15; t2: 10 Codierungen), und Aussagen, in denen eine eher volkswirtschaftliche Perspektive eingenommen wurde (t1: 4; t2: 10 Codierungen). In betriebswirtschaftlicher Perspektive wurde auf den Modernisierungs- und Konkurrenzdruck insbesondere für die kleineren landwirtschaftlichen Betriebe eingegangen (t1: 6; t2: 3 Codierungen) – zu t1 wurde dies eher in den Kontext einer umzusetzenden Technisierung betrachtet, während die Aussagen zu t2 auf den Wettbewerb auf globalisierten Märkten infolge einer stärkeren Exportorientierung Bezug nahmen. Außerdem wurde der geringere Verdienst (t1: 4; t2: 4 Codierungen) sowie zu t1 die geringere gesellschaftliche Wertschätzung (t1: 2; t2: 0), die unfairen Arbeitsbedingungen (t1: 2; t2: 0) und die Gründung von Genossenschaften (t1: 2; t2: 0) genannt. Zu t2 beschrieben drei Personen, dass es zunehmend zu betrieblichen Umstellungen auf eine ökologische Landwirtschaft kommt (t1: 0; t2: 3). In volkswirtschaftlicher Perspektive wurde auf die Priorität der Gewinnorientierung (t1: 2; t2: 2 Codierungen), auf die Volatilität des Marktes (t1: 0; t2: 4 Codierungen), die Kartellbildung in der Ernährungsindustrie (t1: 1; t2: 1 Codierung) sowie die Überproduktion und den Überfluss an Lebensmitteln (t1: 1; t2: 3 Codierungen) eingegangen. Während die betriebswirtschaftliche Perspektive bereits zu t1 stärker vertreten war, kommt die volkswirtschaftliche Perspektive zu t2 dazu, sodass die Perspektiven hinsichtlich der Zahl der Codierungen gleichwertig vertreten waren. Die Anzahl an Codierungen insgesamt war in der Schulklasse 1 deutlich höher.
In einer weiteren Kategorie wurden die Aussagen codiert, in denen die ökologischen Folgen thematisiert wurden (t1: 29; t2: 25 Codierungen). Die meisten Codierungen bezogen sich auf den Aspekt Flächenbedarf und daraus resultierende Landnutzungskonflikte in der Schulklasse 2 zum Messzeitpunkt 1 – dies stellte offenbar parallel das Unterrichtsthema im Geografieunterricht dar. Ließe man jene Subkategorie unberücksichtigt, erhöhte sich die Anzahl der Codierungen zu den ökologischen Folgen zu t2 (t1: 19; t2: 25 Codierungen). Einige Jugendliche thematisierten die Übernutzung der natürlichen Ressourcen (t1: 7; t2: 10 Codierungen), indem etwa auf die abnehmende Fruchtbarkeit von Böden durch Monokulturen eingegangen wurde. Darüber hinaus wurde der CO2-Ausstoß durch die Transportwege der Lebensmittel (t1: 3; t2: 6 Codierungen) angeführt. Des Weiteren wurden die nicht-artgerechte Tierhaltung (t1: 1; t2: 5 Codierungen), mögliche Gesundheitsrisiken aufgrund von Gentechnik und Medikamenteneinsatz (t1: 1; t2: 2 Codierungen), die Reduzierung der Artenvielfalt (t1: 1; t2: 1 Codierung), der CO2-Ausstoß durch den Fleischkonsum (t1: 0; t2: 2 Codierungen), die ökologischen Folgen durch den Einsatz von Maschinen (t1: 0; t2: 2 Codierungen) sowie der hohe Wasserbedarf der Landwirtschaft (t1: 0; t2: 1 Codierung) genannt. Mit Ausschluss der oben genannten Kategorie ließ sich zwar eine Erhöhung der thematisierten Bezüge feststellen (t1: 19; t2: 25 Codierungen), jedoch zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den Lerngruppen: In der Schulklasse 1 nahm die Anzahl umweltbezogener Codes deutlich zu, während die Anzahl bei der Schulklasse 2 zu t1 sehr hoch war und zu t2 deutlich abnahm.
Zusammenfassung. Welche übergreifenden Erkenntnisse lassen sich aus der inhaltsanalytischen Auswertung ableiten? Aufgrund des geringeren Rücklaufs zum Zeitpunkt der Abschlusserhebung sind die Schlussfolgerungen in ihrer Aussagekraft begrenzt – dies spiegelt sich auch in der Gesamtzahl der Codierungen zu den zwei Messzeitpunkten wider (t1: 157, t2: 131 insgesamt vergebene Codes). Dennoch ließen sich Entwicklungen auf der Ebene der Subkategorien identifizieren, die Hinweise für Veränderungen der themenspezifischen und urteilsrelevanten Vorstellungen darstellen.
Die Analyse der themenspezifischen Vorstellungen zeigt, dass die Jugendlichen bereits vor der Lerneinheit über Vorwissen zum Themenfeld Landwirtschaft und Ernährung verfügten. In den Schüler*innenantworten wurde das Verständnis einer Entwicklung und historischen Gewordenheit der Landwirtschaft kundgetan, die durch einen Modernisierungs- und Globalisierungsprozess sowie einen entsprechenden Strukturwandel der Landwirtschaft gekennzeichnet ist. Die Jugendlichen hatten darüber hinaus ein Verständnis über die vielfältigen ökonomischen, ökologischen und konsumbezogenen Auswirkungen. Dieser Befund gilt für den Zeitpunkt vor und nach der Lerneinheit.
Im Vergleich der kategorial erfassten Bezüge vor und nach der Lerneinheit deuten sich Fokusverschiebungen in den themenspezifischen Vorstellungen im Sinne der didaktischen Intervention an. Jene Fokusverschiebungen sind Hinweise darauf, dass Vorstellungen weiter differenziert und erweitert werden konnten. Nach der Lerneinheit fanden sich verstärkt Bezüge zur Exportorientierung der deutschen Landwirtschaft sowie zur Bedeutung von Großbetrieben und Massentierhaltung. Die Vorstellung eines Wirtschaftssektors, der hierzulande rückläufig ist, während die Versorgung durch den Import von Lebensmitteln sichergestellt ist, scheint einer umfassenderen und differenzierteren Sicht auf die zeitgenössische Landwirtschaft gewichen zu sein. Darüber hinaus zeigten sich nach der Lerneinheit verstärkt ökonomische Bezüge in eher volkswirtschaftlicher Perspektive, in denen die Volatilität der Märkte, die zu Preisschwankungen führen, sowie die Überproduktion und der Überfluss von Lebensmitteln problematisiert wurden. Der Druck, der auf landwirtschaftliche Betriebe lastet, wurde weniger in einer nachzuholenden Technisierung, sondern verstärkt in der Anforderung gesehen, am Markt wettbewerbsfähig zu sein. Auch hierin deutete sich damit das Hinzukommen eines Aspektes an, der für das Verständnis gegenwärtiger Herausforderungen wichtig ist. Bei den konsumbezogenen Auswirkungen gerieten negative Entwicklung in den Blick, während die Produktvielfalt weniger oft positiv hervorgehoben wurde. So wurde etwa das Desinteresse der Konsument*innen, aber auch die Intransparenz für die Konsument*innen oder auch die Minderung der Qualität der Produkte problematisiert. Auf ökologische Folgen der modernen Landwirtschaft wurde nach der Lerneinheit (sofern eine Kategorie nicht berücksichtigt wird) häufiger Bezug genommen. Dabei wurde vor allem auf die Übernutzung natürlicher Ressourcen, den CO2-Ausstoß durch globale Transportwege, Fleischkonsum und einer zunehmend als nicht-artgerecht empfundenen Tierhaltung eingegangen.
Die themenspezifischen Vorstellungen der Jugendlichen konnten insofern erweitert und ausdifferenziert werden, als die systemische und strukturelle Dimension des Themenfeldes stärker in den Vordergrund rückte. Der Bezug zu einem gesellschaftlichen Transformationsprozess in Richtung Nachhaltigkeit wurde häufiger hergestellt. Komplexe Bedingtheiten und Ambivalenzen der Produzent*innen, Konsument*innen und weiteren Akteur*innen waren nach der didaktischen Intervention in der Gesamtschau stärker vertreten. Das Verständnis über strukturelle Bedingungen zeigt sich an den Bezügen zu einer ressourcenintensiven, globalisierten Landwirtschaft, die die Bedürfnisse einer anspruchsvollen Konsumgesellschaft durch Massenproduktion befriedigt, was gerade kleinere bis mittlere Erzeuger*innen unter Modernisierungs- und Konkurrenzdruck setzt. Die Konfliktlinien, Zielkonflikte und unterschiedlichen Interessenlagen, die die Thematik durchziehen, waren in vielen Schüler*innenäußerungen implizit enthalten, auch wenn sie von den meisten Schüler*innen nicht als solche explizit (im Sinne einer abstrakteren Perspektivenkoordination) benannt wurden.
In einer fallübergreifenden Betrachtungsweise ist damit eine Komplexitätszunahme im Sinne der didaktischen Intervention auszumachen. Die Ausführungen der Jugendlichen auf der Fallebene sind in ihrer Elaboriertheit unterschiedlich. Wie die Dokumentation der inhaltsanalytischen Auswertung in den Subdimensionen gezeigt hat, wird auf viele Einzelaspekte Bezug genommen. Während in den ‚leistungsschwächeren‘ Antworten Einzelaspekte lediglich genannt wurden, unverbunden nebeneinanderstehen und in ihrer Bedeutung diffus blieben, gelang in leistungsstärkeren Antworten eine Integration jener und Verdichtung zu komplexeren Zusammenhängen.
Positionierungen zur modernen Landwirtschaft
In einem nächsten Schritt werden die Aussagen der Jugendlichen zum offenen Item „Wie ist deine Meinung zur modernen Landwirtschaft?“ betrachtet. Zwar waren auch in den bisher betrachteten Aussagen zu den themenspezifischen Vorstellungen Positionierungen enthalten, jedoch werden im nachfolgenden Abschnitt die Äußerungen zur genannten Frage analysiert, die explizit Sach- und Wertaspekte der eigenen Meinungsbildung gegenüber der modernen Landwirtschaft zum Ausdruck bringen. Die Jugendlichen griffen dabei oft auf bereits vorgebrachte Aspekte des ersten offenen Items zurück – lediglich eine Person räumte in der Eingangserhebung ein, aufgrund unzureichenden Wissens keine Meinung zum Thema zu haben.
Am Material konnten drei Kategorien gebildet werden, unter die die Aussagen der Jugendlichen subsumiert werden konnten: Status quo würdigende, problematisierende und handlungsbezogene Positionierungsaspekte. Tabelle 7.5 zeigt die Kategorien mit ihren Besetzungshäufigkeiten in den Schulklassen vor und nach der Lerneinheit.
Tabelle 7.5
Besetzungshäufigkeiten der Hauptkategorien zu den themenspezifischen Positionierungen zu T1 und T2
Hauptkategorien
T1
T2
Schulklasse 1
Schulklasse 2
Insgesamt
Schulklasse 1
Schulklasse 2
Insgesamt
Status quo würdigende
Positionierungsaspekte
13
13
26
9
17
26
Problematisierende
Positionierungsaspekte
26
19
45
21
24
45
Handlungsbezogene
Positionierungsaspekte
12
5
17
10
8
18
Unter den Status quo würdigenden Positionierungsaspekten fanden sich vor allem Positionierungen, in denen die Fortschrittlichkeit und Effizienz (t1: 17; t2: 14 Codierungen) und sich daraus ergebende Produktivität des gegenwärtigen Ernährungssystems angeführt wurden. Es wurde vorgebracht, dass Nahrungsmittel mit weniger Einsatz und einer geringeren Beanspruchung von Mensch und Tier hergestellt werden können. Dies hat als Vorteil zur Folge, dass potenziell viele Menschen ernährt werden können (t1: 4; t2: 4 Codierungen) und eine saisonunabhängige Angebotsvielfalt angeboten werden kann (t1: 3; t2: 2 Codierungen), was auch den Konsum exotischer Produkte ermöglicht. Einige Jugendliche betonten, dass bereits Veränderungen der Landwirtschaft im Gange sind, um die ökologischen und ökonomischen Probleme abzumildern (t1: 2; t2: 4 Codierungen), wobei sich der explizite Bezug auf den zunehmenden und als begrüßenswert gekennzeichneten Ausbau einer ökologischen Landwirtschaft erst zu t2 zeigte. Auch erst zum zweiten Messzeitpunkt zeigten sich Positionierungen, in denen die Tierhaltung als „gut“ und das schlechte Ansehen als unbegründet bewertet wurde (t1: 0; t2: 2 Codierungen). Insgesamt ließ sich in dieser Kategorie eine vage Tendenz von einer wertschätzenden Betrachtungsweise des modernen Ernährungssystems als historischer Errungenschaft hin zu zeitgenössischen Diskursen feststellen. Der Status quo des Ernährungssystems legitimierte sich in der Auffassung vieler Jugendlichen durch den output – das Ziel, die Ernährung sicherzustellen und modernen Konsumansprüche zu befriedigen, werde durch die moderne Landwirtschaft erreicht – dennoch wurden in den allermeisten Stellungnahmen auch die ökologischen und sozialen Kosten des Systems problematisiert.
Die problematisierenden Positionierungsaspekte, in denen die negativen Folgen der modernen Landwirtschaft betont wurden, überwogen vor und nach der Lerneinheit. Codiert wurden in dieser Kategorie Aussagen, die Schwierigkeiten und Veränderungsbedarfe konstatierten. Viele Aussagen bezogen sich auf die ökologischen Folgen (t1: 17; t2: 7 Codierungen) der modernen Landwirtschaft, die in vielen Äußerungen eher vage als „schlecht für die Umwelt“ gefasst wurden – jene recht allgemeine Kategorie war zum Zeitpunkt der Abschlusserhebung deutlich weniger besetzt und wich anderen thematischen Bezügen. Viele Jugendliche positionierten sich kritisch gegenüber dem unachtsamen Konsumverhalten vieler Konsument*innen – beispielsweise befördere der hohe Fleischkonsum die Massentierhaltung (t1: 6; t2: 4 Codierungen). Zudem wurde die Haltung der Konsument*innen kritisiert, hohe Ansprüche an die Lebensmittel und die Herstellungsweise zu haben, jedoch wenig zahlen zu wollen und wenig Verständnis für die landwirtschaftlichen Betriebe zu haben (t1: 0; t2: 3 Codierungen nur in Schulklasse 1). In vielen Meinungsäußerungen wurde sich kritisch auf die Massentierhaltung bezogen (t1: 5; t2: 7 Codierungen), während sich diese Zahl erhöhte, nahmen die kritischen Bezüge auf den Import von Lebensmitteln leicht ab (t1: 3; t2: 1 Codierungen).
Insbesondere zum Zeitpunkt der Eingangserhebung bestanden viele einzelne Nennungen von als problematisch erachteten Aspekten: der hohe Energieverbrauch, die Züchtung von Lebensmitteln, eine schlechte Bezahlung (jeweils t1: 1; t2: 0 Codierungen) sowie Landnutzungskonflikte (t1: 2; t2: 0 Codierungen) und Gefahren durch Gentechnik oder Schadstoffe (t1: 2; t2: 1 Codierungen). Während vor der Lerneinheit vermehrt Probleme durch die technische Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft (t1: 4; t2: 2 Codierungen) aufgeführt wurden, rückten nach der Lerneinheit vermeintliche Umweltbelastungen durch Digitalisierung und Maschinen (t1: 0; t2: 3 Codierungen) sowie Probleme der Überproduktion in den Fokus (t1: 1; t2: 3 Codierungen).
Zum Zeitpunkt der Abschlusserhebung schienen sich einige Aspekte zu umfassenderen Urteilen zu verdichten. So wurde übergreifender kritisiert, dass Nachhaltigkeit keine Priorität darstelle (t1: 0; t2: 2 Codierungen) und das Ernährungssystem zu sehr auf das Prinzip der Gewinnmaximierung ausgerichtet sei (t1: 0; t2: 2 Codierungen). Zugleich zeigte sich vereinzelt auch ein systemisches Verständnis für die Bedingungen des Transformationsprozesses: der internationale Wettbewerbsdruck auf vor allem kleinere bis mittelgroße Betriebe schränke den Handlungsspielraum ein und erschwere Veränderungen in Richtung Nachhaltigkeit (t1: 2; t2: 4 Codierungen). In drei Äußerungen zu t2 wurde in dem Zusammenhang darauf insistiert, dass eine Umstellung auf ökologische Produktionsweise für die Erzeuger*innen an bestimmte Voraussetzungen geknüpft und nicht ohne Weiteres umzusetzen sei. Zwei Jugendliche resümierten in ihrer Stellungnahme nach der Lerneinheit, dass das Ziel der Ernährungssicherheit mit dem Ziel der Nachhaltigkeit in Konflikt stünde.
Auf ein konkretes Handeln bezogene Urteile waren insgesamt seltener; sie wurden als handlungsbezogene Positionierungsaspekte codiert (t1: 17; t2: 18 Codierungen). Sie unterschieden sich von den Positionierungsaspekten, die lediglich Vor- und Nachteile konstatierten. Sie stellten tendenziell evaluative Urteile dar, die eine potenziell handlungsleitende Schlussfolgerung für das politische Handeln – im Sinne eines „Man sollte… “ – beinhalteten. Viele Meinungsäußerungen bezogen sich darauf, dass die Konsument*innen ihr Verhalten ändern müssten, denn die Nachfrage bestimme den Markt (t1: 9; t2: 5 Codierungen). Diese Überzeugung wurde von den Jugendlichen häufig sogar mit einem Ausrufezeichen versehen. Dieser Aspekt wurde nach der Lerneinheit weniger oft angeführt. Darüber hinaus plädierten zwei Personen dafür, dass es verstärkt umweltfreundlichen technologischen Fortschritt brauche (t1: 2; t2: 0 Codierungen).
Die Positionierungsaspekte, die an eine politische Steuerung appellierten, stiegen in der Besetzungshäufigkeit zum Zeitpunkt der Abschlusserhebung deutlich an. Explizit wurde gefordert, die Politik müsse insgesamt mehr tun, etwa indem stärker durch wirtschaftliche Regulierungen eingegriffen würde (t1: 1; t2: 3 Codierungen). Darüber hinaus solle das Ziel der Nachhaltigkeit zur Priorität werden (t1: 5; t2: 10 Codierungen): Es brauche dafür auch vermehrt biologische Landwirtschaft, eine verstärkte Achtung des Tierwohls sowie eine regionalere Landwirtschaft und Ernährungsweise. Eine Person schrieb, es müssten Grundsätze zur Förderung von Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft etablieren werden, damit „das an sich gute System nun auch wieder besser für die Landwirte und besser für die Umwelt wird“. Bei den Aussagen, die handlungsbezogene Positionierungsaspekte umfassten, zeichnete sich damit in der Gesamtschau eine leichte Tendenz ab, in der die Forderungen, die an die Konsument*innen gerichtet sind, weniger wurden und stattdessen häufiger auf das Ziel der Nachhaltigkeit als öffentlich zu gestaltende Aufgabe insistiert wurde.
Zusammenfassung. Die leichten Veränderungen in den formulierten Urteilen der Jugendlichen korrespondieren mit den Fokusverschiebungen in den themenspezifischen Vorstellungen. Es deutet sich die Tendenz an, dass historische Bezüge durch zeitgenössische Gestaltungsfragen ergänzt wurden, sich Einzelaspekte zu umfassenderen, struktureller orientierten Einsichten verdichteten und damit das Verständnis eines systemischen Handlungsbedarfs gestärkt wurde. Die Urteile wurden insofern komplexer, als sich die Reichweite der Urteile erweiterte – hin zu umfassenderen Einsichten, die bei einzelnen Jugendlichen in eine systemisch orientierte Problematisierung mündeten. In vielen Stellungnahmen wurden verschiedene Perspektiven von Akteur*innengruppen berücksichtigt, vorwiegend Perspektiven von Konsument*innen und von Landwirt*innen. Zum zweiten Messzeitpunkt kam zwar vereinzelt die Nennung von Lebensmittelkonzernen hinzu, jedoch ließen sich keine großen Unterschiede bzw. Entwicklungen hinsichtlich der berücksichtigten Interessengruppen nachvollziehen. Bei den handlungsbezogenen Positionierungen zeigte sich eine Abnahme der Adressierungen an die Eigenverantwortung der Konsument*innen. Stattdessen wurden zunehmend Urteile formuliert, die sich auf die öffentliche Gestaltung der nachhaltigkeitsbezogenen Problemstellung bezogen. Dies ist aus politikdidaktischer Perspektive bemerkenswert, da dies als Hinweis darauf gedeutet werden kann, dass eine Ausweitung der Perspektive auf mögliche politische Handlungsebenen angeregt wurde. Diese Ergebnisse entsprechen der Zielsetzung der Intervention (siehe Abschn. 5.​3.​1 und Kap. 6).
Allerdings zeigen sich auch Befunde, die im Rahmen der didaktischen Intervention nicht anvisiert wurden. Offenbar kontrovers ist die Beurteilung der Massentierhaltung: Es zeigten sich nach der Lerneinheit sowohl mehr kritische als auch mehr relativierende Aussagen als vor der Lerneinheit. Die Zunahme an Codierungen bezüglich der Umweltbelastungen durch Digitalisierung und Maschinen kann vor dem Hintergrund der Inhalte der Lerneinheit nicht erklärt werden. Bei der zunehmenden Problematisierung der Überproduktion stellt sich die Frage, inwiefern die thematisierte Milchkrise zu pauschalen Schlussfolgerungen geführt hat: Im Kontext der Lerneinheit ging es um die Milchkrise, die durch den Wegfall der Milchquote und das zeitweilige Überangebot ausgelöst worden war. Die Überproduktion war im Kontext der Unterrichtsthematik also als ein zeitweiliges Resultat einer wirtschaftspolitischen Änderung thematisiert worden. Sie wurde von den Schüler*innen möglicherweise aber auch als ein grundsätzliches Problem der zeitgenössischen Landwirtschaft gewissermaßen übergeneralisiert – zugleich besteht aber auch tatsächlich die Tendenz zur Überproduktion in der Landwirtschaft, durch Agrarsubventionen (FAO et al., 2021) sowie die eingeschränkte Lagerfähigkeit verderblicher Waren, weshalb Schwankungen von Angebot und Nachfrage schlechter ausgeglichen werden können.

7.2.2 Besonderheiten der Urteilsentwicklung

Forschungsfrage 1b: Welche Besonderheiten der Urteilsentwicklung lassen sich nachvollziehen?
Die Forschungsfrage 1b kann nur eingeschränkt beantwortet werden, da die Argumentationsaufgabe aufgrund des geringen Rücklaufs und Ertrags nicht ausgewertet werden konnte. Dennoch soll an dieser Stelle auf einige Besonderheiten der Urteilsentwicklung auf der Basis des Items zur themenspezifischen Positionierung eingegangen werden, die sich im Auswertungsprozess als auffällig herausgestellt haben. Ziel der didaktischen Intervention war es nicht, eine Meinungsänderung herbeizuführen, sondern die Urteilsqualität insofern zu verbessern, dass Perspektiven von verschiedenen Akteur*innen wahrgenommen, Probleme benannt und Folgen reflektiert werden (siehe Abschn. 3.​3.​2 und 3.​6). Die Ergebnisse der inhaltsanalytischen Auswertung zu Forschungsfrage 1a (siehe Abschn. 7.2.1) zeigten bereits, dass die von den Schüler*innen aufgeführten inhaltlichen Bezüge zum Zeitpunkt der Eingangs- und Abschlusserhebung weitgehend stabil blieben und sich lediglich leichte Veränderungen auf der Ebene der Subkategorien identifizieren ließen. Wie dokumentieren sich diese subtilen Veränderungen als Nuancen in den Äußerungen der einzelnen Schüler*innen? Im Folgenden wird ein Einblick in die Entwicklung der themenspezifischen Positionierungen der Schüler*innen zur modernen Landwirtschaft auf Fallebene gegeben.
Im Vergleich der Positionierungen auf Fallebene zu zwei Messzeitpunkten zeigt sich in vielen Fällen, dass die Schüler*innen nach sieben Wochen häufig ähnliche thematische Bezüge herstellten: Beispielsweise beurteilte ein*e Befragte*r die moderne Landwirtschaft sowohl zum ersten als auch zum zweiten Messzeitpunkt im Hinblick auf die abnehmende Anzahl an landwirtschaftlich Beschäftigten. Diese Tendenz zeigt sich auch bei Aspekten, die nicht explizit im Rahmen der Lerneinheit thematisiert wurden, zum Beispiel Umweltbelastungen durch Digitalisierung. Trotz dieser Stabilität deuteten sich teilweise jedoch begriffliche Ausschärfungen bzw. Anpassungen an die Terminologie der Lerneinheit an. So schrieb eine Person zu t1, „man sollte mehr auf Tierschutz und auf Qualität achten“ und zu t2 hieß es, „es sollte mehr auf Nachhaltigkeit und Tierwohl geachtet werden“.
Formal ergab sich in der Meinungsäußerung häufig eine duale Struktur, in der ein positiver und ein negativer Aspekt lediglich genannt wurden. Ein tatsächliches Abwägen sowie Überführen in ein evaluierendes und nicht nur Einzelaspekte konstatierendes Urteil fand oft nicht statt. Bei einigen Jugendlichen deutete sich eine leichte Tendenz dahingehend an, dass dies zum Zeitpunkt der Abschlusserhebung besser gelang. Im folgenden Beispiel (siehe Tab. 7.6) zeigt sich, dass zu beiden Messzeitpunkten auf die gleichen Aspekte Bezug genommen wurde: Während sie zu t1 unverbunden präsentiert wurden, erschienen sie zu t2 eingebetteter und bezogen sich in Ansätzen auf konkretes Tun.
Tabelle 7.6
Beispielzitat von Schüler*in S2.e1
 
T1
T2
S2.e1
„Die moderne Landwirtschaft hat ihre guten Seiten, da wie gesagt viele Aufgaben von Maschinen übernommen werden. Aber dass durch den hohen Fleischkonsum der Menschen viele Tiere in Massentierhaltung gehalten werden, finde ich sehr negativ.“
„Ich finde die moderne Landwirtschaft von der Produktivität her sehr effizient, da auch ein großer Anteil der Arbeit durch die Technik erleichtert bzw. dem Menschen erspart wird. Jedoch sprechen sehr viele Faktoren gegen die moderne Landwirtschaft, wie z. B. die Massentierhaltung. Man könnte auch durch Tiere in Freilandhaltung effizient produzieren.“
Die Struktur eines „auf der einen Seite – auf der anderen Seite“ findet sich auch in folgendem Beispiel (siehe Tab. 7.7), jedoch wurde mit dem letzten Satz zu T2 noch ein abschließender Schluss gezogen, was zu einer elaborierteren Performanz beiträgt:
Tabelle 7.7
Beispielzitat von Schüler*in S12.e1
 
T1
T2
S12.e1
„Ich finde es einerseits gut, dass sich die Technik so entwickelt hat, dass Tiere und Menschen keinen starken Belastungen ausgesetzt sind. Andererseits kommt es zu Überproduktion, da man jetzt denkt „alles ist so einfach, dass ich direkt mehr machen kann“, doch dadurch wird unnötig produziert und im Endeffekt weggeschmissen.“
„Ich würde nicht sagen, dass die moderne Landwirtschaft im Vergleich zu früher viele Vorteile und Nachteile hat. Positiv sind mechanische Hilfsmittel, die den Arbeitern körperlich schwere Arbeit abnehmen und auch effizienter produzieren. Ein Nachteil wäre die Massentierhaltung, die immer mehr zunimmt. Ich würde die moderne Landwirtschaft deswegen fast komplett befürworten, jedoch nicht sagen, dass sie sich auf dem bestmöglichen Stand befindet.“
Es finden sich viele Fälle, bei denen kein formal-qualitativer Sprung einer Urteilsentwicklung – in der Weise, dass mehrere Perspektiven und Interessengruppen erfasst, Folgen antizipiert oder eine wertgebundene Schlussfolgerung gezogen wurden – zu identifizieren ist. Stattdessen ist bei einem Vergleich zweier Antworten einer Person meist davon auszugehen, dass sich die Aufmerksamkeit schichtweg einem anderen Aspekt zugewandt hat: z. B. von einer technik- zu einer nachhaltigkeitsbezogenen (siehe Tab. 7.8, S7.e2) oder von einer produktivitäts- zu einer machtbezogenen Perspektive (siehe Tab. 7.8, S14.e1):
Tabelle 7.8
Beispielzitate von Schüler*innen S7.e2 und S14.e1
 
T1
T2
S7.e2
„Meiner Meinung nach hat die moderne Landwirtschaft sowohl Vor- als auch Nachteile. Beispielsweise wird einerseits in der modernen Landwirtschaft technische Errungenschaften genutzt, die die menschliche Arbeit ersetzen. Andererseits sinkt aber auch die Nachfrage an Arbeit in dem Bereich.“
„Die moderne Landwirtschaft sollte nachhaltiger sein und tierfreundlicher, um dem Klimawandel entgegenzuwirken.“
S14.e1
"Meine Meinung ist gespalten, da es positive und negative Aspekte gibt (Pestizide usw.). Aber durch Modernisierung kann auch mehr mit weniger Aufwand produziert werden.“
„Geteilte Meinung, denn sie ist sehr produktiv und wirtschaftlich für Großunternehmer gewinnbringend jedoch für die kleinen „Fische“ eher schlecht.“
Vielfach zeigt sich in den Antworten, dass sich auf einen Einzelaspekt fokussiert wurde – wie bereits erwähnt auch zu zwei Messzeitpunkten, was auf die Stabilität und Änderungsresistenz hinweist. Es dokumentiert sich eine Tendenz zu einer reduktionistischen Betrachtungsweise, ohne dass eine Einbettung in komplexe Zusammenhänge stattfindet. Diese Vereinfachungen stellen nicht nur Komplexitätsreduktionen dar, sondern deuten auch auf eine affektive Dimension der Urteilsbildung hin. In den folgenden Antworten geht es u. a. um die Verantwortung der Konsument*innen; der Markt wird als natürlicher Kreislauf aufgefasst, der sich scheinbar nur über die Nachfrage reguliere. Im ersten der folgenden Beispiele (siehe Tab. 7.9, S5.e1) wurde sich zu t1 auf den hohen Import von landwirtschaftlichen Gütern fokussiert, zu t2 kam es zu einer Negierung von Veränderung („Es ist wie es ist.“). Im zweiten Beispiel (siehe Tab. 7.9, S6.e1) scheint die Problemstellung zu beiden Zeitpunkten auf komplexere Weise moralisch („nicht richtig“) und als Schuldfrage verhandelt zu werden („…aber es sollten immer auch die Hintergründe betrachtet werden“).
Tabelle 7.9
Beispielzitate von Schüler*innen S5.e1 und S6.e1
 
T1
T2
S5.e1
„Ich finde es schlecht, dass ein Land wie Deutschland, das eigentlich gute landwirtschaftliche Voraussetzungen hat, so viele Produkte aus dem Ausland importiert.“
„Es ist so wie es ist. Letztendlich alles eine Frage von Angebot und Nachfrage, somit sind die Veränderungen der Landwirtschaft auf die Konsumenten zurückzuführen.“
S6.e1
„Meiner Meinung nach ist es natürlich nicht gut, dass die Umwelt belastet und regionale Bauern chancenlos werden, auf der anderen Seite glaube ich aber, dass unsere heutige Konsumgesellschaft bestimmte Anforderungen an ihre Produkte stellt, die eben nur erfüllt werden können, indem moderne Landwirtschaft betrieben wird. Abschließend halte ich fest, dass man die moderne Landwirtschaft zwar nicht gutheißen kann, sie aber Teil eines Kreislaufes ist, der nur unterbrochen werden kann, wenn der Konsument etwas ändert.“
„Ich denke, dass es natürlich nicht richtig und v. a. zukunftsfähig ist, so zu wirtschaften, aber auf der anderen Seite ist der Wandel d. Landwirtschaft ja nur das Ergebnis des Konsumverhaltens der Verbraucher. Demnach würde ich zwar so urteilen, dass die moderne Landwirtschaft nicht tragbar ist, aber es sollten immer auch die Hintergründe betrachtet werden.“
Neben der überwiegenden Stabilität zeigen sich jedoch auch leichte Veränderungen, die die individuelle Positionierung betreffen. Es lassen sich im Vergleich der Aussagen zu zwei Messzeitpunkten sowohl Wege der Einschränkung, Relativierung und Abmilderung als auch Wege der Ausweitung, Verabsolutierung und Verstärkung der eigenen Sichtweise ableiten. Der folgende Fall zeigt eher einen Weg der Einschränkung, Relativierung und Abmilderung hinsichtlich der urteilenden Ausrichtung, die Positionierung nach der Lerneinheit fiel zurückhaltender aus: Die Person (siehe Tab. 7.10) hatte im Rahmen der Eingangserhebung ihre Meinung relativ umfassend geäußert (Probleme und Entwicklungsperspektiven, Wertgebundenheit, Akteur*innengruppen), wobei ebenfalls ein Schwerpunkt auf die Verantwortung und Handlungsmacht der Konsument*innen gelegt wurde. Im Rahmen der Abschlusserhebung wurde den Konsument*innen weniger Wirksamkeit zugesprochen, die Haltung vieler Konsument*innen wurde nunmehr als ambivalent bewertet und die Verantwortung bei „beiden“ Akteur*innen verortet.
Tabelle 7.10
Beispielzitat von Schüler*in S10.e1
 
T1
T2
S10.e1
„Meiner Meinung nach sollte man Grundsätze in landwirtschaftlichen Betrieben stabilisieren, die einen Weg zur Nachhaltigkeit fördern und möglich machen. Man sollte weniger Pestizide und Züchtungsmittel anwenden, auch Bedingungen für Tiere sollten artgerecht sein. Der verbrauchende Mensch sollte sein Konsumverhalten überdenken und bewusster einkaufen gehen, denn im Grunde sind Konsumenten die Fordernden, auch wenn immer mehr sich mit Nachhaltigkeit auseinandersetzen. Die Nachfrage bestimmt den Markt.“
„Ich finde es ziemlich schwierig zu beurteilen, da unsere Gesellschaft gerade in Deutschland nach Luxus und ständiger Auswahl an Produkten strebt, unser Konsumverhalten hoch ist, aber sich oft gleichzeitig über Betriebe aufgeregt wird, ohne deren Motive mehr zu hinterfragen. Es muss ein Einklang geschaffen werden, die beide Akteure glücklich stimmt und Ökologie, Soziales und Ökonomie vereint, was aber sehr komplex ist. Nachhaltigkeit sollte aber bei beiden Akteuren seinen Platz finden.“
Im Zuge der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit komplexen Problemstellung zeigen sich aber auch Wege der Ausweitung, Verabsolutierung und Verstärkung der eigenen Sichtweise. Das erste Beispiel der zwei folgenden Fälle (siehe Tab. 7.11, S1.e1) zeigt zu t1 eine moderate Positionierung mit Blick auf Einzelaspekte, die sich zu t2 zu einer Aussage mit vergrößerter Reichweite verdichtet, die eher dogmatisch-fatalistisch anmutet und radikal überzogen scheint (Abschaffung oder Zerstörung). Im zweiten Beispiel (siehe Tab. 7.11, S3.e2) ist eine Entwicklung von einer kritischen Auffassung aufgrund der Umweltbelastungen zu einer umfassenderen Einschätzung, die moderne Landwirtschaft werde „sich langfristig nicht bewähren“, auszumachen, da sie Ernährungssicherheit ermögliche, aber keine Nachhaltigkeit gewährleistet.
Tabelle 7.11
Beispielzitate von Schüler*innen S1.e1 und S3.e2
 
T1
T2
S1.e1
„Meiner Meinung nach ist die moderne Landwirtschaft nicht als ein Ganzes zu bewerten. Positiv ist, dass es mehr Bio gibt, negativ ist, dass es viele Pestizide gibt, die das Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen können. Trotzdem muss die Landwirtschaft so geführt werden, dass alle Menschen ausreichend Nahrung haben, die erschwinglich ist.“
„Ich denke, dass sie moderne Landwirtschaft eine schlechte Zukunft hat, da sie entweder abgeschafft werden muss oder die Erde davon zerstört wird, da sie so schlecht für die Umwelt ist. Heutzutage ist bio und regional „hipp“ und vielen Leuten ist die Herkunft der Lebensmittel egal, so lange sie günstig sind, gut aussehen und schmecken.“
S3.e2
„Da sich alles, was ich über die moderne Landwirtschaft weiß, negativ auf die Umwelt auswirkt, ist meine Einstellung ihr gegenüber eher negativ. Allerdings kann ich die wirtschaftlichen Gedanken hinter ihr verstehen.“
„Meiner Meinung nach ist die moderne Landwirtschaft nicht nachhaltig und wird sich langfristig nicht bewähren. Die moderne Landwirtschaft ermöglicht zwar die Nahrungssicherheit, aber nicht Nachhaltigkeit.“
Subtile Veränderungen deuten sich auch insofern an, als in einigen Antworten der Zukunftsbezug sowie die Notwendigkeit gesellschaftspolitischen Handelns stärker betont wurde. Im ersten der folgenden Beispiele (siehe Tab. 7.12, S13.e2) zeigt sich eine Positionierung, die zu t1 zu der Problematik des Fleischkonsums, der Bodenknappheit und der Herausforderung der Ernährungssicherheit Stellung nahm und zu t2 die Dringlichkeit eines systemischen Wandels hervorhob. Im zweiten Beispiel (siehe Tab. 7.12, S8.e2) mündet die Stellungnahme darin, dass nur eine moderne Landwirtschaft, getragen von großen Betrieben, in der Lage sein werde, Ernährungssicherheit herzustellen. Die zwei Schüler*innen kamen im Rahmen der Abschlusserhebung stärker zu einem zukunftsbezogenen Urteil, welches mit politischen Forderungen verbunden wurde.
Tabelle 7.12
Beispielzitate von Schüler*innen S13.e2 und S8.e2
 
T1
T2
S13.e2
„Meiner Meinung nach ist eines der größten Konflikte der übermäßige Fleischkonsum. Für das Tierfutter wird viel Platz benötigt, welcher zunehmend knapper wird. Hinsichtlich der wachsenden Bevölkerung und der immer knapper werdenden Ressource Boden werden dringend neue Konzepte benötigt, um den Bedürfnissen, bzw. der benötigten Menge an Nahrung nachkommen zu können.“
„Zu wenig werden ökologische Aspekte wahrgenommen, betrachtet und ernst genommen. Nachhaltigkeit ist eines der aktuellsten und drängendsten Themen. Es wird viel zu wenig Initiative ergriffen, weder seitens der Politik noch ausgehend von Konsumenten. Vor allem Produzenten müssen sich darüber im Klaren sein, dass eine profitorientierte moderne Landwirtschaft in Zukunft nicht weit führen kann.“
S8.e2
„Meiner Meinung nach ist es gut, dass teilweise Maschinen Arbeiten des Menschen übernehmen oder zumindest behilflich sind. Jedoch darf die Landwirtschaft nicht übermäßig betrieben werden, weil ansonsten der Boden zerstört wird und in Zukunft nicht mehr genutzt werden kann und dann ein Problem für folgende Generationen auftritt. Der Einsatz von gefährlichem Dünger und Co könnten jedoch ein Problem darstellen und uns Menschen vielleicht eher schaden anstatt helfen. Es müssen mehr Langzeitstudien und Untersuchungen durchgeführt werden.“
„Ich denke, dass ohne moderne Landwirtschaft keine Zukunft in unserer Ernährungssicherung zu finden ist. Ohne diese Form der Landwirtschaft ist es nicht möglich, die Ernährung der gesamten, immer größer werdenden Bevölkerung zu sichern. Von der Politik aus sollten Rahmenbedingungen gesetzt werden, wie stark Technik maximal eingesetzt werden darf. Aber ohne große Betriebe, die modern sind, wird auch die Wirtschaft im Land schlechter.“
Zusammenfassung. Die Forschungsfrage 1b danach, welche Besonderheiten der Urteilsentwicklung sich in den Schüler*innenantworten nachvollziehen lassen, kann nur sehr eingeschränkt beantwortet werden. Aufgrund des Ausschlusses der Argumentationsaufgabe, die eine Urteilsformulierung zu einer strittigen Frage vorsah, bezieht sich die Analyse im vorliegenden Abschnitt ausschließlich auf das Item „Wie ist deine Meinung zur modernen Landwirtschaft?“.
Der Vergleich von Positionierungen zur modernen Landwirtschaft vor und nach der Lerneinheit in einer stärker fallinternen Betrachtungsweise zeigt, dass die Befragten häufig den gleichen inhaltlichen Bezug herstellten und es zu einer Fokussierung auf einzelne Aspekte kam. Die Tendenz zur Stabilität und reduktionistischen Betrachtungsweise kennzeichnet viele Schüler*innenantworten im vorliegenden Datensatz. Es findet sich meist eine duale Struktur: In leistungsschwächeren Fällen wurde lediglich ein Vor- und ein Nachteil genannt; in elaborierteren Antworten fungierten Einzelaspekte als Beispiel zum Stützen eines Arguments. Urteilsentwicklungen deuten sich lediglich implizit an: Zunächst scheint sich bei vielen Fällen der themenspezifische Aufmerksamkeitsfokus zwischen Eingangs- und Abschlussuntersuchung zu verschieben, wie es sich auch in der inhaltsanalytischen Betrachtung gezeigt hat (siehe Abschn. 7.2.1). Die Urteilsentwicklungen finden in vielen Fällen nach der Lerneinheit nicht auf einem höheren Argumentationsniveau statt, wie sich in den Beispielen illustriert. Jedoch zeigen sich Fälle, in denen sich die Reichweite der eigenen Positionierung veränderte: Es ließen sich sowohl Wege der Einschränkung und Relativierung als auch Wege der Ausweitung und Verabsolutierung feststellen. Es kann angenommen werden, dass sich je nach Lernausgangslage im Kontext der Lerneinheit unterschiedliche Lernprozesse angeregt werden konnten, die sich mit Blick auf die gesamte Stichprobe nicht verallgemeinern lassen. Trotz der Stabilität der in den Positionierungen angeführten Bezüge, die auf die Dominanz und Veränderungsresistenz von Deutungsmustern hinweisen, zeigen sich zur Abschlusserhebung – zwar vereinzelt, aber häufiger – handlungs- und zukunftsbezogene Aussagen und in der formalen Strukturierung der Begründungsaspekte vernetzende Darlegungen.

7.2.3 Analysen der quantitativen Daten: Motivations- und einstellungsbezogene Effekte

Forschungsfrage 1c: Inwieweit verändern sich durch die Teilnahme an der Lerneinheit motivationale und einstellungsbezogene Aspekte?
Im Rahmen der quantitativen Evaluation wurde geprüft, inwieweit sich motivationale und einstellungsbezogene Effekte durch die Teilnahme am Unterrichtsprojekt zeigen. Von den 43 Schüler*innen lagen 34 vollständige Datensätze zu zwei Messzeitpunkten vor und konnten in die Auswertung einbezogen werden. Bei fehlenden Werten bei einzelnen Items wurde der betreffende Fall bezüglich dieser Skala aus der statistischen Analyse ausgeschlossen – aufgrund dessen wird im Folgenden pro Skala die Anzahl der Fälle je Skala mit angegeben. Die Analysen wurden jeweils für die einzelnen Schulklassen und für die Gesamtgruppe durchgeführt. Es wurde ein Signifikanzniveau von α = .05 festgelegt.
Motivationsbezogene Effekte: Themenspezifisches Selbstkonzept und themenspezifisches Interesse
Es wurden keine Hypothesen darüber formuliert, ob die Schüler*innen nach der Lerneinheit über ein günstigeres themenspezifisches Selbstkonzept bezüglich des Umgangs mit Komplexität sowie über ein günstigeres themenspezifisches Interesse verfügen als vor der Lerneinheit oder nicht (ungerichtete Hypothesen ergo zweiseitige Testung) (Döring, 2022, S. 149–152). Für die deskriptive Betrachtung der Motivationsänderung wurden die Mittelwerte vor und nach der Lerneinheit verglichen. Die Tabelle 7.13 zeigt die deskriptiven Statistiken für das themenspezifische Selbstkonzept sowie das themenspezifische Interesse.
Tabelle 7.13
Das themenspezifische Selbstkonzept und das themenspezifische Interesse vor und nach der Lerneinheit (theor. Min.-Max.: 1–6): Mittelwerte und Standardabweichungen sowie die Differenz der Mittelwerte
 
Themenspezifisches
Selbstkonzept
T1
Themenspezifisches
Selbstkonzept
T2
 
M
(SD)
M
(SD)
Δ
Schulklasse 1
(n = 16)
4.2
(.69)
4.6
(.65)
.4
Schulklasse 2
(n = 17)
3.9
(.71)
4.3
(.94)
.4
Gesamtgruppe
(N = 33)
4.1
(.73)
4.4
(.84)
.3
 
Themenspezifisches
Interesse
T1
Themenspezifisches
Interesse
T2
 
 
M
(SD)
M
(SD)
Δ
Schulklasse 1
(n = 16)
3.9
(.52)
4.2
(.88)
.3
Schulklasse 2
(n = 16)
3.7
(.42)
4.2
(.65)
.5
Gesamtgruppe
(N = 32)
3.8
(.47)
4.2
(.76)
.4
Im Hinblick auf das themenspezifisches Selbstkonzept bezüglich des Umgangs mit Komplexität sowie das themenspezifische Interesse zeigten sich in beiden Schulklassen nach der Lerneinheit höhere Mittelwerte als vor der Lerneinheit. Zur statistischen Absicherung wurde ein t-Test mit abhängigen Stichproben gerechnet.
Der Mittelwertsunterschied des themenspezifischen Selbstkonzepts von Messzeitpunkt 1 zu Messzeitpunkt 2 stellte sich in beiden Lerngruppen als nicht signifikant heraus (Schulklasse 1: t(12) = -–1.73, p = .109; Schulklasse 2: t(16) = –1.65, p = .118). Betrachtet man die Schulklassen zusammen, wird der Mittelwertsunterschied signifikant (t(29) = -2.33, p = .027). Die Effektstärke (Cohen’s d) liegt bei d = .43 und ist damit als eher klein zu betrachten (Cohen, 1992).
Der Mittelwertsunterschied des themenspezifischen Interesses vor und nach der Lerneinheit stellte sich in der Schulklasse 1 als (knapp) nicht signifikant heraus (t(15) = -2.09, p = .054). In der Schulklasse 2 ist der Mittelwertsunterschied signifikant (t(15) = -3.63, p = .002). Die Effektstärke liegt bei d = 0.91 und stellt daher einen starken Effekt dar (Cohen, 1992). Werden beide Untersuchungsgruppen zusammengefasst (t(31) = -4.03, p < .001) ergibt sich dementsprechend ein mittlerer Effekt (d = 0.71).
Signifikante motivationale Effekte der Lerneinheit konnten demzufolge in der Gesamtgruppe im Bereich des themenspezifischen Interesses mit mittlerer Effektstärke nachgewiesen werden. Im Bereich des themenspezifischen Selbstkonzepts bezüglich des Umgangs mit Komplexität zeigt sich eine signifikante Mittelwertdifferenz mit kleiner Effektstärke, sofern beide Untersuchungsgruppen zusammengefasst betrachtet werden.
Subjektiver Lernzuwachs und Akzeptanz außerschulischen Lernens
Nach der Lerneinheit wurden die Lernenden befragt, wie sie ihren Lernzuwachs selbst einschätzen und wie sie den außerschulischen Anteil der Lerneinheit bewerten. Die Mittelwerte lagen im oberen Bereich der Antwortskala (siehe Tab. 7.14).
Tabelle 7.14
Subjektiver Lernzuwachs sowie Akzeptanz des außerschulischen Lernens nach der Lerneinheit (theor. Min.-Max.: 1–6): Mittelwerte und Standardabweichungen
 
Subjektiver Lernzuwachs
Akzeptanz außerschulischen Lernens
M
(SD)
M
(SD)
Schulklasse 1
4.7
(1.0)
5.4
(.79)
Schulklasse 2
4.5
(.57)
4.9
(.84)
Gesamtgruppe
4.6
(.78)
5.1
(.85)
Die Jugendlichen schätzten ihren subjektiven Lernzuwachs im Mittel also als recht hoch ein und bewerteten die außerschulischen Anteile sehr positiv.
Einstellungsbezogene Effekte: Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Bereich Konsum- und Ernährungsverhalten und Bewertung des Nachhaltigkeitsdiskurses
Mithilfe zweiter Subskalen wurde zum einen die subjektiv empfundene Selbstwirksamkeitsüberzeugung erhoben, über Ernährung und das persönliche Konsumverhalten Einfluss zu nehmen. Zum anderen wurde die (affektive) Bewertung des Nachhaltigkeitsdiskurses erhoben.
In der deskriptiven Betrachtung der Mittelwerte vor und nach der Lerneinheit lässt sich eine geringe Steigerung verzeichnen – die Tabelle 7.15 zeigt deskriptive Statistiken.
Tabelle 7.15
Die Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Bereich Konsum- und Ernährungsverhalten und die Bewertung des Nachhaltigkeitsdiskurses vor und nach der Lerneinheit (theor. Min.-Max.: 1–6): Mittelwerte und Standardabweichungen sowie die Differenz der Mittelwerte
 
Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Bereich Konsum- und Ernährungsverhalten
T1
Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Bereich Konsum- und Ernährungsverhalten
T2
 
M
(SD)
M
(SD)
Δ
Schulklasse 1
(n = 16)
3.8
(1.30)
4.3
(1.0)
.5
Schulklasse 2
(n = 15)
3.7
(1.42)
4.1
(.99)
.4
Gesamtgruppe
(N = 31)
3.8
(1.34)
4.2
(.98)
.4
 
Bewertung des
Nachhaltigkeitsdiskurses
T1
Bewertung des Nachhaltigkeitsdiskurses
T2
 
 
M
(SD)
M
(SD)
Δ
Schulklasse 1
(n = 14)
4.6
(.89)
4.6
(1.1)
Schulklasse 2
(n = 15)
4.1
(.96)
4.6
(1.0)
.5
Gesamtgruppe
(N = 29)
4.3
(.94)
4.6
(1.1)
.3
Im Hinblick auf die Selbstwirksamkeitsüberzeugung zeigten sich in beiden Lerngruppen nach der Lerneinheit höhere Mittelwerte als vor der Lerneinheit. Zur statistischen Absicherung wurde ein t-Test mit abhängigen Stichproben gerechnet. Der Mittelwertunterschied stellte sich in der Schulklasse 1 als (knapp) nicht signifikant (t(15) = -2.11, p = .052) und in Schulklasse 2 als nicht signifikant (t(14) = -8.18, p = .427) heraus. Werden die Untersuchungsgruppen als Gesamtgruppe betrachtet, ist der Mittelwertsunterschied ebenfalls nicht signifikant (t(30) = -1.78, p = .085).
Die Einstellung zur empfundenen Bewertung des Nachhaltigkeitsdiskurses ergab in der Schulklasse 1 keine Veränderung der Mittelwerte. In der Schulklasse 2 zeigten sich nach der Lerneinheit höhere Mittelwerte als vor der Lerneinheit. Zur statistischen Absicherung wurde ein t-Test mit abhängigen Stichproben gerechnet. Der Mittelwertunterschied stellte sich als signifikant heraus (t(14) = -2.25, p = .041). Cohen’s d liegt bei d = 0.58, daher ist es ein mittlerer Effekt. Führt man die zwei Untersuchungsgruppen zu einer Gesamtgruppe zusammen, stellt sich der Mittelwertsunterschied als nicht signifikant heraus (t(28) = -1.51, p = .141).
In der Betrachtung der Gesamtgruppe konnten keine signifikanten einstellungsbezogenen Effekte der Lerneinheit bezüglich der Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Bereich des Konsum- und Ernährungsverhaltens sowie in der Bewertung des Nachhaltigkeitsdiskurses in seiner Bedeutung nachgewiesen werden.
Zusammenfassung. Im Rahmen der quantitativen Evaluation wurden mithilfe reliabler Skalen pädagogisch-psychologische Konstrukte zu zwei Messzeitpunkten erhoben, die Rückschlüsse auf die motivations- und einstellungsbezogene Wirksamkeit der didaktischen Intervention ermöglichen sollen. Erhoben wurde das themenspezifische Selbstkonzept bezüglich des Umgangs mit Komplexität sowie das themenspezifische Interesse am Konfliktfeld Landwirtschaft und Ernährung – beide Konstrukte erzielen im Vergleich der Mittelwerte vor und nach der Lerneinheit eine positive Entwicklung. Die Mittelwertsunterschiede stellten sich im Falle des themenspezifischen Interesses mit einer mittleren Effektstärke als signifikant heraus. Dies gilt ebenfalls beim themenspezifischen Selbstkonzept, jedoch nur mit einem geringen Effekt, sofern die Untersuchungsgruppen als Gesamtgruppe betrachtet werden.
Als Teil der Abschlussbefragung wurde ebenfalls nach dem subjektiven Lernzuwachs gefragt, der im Mittel als sehr hoch eingeschätzt wurde (Gesamtgruppe M = 4.6). Zudem zeigte sich eine hohe Akzeptanz der außerschulischen Lernform: Die Jugendlichen befürworten die Integration außerschulischer Begegnungen in den Politikunterricht deutlich (Gesamtgruppe M = 5.1).
Bei den Einstellungen zur Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Ernährungs- und Konsumverhalten ergaben sich ebenfalls Mittelwertsunterschiede, die auf eine Entwicklung hinweisen, sich aber als nicht signifikant herausstellten. Während die Einstellungen zur Bewertung des Nachhaltigkeitsdiskurses in der Schulklasse 1 zwischen den zwei Messzeitpunkten unverändert blieben, zeigte sich in der Schulklasse 2 ein nicht signifikanter Zuwachs. Insgesamt ist bei der Auswertung und Interpretation der Ergebnisse jedoch die kleine Stichprobe und die damit verbundene Schwierigkeit, überhaupt signifikante Effekte zu untersuchen, zu berücksichtigen. Nichtsdestotrotz liefern die Ergebnisse der Evaluation Hinweise darauf, dass das Interesse am Lerngegenstand, also an kontroversen Fragestellungen einer nachhaltigen Entwicklung um das Handlungsfeld Landwirtschaft und Ernährung, durch die Lerneinheit gefördert werden konnte.

7.3 Diskussion

Das Ziel der Studie bestand darin, die Wirkung einer Lerneinheit im gesellschaftswissenschaftlichen Fachunterricht im Hinblick auf ihr Lernziel, politische Urteilsbildung zu fördern, zu untersuchen. Vor dem Hintergrund des Theorieteils wurden Gestaltungsprinzipien einer politischen Nachhaltigkeitsbildung abgeleitet und zur Konzeption der Lerneinheit zu einer exemplarischen nachhaltigkeitsbezogenen Problemstellung (Landwirtschaft und Ernährung) angewandt (siehe Kap. 6). Die Forschungsfragen konnten, wenn auch mit Einschränkungen, beantwortet werden und liefern darüber hinaus wertvolle Erkenntnisse über die politische Urteilsbildung als Forschungsgegenstand.

7.3.1 Diskussion der Ergebnisse

Im Rahmen eines Prä-Post-Designs wurden themenspezifische Vorstellungen und Positionierungen erhoben, etwaige Besonderheiten der Urteilsentwicklung identifiziert und motivations- und einstellungsbezogene Effekte gemessen. Dabei war nicht das Ziel, Urteilsfähigkeit zu messen, sondern Urteilsbildung im Angesicht eines komplexen Lerngegenstandes und im Kontext eines problem- und konfliktorientierten sowie erfahrungsorientiertes Lehr-Lern-Arrangements zu explorieren. Hierfür wurden verschiedene Aspekte der Urteilsbildung in den Blick genommen (siehe Abschn. 7.1.1).
Die Forschungsfrage 1a der Interventionsstudie lautete: Welche themenspezifischen Vorstellungen und Positionierungen zum Transformationsfeld Landwirtschaft und Ernährung zeigen sich bei den Jugendlichen und (wie) entwickeln sich diese weiter?
Einige Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Schüler*innen im Laufe der Lerneinheit die politische Dimension des Themas zunehmend differenzierter und umfassender erkennen. Die Analyse der themenspezifischen Vorstellungen hat ergeben, dass die Jugendlichen das Transformationsfeld Landwirtschaft und Ernährung als historisch geworden erfassen. Die Landwirtschaft wird vor und nach der Lerneinheit als Ergebnis eines Modernisierungs- und Globalisierungsprozesses verstanden, der verschiedene Strukturwandelprozesse ausgelöst hat. Die von den Jugendlichen beschriebenen Auswirkungen beziehen sich vor und nach der Lerneinheit auf konsumbezogene, ökonomische und ökologische Folgen.
Der Vergleich der Besetzungshäufigkeiten je Hauptkategorie zeigt, dass keine beträchtlichen Zuwächse in den einzelnen Kategorien zu konstatieren sind (siehe Abschn. 7.2.1, Tab. 7.12). Allerdings ließen sich Fokusverschiebungen innerhalb der Hauptkategorien auf der Ebene der Subkategorien nachvollziehen. Der Befund der Konstanz kann zunächst als Hinweis darauf gedeutet werden, dass bereits vor der Lerneinheit belastbares Vorwissen aufseiten der Schüler*innen bestand. Aufgrund der Interdisziplinarität des Themenfeldes ist davon auszugehen, dass auch Wissensbestände aus dem Geografieunterricht herangezogen werden konnten. Zugleich kann jedoch angenommen werden, dass die Stabilität der Vorstellungen ebenso eine entscheidende Rolle spielt. Schüler*innenvorstellungen sind durch eine „individuelle orientierungsleitende Kohärenz und Änderungsresistenz“ (Lutter, 2010, S. 74) gekennzeichnet (siehe Abschn. 7.1.1). Diese Erklärung korrespondiert mit vielen anderen Forschungsergebnissen, die zeigen, dass vorhandene Vorstellungen und darin enthaltende Urteile – auch trotz neuer unterrichtlich vermittelter Fachkenntnisse – häufig bestätigt werden (siehe Abschnitt 3.​4.​1). Menthe (2012) zieht damit Rückschlüsse für ein kontextorientiertes Lernen im naturwissenschaftlichen Unterricht, das lebensweltliche Fragen zum Ausgangspunkt macht (siehe auch Reinmann & Mandl, 2006). Diese Befunde lassen sich auch auf den erfahrungsorientierten Zugang durch außerschulische Begegnungen übertragend diskutieren. Lernen in authentischen Kontexten kann lernförderlich sein, aber auch Überzeugungen und Deutungsmuster aktivieren, die einen Lernzuwachs und eine elaborierte Urteilspraxis behindern können:
Zweifellos führt die Kontextorientierung dazu, dass Lernende Bezüge herstellen, ihr Vorwissen aktivieren und es weniger zur Ausbildung ‚trägen Wissens‘ kommt. Denkbar ist aber auch der umgekehrte Effekt, dass nämlich durch die Kontextualisierung Überzeugungen aktiviert werden, die so stabil sind, dass der Unterricht seine Wirkung verfehlt, dass also Fachinhalte unter Umständen gerade deshalb nicht gelernt werden, weil deren Bedeutung für die Lebenswelt offensichtlich ist und sie mit stabilen Überzeugungen der Lernenden in Konflikt geraten. (Menthe, 2012, S. 175)
Die Fokusverschiebungen innerhalb der Hauptkategorien auf der Ebene der Subkategorien können jedoch als Hinweise darauf gedeutet werden, dass ein Lernen im Sinne der Zielsetzungen der didaktischen Intervention in Ansätzen angestoßen wurde (siehe Abschn. 5.​3.​1; prozess- und ergebnisbezogene Ziele). Sie stellen insofern Indikatoren für eine Politisierung der Thematik im Sinne der Lernziele dar, als zeitgenössische Bezüge hergestellt werden können und sich ein vertieftes Verständnis gegenwärtiger Herausforderungen abzeichnet. Auf diese Weise erscheint die komplexe Problemstellung nicht historisiert und individualisiert, sondern als potenziell öffentliche und kollektiv zu regelnde Angelegenheit – als public issue (Van Poeck & Vandenabeele, 2012; siehe Abschn. 2.​5.​2). Darüber hinaus legen die Ergebnisse der inhaltsanalytischen Auswertung nahe, dass die systemische und strukturelle Dimension des Themenfeldes stärker in den Vordergrund gerückt ist, etwa indem die Bedingtheiten der verschiedenen Akteur*innengruppen nach der Lerneinheit stärker betrachtet wurden. Somit kann eine Anbahnung der für die Urteilsbildung bedeutsamen Lernprozessen konstatiert werden, die im Kontext einer politischen Nachhaltigkeitsbildung von zentraler Bedeutung sind (Eis, 2022; Kehren, 2022; siehe Abschn. 2.​5.​2).
Die Analyse der themenspezifischen Positionierungen und möglicher Veränderungen nach der Lerneinheit hat ebenfalls ergeben, dass es zu einer leichten Verschiebung in den Status quo würdigenden Positionierungsaspekten gekommen ist, in denen die Funktionalität des Ernährungssystems stärker gewürdigt wird. Historisch ausgerichtete Beschreibungen weichen zeitgenössischen gesellschaftlichen Diskursen um Nachhaltigkeit. In den problematisierenden Positionierungsaspekten zeichnen sich umfassendere, strukturelle Einsichten ab, die ansatzweise mit politischen Forderungen kombiniert werden. Die Politisierung der Thematik vollzieht sich im Lichte der Schüler*innenäußerungen dergestalt, dass es zu einer Anerkennung politischer Streitfragen kommt. Dies spiegelt sich auch in den handlungsbezogenen Positionierungsaspekten wider, denn ein Insistieren auf öffentliche Gestaltbarkeit kann in mehreren Bezügen festgestellt werden, während Appelle an den privaten Konsum leicht abnehmen. In einer fallübergreifenden Betrachtungsweise ist damit insofern eine Komplexitätszunahme im Sinne der didaktischen Intervention auszumachen, als sich die Reichweite der Aussagen auszudehnen scheint. Die Beurteilung von Massentierhaltung bleibt ein kontroverses Unterfangen, denn sowohl kritische als auch abmildernde Aussagen nehmen nach der Lerneinheit zu.
Insgesamt können die Fokusverschiebungen – eingedenk der Limitationen in der Datenbasis – als Hinweise auf eine Konzeptdifferenzierung gedeutet werden. Aus der Perspektive einer konstruktivistischen Lerntheorie ist nicht davon auszugehen, dass Vorstellungen der Eingangserhebung gewissermaßen überschrieben werden. Die festzustellenden Fokusverschiebungen zeigen zunächst einmal eine Verschiebung der thematischen Aufmerksamkeit der Jugendlichen an, die auf Konzeptdifferenzierungen hinweisen können. Grundsätzlich ist bezüglich der Ergebnisse im Kontext der Forschungsfrage anzumerken, dass leichte Weiterentwicklungen der themenspezifischen Vorstellungen und Positionierungen infolge der Intervention zwar identifiziert werden konnten, sie aufgrund des unergiebigen Rücklaufs zur Abschlusserhebung jedoch nur eingeschränkt aussagekräftig sind. Dies ist auf forschungsmethodische Schwierigkeiten zurückzuführen, die im Kapitel zur Auswertung beschrieben wurden und in Abschnitt 7.3.2 diskutiert werden.
Die Forschungsfrage 1b der Interventionsstudie lautete: Welche Besonderheiten der Urteilsentwicklung lassen sich nachvollziehen?
Neben den beschriebenen leichten Veränderungen in den themenspezifischen Positionierungen zeigen sich überwiegend Kontinuitäten. Die identifizierten Besonderheiten in der Urteilsentwicklung (7.2.2) konnten in fallinterner Perspektive illustriert werden. In den meisten Fällen zeigen sich infolge der Lerneinheit keine qualitativen Sprünge in der Urteilsentwicklung, sondern vielfach ein Festhalten an den gleichen thematischen Bezügen und ein Fokussieren auf Einzelaspekte in teils dualer, aber teils auch stärker vernetzten Struktur, was einen Hinweis auf eine verbesserte Urteilsqualität darstellt. Marchand (2015) interpretiert die Tendenz „Informationen vereinfachend umzuinterpretieren“ und „die eigenen Konstruktionen einfach zu halten“ als Strategien der Komplexitätsreduktionen (ebd., S. 264). Auf diese Weise kann kognitive Dissonanz (Festinger, 1957) aufgelöst und Entlastung geschaffen werden.
Urteilsbildung zu nachhaltigkeitsbezogenen Fragen wurde (in Abschn. 2.​4.​2 und 3.​4.​2) angesichts der Komplexität als besonders anspruchsvoll und herausfordernd beschrieben. Um sie zu fördern, aber auch um sie zu untersuchen, muss es etwas zu beurteilen geben: Es braucht eine konkrete politische Frage bzw. eine konkrete Anforderungssituation. Dies sollte im Rahmen der Argumentationsaufgabe Berücksichtigung finden, jedoch kamen der Großteil der Schüler*innenantworten nicht über das Anführen von Pro- und Contra-Argumenten hinaus; sie formulierten kein begründetes Urteil. Die Argumentationsaufgabe konnte daher nicht in die Auswertung einbezogen werden. Der Ausschluss dieses Items schränkt die Aussagekraft der Ergebnisse insgesamt ein. Über die Gründe kann nur gemutmaßt werden: Neben der mangelnden Motivation kann auch die Komplexität der Thematik dazu führen, sich nicht positionieren zu können. Dies könnte ebenso als Ergebnis der Interventionsstudie betrachtet werden.
Wurde durch die didaktische Intervention mit einem problemorientierten und außerschulischen Zugang eine elaboriertere Urteilsbildung im Umgang mit Komplexität nun unterstützt? Hinweise auf eine elaboriertere politische Urteilsbildung zeigen sich wie beschrieben nur implizit und können grundsätzlich nur eingeschränkt erfasst und ausgelegt werden. Sie sind lediglich aus dem Material und der Performanz urteilsrelevanter Äußerungen rekonstruiert worden und geben nur bedingt Aufschluss über die zugrundeliegende „Tiefenstruktur“ (Petrik, 2013a, S. 351). Dies gilt besonders für den Vergleich von Performanzen zu zwei Messzeitenpunkten. Inwieweit tatsächlich Lernprozesse stattgefunden haben oder nur situativ bedingt und in gewisser Weise willkürlich lediglich andere Aspekte genannt werden, kann nicht abschließend beantwortet werden. Auch dies stellt in gewisser Weise ein Ergebnis dar, denn es haben sich im Rahmen der Interventionsstudie vor allem die forschungsmethodischen Schwierigkeiten gezeigt, die auf einen schwer zu erfassenden Forschungsgegenstand verweisen: Urteilsbildung, möglicherweise gerade im Kontext komplexer nachhaltigkeitsbezogener Fragen, ist von Phänomenen wie Inkonsistenzen, Vorläufigkeit, Delegierungen und Zurückweisungen von Verantwortung, Relativierungen und Dogmatismen geprägt. Dementsprechend sind Aussagen über die Wirksamkeit relativ kurzfristiger didaktischer Interventionen auf die Qualität der politischen Urteilsbildungsprozesse nur mit großer Zurückhaltung zu treffen. Politische Urteilsbildung stellt einen „Teil eines langfristigen individuellen Entwicklungs- und Sozialisationsprozesses“ dar (Weinbrenner, 1997, S. 86).
Die Forschungsfrage 1c lautete: Inwieweit verändern sich durch die Teilnahme an der Lerneinheit motivationale und einstellungsbezogene Aspekte?
Die quantitativen Daten ermöglichten Rückschlüsse auf die motivations- und einstellungsbezogene Wirksamkeit der didaktischen Intervention und ergänzen das Bild. Sowohl das themenspezifische Selbstkonzept im Umgang mit komplexen Problemstellungen als auch das themenspezifische Interesse am Konfliktfeld Landwirtschaft und Ernährung entwickelten sich positiv im Zuge der Lerneinheit: Bei Betrachtung der Lerngruppen als Gesamtgruppe zeigte sich bei beiden Variablen ein signifikanter Zuwachs mit einer kleinen Effektstärke beim Selbstkonzept und einer mittleren Effektstärke beim Interesse. Diese positive Entwicklung ist im Sinne der Lernziele des Unterrichtsprojektes (siehe Abschn. 5.​3.​1), weshalb diesbezüglich (trotz geringer Effektstärke) von der Wirksamkeit der Intervention ausgegangen werden kann. Die motivationsrelevanten Variablen können sich positiv auf die Urteilsbildung bei komplexen Problemstellungen auswirken, da sie – angesichts des hohen kognitiven Aufwandes – die Verarbeitungsmotivation und somit die Tiefe der Verarbeitung (Elaboration) positiv beeinflussen können (Stroebe, 2014, S. 242). Die statistischen Befunde attestieren also positive Effekte im motivationalen bzw. motivational relevanten Bereich.
Der subjektive Lernzuwachs (Gesamtgruppe: M = 4.6 von 6) sowie die Akzeptanz der außerschulischen Lernform (Gesamtgruppe: M = 5.1 von 6) waren im Mittel recht hoch. Das heißt, die Jugendlichen stimmten den Aussagen zu, dass sich ihre Sichtweise im Hinblick auf verschiedene Perspektiven erweitert hat, sie ein tieferes Verständnis komplexer Zusammenhänge erhalten haben und sich auch sicherer im Umgang mit kontroversen Fragen um Nachhaltigkeit fühlen. Außerdem würden sie die Integration außerschulischer Anteile in den Fachunterricht gerne öfter erleben. Es kann damit festgehalten werden, dass der problem- und konfliktorientierter sowie erfahrungsorientierte Unterrichtsansatz durch die Jugendlichen äußerst positiv evaluiert wird. Signifikante einstellungsbezogene Effekte konnten nicht nachgewiesen werden, was angesichts einer gewissen Dauerhaftigkeit von Einstellungen aber nicht überrascht (Haddock & Maio, 2014).

7.3.2 Forschungsmethodische Diskussion

Die vorliegende Studie stellte eine Studie im Feld dar. Die Lerneinheit wurde im Rahmen des schulischen Politikunterrichts umgesetzt und deckte auch curriculare Anforderungen ab. Die Untersuchungsbedingungen können entsprechend gut auf die schulischen Alltagsbedingungen übertragen werden (Döring, 2022, S. 207). Insbesondere Feldstudien, die dabei die Verknüpfung schulischer und außerschulischer Lernsituationen in den Blick nehmen, existieren kaum und sind für die pädagogische und fachdidaktische Lehr-Lern-Forschung von Interesse. Zugleich ging dies aber auch mit einer eingeschränkten Kontrollierbarkeit der untersuchten Variablen einher, was die Interpretierbarkeit der Ergebnisse erschwert.
Die Akquise von Schulen, kooperierenden Lehrkräften und außerschulischen Akteur*innen sowie die Durchführungen der mehrwöchigen Lerneinheit waren mit einem enormen Aufwand verbunden.6 Dennoch konnte auch aufgrund der Fluktuation der Schüler*innen lediglich eine kleine Stichprobe erzielt werden (siehe Abschn. 7.1.1 und 7.1.2). Darüber hinaus wurden im Rahmen der Interventionsstudie verschiedene empirische Daten erhoben (bspw. Audiomitschnitte der Unterrichtsstunden; siehe 7.1.1), die aufgrund der begrenzten Ressourcen im Auswertungsprozess im Rahmen dieser Arbeit nicht ausgewertet wurden.
Die Fragebogenerhebung im Prä-Post-Design erwies sich als forschungsökonomisch praktikabel, um einen möglichst umfassenden empirischen Eindruck von den Schulklassen zu gewinnen. Jedoch ist der unzureichende Ertrag der offenen Items zu problematisieren, was Auswirkungen auf die Befunde der vorliegenden Studie hatte und zu einer Anpassung der Auswertungsstrategie führte. Insbesondere die Schüler*innenantworten der Abschlusserhebung fielen deutlich knapper aus, wie bereits erwähnt. Messwiederholungen können die Ergebnisse etwa durch untersuchungsbedingte Testübung oder Testmüdigkeit beeinflussen (Döring, 2022, S. 211). Hinzu kommt, dass die Schüler*innen eine extrinsische Motivierung durch Leistungskontrollen gewohnt sind, die durch die anonyme Testung nicht gegeben war. Einige Jugendliche schrieben als Antworten „siehe erster Fragebogen“ oder gaben den Hinweis „Bitte nicht dieselben Fragen stellen, das wirkt demotivierend“. Hier steht das Forschungsziel deutlich in einem Spannungsverhältnis zum pädagogischen Setting.
Im Falle der Argumentationsaufgabe zur Performanz im Bereich Analysieren und Urteilen wurde die vorbereitende Pro-Contra-Auflistung zwar überwiegend angefertigt, die Stellungnahmen wurden jedoch nur unzureichend mit einzelnen Sätzen ausgearbeitet, wiesen meist keine argumentative Struktur auf oder wurden gar nicht bearbeitet. Die Begründungen, die zur Analyse des politischen Urteilens entscheidend sind (Petrik, 2011, S. 113–118), wurden meist nicht sorgfältig dargelegt. Darüber hinaus bestanden bei diesem Item nur acht vollständige Datensets, d. h. nur acht Schüler*innen schrieben sowohl zu t1 als auch zu t2 eine Stellungnahme (siehe Abschn. 7.1.4). Dies führte zum Ausschluss der Argumentationsaufgabe aus dem Untersuchungsdesign. Die Frage, ob die Schüler*innen nach der Lerneinheit zu einer elaborierteren, komplexeren Argumentation kommen, kann mit dieser Aufgabe nicht beantwortet werden – bzw. muss gar verneint werden.
Möglicherweise liegt die Ursache in mangelnden Argumentationsfähigkeiten: Studien weisen darauf hin, dass Jugendliche selten skilled arguer sind und die Argumentationsfähigkeit eine spezifisch zu fördernde Fähigkeit darstellt (Crowell & Kuhn, 2014; Iordanou, 2010). Möglicherweise stellte die Aufgabe vor diesem Hintergrund einen zu großen kognitiven Aufwand dar, was motivationale Auswirkungen auf die Itembearbeitung hatte. Vor dem Hintergrund des Optimizing-Satisficing-Modells nach Krosnick (1999) ist anzunehmen, dass die Schüler*innen die Items eher nach einer Satisficing-Strategie ausgefüllt haben, d. h. die Teilnehmenden begnügten sich mit einer ausreichenden, etwa nur stichwortartig formulierten Antwort, obwohl sie zu einer elaborierteren Darlegung fähig gewesen wären (Moosbrugger & Kelava, 2020, S. 79–81). Dieses Phänomen erlebt und beschreibt auch Marchand (2015) in ihrer Studie zur Erfassung einer nachhaltigkeitsbezogenen Urteilskompetenz. Sie kommt zu dem Schluss, dass „[n]ach einer Satisficing-Strategie ausgefüllte Fragebögen […] daher für eine Kompetenzerfassung wenig tauglich [sind]“ (ebd., S. 233). Für die vorliegende Studie mit zwei Messzeitpunkten ist außerdem festzuhalten, dass einige Schüler*innen den Fragebogen der Eingangshebung offenbar motivierter nach einer Optimizing-Strategie bearbeitet haben, also möglichst gründlich und bestmöglich antworteten (Moosbrugger & Kelava, 2020, S. 79–81). Auch dieser Umstand verringert die Aussagekraft eines Vergleiches zweier Messzeitpunkte. Mit dem Ausschluss der Argumentationsaufgabe fehlte ein Bestandteil zur Operationalisierung des Forschungsgegenstandes.
Im Falle der Items zu den themenspezifischen Vorstellungen und Positionierungen führte dieser Umstand zu einer Anpassung der Auswertungsstrategie: Statt wie ursprünglich geplant Komplexitätsniveaus mithilfe eines Analyserasters zu bestimmen, wurde mithilfe eines Codierschemas qualitativ ausgewertet und die Besetzungshäufigkeiten der Kategorien zum Vergleich vor und nach der Lerneinheit herangezogen. Wie die Ergebnisse gezeigt haben, sind die themenspezifischen Vorstellungen und Positionierungen geprägt von Einzelaspekten, die sich nicht gewinnbringend unter deduktiven Kategorien wie Mehrperspektivität oder Antizipation von Handlungsfolgen subsumieren ließen (siehe Abschn. 3.​2.​2 und 3.​6). Die induktive Vorgehensweise hatte hingegen den Vorteil nachvollziehen zu können, welche urteilsrelevanten Lernprozesse inhaltlich angebahnt wurden (siehe vorheriger Abschnitt 7.3.1). Die Limitationen sind an dieser Stelle aber ebenfalls zu reflektieren: Der Vergleich der Besetzungshäufigkeiten der kategorial erfassten Aussagen der Jugendlichen zu t1 und t2 ist ebenfalls aufgrund der oben beschriebenen Datenausgangslage nur eingeschränkt interpretierbar. Aufgrund des geringeren Rücklaufs und knapperen Antwortverhaltens zur Abschlusserhebung wurden auch entsprechend weniger Codes verteilt (t1: 157, t2: 131 insgesamt vergebene Codes). Gleichwohl könnte argumentiert werden, dass minimale Zuwächse vor diesem Hintergrund sogar besonders zu beachten sind.
Im Rahmen der quantitativen Datenerhebung wurden motivations- und einstellungsbezogene Konstrukte erhoben. Eine größere Stichprobe hätte möglicherweise dazu beitragen können, dass die Effekte signifikant werden. Die Erhebung erfolgte über Selbsteinschätzungen auf Ratingskalen. Dabei ist anzunehmen, dass es trotz Anonymität im Antwortverhalten eine Tendenz zur sozialen Erwünschtheit gibt (Moosbrugger & Kelava, 2020, S. 82 f.). Insbesondere bei der Selbstwirksamkeitsüberzeugung im Bereich des Konsum- und Ernährungsverhaltens und bei der Bewertung des Nachhaltigkeitsdiskurses kann dies zum Tragen kommen. Auch die Vermeidung kognitiver Dissonanz (Festinger, 1957) kann die Selbsteinschätzung beeinflussen: So könnte das themenspezifische Selbstkonzept im Umgang mit Komplexität als zu positiv bewertet werden, da Proband*innen beispielsweise nicht zugeben, dass man komplexe Themen als überfordernd oder entmutigend erlebt.
Darüber hinaus erwiesen sich die aus Mangel an erprobten Skalen für Jugendliche neu konzipierten Skalen (Einstellung hinsichtlich des staatlichen Eingreifens in Nachhaltigkeitsfragen sowie zum Ernährungs- und Konsumverhalten) als inkonsistent und wurden daraufhin nicht in der Auswertung berücksichtigt. Dabei ist jedoch zu vermuten, dass in politischen sowie nachhaltigkeitsbezogenen Themen auch Inkonsistenzen in den Positionierungen der Proband*innen selbst vorliegen. Die Entwicklung von Konstrukten und Erprobung entsprechender Skalen ist damit auf die weitere qualitative Erforschung dieser Inkonsistenzen in den nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen angewiesen.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass das in Abschnitt 7.1.3 formulierte Ziel, ein umfassendes Bild über potenzielle Konzeptdifferenzierung, Zuwächse hinsichtlich des Argumentationsniveaus und motivations- und einstellungsbezogene Effekte zu erfassen, nur eingeschränkt erreicht werden konnte. Jedoch konnte durch eine Anpassung der Auswertungsstrategie das explorative Anliegen der Studie erfüllt werden und auf diese Weise die zaghaften Dynamiken der politischen Urteilsbildung aufgespürt werden, die in idealtypischen Modellierungen samt verschiedener Realisierungsstadien und Urteilsniveaus notwendigerweise nicht abgebildet sind.
Zum einen wurde aus den beschriebenen Limitationen im Forschungsprozess heraus vermutet, dass ein Interviewverfahren weitere Informationen liefern könnte, die sich innerhalb der schriftlichen Befragung (z. B. aus motivationalen Gründen bei der wiederholten Befragung zu t2) nicht zeigten. Zum anderen erschien ein stärker qualitativer und fallbezogener Forschungszugang im Lichte der gewonnenen Ergebnisse weiterhin vielversprechend. Entsprechend der zwei Forschungsperspektiven auf die politische Urteilsbildung (siehe Abschn. 3.​5 und Kap. 6), in der einerseits Urteilen als Prozess der Expansion und rationalen Abwägung und andererseits Urteilen als soziale Praktik und Prozess der Sinnbildung voneinander abgegrenzt werden, steht die im nachfolgenden Kapitel vorgestellte Interviewstudie im Sinne eines Mixed-Methods-Ansatz (Döring, 2022, S. 26–28) in einem Ergänzungsverhältnis, um die Erkenntnisse um einen verstehensorientierten Zugang zu den Sichtweisen der Jugendlichen zu erweitern.
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Anhänge

Elektronisches Zusatzmaterial

Fußnoten
1
Weitere Ausführungen zu den forschungsethischen Vorkehrungen finden sich in Abschnitt 7.1.5.
 
2
Die Kategorie divers stand als Antwortmöglichkeit nicht zur Auswahl. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren der sehr dynamische Diskurs und auch die Sensibilität für eine Kritik der Zweigeschlechtigkeit gesellschaftlich noch nicht derart verallgemeinert, sodass – in methodischer Hinsicht, nicht inhaltlich – hier von einem intuitiven Verständnis der befragten Schüler*innen nicht auszugehen gewesen war und daher mögliche Verunsicherungen im Antwortverhalten vermieden werden sollten.
 
3
Der Name der NGO bzw. Umweltschutzorganisation, mit der im Rahmen der Studien kooperiert wurde, wird im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit anonymisiert, weshalb an dieser Stelle nicht das Originalitem genannt wird.
 
4
Auf bestehende Skalen zu ähnlichen Konstrukten in diesen Bereichen konnte nicht zurückgegriffen werden, da sie sich für die Zielgruppe der Jugendlichen (hinsichtlich der Formulierung oder der Anzahl der Items) als zu schwierig und zu umfangreich – und insofern nicht altersangemessen – erwiesen. Daher wurden die Skalen neu konzipiert.
 
5
T1 bzw. t1 steht für „Messzeitpunkt 1“ (Eingangserhebung), T2 bzw. t2 steht für „Messzeitpunkt 2“ (Abschlusserhebung).
 
6
Die Kooperation zwischen den verschiedenen Bildungsakteur*innen war geprägt von einem inter- und transdisziplinären Austausch und stellte zudem einen Balanceakt zwischen forschungsmethodischen und pädagogischen Ansprüchen dar. Ein gemeinsames Sprechen zu entwickeln beanspruchte viel Zeit, stellte aber auch eine zentrale Ressource in der Konzeptions- und Forschungsphase dar.
 
Metadaten
Titel
Interventionsstudie zur Analyse und Förderung politischer Urteilsbildung zum Transformationsfeld Landwirtschaft und Ernährung
verfasst von
Annegret Jansen
Copyright-Jahr
2025
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-46149-2_7