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Open Access 2025 | OriginalPaper | Buchkapitel

8. Interviewstudie ex post zur Analyse politischer Reflexions- und Sinnbildungsprozesse

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Zusammenfassung

Mit dem Unterrichtsprojekt wurde das Ziel verfolgt, die Perspektivität und Kontroversität gesellschaftlicher Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung am Beispiel des Transformationsfeldes Landwirtschaft und Ernährung didaktisch aufzubereiten und durch außerschulische Begegnungen mit regionalen Akteur*innen erfahrbar zu machen. Die empirische Untersuchung im Rahmen der Interventionsstudie hat ergeben, dass durch das Unterrichtsprojekt als didaktische Intervention eine Politisierung der Thematik angebahnt werden konnte. Zeigte sich in einem Großteil der Schüler*innenäußerungen vor dem Unterrichtsprojekt die Vorstellung eines regelrecht natürlichen Strukturwandlungsprozesses, der mit ökologischen Nachteilen verbunden ist, ergaben die Befragungen unmittelbar nach dem Unterrichtsprojekt eine Ausdifferenzierung der Vorstellungen zum Konfliktfeld Landwirtschaft und Ernährung unter vermehrter Berücksichtigung politischer Kategorien (Akteur*innen, Handlungsfolgen, ökonomischer Zusammenhang etc.).
Das Ziel der Interviewstudie ist es, das spezifische Anregungspotenzial der kontroversen außerschulischen Begegnungen für die politische Urteilsbildung ex post zu explorieren. Aufgrund dessen werden Reflexions- und Sinnbildungsprozesse sechs Wochen nach dem Unterrichtsprojekt erhoben. Somit ergänzt die Interviewstudie die Gesamtstudie nun um Erkenntnisse über das außerschulische Lernen im schulischen Fachunterricht. Wie in Abschnitt 4.5 herausgearbeitet, wird dem außerschulischen Lernen aufgrund der genuinen Mehrperspektivität der außerschulischen Erfahrung ein besonderes Potenzial zur Förderung der politischen Urteilsfähigkeit zugesprochen (Juchler, 2022). Dies steht in einer Diskrepanz zum Theorie- und Empiriedefizit, weshalb explorative Untersuchungen von Verstehensprozessen von Schüler*innen angezeigt sind (Moritz, 2016; siehe Abschn. 4.6).
Hinweise

Ergänzende Information

Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann https://​doi.​org/​10.​1007/​978-3-658-46149-2_​8.
Mit dem Unterrichtsprojekt wurde das Ziel verfolgt, die Perspektivität und Kontroversität gesellschaftlicher Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung am Beispiel des Transformationsfeldes Landwirtschaft und Ernährung didaktisch aufzubereiten und durch außerschulische Begegnungen mit regionalen Akteur*innen erfahrbar zu machen (siehe Abschn. 5.​2). Die empirische Untersuchung im Rahmen der Interventionsstudie hat ergeben, dass durch das Unterrichtsprojekt als didaktische Intervention eine Politisierung der Thematik angebahnt werden konnte. Zeigte sich in einem Großteil der Schüler*innenäußerungen vor dem Unterrichtsprojekt die Vorstellung eines regelrecht natürlichen Strukturwandlungsprozesses, der mit ökologischen Nachteilen verbunden ist, ergaben die Befragungen unmittelbar nach dem Unterrichtsprojekt eine Ausdifferenzierung der Vorstellungen zum Konfliktfeld Landwirtschaft und Ernährung unter vermehrter Berücksichtigung politischer Kategorien (Akteur*innen, Handlungsfolgen, ökonomischer Zusammenhang etc.). Inwiefern die außerschulischen Begegnungen es tatsächlich vermocht haben im Sinne einer sozialkonstruktivistischen Lerntheorie sozio-kognitive Konflikte zu initiieren und eine Weiterentwicklung oder Differenzierung der Urteile der Lernenden zu evozieren, ist bislang noch nicht hinreichend beantwortet (siehe Abschn.7.​3.​1). Im Besonderen wirft die vielfach festgestellte Stabilität der themenspezifischen Vorstellungen und Positionierungen die Frage auf, ob die außerschulischen Begegnungen möglicherweise gerade zur Aktivierung bestehender Deutungsmuster beigetragen haben. Die fachdidaktisch relevante Frage, inwieweit außerschulische Begegnungen das Komplexitätsbewusstsein der Schüler*innen fördern können oder ob die nahräumliche Ausrichtung nicht eben sogar das Gegenteil bewirkt, ist noch ungeklärt.
Das Ziel der Interviewstudie ist es, das spezifische Anregungspotenzial der kontroversen außerschulischen Begegnungen für die politische Urteilsbildung ex post zu explorieren. Aufgrund dessen werden Reflexions- und Sinnbildungsprozesse sechs Wochen nach dem Unterrichtsprojekt erhoben. Somit ergänzt die Interviewstudie die Gesamtstudie nun um Erkenntnisse über das außerschulische Lernen im schulischen Fachunterricht. Wie in Abschnitt 4.​5 herausgearbeitet, wird dem außerschulischen Lernen aufgrund der genuinen Mehrperspektivität der außerschulischen Erfahrung ein besonderes Potenzial zur Förderung der politischen Urteilsfähigkeit zugesprochen (Juchler, 2022). Dies steht in einer Diskrepanz zum Theorie- und Empiriedefizit, weshalb explorative Untersuchungen von Verstehensprozessen von Schüler*innen angezeigt sind (Moritz, 2016; siehe Abschn. 4.​6). Wie in Kapitel 6 erläutert, werden zwei übergreifende Forschungsfragen verfolgt. Die jeweilen Unterfragen können dort sowie im nachfolgenden Abschnitt 8.1.4.2 (siehe Tab. 8.2) entnommen werden.
Forschungsfrage 2: Welche Reflexions- und Sinnbildungsprozesse konnten im Rahmen des Unterrichtsprojektes auf welche Weise angeregt werden?
Forschungsfrage 3: Welche Reflexions- und Sinnbildungsprozesse lassen sich in den Reflexionen der Jugendlichen über die außerschulischen Begegnungen mit den Landwirt*innen und den Umweltaktivist*innen identifizieren?
Urteilsbildung wird nachfolgend in verstehensorientierter Perspektive als Sinnbildung betrachtet – und steht damit in einem komplementären Verhältnis zum theoretischen Zugang der Interventionsstudie (siehe Abschn. 3.​5). Das Forschungsinteresse richtet sich auf die angebahnten Sinnbildungsprozesse in Rahmen des konkreten Unterrichtsprojektes und der außerschulischen Begegnungen zu einem konkreten Lerngegenstand in retrospektiven Nacherzählungen der teilnehmenden Jugendlichen selbst (Bruner, 1990). Sie in ihrer Genese zu betrachten, heißt, die Interaktion der subjektiven Deutungsmuster mit dem Lehr-Lern-Arrangement in den Blick zu nehmen. Die Erinnerungen an und Reflexionen über das Unterrichtsprojekt werden zum narrativen Ausgangspunkt gemacht, um den schüler*innenseitigen Prozess des En- und Decodierens zu analysieren und Momente der Sinnbildung aufzuspüren. Zentral sind damit die subjektiven Schlussfolgerungen der Jugendlichen und inwieweit es ihnen gelingt, das außerschulisch Erfahrene im Wechselspiel zwischen Induktion und Deduktion aufzuschlüsseln. Mit der Studie sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie nachhaltigkeitsbezogene Urteilsbildung durch die Integration außerschulischer Begegnung in den Politikunterricht gefördert werden kann.

8.1 Methode

Im Folgenden wird das methodische Vorgehen der Interviewstudie dargelegt. Hierfür werden zunächst das Untersuchungsdesign sowie die Fallauswahl und die Durchführung der Befragung vorgestellt. Anschließend werden der Interviewleitfaden als Erhebungsinstrument, das Auswertungsvorgehen und das entwickelte Kategoriensystem beschrieben.

8.1.1 Untersuchungsdesign: Das episodische Interview

Um das spezifische Anregungspotenzial der kontroversen außerschulischen Begegnungen mit den regionalen Akteur*innen für die politische Urteilsbildung qualitativ zu explorieren, wurde sich zur Untersuchung der oben genannten Fragestellungen für die Durchführung einer qualitativen Interviewstudie ex post entschieden (Döring, 2022, S. 353–357; S. 360 f.). Forschungsgegenstand stellen die Reflexions- und zu rekonstruierenden Sinnbildungsprozesse der Lernenden dar. Um jene im empirischen Material zugänglich zu machen, wurde eine zeitliche Distanz von sechs Wochen zum Unterrichtsprojekt gewahrt. Auf diesem Wege wurde die Anbahnung eines reflexiven Verhältnisses der Lernenden zum Unterrichtsprojekt ermöglicht und die für die Reflexion wesentliche Eigenart des „Sich-inne-Werdens“ begünstigt (Lutz, 2021, S. 1532). Alexander (2017) beschreibt Reflexion als „the deliberation, pondering, or rumination over ideas, circumstances, or experiences yet to be enacted, as well as those presently unfolding or already passed“ (ebd., S. 308). Demnach können sich Reflexionsprozesse auf zukünftige, gegenwärtige und vergangene Situationen beziehen (siehe auch Farrell, 2012). Es kann davon ausgegangen werden, dass die subjektiven Sichtweisen der Jugendlichen sich einige Wochen nach Abschluss des Unterrichtsprojektes weiterentwickeln und unterscheiden, da individuelle Sinnbildungsprozesse in der Zwischenzeit begünstigt sind. Die individuelle Reflexion wurde in der Interviewsituation selbst als ein „«Sich-zurück-Wenden» des Denkens“ angeregt (Lutz, 2021, S. 1532). Im Rekurs auf das Involviert-Sein in das Unterrichtsprojekt wird das Moment der Narration tragend, als „diachrone Darstellung eines Wandels eines Ich oder einer Sache bzw. eines Themas in der Zeit“ (Kruse, 2015, S. 169; H. i. O.). Die kognitive Repräsentation der Erfahrung wird in der Gesprächssituation aktualisiert und als Narration reproduziert (Küsters, 2022).
In der Interviewform und -technik wurde sich an das episodische Interview nach Flick (2011; vgl. auch Döring, 2022, S. 373) orientiert. Es dient dazu, subjektive Sichtweisen zu den schulischen sowie außerschulischen Erfahrungen zu erheben, da es darauf abzielt, Narrationen und Reflexionen zu generieren. Das episodische Interview stellt eine Kombination von Befragung und Erzählung dar, wodurch sowohl subjektives Wissen als auch subjektive Erfahrungen der Befragten erhoben werden (Flick, 2011, S. 273). Die Interviewform und die sich daraus ergebende -technik zielen darauf ab, sowohl argumentative als auch erzählende Darstellungen zu erfassen, die auf zwei Wissensformen rekurrieren.
Ausgangspunkt ist dabei die Unterscheidung zwischen semantischem und episodischem Wissen: Während semantisches Wissen um Begriffe und ihre Beziehungen untereinander herum aufgebaut sind, besteht episodisches Wissen aus Erinnerungen an Situationen. Erstes ist am besten über Fragen und Antworten zu erheben, letztes eher über Erzählanstöße und Erzählungen. (Ebd., S. 273)
Das Modell von Flick (2011; siehe Abb. 8.1) veranschaulicht die Verschränkung der Wissensformen und zeigt, dass „sich semantisches Wissen zum Teil aus episodischem Wissen speist und sich erlebte Erfahrung damit im Semantischen niederschlägt“ (Misoch, 2019, S. 59).
Für den Forschungsgegenstand ist die Verschränkung zwischen Erlebten und Begrifflichen mit Blick auf die angeregte Urteilsbildung von besonderem Interesse. Im Sinne des politischen Urteilens nach Arendt stellt sich die Frage, inwiefern das Besondere der konkreten Erfahrung sinnhaft auf das systemische Allgemeine bezogen werden kann (siehe Abschn. 3.​2.​2). Gerade für politische Bildungsprozesse und die Urteilsbildung im Besonderen ist „[d]er Pulsschlag von Abstraktion und Rekonkretisierung“ (Hilligen, 1991, S. 24) konstitutiv – oder in den Worten von Grammes (2012): „Lernen erfolgt im ‚Pulsschlag‘ von Fallarbeit, Verallgemeinerung (Begriffe), Transfer und Übung am neuen Fall, Reflexion des Lernprozesses durch Meta-Lernen“ (ebd., S. 81).
Im Falle der vorliegenden Interviewstudie wurde die Interviewform im Hinblick auf den Forschungszweck und das Alter der Befragten angepasst. Das Interviewgespräch fokussierte daher zwar auf „persönlich Erlebtes“, jedoch nicht im Sinne autobiografischer Teilnarrationen, sondern als geschilderte Erinnerungen an konkrete Situationen des zurückliegenden Unterrichtsprojektes (Misoch, 2019, S. 58). Das semantisch-begriffliche Wissen manifestiert sich in konkreten Vorstellungen und Konzepten und wird üblicherweise mit offenen und auch assoziativen Fragen erhoben, wie: „Was verbindest Du mit dem Begriff Nachhaltigkeit?“ (Misoch, 2019, S. 59). Das Schüler*inneninterview war insofern weniger offen gestaltet. Das Unterrichtsprojekt als inhaltlichen und gemeinsam erlebten Bezugsrahmen zu nutzen, bot den Befragten Orientierung und ermöglichte mit Blick auf das Alter und die heterogenen Leistungsniveaus der Interviewpartner*innen einen niedrigschwelligen Zugang.
Um eine Vergleichbarkeit der geführten erzählgenerierenden Interviews zu gewährleisten, wurden halbstrukturierte Interview auf Basis eines Interviewleitfadens eingesetzt (Döring, 2022, S. 367 f.). Der Interviewleitfaden hält die offenen Fragen in einer bestimmten Reihenfolge fest, die jedoch in der konkreten Interviewsituation bei Bedarf angepasst werden kann. Um eine sinnvolle Balance zwischen Strukturierung und Offenheit herzustellen und zugleich Momente der Vertiefung evozieren zu können, wurden zu jeder Interviewfrage Vertiefungsimpulse in Form von Ad-hoc-Fragen vorbereitet (Kruse, 2015, S. 203 f.). Die Interviews wurden transkribiert und anschließend in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018) ausgewertet (siehe Abschn. 8.1.4).
Im gesamten Forschungsprozess wurden die Gütekriterien qualitativer Forschung stets berücksichtigt (zur Kontroverse und Einordnung vgl. Döring, 2022, S. 106–108; 110–112). Die vorliegende Arbeit orientiert sich an den sieben Kernkriterien zur Bewertung qualitativer Forschung nach Steinke (2017): intersubjektive Nachvollziehbarkeit (durch Transparenz, kollaborative Interpretation und kodifizierte Verfahren), Indikation des Forschungsprozesses (Passung zwischen Forschungsgegenstand und Methode), empirische Verankerung der Forschungsergebnisse, Limitation, Kohärenz, Relevanz und reflektierte Subjektivität. Diese werden auch in der Diskussion (Abschn. 8.3.2) herangezogen, um den eigenen Forschungsprozess zu reflektieren und evaluieren.

8.1.2 Fallauswahl und Durchführung der Interviews

Fallauswahl. Insgesamt wurden elf Interviews mit Schüler*innen aus den zwei Schulklassen des 11. Jahrgangs zweier Gymnasien durchgeführt, die an dem mehrwöchigen Unterrichtsprojekt teilgenommen hatten (siehe Abschn. 7.​1.​2). Das durchschnittliche Alter betrug zum Zeitpunkt der Durchführung 16 Jahre. Die Rekrutierung der Interviewpersonen erfolgte im direkten Anschluss an das Unterrichtsprojekt, indem ausgewählte Schüler*innen angefragt wurden, freiwillig an einem nachbereitenden Interview teilzunehmen. Die Freiwilligkeit des Engagements musste aufgrund des schulischen Kontextes unbedingt gegeben sein. Es wurden sechs Lernende der Schulklasse 1 und fünf Lernende der Schulklasse 2 befragt. Es handelte sich dabei insgesamt um sechs Schülerinnen und fünf Schüler.
Die Samplingstrategie folgte annähernd dem Prinzip der maximalen strukturellen Variation (Kruse, 2015, S. 242). Bei kontrastierenden Samplingverfahren sind zwei Verfahren bewährt: Die theoretisch begründete Vorabfestlegung und das theoretical sampling aus der Grounded Theory, in welchem die Fallauswahl im Verlauf der Datenerhebung sukzessiv getroffen wird. Im Kontinuum dieser beiden idealtypischen Strategien kommt die Vorgehensweise in dieser Studie zweiterem näher. Das Sampling war an die Interventionsstudie gebunden, insofern gab es eine Form der Vorabfestlegung. Durch die vorangestellte Interventionsstudie konnten über die Dauer des Unterrichtsprojektes variierende Fälle in den Schulklassen unterschieden und identifiziert werden (Kruse, 2015, S. 248 ff.). Im Bereich der qualitativen Forschung ist „die bewusste bzw. absichtsvolle Auswahl von Fällen (‚purposive/ purposeful sampling‘)“ als Auswahlverfahren etabliert (Döring, 2022, S. 303; siehe auch Glaser & Strauss, 1999). Die qualitative Fallauswahl
soll sicherstellen, dass durch die Analyse der herangezogenen empirischen Fälle (Fallauswahl, Datenkorpus) spezifische Aussagen entwickelt werden können, die valide sind. Zudem sollen sie von sich beanspruchen können, dass sie in abstrahierter Weise eine Reichweite der Ergebnisse begründen können, die über das zugrunde liegende Sample (Fallauswahl) hinausgeht. Dies kann man als eine ‚Verlängerung‘ der auf der Datenbasis – des konkreten Samples – selektiv gewonnen Erkenntnisse bezeichnen. (Kruse, 2015, S. 237)
Das Ziel qualitativer Forschung ist dabei „nicht die statistische Repräsentativität, sondern die qualitative Repräsentation“ (ebd., S. 241) – und damit eine qualitative und nicht statistische Verallgemeinerung. Vor diesem Hintergrund gilt der Anspruch, in der Fallauswahl die Heterogenität des Untersuchungsfeldes zu berücksichtigen (Kruse, 2015, S. 241; Kelle & Kluge, 2010). Daher wurden gezielt solche Schüler*innen angefragt, die sich nach Ansicht der Lehrkräfte und durch die Erfahrung im Unterrichtsprojekt als Fälle erwiesen, die sich hinsichtlich ihrer politischen Positionierung, Werteorientierung und ihres Diskussionsverhaltens unterschieden. Die Fallauswahl erfolgte somit bewusst im Hinblick auf bestimmte Merkmalsausprägungen, „so dass das Sample Fälle enthält, welche die Heterogenität des Untersuchungsfeldes zumindest repräsentieren“ (Kruse, 2015, S. 241; H. i. O.). Auf diese Weise konnte sichergestellt werden, ein kontroverses Spektrum an Aussagen zu erfassen und intersubjektive Vergleiche in der Auswertung zu ermöglichen, damit „ein maximaler theoretischer Erkenntniswert resultiert“ (Döring, 2022, S. 304).
Durchführung. Die elf Interviews wurden jeweils sechs Wochen nach dem Ende des siebenwöchigen Unterrichtsprojektes durchgeführt. Sie fanden im November 2018 und August 2019 in den Räumlichkeiten der jeweiligen Schule individuell vereinbart nach Unterrichtsende statt. Die Einwilligungen der Lernenden und Erziehungsberechtigten zur wissenschaftlichen Begleitung und Nachbereitung des Unterrichts wurde bereits vor dem Beginn des Unterrichtsprojektes eingeholt.
In der Interviewsituation wurde Wert auf eine offene und wertschätzende Gesprächssituation gelegt (Helfferich, 2019). Zwar waren sich Interviewerin und Befragte schon über mehrere Wochen des Unterrichtsprojektes persönlich bekannt, jedoch musste nun ein Rollenwechsel von Lehrperson zu Interviewerin und Forscherin vollzogen und transparent gemacht werden. Um einer asymmetrischen Kommunikationssituation entgegenzuwirken, wurden die befragten Jugendlichen bei der Intervieweröffnung darauf hingewiesen, dass in der Interviewsituation Gesagtes anonymisiert und diese Anonymität ihnen auch gegenüber der zuständigen Lehrkraft zugesichert werde. Überdies wurde die Rolle der Interviewerin in Abgrenzung zum Schulunterricht erläutert und signalisiert, dass ein ehrliches und ggf. kritisches Antworten explizit gewünscht ist. Insbesondere der Themenkomplex Nachhaltigkeit kann bei den Befragten eine Tendenz zur sozialen Erwünschtheit im Antwortverhalten begünstigen. Auch die Interviewform des episodischen Interviews soll diesem Umstand entgegenwirken: „Durch das Abwechseln zwischen offenen Fragen und narrativen Erzählanreizen ähnelt die Erzählsituation bei der Durchführung episodischer Interviews stark alltäglicher Kommunikation […] und kann dazu führen, dass der Interviewte die Situation als angenehm empfindet und sich deswegen intensiv auf diese einlässt, sodass tiefe und reichhaltige Ergebnisse erzielt werden können“ (Misoch, 2019, S. 63).
Über das Ziel und den Zweck der Studie wurden die Jugendlichen insofern aufgeklärt, als es um ihre Erinnerungen an das Unterrichtsprojekt und Sichtweise auf das Thema ginge. Die Zielstellung einer Exploration von Reflexions- und Sinnbildungsprozessen im Kontext der Lerneinheit wurde nicht explizit offengelegt, um das Antwortverhalten der Proband*innen – etwa durch die Antizipation einer Bewertungssituation – nicht zu beeinflussen. Alle Interviews wurden von der Verfasserin dieser Arbeit geführt und mithilfe eines digitalen Aufnahmegeräts aufgezeichnet. Die Interviews hatten eine Länge zwischen 40 Minuten und 70 Minuten. Im Anschluss an das Interview wurden besondere Rahmenbedingungen und Auffälligkeiten zum Gespräch in Memos als Postskriptum festgehalten (Rädiker & Kuckartz, 2019, S. 125).

8.1.3 Der Interviewleitfaden

Mithilfe des Interviewleitfadens wurden qualitative Daten generiert, die Aufschluss über die im Kontext des Unterrichtsprojektes angebahnten Reflexions- und Sinnbildungsprozesse geben sollten. Insbesondere mit Blick auf das kontroverse Arrangement zweier außerschulischer Akteur*innengruppen, sollten Erkenntnisse darüber gewonnen werden, inwieweit das Erlebte erinnert und vom konkret Erfahrenen abstrahiert wird – und ob politische Einsichten gewonnen bzw. bestätigt werden konnten.
Mit Blick auf das Erkenntnisinteresse, subjektive Sinnbildungen rekonstruieren zu können, bestand die Herausforderung darin, Reflexionen der Schüler*innen über Erfahrungen in der Interviewsituation zu initiieren. Die Reflexion wurde schrittweise durch die Interviewfragen angeregt: Das Erlebte wurde von den Befragten rekonstruiert, kommentiert und bewertet, mit (Unterrichts-)Themen in Beziehung gesetzt und daraus persönliche Schlussfolgerungen bezogen. Diese sukzessive vordringende Vorgehensweise orientiert sich an dem Modell zum Lernen aus Erfahrung von Bain et al. (2002). Die Autor*innen differenzieren zwischen Reporting, Responding, Reasoning, Relating und Reconstructing (ebd., S. 13–29). Die Abbildung 8.2 zeigt die Adaption des Konzepts für die vorliegende Studie.
Bei der Leitfadenkonstruktion wurde entsprechend der episodischen Herangehensweise darauf geachtet, dass erzählgenerierende Impulse im Wechsel mit offenen Fragen gesetzt waren (Misoch, 2019, S. 63). So wurden die Schüler*innen über die Dauer des Interviews mindestens zu Beginn jedes Themenblocks aufgefordert, ihre Eindrücke und Erinnerungen frei zu schildern. Um die Verbindung zwischen episodischem und semantischem Wissen aufzuspüren bzw. die Richtung der Rekurrierung zu verstehen, wurde etwa gefragt, welche Bedeutung ein erlebter Aspekt oder eine vermittelte Information für die eigene Sichtweise auf das Thema habe. Inhaltlich unterteilt sich der Leitfaden in zwei Frageblöcke: Anregungspotenziale des Unterrichtsprojektes sowie Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen der außerschulischen Begegnungen. Der Einsatz potenziell relevanter exmanenter und immanenter Nachfragen (Kruse, 2015, S. 214) wurde situativ gehandhabt und ebenfalls im Leitfaden festgehalten (siehe Anhang 3 im elektronischen Zusatzmaterial). Im Folgenden wird der Aufbau des Interviewleitfadens kurz beschrieben.
Anregungspotenziale des Unterrichtsprojektes. Die befragten Schüler*innen wurden zunächst aufgefordert zu beschreiben, wie sie das Unterrichtsprojekt im Verlauf erlebt haben, ob es seither in ihrem Leben Situationen gab, in denen sie sich an das Projekt erinnert gefühlt haben, und wie sich ihre Sichtweise auf das Thema entwickelt hat. Mit diesem Gesprächseinstieg wurde zum einen eine Atmosphäre erzeugt, in der die Befragten sich auf ihre erzählende Rolle einstimmen. Zum anderen wird exploriert, wie die Lernenden den Lerngegenstand selbst rekonstruieren und ihren Lern- und Urteilsprozess rückblickend beschreiben. Auf diese Weise werden die inhaltlichen Erkenntnisse sowie die Annahmen darüber, wie und wodurch diese angeregt wurden, der Analyse zugänglich gemacht.
Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen der außerschulischen Begegnungen. Gefragt wurde danach, wie diese Begegnungen erlebt wurden und in Erinnerung geblieben sind sowie danach, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden konnten. Um politische Sinnbildungsprozesse zu rekonstruieren und Erkenntnisse darüber zu gewinnen, inwieweit eine Abstrahierung des Erfahrenen in den thematischen Kontext der Lerneinheit vorgenommen wird, wurde sowohl nach der Bedeutung der Begegnungen für die eigene Sichtweise auf das Thema als auch nach Einsichten gefragt, die sich auf andere Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung übertragen lassen. Die entsprechenden Fragen wurden zuerst mit Blick auf den Besuch bei den Landwirt*innen, anschließend mit Blick auf das Treffen mit den Umweltaktivist*innen gestellt. Geschlossen wird dieser Frageteil mit der Integration dieser konfligierenden Perspektiven, indem zum einen gefragt wird, in welchem Verhältnis die Perspektiven der regionalen Akteur*innen zueinanderstehen und zum anderen, welche Bedeutung beide Treffen für die Sicht der Proband*innen auf das Thema hatten. Von Interesse ist an dieser Stelle, ob und inwieweit die Lernenden die außerschulischen Begegnungen als unterstützend für die eigene Urteilsbildung beschreiben. Um konkret zu den Standpunkten der Lernenden vorzudringen, wurde ebenfalls erfragt, welche Akteur*innengruppe sie in ihren Zielen und Wünschen eher unterstützen würden.1

8.1.4 Auswertung

Für die Auswertung der Interviews wurde ein Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse gewählt: die inhaltlich strukturierende qualitative Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018, S. 97 ff.). Das Vorgehen nach Kuckartz zeichnet sich durch eine starke Orientierung am Material aus: „Auch nach der Zuordnung zu Kategorien bleibt der Text selbst, d. h. der Wortlaut der inhaltlichen Aussagen, relevant und spielt auch in der Aufbereitung und Präsentation der Ergebnisse eine wichtige Rolle“ (Kuckartz, 2018, S. 48). Die Analyse erfolgt systematisch mithilfe von Kategorien; im Unterschied zum Vorgehen einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2022) liegt der Akzent jedoch stärker auf einer qualitativ-hermeneutischen Analyse des codierten Materials sowie in der „Berücksichtigung einer fallorientierten Perspektive“ (ebd., S. 6). Von Interesse ist demnach das Sinnverstehen des Materials und damit das Aufspüren subjektiver Sichtweisen und (latenter) Denkmuster, nicht eine häufigkeitsorientierte kodifizierende Auswertung der gebildeten Kategorien wie in der Interventionsstudie. Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ist jene Kombination einer systematischen kategorienorientierten Strukturierung mit einer hermeneutisch orientierten Perspektive angezeigt, da es um die Analyse eines (Sinn-)Verstehens aufseiten der Befragten selbst geht. Darüber hinaus ist dieser methodische Zugang auch adäquat im Hinblick auf den Forschungsgegenstand: Um Urteilsbildung im Angesicht der Komplexität nachhaltigkeitsbezogener Problemstellungen sowie im Rahmen konkreter und erlebter Lernsituationen (weiter) zu verstehen, ist es notwendig, die teils fragmentarischen und teils anspruchsvollen Reflexionen der Jugendlichen zu eruieren und interpretieren, um auf diese Weise Sinnstrukturen und Denkmuster zu rekonstruieren.
Die Transkripterstellung erfolgte auf der Basis der Audio-Mitschnitte. Dabei wurde grundsätzlich wörtlich zitiert. Störungen, gegenseitige Unterbrechungen im Gesprächsverlauf und für die Analyse ggf. bedeutungstragende Reaktionen wie Betonungen, Sprechpausen oder Lachen wurden im Transkript in eckigen Klammern festgehalten (Rädiker & Kuckartz, 2019; siehe Beispieltranskript im Anhang 4 im elektronischen Zusatzmaterial). Für die Eigennamen der Befragten sowie der außerschulischen Akteur*innen wurden Pseudonyme gebildet. Um diese voneinander abzuheben, werden die Pseudonyme der Schüler*innen in Großbuchstaben geschrieben (LENA) und die der außerschulischen Akteur*innen kursiv gesetzt (Familie Schmitt und Aktivistin Pia).

8.1.4.1 Auswertungsverfahren

Das Material wurde in Anlehnung an das Verfahren einer inhaltlich strukturierenden Inhaltsanalyse nach Kuckartz (2018) ausgewertet. Die Vorgehensweise erfolgt in sieben, sich zum Teil wiederholenden Schritten (siehe Abb. 8.3) – nachfolgend wird sich auf die Nummerierung im Schaubild bezogen.
Initiierende Textarbeit und Fallzusammenfassungen. Begonnen wurde der Auswertungsprozess mit der initiierenden Textarbeit (siehe Abb. 8.3, Schritt 1), die sich durch ein hermeneutisch-interpretatives Vorgehen auszeichnet und darauf zielt, „den subjektiven Sinn“ der Texte zu verstehen (Kuckartz, 2018, S. 56). Da in der Konstruktion der Interviewstudie weniger pädagogisch-psychologische oder fachdidaktische Konzepte als deduktive Hintergrundfolie tragend waren, sondern vielmehr der eigensinnige Reflexions- und Sinnbildungsprozess der Lernenden selbst, wurde dieser Schritt in seiner induktiv-explorativen Funktion in besonderer Weise ernst genommen. Zum einen wurden die Transkripte mit Blick auf ein erstes Gesamtverständnis des jeweiligen Textes gelesen und vor dem Hintergrund der Forschungsfragen zentrale Begriffe, Argumentationslinien und -brüche markiert. In Memos wurden theorieorientierte Gedanken und Hypothesen festgehalten, die als potenziell bedeutsam für den weiteren Forschungsprozess erschienen. Diese Praxis ist vorwiegend im Forschungsansatz der Grounded Theory etabliert und für die forschungspraktische Umsetzung eines hermeneutischen Zugangs wesentlich (Kuckartz, 2018, S. 58).
Abgeschlossen wurde die initiierende Textarbeit mit dem Schreiben von Fallzusammenfassungen (Case Summaries), um je die „Charakteristika des Einzelfalls“ (ebd.) im Hinblick auf die Forschungsfrage zu systematisieren als auch zu komprimieren. Sie sind „strikt am Gesagten orientiert“ und Interpretationen werden als solche transparent gemacht (ebd., S. 59). Die Fallzusammenfassungen wurden in der vorliegenden Studie stichwortartig vorgenommen und mit einem kennzeichnenden Motto versehen. Die Tabelle 8.1 zeigt ein Beispiel.
Tabelle 8.1
Stichwortartige Fallzusammenfassung
JENDRIK: Momente ambivalenter Relativierung
Skeptisch gegenüber beiden außerschulischen Akteur*innen.
Empfand den Besuch bei den Landwirt*innen als aufschlussreich; das Treffen mit den Umweltaktivist*innen habe seine Skepsis bestätigt.
Stützt seine Position mit Eindrücken aus den außerschulischen Begegnungen.
Formuliert Einsicht, dass sich etwas ändern müsse, dies ginge „aber halt nicht so einfach“.
„Ich kaufe noch mit guten Gewissen Bananen aus Südamerika“ vs. „Regionalität, da bin ich dafür“.
Beschreibt sich selbst als zwiegespalten in seiner Meinung.
Formuliert den Wunsch, eine klare Meinung zum Unterrichtsthema und auch zu anderen Themen zu haben.
Gibt an, Komplexität als überfordernd zu empfinden.
Die Fallzusammenfassungen fungieren nicht als statische Festschreibung, sondern dienen in dieser ersten Phase der Auswertung dazu, den analytischen Blick zu schärfen und ggf. für die Forschungsfrage bedeutsame Aspekte im Fallvergleich zu entdecken. Insofern können sie auch zur Generierung von Hypothesen und Kategorien beitragen (Kruse, 2015, S. 625; Kuckartz, 2018, S. 62).
Codierprozess und Kategorienbildung. Bei der Kategorienentwicklung wurde ein deduktiv-induktives Verfahren angewendet (Kuckartz, 2018, S. 95; Rädiker & Kuckartz, 2019, S. 98 ff.). Das Entwickeln der Hauptkategorien erfolgte deduktiv (concept-driven) vor dem Hintergrund der Themen, die auch in der Erhebung leitend waren und bereits in die Konstruktion des Interviewleitfadens eingeflossen sind (Abb. 8.3, Schritt 2). Der Codier- und Auswertungsprozess (Datenanalyse) wurde mithilfe einer QDA-Software durchgeführt. Der erste Codierprozess erfolgte entlang der Hauptkategorien (siehe Abb. 8.3, Schritt 3); mit Blick auf die Forschungsfragen sinntragende Textabschnitte wurden den Hauptkategorien zugewiesen.
Auf der Basis dieser ersten Struktur folgte ein induktives, also datengesteuertes Vorgehen, d. h. das Spektrum der Ausprägungen der jeweiligen Hauptkategorie wurde am Material herausgearbeitet und es erfolgte eine Ausdifferenzierung in Subkategorien auf einer ersten und zweiten Ebene (data-driven; Kuckartz 2018, S. 95; Abb. 8.3, Schritt 4 + 5). Kelle und Kluge (2010) beschreiben diese Phase auch als Dimensionalisierung:
Das entscheidende Ziel der Dimensionalisierung ist es also, Kategorien und deren Subkategorien bzw. Dimensionen zu identifizieren, anhand derer sich die Fälle möglichst deutlich unterscheiden lassen, d. h. solche Kategorien und Subkategorien zu konstruieren, die zu einer guten Beschreibung von Heterogenität und Varianz im Datenmaterial führen. (Ebd., S. 73 f.)
Das induktive Bestimmen von Subkategorien am Material wurde durch das Systematisieren und Organisieren des Kategoriensystems abgeschlossen (Kuckartz, 2018, S. 93). Hierbei wurden etwa entstandene Subkategorien zusammengefasst, umbenannt oder ggf. in einer neuen Oberkategorie gebündelt. Der zweite Codierprozess des Materials erfolgte mit dem ausdifferenzierten Kategoriensystem (Abb. 8.3, Schritt 6). Die finale Auswertung (Abb. 8.3, Schritt 7) erfolgte schließlich kategorienbasiert und fallvergleichend, um Homologien und Kontraste zu analysieren und interpretieren.
Simultane Validierung. Um auch während des Auswertungsprozesses die intersubjektive Nachvollziehbarkeit sicherzustellen, wurde das Prinzip der kollegialen Validierung (Kruse, 2015) angewendet. Dazu wurde das Kategoriensystem auf vier der elf Transkripte von einer weiteren Person angewendet und Uneinigkeiten zum Anlass genommen, Kategoriendefinitionen zu überarbeiten sowie Kategorien zusammenzulegen oder zu differenzieren (konsensuelles Codieren; Kuckartz & Rädiker, 2022, S. 249 f.). Zudem wurden mit anderen Forscher*innen während des gesamten Auswertungsprozesses und in regelmäßigen Abständen ausgewählte Textsequenzen kollaborativ analysiert, um „die Varianz von Lesarten“ zu erhöhen und einer Verengung des analytischen Blicks vorzubeugen (Kruse, 2015, S. 56 f.; vgl. ebd., S. 557). Auf diese Weise wird das Gütekriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit auch im Hinblick auf die getätigten Interpretationen angewandt.
Im Kontext der Inhaltsanalyse nach Mayring ist zur Herstellung von Validität hingegen auch eine Intercoder-Reliabilitätsprüfung vorgesehen, bei der ein Teil des Datenmaterials durch eine weitere Person ausgewertet und die Reliabilität mithilfe eines Koeffizienten (beispielsweise Cohen’s Kappa) errechnet wird (Mayring & Fenzl, 2019). Die Berechnung eines Koeffizienten hat in Projekten mit einer großen Datenmenge und vielen Codierenden Vorteile, sofern Codiereinheiten vorab festgelegt sind. Diese Herangehensweise wurde in der vorliegenden Auswertung nicht praktiziert. Aus einer strengeren qualitativ orientierten methodologischen Sicht wird der Begriff der Reliabilität eher vermieden und stattdessen eine Übereinstimmung bei der Verwendung der Kategorien angestrebt (Kuckartz & Rädiker, 2022, S. 239; ausführlich ebd., S. 239–250). Hieran orientiert sich das angewendete Auswertungsverfahren der vorliegenden Studie.

8.1.4.2 Das Kategoriensystems

Das Kategoriensystem dient als heuristisches Gerüst im Auswertungsprozess und ist zugleich Ergebnis der Analyse. Das Kategoriensystem gliedert sich entsprechend der zwei Frageblöcke in zwei Auswertungsdimensionen, die im Folgenden beschrieben werden: Anregungspotenziale des Unterrichtsprojektes sowie Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen der außerschulischen Begegnungen. Für jede Auswertungsdimension wurden Hauptkategorien und spezifizierende Subkategorien erster und zweiter Ordnung entwickelt.
Im Folgenden wird die Struktur der zwei Auswertungsdimensionen beschrieben, die sich aus den zwei Forschungsfragen ableiten. Die Tabelle 8.2 zeigt eine Übersicht des Kategoriensystems mit den Haupt- und Subkategorien erster Ordnung. Eine ausführliche Darstellung des Kategoriensystems mit einer Beschreibung und Definition aller Kategorien2 sowie illustrierenden Ankerbeispielen kann dem Anhang 5 im elektronischen Zusatzmaterial entnommen werden.
Tabelle 8.2
Kategoriensystem mit den Haupt- und Subkategorien erster Ordnung
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Auswertungsdimension I: Anregungspotenziale des Unterrichtsprojektes
Die Auswertungsdimension „Anregungspotenziale des Unterrichtsprojektes“ gliedert sich in drei Hauptkategorien (K1–K3). Zum einen wird das Ziel verfolgt, die im Rahmen des Unterrichtsprojektes angestoßenen und für die Urteilsbildung relevanten Lern- und Reflexionsprozesse, die im Rahmen des Unterrichtsprojektes angebahnt wurden, zu explorieren. Zum anderen werden die Sichtweisen der Jugendlichen daraufhin untersucht, inwiefern das Lehr-Lern-Arrangement und insbesondere die Integration der außerschulischen Begegnungen aus der Perspektive der Jugendlichen als anregend für diese Lern- und Reflexionsprozesse erlebt wurden.
Von Interesse ist zunächst, wie die Inhalte des Unterrichtsprojektes von den Befragten einige Wochen später rekonstruiert werden und welche Bezüge in den geschilderten Erinnerungen besonders präsent sind. Anhand der Kategorie „Rekonstruktion des Lerngegenstandes“ (K1) wurden die subjektiven Erinnerungen an die Themen des Unterrichtsprojektes codiert. Die Subkategorien unterteilen sich in schulisch und außerschulisch vermittelte Inhalte. In der Kategorie „Lern- und Urteilsprozess“ (K2) sind zum einen die „Selbsteinschätzungen“ (K2.1) zum Lernzuwachs von Interesse und zum anderen die von den Jugendlichen genannten Erkenntnisse, die im Rahmen des Projektes abgeleitet wurden, enthalten. Hierbei wurden Aussagen codiert, aus denen inhaltliche Schlussfolgerungen (K2.2) der Jugendlichen hervorgehen. Schließlich soll im Rahmen dieser Auswertungsdimension untersucht werden, ob in den Erinnerungen an und Reflexionen über das Unterrichtsprojekt auch Aussagen schüler*innenseitig über lern- und auch urteilsförderliche Faktoren getätigt werden; diese wurden anhand der Kategorie „Anregungspotenzial der außerschulischen Begegnungen“ (K3) codiert. Die induktiv gebildeten Subkategorien unterteilen sich in Aussagen über die außerschulischen Begegnungen im Kontext der Einheit (K3.1), die Anregungspotenziale für den persönlichen Lern- und Urteilsprozess (K3.2) und Bezüge, die zur sonstigen schulischen Nachhaltigkeitsbildung hergestellt wurden (K3.3). Von Interesse ist an dieser Stelle, das fördernde Vermögen des Projektes in qualitativer Art und Weise und aus Sicht der lernenden Subjekte in den Blick zu nehmen, um Hinweise auf förderliche Gestaltungsprinzipien zu generieren.
Auswertungsdimension II: Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen der außerschulischen Begegnungen
Die Auswertungsdimension „Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen der außerschulischen Begegnungen“ fokussiert die schüler*innenseitigen Rekonstruktionen der zwei außerschulischen Begegnungen (K4 + K5) sowie darin enthaltenen und sich aktualisierenden epistemischen Aktivitäten und Muster der Sinnbildung (K6). Das Anliegen ist, spezifischer die angestoßenen und für die Urteilsbildung relevanten Lern- und Reflexionsprozesse im Zuge der außerschulischen Begegnungen zu explorieren. Dabei ist von Interesse, wie diese Begegnungen mit den konfligierenden Perspektiven von den Befragten thematisch eingeordnet und rekonstruiert werden (K4.1 + K5.1) und welche inhaltlichen Schlussfolgerungen die Jugendlichen daraus ableiten (K4.2 + K5.2). Schlussfolgerungen wurden codiert, wenn Erkenntnisse, Bewertungen oder Einsichten aus den Begegnungen abgeleitet wurden. Von besonderer Bedeutung sind daher die subjektiven Denkweisen, die induktiv – das konkret außerschulisch Erfahrene mit Blick auf das Allgemeine abstrahierend – oder gewissermaßen deduktiv – das konkret außerschulisch Erfahrene unter einer Vorstellung vom Allgemeinen subsumierend – abgeleitet werden.
Schließlich werden unter der analytischen Hauptkategorie „Epistemische Aktivitäten und Muster der Sinnbildung“ (K6) jene Textpassagen codiert, in denen sich für die Urteilsbildung relevante Prozesse in der Auseinandersetzung mit der außerschulischen Begegnung zeigen. Entsprechend den Ausprägungen im Material wurden drei Subkategorien gebildet: Perspektivenübernahme und -koordination (K6.1), Integration der Perspektiven in die eigene Sichtweise (K6.2) und Selbstbezug, -reflexion und -vergewisserung (K6.3). Die Muster zeigen sich in den Subkategorien zweiter Ordnung, wie im Ergebnisteil dargestellt.
Es ist davon auszugehen, dass im Codier- und Auswertungsprozess nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, wodurch eine Schlussfolgerung tatsächlich gewonnen wurde. Eine Erkenntnis kann sowohl aus der Erfahrung gewonnen werden (a posteriori), als auch durch Einsicht, also schließend durch Nachdenken (a priori). Dem Schlussfolgern (Relating und Reasoning) ist die Kombination aus induktivem und deduktivem Denken per definitionem zu eigen (Klauer & Sparfeldt, 2018, S. 279). Forschungspraktisch kann am Material daher nicht eindeutig abgeleitet werden, ob eine Erkenntnis ausschließlich aus der Erfahrung des Unterrichtsprojektes entstanden ist oder nur durch spezifische Vorannahmen entsprechend decodiert wurde. Die Auswertung untersucht daher Schlussfolgerungen, die nach Aussage der Befragten im Rahmen des Unterrichtsprojektes angeregt und in der Interviewsituation aktualisiert wurden. Welche spezifischen Sinnbildungsprozesse sich in diesen Schlussfolgerungen identifizieren lassen, stellt die analytische und rekonstruktive Forschungsaufgabe dar.

8.1.4.3 Dokumentation der Forschungsergebnisse

Um die Nachvollziehbarkeit auch in der Dokumentation der Forschungsergebnisse sicherzustellen, wird im Folgenden die Anlage des Ergebnisteils (Abschn. 8.2) skizziert und offengelegt, welcher Struktur die Darstellungsform in den einzelnen Abschnitten folgt.
Der Ergebnisteil umfasst zwei Kapitel, die den zwei Fragestellungen und entsprechenden Auswertungsdimensionen zugeordnet sind (siehe Abschn. 8.2.1 und 8.2.2). Die Unterkapitel entsprechen im Titel den Namen der Hauptkategorien. Sie beginnen jeweils mit der Darstellung der Forschungsfrage und einem Auszug aus dem Kategoriensystem, um die Differenzierung der Hauptkategorien in die Subkategorien erster und zweiter Ordnung in Form eines Überblicks offenzulegen. Die Subkategorien 1 sind als Überschrift markiert und mit einer Nummerierung versehen (Beispiel: K2.1 Selbsteinschätzung des Lern- und Urteilsprozesses), die weitere Ausdifferenzierung jener auf der Ebene der Subkategorien 2 sind kursiv und innerhalb des Fließtextes an den Anfang eines Absatzes gesetzt.
Die Dokumentation der Ergebnisse erfolgt, indem die subjektiven Sichtweisen der Jugendlichen dargestellt werden. Die Analysen werden durch die exemplarische Darstellung von Materialpassagen begleitet und in den Gesamtzusammenhang der Erkenntnisse aus dem Datenkorpus eingeordnet, etwa um homogene bzw. heterogene Ausdifferenzierungen in den Schüler*innenaussagen festmachen zu können. Zusammenfassungen erfolgen zum Abschluss jeder Hauptkategorie im Fließtext und zum Abschluss jeder Auswertungsdimensionen in separaten Kapiteln (siehe Abschn. 8.2.1.4 und 8.2.2.4).

8.1.5 Forschungsethischer Kommentar

In der Interviewstudie wurden forschungsethische Aspekte berücksichtigt und realisiert, um einen ethisch verantwortungsvollen Umgang mit den Untersuchungspersonen zu garantieren (Döring, 2022, S. 119–129). Die Maßnahmen zur Einhaltung der Forschungsethik, die für die Interventionsstudie vorgestellt wurden (siehe Abschn. 7.​1.​5; Sales & Folkman, 2000), gelten auch für die vorliegende Studie, da Interviews mit einzelnen Jugendlichen aus den zwei Schulklassen geführt wurden. In der Erhebung, der Datenaufbereitung, der Analyse und der Ergebnisdarstellung wurde und wird streng auf die Gewährleistung von Anonymität und Datenschutz geachtet. Die Anonymisierung der qualitativen Datensätze hat das Ziel, dass durch das Material keine Rückschlüsse auf Personen möglich sind (Döring, 2022, S. 126). Für die Schüler*innen wurden Pseudonyme genutzt. Für die außerschulischen Akteur*innen wurden ebenfalls Pseudonyme verwendet, sofern deren Namen von den Schüler*innen explizit genannt wurden: [Pia (Umweltaktivistin)] und [Schmitts (Landwirt*innen)]. Für die Nichtregierungsorganisation und Supermarktkette, die explizit genannt wurden, wurden jedoch keine Pseudonyme gebildet, sondern sie wurden nur durch „[NGO]“ und „[Supermarktkette]“ ersetzt. Alle Ersetzungen im Rahmen der Pseudonymisierung sind durch eckige Klammern markiert.
Anders als im Rahmen eines Fragebogens explizieren die Befragten im Rahmen eines Interviews ausführliche Schilderungen, die als „hochgradig individuell“ einzuschätzen sind (Wortwahl der Befragten, Nennung von biografischen Bezügen, Beschreibung von persönlichen Ereignissen, Wohnort) (Döring, 2022, S. 576). Da diese Aspekte „zusammengenommen eine Identifizierung sehr leicht machen“ (ebd., S. 584) könnten, geht die Anonymisierung über die reine Pseudonymisierung hinaus. In einem weiteren Schritt wurden Kontextinformationen betrachtet und ggf. eliminiert oder verändert – der Name der Stadt wurde beispielsweise durch [Stadt] ersetzt. Zur computergestützten Datenanalyse wurde das Datenmaterial digitalisiert und die Primärdatensätzen wurden ordnungsgemäß archiviert.

8.2 Ergebnisse

Im Folgenden wird das Spektrum der politischen Reflexions- und Sinnbildungsprozesse, welches sich in den Erinnerungen und Reflexionen der Schüler*innen identifizieren und rekonstruieren ließ, dargestellt. Bei der Auswertung der Ergebnisse waren die forschungsleitenden Fragestellungen zentral (siehe Kap. 6). Sie haben den Forschungsfokus in der empirischen Annäherung an das Material geleitet. In Anlehnung an die Forschungsfragen (2 + 3) konnten folgende Auswertungsdimensionen abgeleitet werden: Anregungspotenziale des Unterrichtsprojektes (I) und Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen der außerschulischen Begegnungen (II). Unter Berücksichtigung der forschungsmethodischen Implikationen nach Kuckartz (2018) und den daraus abgeleiteten Forschungsschritten (siehe Abschn. 8.1.4.1, „Auswertungsverfahren“) wird sich die Ergebnisdarstellung u. a. auch auf die Ausprägung der Hauptkategorien beziehen. Wie in Abschnitt 8.1.4.3 dargelegt, entsprechen die folgenden Unterkapitel den Hauptkategorien. Für den Nachvollzug der forschungsmethodischen Praxis sind die Subkategorien erster und zweiter Ordnung tabellarisch zu Beginn der Unterkapitel angeführt. Dies ermöglicht zum einen Überblick zu schaffen und zum anderen den Nachvollzug der Forschungspraxis sicherzustellen. Abschließend werden die Ergebnisse der jeweiligen übergeordneten Auswertungsdimensionen mit Blick auf die erkenntnisleitenden Forschungsfragen zusammengefasst (siehe Abschn. 8.2.1.4 und 8.2.2.4).
Die Ergebnisse werden dabei in qualitativer Weise präsentiert, wobei „auch Vermutungen und Interpretationen vorgenommen werden“ (Kuckartz, 2018, S. 119).3 Diese werden entlang textimmanenter Kontexte aufgestellt und im weiteren Verlauf auf Schlüssigkeit oder Nicht-Schlüssigkeit geprüft. Dies wird durch ein Vergleichen und Kontrastieren der Fälle anhand von Materialausschnitten erfolgen, wobei die empirische Analyse und die Präsentation weitere „Differenziertheit, Komplexität und Erklärungskraft“ erlangt (Kuckartz, 2018, S. 97 f.). Auf das Berichten von Häufigkeiten wird weitestgehend verzichtet, was durch den qualitativen Zugang begründet wird. Vielmehr ist der Fokus in diesem Ergebnisteil auf die homogene oder heterogene Ausdifferenzierung der Kategorien als Spektren der Merkmalsausprägungen gelegt. Das Material wurde anonymisiert; aufgrund der fallorientierten Darstellungsweise wurde sich für die Nutzung von Pseudonymen entschieden.

8.2.1 Anregungspotenziale des Unterrichtsprojektes

Im Rahmen des folgenden Unterkapitels werden die Ergebnisse zu den Hauptkategorien der Auswertungsdimension I „Anregungspotenziale des Unterrichtsprojektes“ präsentiert. Es wird dargestellt, wie der Lerngegenstand erinnert und schüler*innenseitig rekonstruiert wird (K1; Abschn. 8.2.1.1) sowie welche Lern- und Urteilsprozesse (K2; Abschn. 8.2.1.2) im Rahmen des Unterrichtsprojektes auf welche Art und Weise (K3; Abschn. 8.2.1.3) angebahnt wurden.4 Während sich die Hauptkategorien deduktiv aus dem Erkenntnisinteresse und der entsprechenden Konzeption der Studie (siehe Abschn. 8.1.3 zum Interviewleitfaden) ergeben haben, haben sich die Subkategorien überwiegend in der empirischen Analyse herausgebildet. Die Ergebnisse der Auswertungsdimension I werden in Abschnitt 8.2.1.4 zusammengefasst.

8.2.1.1 Rekonstruktionen des Lerngegenstandes

Die Forschungsfrage 2a lautet: Woran erinnern sich die Jugendlichen? Wie wird der Lerngegenstand schüler*innenseitig rekonstruiert? In der Hauptkategorie „Rekonstruktionen des Lerngegenstandes“ wurden die berichteten Erinnerungen der Jugendlichen zum Unterrichtsprojekt codiert. Die befragten Schüler*innen konnten sich nach sechs Wochen noch an das Unterrichtsprojekt erinnern. Von den meisten Jugendlichen kann der grobe Verlauf des siebenwöchigen Projektes geschildert werden, wobei die einzelnen Bestandteile unter den Befragten unterschiedlich präsent und abrufbar sind. Die Äußerungen wurden auf der Ebene der Subkategorie 1 in unterrichtlich vermittelte Inhalte (K1.1) und außerschulisch vermittelte Inhalte (K1.2) und auf der Ebene der Subkategorie 2 in einer thematischen Ausdifferenzierung unterschieden (siehe Tab. 8.3).
Tabelle 8.3
Hauptkategorie 1: Rekonstruktion des Lerngegenstandes
Hauptkategorie
Subkategorien 1
Subkategorien 2
K1: Rekonstruktionen des Lerngegenstandes
K1.1 Unterrichtlich vermittelte
Inhalte
Land- und Milchwirtschaft
globalisiertes Ernährungssystem
nachhaltige Ernährung
K1.2 Außerschulisch vermittelte Inhalte
Umweltaktivist*innen
Landwirt*innen
Im weiteren Verlauf dieses Unterkapitels werden unter Berücksichtigung der Subkategorien 1 und 2 exemplarische Einblicke in das empirische Material gegeben, um die Ergebnisse der empirischen Analyse darzustellen. Die Vorgehensweise ist dabei, dass die schüler*innenseitigen Rekonstruktionen des Lerngegenstandes durch das Forscherwissen über das Unterrichtsprojekt kontextualisiert werden, um auf diese Weise eine Einordnung der Kategorien zu ermöglichen.
K1.1 Unterrichtlich vermittelte Inhalte
Die Ausführungen zu den Inhalten des Unterrichtsprojektes, die sich auf schulisch Vermitteltes beziehen, wurden auf der zweiten Ebene in die Subkategorien Land- und Milchwirtschaft, globalisiertes Ernährungssystem und nachhaltige Ernährung differenziert.
Land- und Milchwirtschaft sowie globalisiertes Ernährungssystem. Ein Großteil der Schüler*innen rekonstruiert das Thema im Zusammenhang mit ökonomischen Fragen – die Subkategorien Land- und Milchwirtschaft sowie globalisiertes Ernährungssystem stellen einen Hauptanteil der Codierungen dar. Dies kann darauf verweisen, dass die gesellschaftlich-systemische Perspektive der Unterrichtseinheit verfangen hat und Bedingtheiten einer nachhaltigen Entwicklung schüler*innenseitig wahrgenommen wurden. Des Weiteren stellt das Thema Globalisierung das Halbjahresthema dar. Neun der elf Befragten gehen explizit auf die Milchkrise als Folge der Liberalisierung des Milchmarktes im Jahre 2015/2016 ein. Dieser Unterrichtsinhalt wurde lediglich in einer 45-minütigen Stunde thematisiert, fand jedoch Eingang in die Interviewfragen der Schüler*innen und wurde entsprechend zum Gesprächsthema beim Besuch der Landwirt*innen. Es kann angenommen werden, dass ein fachliches Interesse geweckt werden konnte, indem die systemisch komplexe Milchkrise an eine Betroffenenperspektive rückgebunden wurde. Weiterhin kann die konsistente Verschränkung von schulischer und außerschulischer Darbietung das Memorieren erleichtert und Kohärenz gestiftet haben.
Nachhaltige Ernährung. Die Erinnerungen an die unterrichtlich vermittelten Themen variieren zunächst in ihrer – in der Interviewsituation dargebotenen – Komplexität und Vernetztheit. Viele der Befragten rekonstruieren die Unterrichtsinhalte lediglich durch die Nennung relevanter Oberbegriffe (z. B. Ernährung, Nachhaltigkeit) und haben Schwierigkeiten, diese ausführlicher zu erläutern. Das folgende Zitat veranschaulicht dies:
Irgendwas haben wir noch besprochen, aber ich weiß nicht mehr, ich glaube auch über Ernährung halt, aber ich – Nachhaltigkeit auch auf jeden Fall, aber ich weiß nicht mehr ganz genau, worüber. (KAREN, Pos. 16)
Einigen Schüler*innen gelingt eine elaboriertere Darstellung dessen, was sie mit dem Begriff in Verbindung bringen. Olav etwa führt seine Gedanken zur Globalisierung weiter aus. Er beschreibt das Nebeneinander von Regionalität und Globalität als Faktum globalisierter Handelsbeziehungen und erkennt in den langen Transportwegen und in der vermeintlich besseren westlichen Produktion nicht-nachhaltige Nebenfolgen:
Also, was mir auf jeden Fall jetzt in den Kopf kommt, ist auf jeden Fall Globalisierung, weil die Milch wird ja nicht nur regional verkauft auf regionalen Märkten, sondern auch auf dem Weltmarkt, wodurch dadurch ja durch den Transport alleine ja sehr viel CO2 in die Umwelt geblasen wird und wodurch auch die Märkte in den anderen Ländern zum Beispiel in den ganzen Schwellenländern, da sind die Preise von den dortigen Milchbauern ja einfach nicht mehr konkurrenzfähig, weil die einfach viel höher sind als die europäischen, weil die nicht in so Massen produzieren können und die Qualität hier zu Lande teilweise auch besser ist, obwohl die Milch günstiger ist, weil hier einfach die Infrastruktur besser ist und hier einfach bessere Möglichkeiten sind, um die Milch zu produzieren. (…) Und deshalb ist es ja in dem Zusammenhang eher nicht nachhaltig, wenn man, ja, die Milch oder irgendwas anderes anbaut, hierzulande, was dann nicht regional, sondern auf den Weltmärkten verkauft wird. (OLAV, Pos. 35–37)
Bereits in den ersten Rekonstruktionen des Lerngegenstandes zeigen sich deutliche Unterschiede: Differenzierte Rekonstruktionen des Lerngegenstandes wie die oben dargestellte sind im Material die Ausnahme. Sie sind gekennzeichnet durch ein hohes Vorwissen sowie eine hohe Vernetztheit der einzelnen Bezüge – diese werden jedoch in einer beurteilenden Art und Weise wiedergegeben („bessere Qualität“ und „Infrastruktur“). Sie stellen keine exakte Wiedergabe der Unterrichtsinhalte dar. Vielmehr – so die forschungsleitende Annahme – sind diese Ausweis individueller politischer Sinnbildungsprozesse.
Die unterrichtlich vermittelten Inhalte werden überwiegend in ökonomische Zusammenhänge eingeordnet und vorwiegend in Form einer bloßen und abstrakt bleibenden Verschlagwortung rekonstruiert. In komplexeren Rekonstruktionen des Unterrichtsinhaltes werden die inhaltlichen Bezüge stärker elaboriert. Die Komplexität zeigt sich dabei nicht derart, dass der Lerngegenstand des Unterrichtsprojektes ausführlicher und exakter erinnert wird, sondern indem individuelle Sinnbildungen stattgefunden haben. Die Rekonstruktion der Unterrichtsinhalte erscheint insofern in einer verselbstständigten Form, als dass möglicherweise eine Integration in bestehende Deutungsschemata erfolgt ist. Dies wird im weiteren Verlauf der Ergebnisdarstellung geprüft.
K1.2 Außerschulisch vermittelte Inhalte
Begegnungen mit den Umweltaktivist*innen und Landwirt*innen. Die Unterrichtsstunden im Klassenraum stellten mit fünf von sieben Doppelstunden den Großteil der gemeinsamen Zeit dar, sind in den geschilderten Erinnerungen aber deutlich weniger akzentuiert. Die außerschulischen Begegnungen mit den Umweltaktivist*innen und Landwirt*innen werden von allen elf Befragten detailreich erinnert und häufig als besonders präsent hervorgehoben: „Also, was mir natürlich auf jeden Fall im Gedächtnis geblieben ist, ist auf jeden Fall der Bauernhofbesuch, ist ja klar“ (OLAV, Pos. 13).
In den Ausführungen von Olivia wird deutlich, dass mit Nennung der Milchkrise zwar ein Unterrichtsinhalt genannt wird, sie die außerschulischen Begegnungen aber stärker hervorhebt und sie zentrale Bezugspunkte in den Erinnerungen an das Unterrichtsprojekt darstellen:
Also, ich kann mich halt nur dran erinnern, dass wir auf jeden Fall die Milchkrise, glaube ich, behandelt haben. Oh Gott, und dann sind wir gleich immer so auf einzelne Dinge eingegangen, aber so konkret kann ich mich gar nicht mehr dran erinnern, was ich mir halt echt gemerkt hab´, das muss ich auch ganz klar sagen, war halt wirklich… – als wir uns da mit [der NGO] auseinandergesetzt haben, weil mich das halt auch echt extrem interessiert hat. Und auch als wir auf dem Bauernhof waren und sonst weiß ich halt eigentlich auch nur noch, dass wir viele Fragen auch formuliert haben und die dann auch immer den Bauern direkt gestellt haben, aber sonst – oh Gott, das ist jetzt schon so lange her. (OLIVIA, Pos. 15)
Olivias Ausführungen ist zu entnehmen, dass sie sich zwar an die Thematik der Milchkrise erinnert, eine Kontextualisierung einzelner Aspekte in den Gesamtrahmen der Unterrichtseinheit aber scheinbar schwerfällt („einzelne Dinge“). Es zeigt sich, dass die Begegnungen mit den Landwirt*innen und den Umweltaktivist*innen hingegen an die Interessen der Schülerin anschließen. Episodisch erinnert werden darüber hinaus auch die Momente, in denen die Schüler*innen eine aktive Rolle eingenommen haben, etwa durch das Fragen-Stellen.
Im Rahmen der Hauptkategorie „Rekonstruktionen des Lerngegenstandes“ zeigt sich, dass die Jugendlichen in der Lage waren, den Verlauf des Unterrichtsprojektes zu schildern. In der empirischen Analyse haben sich Unterschiede zwischen schulischen und außerschulischen Inhalten herausgebildet, die der Unterscheidung zwischen semantisch-begrifflichen und episodisch-narrativem Wissen entsprechen. Es dokumentiert sich einerseits eine starke Fokussierung der Befragten auf die außerschulischen Anteile des Lehr-Lern-Arrangements und andererseits werden unterrichtlich vermittelten Inhalte häufig in Form einer bloßen und abstrakt bleibenden Verschlagwortung rekonstruiert. Auf der Ebene der Rekapitulation der Schüler*innen (siehe Abschn. 8.1.3; Abb. 8.2; Reporting und Responding) scheint das außerschulisch Erlebte die inhaltlichen Bezüge der Lerneinheit zunächst zu überdecken. Für die weitere Analyse bleibt zu prüfen, wie fundiert und differenziert diese Erinnerungen an die außerschulischen Begegnungen tatsächlich sind und inwiefern auch ein fachliches Verstehen angeregt wurde, welches aus der Verknüpfung von schulischer Vermittlung und außerschulischer Erfahrung hervorgeht (Abb. 8.2; Relating und Reasoning). In vereinzelt komplexeren Schüler*innenrekonstruktionen des Lerngegenstandes deuten sich individuelle Sinnbildungen bereits an, die auf eine Integration in bestehende Deutungsschemata hinweisen könnten. Diese Hinweise werden insbesondere im Kontext der zweiten Auswertungsdimension in Abschnitt 8.2.2 weiter betrachtet.

8.2.1.2 Lern- und Urteilsprozess im Rahmen des Unterrichtsprojektes

Die Forschungsfrage 2b lautet: Welche Schlussfolgerungen ziehen die Jugendlichen im Rahmen des Unterrichtsprojektes? Unter der Hauptkategorie „Lern- und Urteilsprozess Unterrichtsprojekt“ wurden die persönlichen Erkenntnisse, die von den Befragten im Rahmen der Auseinandersetzung gezogen und im Interviewgespräch formuliert wurden, codiert. Differenziert wurden die Aussagen in Äußerungen, die eine Selbsteinschätzung des eigenen Lern- und Urteilsprozesses (K2.1) darstellen, und jene, die die inhaltlichen Schlussfolgerungen (K2.2) betreffen (siehe Tab. 8.4).
Tabelle 8.4
Hauptkategorie 2: Lern- und Urteilsprozess im Rahmen des Unterrichtsprojektes
Hauptkategorie
Subkategorien 1
Subkategorien 2
K2: Lern- und Urteilsprozess im Rahmen des Unterrichtsprojektes
K2.1 Selbsteinschätzung des Lern- und Urteilsprozesses
Bestätigung und Bestärkung der eigenen Sichtweise
Weitere Bewusstwerdung und Transfer
Verhaltensänderung
Herausforderung der Urteilsbildung
K2.2 Inhaltliche Schlussfolgerungen
Politisierung der Umweltthematik
Kritik an Ausrichtung des Wirtschaftssystems
Selbstwirksamkeit zwischen Verantwortung und Zweifel
Nachfolgend werden die Subkategorien 1 in ihrer jeweiligen Ausprägungen auf der Ebene der Subkategorien 2 vorgestellt. Die gesamte kategoriale Ausdifferenzierung dieser Hauptkategorie wurde induktiv, also am Material, entwickelt.
K2.1 Selbsteinschätzung des Lern- und Urteilsprozesses
Im Interview wurde erfragt, ob und inwiefern sich die Sichtweise der Jugendlichen über die Unterrichtseinheit hinweg geändert habe. Die Äußerungen, in denen die Schüler*innen ihren Lernprozess beschreiben, lassen sich in folgende induktiv gewonnene Subkategorien strukturieren: Bestätigung und Vertiefung, Bewusstwerdung und Transfer, Verhaltensänderung sowie Herausforderungen der Urteilsbildung.
Bestätigung und Bestärkung der eigenen Sichtweise. Die Befragten schildern auf die Frage, inwiefern sich ihre Sichtweise entwickelt habe, dass die Auseinandersetzungen mit der Thematik zu einer Bestätigung und Bestärkung bereits vorhandenen Wissens sowie nachhaltigkeitsbezogener Einstellungen geführt haben. Eine veränderte Sichtweise hat sich nach Aussagen vieler Jugendlichen nicht eingestellt, wie das folgende Beispiel illustriert:
Ich würd´ eher sagen, dass ich mich da bestätigt drin fühle, weil ich schon – also besonders im letzten Jahr so das Thema kommt jetzt eh viel häufiger zum, ähm, also dass man halt öfter darüber spricht, über Nachhaltigkeit jetzt, auch mit den Demonstrationen Fridays-For-Future und so, dass ich schon mich bestätigt gefühlt hab´ (…). (KAREN, Pos. 24)
Die Bestätigung wird von Karen im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Relevanz und Präsenz des Themas sowie der zu der Zeit (2019) aufkommenden Klimaschutzbewegung „Fridays for Future“ empfunden. Auch Lukas gibt an, in seiner eigenen Sichtweise bestätigt worden zu sein; die Unterrichtseinheit ermöglichte seiner Ansicht nach vor allem eine Vertiefung des Wissens und der fächerübergreifenden Kontextualisierung. Darüber, was die „anderen Dinge“ konkret sind, wird an dieser Stelle nicht genauer eingegangen.
Wir haben das Thema auf jeden Fall vertieft, also auch ich hab´ das Thema jetzt wieder vertieft, weil das davor auch schon oft Thema im Unterricht war, Globalisierung und in Erdkunde auch alles, was mit Umweltschutz und alles zu tun hat, natürlich, ähm, aber durch diese Projekttage, wurde das noch mal ziemlich vertieft das Thema. (…) Es hat mir andere Dinge besser klargemacht sozusagen, ein besseres Verständnis dafür gegeben, für die Zusammenhänge. (LUKAS, Pos. 18)
Häufig wird von den Schüler*innen berichtet, dass das Thema Nachhaltigkeit bereits in anderen Fächern behandelt wurde und zugleich angedeutet, dass man bereits problembewusst sei. Bildung für nachhaltige Entwicklung ist eine fachübergreifende Bildungsaufgabe, was sich hier im empirischen Material in den Aussagen der Schüler*innen dokumentiert. Auffällig ist, dass es zum einen als ein Thema wahrgenommen und zum anderen scheinbar ein bestimmtes pädagogisch intendiertes Resultat antizipiert wird (hierzu auch Abschn. 8.2.1.3 zur schulischen Nachhaltigkeitsbildung). Die Haltung der partizipierenden Jugendlichen, man sei bereits für Nachhaltigkeit sensibilisiert, könnte die Markierung des Lern- und Urteilsprozesses als Bestätigung unterstützen.
Weitere Bewusstwerdung und Transfer. Einige Schüler*innen berichten von einer weiteren Bewusstwerdung und einem Transfer auf andere Handlungsfelder einer nachhaltigen Entwicklung, den sie herstellen konnten, und der damit verbundenen Einsicht eines weitreichenden gesellschaftlichen Handlungsbedarfs. Franziska etwa zieht den Vergleich zum günstigen Einkauf von Medikamenten im Internet und folgt der Annahme, dass günstige Preise meist zulasten der Umwelt günstig seien.
Und durch diese Unterrichtseinheit habe ich einfach darüber nachgedacht, dass wir alle versuchen müssen, nachhaltiger zu sein, um halt die Erde für die nächsten Jahre und die nächsten Generationen noch so intakt zu halten. Und ich würde sagen, dass ich selber am Anfang diese Person war, die im Internet ihre Medikamente bestellen würde. Aber jeder Mensch, wenn er dann sowas erfährt, also wenn er sowas sieht, wenn er aufgeklärt wird, wenn er sich mit Menschen unterhält, dass er dann diese Erfahrungen macht, dass es keinen Sinn macht und dass dieses bisschen Geld, was man sich damit einspart im Endeffekt nur total schlechte Auswirkungen auf die Umwelt und alles Mögliche hat und da beziehe ich einfach so auf die Unterrichtseinheit, weil es komplett viel mit Nachhaltigkeit zu tun hatte, also ich weiß, dass wir vor allem uns mit der Landwirtschaft und der Nachhaltigkeit beschäftigt haben, aber generell hat mich das halt alles so zum Nachdenken angeregt und ich versuche jetzt auch viel ökologisch freundlicher zu sein und, weiß ich nicht, einfach so generell. (FRANZISKA, Pos. 43)
Franziska führt ihren persönlichen Prozess der Bewusstwerdung auf Aufklärung zurück; die thematischen Einblicke in ein Feld haben sie dazu veranlasst. Ihrer Einschätzung nach sorgen entsprechendes Wissen sowie neue Erfahrungen dafür, dass man den Handlungsbedarf erkennt und handeln muss. Sie bezieht sich dabei recht umfassend auf eine bewusste und als vernünftig erachtete Lebensweise.
Verhaltensänderungen. Eine weitere Subkategorie, die ebenfalls durch das obige Zitat illustriert wird, umfasst die Äußerungen, die Verhaltensänderungen betreffen. Viele der Befragten rekurrieren in der Schilderung ihres Lern- und Urteilsprozesses auf die persönliche Handlungsebene und konstatieren Veränderungen im eignen Konsumverhalten: „Ich weiß nicht, ich würd‘ jetzt eher sagen, dass ich mehr so drauf achte, wenn ich was kaufe“ (JAN, Pos. 33). Nachhaltigkeitsbildung wird als Aufklärungsarbeit verstanden mit dem Ziel, „mehr drauf zu achten“.
Ich achte generell seit ‘nem... seit ‘ner Zeit mehr drauf. Aber ich könnte mir vorstellen, wenn man’s vorher nicht gemacht hat, dass es dann auch Auswirkungen auf einen hat, wenn man so ‘ne Unterrichtseinheit hat. (ANNA, Pos. 25)
Jendrik markiert sich mit Blick auf die Ernährungsweise selbst auch sensibilisiert, indem er schildert, dieser Versuch sei „normal“ und gleichzeitig schulisch angestoßen. Es kann angenommen werden, dass soziale Erwünschtheit in diesen Äußerungen eine bedeutende Rolle spielt, da eine pädagogische Intention durch die Befragende seitens der Schüler*innen antizipiert wird.
Also, kurz danach glaube ich, habe ich tatsächlich ein bisschen, haben wir ein bisschen darauf geachtet, nicht ganz so viel Fleisch zu essen tatsächlich, weil wir das ziemlich viel in der Zeit hatten, aber... Das ist halt normal. (JENDRIK, Pos. 18)
Den wohl größten persönlichen Einfluss im Hinblick auf eine Verhaltensänderung – als Folge einer weiteren Bewusstwerdung – schildert Franziska. Das Unterrichtsprojekt habe sie bestätigt und „geholfen, sich für die besseren Sachen zu entscheiden“:
Also, ich denke, dass ich diese Einheit auf jeden Fall gebraucht hab, weil es war halt ganz oft so ‘n unterschwelliges Gefühl, so ‘n mulmiges Gefühl fast schon, wenn sowas, wenn ich sowas gemacht hab, was total schlecht war für die Umwelt. Und durch dieses Projekt haben sich halt diese ganzen kleinen, mulmigen Gedanken zu einem ganz großen mulmigen Gedanken ((lacht)) verformt und der dann auch in meinem Kopf war und der mich auch echt erstmal richtig runtergezogen hat. Aber dann hat es mir auch geholfen, mich einfach für die besseren Sachen zu entscheiden. Also mich jetzt zum Beispiel (…) für die umweltfreundlicheren Maßnahmen zu entscheiden und halt wirklich darauf zu hören, was mein Herz in Richtung Nachhaltigkeit sagt. (FRANZISKA, Pos. 147)
Im empirischen Material manifestiert sich, dass das Unterrichtsprojekt überwiegend auf bereits problembewusste Jugendliche trifft; das herauszustellen ist den meisten Befragten wichtig. Dennoch resoniert die Thematik unterschiedlich mit den Personen.
Herausforderung der Urteilsbildung. Die Schilderungen eines emotionalen und umfassenden Lernprozesses von Franziska stellen eher einen Einzelfall dar. Während es ihr gelingt, ein persönliches und handlungsbezogenes Urteil zu fällen, bereitet anderen der Prozess der Urteilsbildung selbst – etwa die Integration der verschiedenen Argumente – Schwierigkeiten. Urteilsbildung wird etwa von Jendrik als eine Herausforderung beschrieben. Er äußert den Wunsch, „eine klare Meinung zu haben“, was ihm angesichts der Komplexität politischer Themen noch nicht gelingt:
Das ist halt immer ein bisschen schwierig, wenn man zwei Positionen hat und ich möchte mir eigentlich schon gern ‘ne eigene Meinung bilden, aber dann hat man halt immer wieder was dagegen und was dafür spricht und so ‘ne Zwischenposition einzunehmen ist dann ja auch immer ein bisschen doof. (…) Dass man nicht klar dann damit irgendwie argumentieren kann, weil man ja selber so zwiegespalten ist und das Problem habe ich leider öfter, dass man sich ja eigentlich für Themen interessiert und da ‘ne klare Meinung zu haben möchte, aber irgendwie gibt es dann ja immer dann ein Argument dagegen und wieder dafür und ja. Meistens merkt man dann einfach nur, dass die Themen dann doch viel komplexer sind, als man erstmal denkt. (JENDRIK, Pos. 262–268)
Das unerfüllte Bedürfnis nach einer fundierten, differenzierten und mit Blick auf das eigene Handeln kongruenten Meinung dokumentiert sich im Material. Der Lern- und Urteilsprozess wird demnach als krisenhaft, von Uneindeutigkeiten geprägt und damit tendenziell als unabgeschlossen empfunden. Jendrik erkennt dies als etwas, das in der Sache selbst begründet liegt: dem Politischen.
K2.2 Inhaltliche Schlussfolgerungen aus dem Unterrichtsprojekt
Die Codierungen dieser Subkategorie, die die inhaltlichen Schlussfolgerungen aus dem Unterrichtsprojekt im Allgemeinen betreffen, fallen sehr heterogen aus.5 Dieses vielfältige Spektrum an inhaltlichen Schlussfolgerungen zum Unterrichtsprojekt im Allgemeinen wurde in drei Subkategorien auf zweiter Ebene strukturiert: der Politisierung der Umweltthematik, die Kritik an der Ausrichtung des Wirtschaftssystems sowie die Selbstwirksamkeit zwischen Verantwortung und Zweifel.
Politisierung der Umweltthematik. Auch schon in der Eingangserhebung der Interventionsstudie wird deutlich: Der Umstand, dass die Menschen gerade in westlichen Industrienationen einen ressourcenintensiven Lebensstil pflegen und dies mit negativen Folgen für die Umwelt verbunden ist, ist für die Jugendlichen eine unhintergehbare Tatsache (siehe Abschn. 7.​2.​1). Jener Zusammenhang, so materialisiert es sich in den Interviews, hat für viele beinahe einen ontologischen Status – problematische, aber eben als normal hingenommene bzw. normalisierte Voraussetzungen eines Status quo. Eine Politisierung der Thematik wurde insofern angebahnt, als zunehmend zeitgenössische Herausforderungen und Gestaltungsaufgaben erwähnt sowie die Bedingtheiten der Akteur*innen- und Interessengruppen erfasst werden.
Momente der Politisierung deuten sich auch in den Reflexionen im Rahmen der Interviewstudie ex post an. Jedoch zeigt sich deutlich, dass sich jene Momente individuell unterscheiden, da das Unterrichtsthema sehr unterschiedlich mit den Jugendlichen resoniert. Einige Befragte beschreiben, dass ihre Sichtweise auf das Thema an Komplexität gewonnen habe und verschiedene Indikatoren in ihrem Zusammenwirken verstanden wurden. Die Vielschichtigkeit der gesellschaftsbezogenen Betrachtungsweisen zeigt sich wie bei Franziska etwa in der Registrierung verschiedener Akteur*innen- und Interessengruppen sowie der Differenzierung zwischen (individuellem) Konsumverhalten und politischer Steuerung.
Und ich würd´ sagen, dass mir halt einfach aufgefallen ist, dass diese ganze Klimasache und Umweltsache und alles mit der Ernährung, dass es halt nicht nur die Umwelt betrifft, sondern halt auch die Unternehmen, die Arbeiter, halt ganz viele – also das halt ganz viele Faktoren und dass es halt auch die Konsumenten betrifft, aber auch – es bezieht sich ja auch irgendwie auf die Politik, dass die Politik da auch mitwirken muss und halt irgendwie was dagegen tun muss gegen den Klimawandel und dass halt alles ineinander – also alles miteinander verbunden ist und alles halt voneinander abhängt irgendwie. Das fand’ ich halt sehr faszinierend (…). (FRANZISKA, Pos. 13)
Das Unterrichtsprojekt hat ihr neue Perspektiven auf die verschiedenen Interdependenzen eröffnet. Die Komplexität wird nicht zurückgewiesen, sondern als „faszinierend“ erlebt. Erkannt wird, dass Klima, Umwelt und Ernährung keine isolierten, jeweils für sich selbst zu betrachtende Phänomene darstellen, sondern einen weitreichenden Einfluss auf Unternehmertum, die Arbeitnehmer*innen sowie auch die Bürger*innen als (partizipierende, konsumierende und verschieden betroffene) Privatpersonen haben. Aus diesem komplexen Gefüge wird – vorsichtig („auch irgendwie auf die Politik“) – die handelnde Rolle „der Politik“ abgeleitet.
Auch der folgende Materialauszug zeigt, dass die neu eröffneten Perspektiven den eigenen Denk- und Handlungsraum erweitern konnten. Diese Bewusstwerdung von Komplexität und Zusammenhängen, die Vernetzungen von einem Thema in verschiedene Bereiche (Umwelt, Politik, Wirtschaft), ist ihr exemplarisch am Themenfeld Landwirtschaft und Ernährung verdeutlicht worden. Die selbstbeschriebene Veränderung ihres Weltbildes, der entstandene politische Blick auf die „Kühe auf der Weide“, sind Ausdruck einer – in der Tendenz auch potenziell übergeneralisierenden – Einsicht, alles sei miteinander verbunden und voneinander abhängig:
Und ich habe einfach viel daraus mitgenommen, dass es so viele verschiedene Faktoren gibt, die in Nachhaltigkeit zum Beispiel reinspielen und wir haben uns ja jetzt vor allem auf die Landwirtschaft bezogen. Und da habe ich vorher, um ehrlich zu sein, nie so richtig drüber nachgedacht. Also, wenn ich zum Beispiel so Kühe auf der Weide gesehen hab, dann hab‘ ich gedacht: ‚Ja gut, das sind Kühe, die können ja nicht irgendwie so schlecht für die Umwelt oder für die Wirtschaft sein.‘ Und sich dann mit sowas auseinanderzusetzen, wie zum Beispiel, dass Kühe, wenn die so in Massenhaltung gehalten werden, echt schlecht für die Umwelt sind, durch das ganze Methangas. Oder dass diese Massentierhaltung allein so viel in die Wirtschaft reinspielt und wie es auch den Bauern geht. Das war für mich sehr schockierend oder auch sehr… – das hat man vorher nicht so wahrgenommen. Und das hat so mein Weltbild so’n bisschen verändert, wenn man das so sagen darf. (FRANZISKA, Pos. 13)
Die regionale und aus dem eigenen Nahraum bekannte Landwirtschaft wird im Zuge des Unterrichtsprojektes in einem breiteren Zusammenhang von Regionalität und Globalisierung gesehen. Neue Sinnzusammenhänge bilden sich und erhalten durch die lebensweltliche Verankerung ein Fundament. So dokumentiert sich in den Schilderungen unter anderem eine erweiterte Erkenntnis, dass der globalisierte Wirtschaftsbereich auch in der Landwirtschaft zum Tragen kommt. Für Peter war dies neu und wurde als „erschreckend“ empfunden, was auf eine Wissenserweiterung hinweist:
Und, ja, da war’s halt schon ziemlich erschreckend, dass das halt eigentlich so viel ist, obwohl man das überhaupt nicht gedacht hat. Also auch, dass es in solchen Bereichen schon ‘ne Globalisierung gibt. (PETER, Pos. 38)
Die Information, dass regionale Unternehmen global handeln, war für Peter nach eigener Aussage „ein ziemlicher Schock“. Auch Jan äußert seine Verwunderung über die Bedeutung des Exports landwirtschaftlicher Güter und unterstellt einen Selbstzweck:
Dass einfach so viel exportiert wird, ich glaub' so der Großteil einfach. Obwohl das alles von hier kommt und einfach nur ja... einfach nur produziert wird, weil man’s kann ((lacht)). (JAN, Pos. 35)
Dass regionale Produktion nicht bedeutet, dass autonomisch regional gehandelt und konsumiert wird („obwohl das alles von hier kommt“), veranschaulicht dieses Missverständnis. Anna merkt an, dass die ökonomischen Zusammenhänge nachhaltigkeitsbezogener Problemstellungen in der unterrichtlichen Auseinandersetzung ihrer Ansicht nach unterrepräsentiert seien.
Also man (…) hört immer von Natur, also wie die Umwelt quasi belastet wird, aber die Wirtschaftsebene ist immer so ‘n bisschen im Hintergrund sage ich mal. (ANNA, Pos. 47)
Der eingangs beschriebene ontologisch anmutende Umstand einer belasteten Umwelt wird möglicherweise auch im Schulunterricht befördert, sofern die Bedingungen eines Wandels auf verschiedenen Ebenen und aus verschiedenen, teils interessengebundenen Perspektiven nicht thematisiert werden. Die Politisierung der Thematik, wie sie sich in den inhaltlichen Schlussfolgerungen zum Unterrichtsprojekt zeigt, verläuft für die meisten Jugendlichen über das wachsende Verständnis ökonomischer Zusammenhänge.
Kritik an Ausrichtung des Wirtschaftssystems. Viele Schlussfolgerungen, die sich im Material der Schüler*inneninterviews dokumentieren, beziehen sich kritisch auf die Ausrichtung des Wirtschaftssystems im Bereich der Landwirtschaft und Ernährung. An der Figur der Masse verdichtet sich dieser Aspekt besonders stark. Massenproduktion und entsprechend Massentierhaltung aufgrund einer starken Profitorientierung wird problematisiert:
Ich war, bin der Meinung, dass (…) es ja viel zu viel Massentierhaltung und so, viel so Riesenkonzerne gibt, die sozusagen (…) möglichst viel Profit machen wollen und dafür möglichst billig das Fleisch kriegen wollen und das hat sich im Verlauf des Projektes auch eigentlich so verstärkt. (LUKAS, Pos. 20)
Für Lukas sowie für Jan ist deutlich, dass die Ausrichtung an der maximalen Gewinnorientierung mit dem gesellschaftlichen Projekt der Nachhaltigkeit in Konflikt steht. Zwar werden nachhaltigere Formen des Wirtschaftens nicht explizit benannt, aber die Vorstellung alternativer Möglichkeiten deutet sich an („so wie es im Moment ist“):
Ich würde jetzt einfach sagen, dass dieser Nachhaltigkeitsaspekt einfach vernachlässigt wird. Weil es eben so viele Nachteile mit sich bringt, für das Unternehmen und das eigentliche Ziel von einem Unternehmen ist ja Profit machen, also Geld. Und das ist halt, da steht diese Nachhaltigkeit dann schon im Weg, so wie es im Moment ist. (JAN, Pos. 71)
Auch die Ausrichtung auf den Weltmarkt wird von den befragten Jugendlichen weitestgehend kritisch betrachtet. Die Globalisierung wird von ihnen als ein Prozess mit zwiespältigem Nutzen beschrieben: einerseits durch die ökologischen Folgen aufgrund der langen Transportwege, andererseits durch die Marktdominanz westlicher Nationen und daraus resultierende Konsequenzen für regionale Landwirt*innen in anderen Teilen der Welt. Jan elaboriert eine Haltung, die einen Kompromiss vorschlägt:
Ja, also dieses Lokale, was wir hatten, dieses Modell, das würde ich jetzt nicht so befürworten und im Endeffekt ist es ja eigentlich ein Rückschritt von dem, was wir als so von der Globalisierung, was wir jetzt so als Entwicklung hatten. Aber vielleicht ist es ja übertrieben, wenn man einfach an einem Ort jetzt alles produziert und das überall hin exportiert, also dass man so ‘n Zwischending findet, dass man nicht jetzt hier alles produziert und das dann exportiert, sondern dass halt weniger produziert wird, aber dann an mehreren Orten, weil ja wir schränken ja jetzt die Industrie in anderen Ländern dadurch ein, dass wir so viel produzieren. Vielleicht, dass man wirklich nur Waren irgendwo hin exportiert, wo es diese Waren tatsächlich nicht gibt. (JAN, Pos. 41–47)
Die Gedanken, die Jan äußert, sind in aller Vagheit insofern bemerkenswert, als überhaupt Überlegungen über systemische Veränderungen angestellt werden, die einer Liberalisierung globaler Märkte entgegenstehen. Auch wenn das Konzept wirtschaftspolitischer Regulierung nicht explizit und fachlich umfassend angeführt wurde, analysiert er, an welchen Stellschrauben zu drehen wäre, um die sozial-ökologischen Folgen zu mildern.
Die Vorteile globalisierter Versorgungsketten für den persönlichen Lebensstandard sowie die Einschränkungen, sind den Jugendlichen bewusst:
Also, ich würde sagen, ich weiß nicht, ob sich meine Sicht da auch irgendwann ändern würde, aber ich würde mich leicht gegen dieses kapitalistische Massenproduktionssystem, da würde ich mich leicht gegen stellen. Ich würd´ auch sagen – also natürlich ist es auf einerseits gut, dass man so viele internationale Produkte hat. (…) Natürlich ist das, ja, dieser Lebensstandard, den wir haben, und den Luxus, den wir so haben, dass wir internationale Produkte einkaufen können, (…) es ist auch irgendwie was Selbstverständliches geworden. (…) Natürlich versucht man auf der einen Seite dann zu sagen: ‚Ja, das ist alles schlecht.‘ Aber da muss man halt auch bedenken, du verzichtest, wenn du das machst, aber auch auf deine eigenen Interessen, die du hast. (PETER, Pos. 84–87)
Peter beschreibt sich ansatzweise als kapitalismuskritisch; zugleich will er auch nicht auf die Annehmlichkeiten kapitalistischer Massenproduktionssysteme verzichten. In seinen Ausführungen zeigt sich eine Facette nachhaltigkeitsbezogener Urteilsbildung, in der das „Selbstverständliche“ hinterfragt wird und sich das Individuum selbst als Profiteur*in erkennt. Das Vertraute, das im Alltag und der eigenen Lebensweise so immanent ist, steht im Kontext dieser Fragestellungen zur Disposition.
Die Frage danach, inwieweit die Menschen es als Verbraucher*innen selbst in der Hand haben, durchzieht viele Aspekte. So auch im Hinblick auf eine weiter verstärkte Förderung ökologischer Landwirtschaft – ob politisch gesteuert werden soll oder die Konsument*innen eine entsprechende Nachfrage generieren müssen. Jendrik formuliert einen Anspruch an „uns“ alle sowie an „den Einzelnen“, ohne explizit auf sich selbst Bezug zu nehmen:
Dann wäre es ja schon wieder sowas wie, dass Biobetriebe schon gefördert werden sollten, aber ... dazu habe ich ja auch schon meine Position so'n bisschen gesagt, dass im Endeffekt ja schon an uns, also schon auch an den Einzelnen liegt, wie die eben ihr Kaufverhalten ändern und nicht an den Betrieben. (JENDRIK, Pos. 62)
Es zeigt sich, dass die Kritik am Wirtschaftssystem von einigen vertreten wird und zugleich von einer Kritik an den konsumierenden Menschen begleitet wird. Die Privilegien – der „Luxus“, wie Peter es formuliert – in einem globalen Ernährungssystem werden erkannt und im Umkehrschluss mit individualisierter Verantwortung verbunden, aber teilweise auf eine selbstentlastende, theoretisierende Art und Weise.
Selbstwirksamkeit zwischen Verantwortung und Zweifel. Wie bereits im Rahmen der Interventionsstudie thematisiert, stellen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen relevante Einflussfaktoren für die Lern- und Urteilsprozesse dar (siehe Abschn. 7.​1.​1). Das individuelle Konsum- und Ernährungsverhalten ist für die Jugendlichen der Hauptbezugspunkt, wenn es um Transformationsprozesse geht. Der Großteil der Schüler*innen erkennt eine Verantwortung darin, sich nachhaltig zu verhalten. An vielen Materialstellen wird deutlich, dass die individuelle Handlungsebene als effektiv und oftmals auch als alternativlos empfunden wird. Aber auch Grenzen einer Regulierung durch eine veränderte Nachfrage der Verbraucher*innen und des Prinzips der Eigenverantwortung werden wahrgenommen und vereinzelt zaghaft in politische Forderungen an die Politik überführt. Es kann angenommen werden, dass die Selbstwirksamkeitsüberzeugung von einem Verantwortungsgefühl getragen ist, gleichwohl aber auch Zweifel gegenüber der Effektivität nachhaltiger Alltagspraktiken bestehen. Konkrete Forderungen an die Politik können oft nicht verbalisiert werden, wohl aber die Ansprüche, die an Veränderungsprozesse gestellt sind: Karen betont den Aspekt der Sozialverträglichkeit. Ihr ist es wichtig, dass in der Problemlösung die verschiedenen Voraussetzungen von Menschen und Interessen von Akteur*innengruppen berücksichtigt werden:
Also, natürlich würde ich mir wünschen, dass halt auch irgendwie – also jetzt zum Beispiel zum Thema Ernährung, dass man halt – dass die Menschen sich darüber bewusst sind und darüber im Klaren sind, was das für negative Folgen das haben könnte, dass man halt nicht immer das billigste Fleisch kaufen sollte, nur weil das halt nicht so teuer ist, aber andererseits ist es ja auch so, dass manche Menschen vielleicht auch gar nicht das Geld haben, halt, ähm, teureres Fleisch zu kaufen und dass man halt irgendwie versucht, irgendwie Lösungsansätze zu finden, die für alle Parteien und alle Seiten pro, also gut sind, halt, und dass es halt immer 'ne Win-win-Situation ist und dass niemand halt irgendwelche, ähm, negativen Folgen daraus zieht oder halt irgendwie benachteiligt wird dadurch. Also ich – das ist halt schwer zu formulieren, weil ich finde es ist halt generell alles so ein komplexes und schwieriges Thema und ich find’ – also man sagt halt auch – also ich find´ die Politiker – also ich würd´ auf jeden Fall sagen, dass die Politik mehr machen muss, aber ich finde es ist dann halt auch schwer zu sagen, genau was die machen sollen. Weil das halt irgendwie, ja, schwierig ist. (KAREN, Pos. 47)
Karen ringt mit der Frage, wie man Einfluss nehmen kann und kommt innerhalb ihrer Ausführung von individuellem Anspruch zu einer ansatzweise politischen Forderung. Anders als Karen fokussiert Anna in diesem Punkt ausschließlich den individuellen Verantwortungsbereich, der sozioökonomisch möglich ist:
Es wird ja immer viel gesagt, dass man... – viele haben nicht das Geld, um zum Beispiel darauf zu achten, was jetzt, wo herkommt und ob das regional ist, ob das nicht regional ist, ob das aus Massentierhaltung stammt oder so. Aber ich dachte, also ich war so der Meinung, man sollte das machen, was man kann. (…) Also das fand ich immer sehr wichtig, dass man selbst so Verantwortung dafür übernimmt. Und dementsprechend sich dann verhält, weil man kann nicht einfach sagen: ‚Das läuft scheiße und das läuft scheiße.‘ Und dann am Ende einfach nichts machen. So und ich meine selbst, wenn man irgendwie zur Schule geht oder so kann man ja, selbst wenn man sich in der Mittagspause was holt, halt gucken, habe ich jetzt zwei Euro mit oder habe ich jetzt fünf Euro mit und ist das in Ordnung oder ist das nicht in Ordnung das jetzt zu kaufen, also so’n bisschen selbst reflektieren dann. (…) Ich bin immer noch der Meinung, dass es sehr wichtig ist und auch dass man, dass man das einfach für sich selbst zwar entscheiden muss und selbst irgendwie aktiv werden muss dafür. (ANNA, Pos. 29)
In Annas Ausführungen wird deutlich, dass sie zuversichtlich ist, durch ein verändertes Verhalten im privaten Bereich Einfluss auf einen gesellschaftlichen Transformationsprozess zu nehmen. In Tinas Ausführungen wird sich vor allem auf die Notwendigkeit, sich regional zu ernähren, bezogen. Sie plädiert dafür, die regionale Landwirtschaft stärker zu unterstützen.
Dass man regionale Bauern oder irgendwelche ja Läden, Höfe sowas halt unterstützen, mehr unterstützen sollte, weil ich auch auf dem Bauernhof dann ja erfahren hab’, dass die manchmal echt so bangen müssen um ihre Existenz, weil die halt eher klein sind und dass ich dann das wichtig finde, dass man eher so auf regionale Sachen achtet und dann halt im Winter zum Beispiel keine Erdbeeren oder irgendwas kauft. Wo ich vorher auch nicht drauf geachtet habe, das war mir eigentlich egal. Und ähm ja dass man halt auf sowas mehr achtet, dass es halt regionaler ist. (TINA, Pos. 33)
In den Schlussfolgerungen, die das eigene Ernährungsverhalten betreffen, zeigt sich, dass für einige durch die Fokussierung auf den individuellen Einflussbereich im Kaufverhalten („einfach mehr drauf achten“; „regionaler einkaufen“) ein positives Selbstwirksamkeitsempfinden etablieren können. Es kann angenommen werden, dass die Betonung der Selbstwirksamkeit einen spezifischen Umgang mit den Herausforderungen und Anforderungen der komplexen Problemstellung darstellt. Eine andere Facette, die sich in Bezug auf die Schlussfolgerungen ebenfalls im Material dokumentiert, ist eine besorgte und alarmierte Haltung der Schüler*innen. Franziskas Reflexionen beziehen sich umfassender auf die Folgen einer kollektiven Lebensweise, in der auch sie verstrickt ist. Anders als Tina, die häufiger durch „man“-Konstruktionen Distanz zum Gesagten und zum eigenen Tun herstellt, spricht Franziska in ihren Reflexionen von „wir“ und „ich“:
Also, wo ich so drin bestärkt wurde, war einfach das Gefühl, dass wir mit der Welt schlecht umgehen. Und das hab‘ ich halt eigentlich schon ziemlich lange, (…) das hat sich auf jeden Fall bei mir verstärkt. (FRANZISKA, Pos. 53)
In einer tiefergreifenden Sorge um die Welt im Fall von Franziska sind praktikable Handlungsstrategien mit weniger positiven Emotionen besetzt, sondern werden vielmehr als Verantwortung und Pflicht begriffen. Das Hinterfragen von Alltagspraktiken hat für Franziska das Ziel, diese als Entscheidungssituationen zu verstehen und in der Folge bisherige Handlungsmuster zu durchbrechen. Hier zeigt sich, wie es in der individuellen Schlussfolgerung einer Schülerin möglich ist, komplexe und gegenseitig bedingte Aspekte auch in andere Bereiche zu übertragen und konkrete Optionen der individuellen Veränderung aufzuzeigen.
Generell hab‘ ich das Gefühl, dass ich diese landwirtschaftliche Situation auch auf alle anderen Situationen beziehen kann. Also zum Beispiel denke ich darüber nach, gut ich kauf’ jetzt nicht noch eine Flasche Milch ((lacht)), sondern trink‘ vielleicht einfach Wasser. Also das ist jetzt ein total blöder Vergleich, aber dass man das halt auch so versucht, auf alle anderen Lebenssituationen zu beziehen. Generell zum Beispiel jetzt regionale und saisonale Ernährung. Aber auch sowas wie Müll, dass man einfach versucht, weniger Müll zu produzieren, der zum Beispiel Plastik ist oder der nicht recycelt werden kann oder der nicht kompostierbar ist. (FRANZISKA, Pos. 125)
Die Verantwortung wird auch mit Blick auf die nachfolgende Generation empfunden; man möchte lebenswerte Bedingungen für die eigenen Kinder schaffen.
Ja, ich meine, man will ja schon leben ‘ne, irgendwie ((lacht)) man möchte seinen Kindern was hinterlassen. Ich meine sozusagen, Kinder ist eigentlich so das Wichtigste, ihr Kind für die Mutter das Wichtigste überhaupt. Und man kann halt auch nicht immer da sein, also ist man persönlich dafür verantwortlich, dass man die besten Bedingungen dafür schafft, dass es weitergehen kann. So, dass es nicht allzu schwer wird und nicht grausam, sage ich jetzt mal im schlimmsten Fall. (ANNA, Pos. 212)
Die Dimensionalisierung dieser Subkategorie verläuft entlang eines Kontinuums zwischen bewusster, achtsamer Alltagspraxis und ggf. einem Unbehagen gegenüber der eigenen privilegierten Lebensweise auf der einen Seite und einem Zweifel an der Effektivität privater Handlungsstrategien und einem Schwinden des Selbstwirksamkeitserlebens auf der anderen Seite.
Im Rahmen der Hauptkategorie „Lern- und Urteilsprozess im Rahmen des Unterrichtsprojektes“ dokumentiert sich, dass die Jugendlichen das Unterrichtsprojekt hinsichtlich der persönlichen Sichtweise auf das Thema vor allem als bestätigend und bestärkend erlebt haben. Dabei ist zu betonen, dass politische Urteilsbildung von den Schüler*innen nicht immer als gelingend, sondern vereinzelt auch als Herausforderung erlebt wird. Komplexität zu erfassen, verlangt ein hohes Maß an kognitiver Integrationsleistung. Inwiefern das Empfinden von Inkongruenz und Uneindeutigkeit zur Verunsicherung im Urteilsprozess beitragen kann, zeigt sich am Fall Jendrik (K2.1). Inhaltlich wurden im Rahmen des Unterrichtsprojektes Schlussfolgerungen gewonnen, die eine Politisierung der Umweltthematik, Kritik am Wirtschaftssystem und das individuelle Selbstwirksamkeitsempfinden betreffen. Mit Blick auf das Erkenntnisinteresse der Studie ist an dieser Stelle festzuhalten, dass die Schlussfolgerungen überwiegend von einem hohen Abstraktionsvermögen zeugen und auf tiefere Verstehens- und Elaborationsprozesse hindeuten. Die Ebene des Reporting und Responding und damit die Bezugnahme auf konkrete Unterrichtsinhalte wird deutlich verlassen und stattdessen dokumentiert sich der Lern- und Urteilsprozess als ein Konstruktionsprozess auf der Ebene des Relating und Reasoning. Insgesamt ist hervorzuheben, dass die inhaltlichen Schlussfolgerungen überwiegend keine Einzelaspekte betreffen, sondern systemische Betrachtungen vornehmen, in denen die Vernetztheit der Aspekte von den Schüler*innen eigenständig zum Thema gemacht wird. In der weiteren Analyse bleibt zu prüfen, welche Bedeutung die außerschulischen Begegnungen für den Lern- und Urteilsprozess haben.

8.2.1.3 Anregungspotenziale der außerschulischen Begegnungen

Die Forschungsfrage 2c lautet: Wie beurteilen die Jugendlichen die Bedeutung des außerschulischen Lernens für ihren persönlichen Lern- und Urteilsprozess? In der Interviewsituation wurden zunächst offene Fragen gestellt („Inwiefern hat dich das Unterrichtsprojekt zum Nachdenken angeregt?“), eine deutliche Fokussierung auf das außerschulische Lernen ergab sich vonseiten der Befragten. Unter der Hauptkategorie „Anregungspotenziale des außerschulischen Lernens“ wurden evaluative Äußerungen über das erlebte Lehr-Lern-Arrangement codiert. Aus den Perspektiven der Befragten ergab sich eine Differenzierung in drei Subkategorien erster Ordnung. Die erste betrifft den Stellenwert der außerschulische Begegnungen im Kontext der Einheit aus Schüler*innenperspektive (K3.1), die zweite Kategorie die Anregungspotenziale für den persönlichen Lern- und Urteilsprozess (K3.2) und die dritte Kategorie umfasst sonstige Bezüge zur schulischen Nachhaltigkeitsbildung (K3.3), die von den Schüler*innen in diesem Zusammenhang hergestellt wurden und im Kontext der Arbeit von Interesse sind (siehe Tab. 8.5).
Tabelle 8.5
Hauptkategorie 3: Anregungspotenziale der außerschulischen Begegnungen
Hauptkategorie
Subkategorien 1
Subkategorien 2
K3:
Anregungspotenziale der außerschulischen Begegnungen
K3.1 Außerschulische Begegnungen im Kontext der Lerneinheit aus Schüler*innenperspektive
 
K3.2 Anregungspotenziale für den persönlichen Lern- und Urteilsprozess
Authentische Begegnung und Emotionen
Relevanz und Interesse
Kontrast zu üblichen Tätigkeiten im Schulalltag
Veranschaulichung theoretischer Unterrichtsinhalte
Aktivierung durch Realitätsabgleich; Glaubwürdigkeit
Reflexion über Urteilsbildung
K3.3 Bezüge zu schulischer Nachhaltigkeitsbildung
Empfindung von Überdruss
Kontroversität um Nachhaltigkeit
Bedeutung der (Schul-)Öffentlichkeit
K3.1 Außerschulische Begegnungen im Kontext der Lerneinheit aus Schüler*innenperspektive
Die Schüler*innen beziehen sich in ihren Äußerungen, in denen eine Bewertung des Unterrichtsprojektes vorgenommen wird, beinahe ausschließlich auf die außerschulischen Begegnungen. Das außerschulische Lernen wird als besonderes Merkmal der Unterrichtseinheit identifiziert und infolgedessen in den Reflexionen fokussiert. Dies ist auf unterschiedliche Weise zu deuten: Entweder waren die Realbegegnungen derart eindrucksvoll (für sich oder auch gerade durch die schulische und damit didaktische Einbettung) oder die thematischen Auseinandersetzungen im Rahmen des Unterrichts können nicht abgerufen werden.
Von den meisten Befragten wird von einer anfänglichen Skepsis berichtet, denn außerschulisches Lernen, insbesondere die Fahrt zu einem landwirtschaftlichen Betrieb, wird mit einem Unterricht für jüngere Jahrgangsstufen assoziiert. Im Kontext des Unterrichtsprojektes ist für Olivia das persönliche Gespräch zentral gewesen; relevant ist für die Schülerin nicht nur die Interessengebundenheit der eingebrachten Perspektive, sondern die damit verbundenen Emotionen. Interessanterweise beschreibt Olivia anfangs die außerschulische Begegnung als begründungsbedürftig, im Verlauf erschließt sie aber mit jenen den Lerngegenstand, wodurch sich schließlich die unterrichtliche Auseinandersetzung begründet:
Also, im ersten Moment dachte ich wirklich: ‚Warum fahren wir jetzt hier hin?‘, weil normalerweise habe ich das in der achten Klasse gemacht, da wo man so die Kühe streicheln durfte, und was weiß ich, ähm, aber das hat schon irgendwo auf jeden Fall etwas gebracht, weil wir halt auch mit ihr persönlich geredet haben und ich finde ‘n persönlicher Eindruck ist immer nochmal was anderes, als wenn man das da irgendwie in Texten liest oder so. (…) Im Nachhinein haben wir auch nochmal so ein bisschen drüber geredet in internen Gruppen so ‘n bisschen, dass wir das eigentlich auch ganz gut fanden, dass wir dahingefahren sind. Weil da (…) konnte jeder sich so ‘n bisschen erschließen, warum haben wir das jetzt gemacht in den Stunden davor, so ‘n bisschen mit Milchkrise auch und ja, ich find´ schon, für jeden war das irgendwie glaub´ ich schon ganz cool. (OLIVIA, Pos. 68)
Die anfängliche Skepsis wurde durch die schulische Einbettung bei den meisten Befragten in eine interessierte Haltung überführt. Es wird erwähnt, dass die Einbindung der außerschulischen Begegnung in ein Lehr-Lern-Arrangement das Interesse erst hat entstehen lassen. Ein Schüler hält fest: „Ich war schon mal auf so einem Milchhof, aber das war nicht zum Lernen. Deswegen war das sozusagen eine ziemlich neue, ja… oder ein Erlebnis“ (LUKAS, Pos. 32). Eine Schülerin fand die außerschulischen Begegnungen „am interessantesten, weil wir auch das Vorwissen dann dazu hatten“ (TINA, Pos. 71). Häufig rekurrieren die Jugendlichen auf die schulische Vorbereitung, dabei wird das Formulieren und Stellen von Interviewfragen an die regionalen Akteur*innen als besonders positiv hervorgehoben. Das Vorwissen, der fachliche Kontext der Unterrichtseinheit sowie das Explizieren des Erkenntnisinteresses transformierten scheinbar eine mehr oder weniger alltägliche Situation, ein Treffen, in eine Lernsituation, eine Begegnung.
Die schulische Einbettung wird nicht nur als lohnend erlebt, sondern auch eingefordert – und damit nicht nur lehrer*innenseitig als ein Qualitätsmerkmal eines effektiven Unterrichts betrachtet. Einem Schüler zufolge sei eine thematische Verknüpfung sogar notwendig:
Es müssen gewisse Forderungen gestellt werden, (…) dass man halt nicht nur da einfach hinfährt und sich das anguckt und sich denkt: „Ja, toll", sondern dass man auch so ein bisschen mit dem Thema verknüpft. So, das haben wir ja auch gemacht, also auch mit den Fragen, die wir uns überlegt haben. (PETER, Pos. 166)
Im Besonderen für außerschulisches politisches Lernen ist der Modus eines kritischen In-Distanz-Tretens notwendig, um gesellschaftliche Phänomene, die den Subjekten in ihrer vermeintlichen Natürlichkeit als Normalität begegnen, erst als solche erkennbar werden zu lassen. Auch jene Distanzierung wird von einem Schüler selbst als Notwendigkeit herausgestellt. Die Realbegegnungen hielten zwar neue Informationen bereit, diese kämen aber von betroffenen bzw. involvierten Personen. Hinzu käme, dass man im Gespräch selbst gewissermaßen auch situativ betroffen sei:
Ja man muss dann halt auch so’n bisschen distanziert draufgucken, denke ich, weil, es ist halt schon gut von jemandem, der tatsächlich in dieser Situation drinsteckt, die Meinung zu hören, weil man dann halt auch ja, Sachen erfährt, auf die man selber nicht kommen würde, die man einfach, während man da in dieser Situation steckt, die einen dann betreffen und dann muss man dann halt das so’n bisschen distanziert sehen, was das jetzt bedeutet. (JAN, Pos. 111)
Insgesamt wird vielfach erwähnt, dass die außerschulischen Begegnungen deutlich besser erinnert werden können, man hätte im Unterschied zu den Unterrichtsstunden im Klassenraum die Interessengebundenheit und die Situation der Akteur*innen besser erfasst.
Man merkt ja, dass mir das irgendwie schon im Gedächtnis geblieben ist und das andere im Unterricht jetzt vielleicht nicht so besonders und deshalb denkt man schon, dass man dadurch die Position und die Problematik viel besser mitgekriegt hat. (JENDRIK, Pos. 184)
K3.2 Anregungspotenziale für den persönlichen Lern- und Urteilsprozess
Welche Rolle spielen die außerschulischen Begegnungen für den persönlichen Lern- und Urteilsprozess der Schüler*innen? Codiert wurden alle Aussagen, in denen implizit oder explizit Aspekte des Bildungspotenzials der außerschulischen Begegnungen beschrieben wurden. Das Spektrum der Äußerungen konnte in sechs Subkategorien systematisiert werden.
Authentische Begegnung und Emotionen. Die Jugendlichen beschreiben vorrangig die als authentisch empfundene Begegnung mit den Akteur*innen als bedeutsam für ihren Lern- und Urteilsprozess. Dabei scheint die emotionale und affektive Dimension des Kontaktes zu konkreten Personen entscheidend zu sein, die der Thematik Relevanz verleiht. Alle Befragten waren von der authentischen Begegnung mit Menschen beeindruckt. Es wird eine gewisse Unmittelbarkeit empfunden, die einer textlichen Auseinandersetzung überlegen sei, wie von einigen ausgeführt wurde:
  • „Weil das ist ja nochmal was anderes, wenn man da wirklich ist, anstatt es zu hören im Unterricht.“ (LUKAS, Pos. 14)
  • „Wenn man das liest, dann weiß man auch nicht, was für eine Person dahintersteht.“ (JAN, Pos. 107)
  • „Das wirklich von Leuten persönlich zu hören, die da wirklich live drin stecken sozusagen, weil mir ist das letztendlich egal, ob’s ‘ne Milchquote gibt ((lacht)) oder nicht.“ (TINA, Pos. 71)
Den Begegnungen ist ein gewisser personenbezogener Attraktionsgrad zu eigen; die regionalen Akteur*innen werden nicht zuvorderst als Interessengruppen, sondern als Betroffene mit Problemen, Wünschen und Sorgen markiert. Die angeregte Perspektivübernahme bezieht sich vordergründig auf die Ebene persönlicher Beweggründe und weniger auf den Aspekt politischer Anliegen, wie dieser Auszug einer Schülerin zeigt:
Weil ich es wichtig finde, die wirklich… – diese Sichtweisen zu sehen. Also, wirklich zu hören, wie es für die Landwirte wirklich aussieht. Wie sie das selber empfinden, ihre eigene Situation. Ich weiß nicht, ob sie jetzt wirklich offen geredet haben mit uns oder, ob sie da nicht noch mehr Probleme haben eigentlich. Kann ich mir nämlich schon vorstellen, weil mit so wenig Land und so einem kleinen Betrieb kann man nicht viel produzieren. (LENA, Pos. 89)
Im Rahmen der als authentisch empfundenen Begegnung werden Emotionen zugeschrieben und selbst empfunden. Die außerschulische Begegnung stellt eine Person sowie einen Ausschnitt aus einer Lebensrealität dar, der in seiner Unbestimmtheit und informellen Dichte zu fallbezogenen Spekulationen einlädt und die sozialen Perspektivenübernahme der Jugendlichen anregt.
So kommt das halt viel besser an, wenn die das mit ihren Emotionen nochmal so sagt, dass die mit der Milchkrise (…), dass die ja wirklich echt dachten so: „Ok, jetzt geht’s gar nicht weiter“. (OLIVIA, Pos. 68)
Die erlebte Unmittelbarkeit drückt sich im Material in einer Vielzahl an körperlichen Metaphern aus. Die außerschulische Erfahrung ist körperlich und symbolisch (nachfolgend durch Unterstreichung markiert), insofern sie etwas repräsentiert und der Alltagswahrnehmung enthoben zu sein scheint.
  • „Wenn die Person vor einem steht und einem das nochmal so ins Gesicht sagt.“ (OLIVIA, Pos. 72)
  • „Weil ich es wichtig finde, die wirklich..., diese Sichtweisen zu sehen.“ (LENA, Pos. 89)
  • „Das ist halt schon krass – dass es halt wirklich dann auch so am eigenen Leibe dann...–, dass wir sehen, wie Leute das dann halt am eigenen Leibe spüren so.“ (PETER, Pos. 14)
  • „Wenn da halt wirklich ‘ne Gruppe vor dir steht, oder ‘ne Landwirtin, ist das halt für dich als Mensch noch ‘n bisschen..., geht das noch ‘n bisschen über, weil sie ja quasi auf einer Ebene mit dir ist und mit dir auf Augenhöhe so redet und das kommt halt besser an, als wenn ich mir das durchlese, find´ ich.“ (OLIVIA, Pos. 153)
Es kann angenommen werden, dass die kognitive Dimension des Lernens, also das Erfassen und Bewerten der Problematik, der kontroversen Perspektiven und interessengebundenen Argumentationen, insofern angeregt wird, als die außerschulische Erfahrung durch die Rückbindung an konkrete Menschen und die dadurch vollzogene affektiv-emotionale Ansprache im Lernprozess Relevanz verleiht.
Relevanz und Interesse. Während sich die vorangegangene Subkategorie zweiter Ordnung auf die Personenebene bezieht, bezieht sich die folgende auf die Sachebene – wobei deutlich werden wird, dass die Kategorien durch ihre Verwobenheit gekennzeichnet sind. Im Material dokumentiert sich, dass die Jugendlichen durch die Begegnungen eine sachbezogene Relevanz empfinden und ein inhaltliches Interesse entwickeln. Die Relevanz wird scheinbar durch den Kontakt erfasst: „für mich ist das einfach nochmal ‘ne Bestätigung dafür, wie wichtig es ist“ (ANNA, Pos. 180). Die Schülerin führt ihre Gedanken weiter aus und beschreibt den Aufforderungscharakter, der die Nähe zu den Akteur*innen für sie bedeutet:
Und wenn man da jemanden hat, der einem selber erzählt, ich war da und ich hab’ das so erlebt und es stimmt so, es ist nicht mehr so in diesem Buch, das hat irgendwer in irgendeinem Land mal irgendwo verfasst, sondern es ist wirklich jemand, der kommt aus der Nähe, man merkt so, ich bin in der Nähe dieser Person, es ist bei mir und ich muss jetzt auch selbst darüber nachdenken, wie wichtig es ist und ob das für mich überhaupt ‘ne Bedeutung hat. (…) Man muss einfach dann anfangen nachzudenken, wenn man wirklich jemanden hat, der wirklich davon betroffen ist. (ANNA, Pos. 180–182)
Das, was sich an vielen Stellen im Material zeigt, kann mit dem Begriff des Resonanzerlebens erfasst werden. Das Thema erhält durch die Nähe und im Kontakt eine sinnhafte Bedeutung, die als Aufforderung verstanden wird, sich selbst dazu in Beziehung zu setzen. Häufig wird berichtet, dass die Relevanz der Thematik so erst erfasst wurde. Man rede mit „Leuten, die da wirklich drinstecken, wie es eigentlich ist“ (TINA, Pos. 73). Franziska beschreibt die besondere Bedeutung, die die Treffen für sie hatten. Die Verknüpfung einer als abstrakt empfundenen Problemstellung aus dem Unterricht mit konkreten und perspektivgebundenen Problemstellungen von Einzelpersonen sei für sie „realer“.
Also ich find’s definitiv realer und ich hab‘ auch das Gefühl, dass ich einfach mehr daraus gelernt hab’. Und das mein ich ernst, weil ich denke, dass ich einfach mit Personen geredet hab’, oder dass diese Personen auch einfach aus einer sehr persönlichen Sichtweise geredet haben. Die haben nicht gesagt „alle Bauern“, sondern wir beide haben hier unseren Bauernhof. (FRANZISKA, Pos. 117)
Lena formuliert eine ähnliche Haltung; sie betont die Relevanz der Thematik und verknüpft dies mit einer Kritik an den typischen Schul- bzw. Politikunterricht; dieser ermögliche viel zu selten das Gespräch mit Akteur*innengruppen im öffentlichen Nahraum.
Also, ich fand es vor allem spannend. Ich finde es wichtig, dass man die Themen behandelt. Es ist total aktuell. Vor allem in der Zukunft. (…) Wir sind so viel in der Schule, wir machen wirklich teilweise wenig solche Dinge. Wir gehen nicht raus, wir sprechen nicht mit anderen Leuten von „der Grünen“, von verschiedenen Parteien, von Leuten, die es wirklich dann spüren. (LENA, Pos. 42)
Das Empfinden von Resonanzbeziehungen im öffentlichen (Nah-)Raum zwischen Lerngegenstand, regionalen Interessengruppen und der eigenen Person, die sich dazu verhalten muss, könnte scheinbar einen positiven Einfluss auf den Umgang mit Komplexität und Ambiguität im Rahmen gesellschaftlicher Transformationsprozesse in Richtung Nachhaltigkeit haben.
Kontrast zu üblichen Tätigkeiten im Schulalltag. Acht der elf Befragten heben wie bereits angeklungen in ihren Äußerungen den Kontrast von Realbegegnungen zu üblichen Tätigkeiten im Unterricht – zuvorderst dem Lesen von Texten – hervor. Anna sagt, sie fände „es ist immer ein bisschen langweilig, wenn man da sitzt und mit einem Buch arbeitet und da liest: das ist passiert und das ist passiert“ (ANNA, Pos. 180). Für die Befragten ist die Informationsbeschaffung mittels Textarbeit eine gewohnte unterrichtliche Schüler*innenpraxis. Das Schulgelände zu verlassen, sei eine „Rarität“ wie es Lena beschreibt: „Solche Sachen macht man halt nicht. Das finde ich schade und ich glaube, das muss auch mehr gemacht werden“ (LENA, Pos. 52). Es sei ein Unterschied, ob man etwas durch Begegnungen mit Menschen erfahre oder „ob du halt nur in der Schule sitzt und eh schon einen anstrengenden Tag hattest und dann nochmal ‘n Text lesen musst und dir dann Sachen markieren musst“ (KAREN, Pos. 132). Die Beschreibung von Tätigkeiten in ihrer prozesshaften und routinierten Abfolge stellt eine Auffälligkeit in den Äußerungen der Befragten dar. Auch Franziska beschreibt das offenbar gewohnte Skript des Schüler*innenhandelns im Fachunterricht: die Repräsentation des Lerngegenstandes in Textform und die Erschließung im Modus des Bearbeitens:
Wenn wir das im Unterricht einfach in so ‘nem Text gemacht hätten, dann hätte ich mir den Text angeguckt, ich hätte ihn mir einmal durchgelesen, dann hätte ich ihn mir nochmal durchgelesen und mir das Wichtigste angestrichen und dann hätte ich ‘ne Aufgabe dazu bearbeitet und hätte es wieder vergessen. So wie einfach viel im Unterricht, also ich kann mich jetzt nicht daran erinnern, was ich vor zwei Monaten in Politik aufgeschrieben hab‘. (FRANZISKA, Pos. 117)
Das außerschulische Lernen erscheint aus Schüler*innensicht als ein Ausbruch aus einer Routine, die das lernende Subjekt gegenüber den Lerngegenständen „passiv macht“, wie Lena es formuliert:
Also, in der Schule hat man ja immer dieses, man bekommt Dinge, muss es dann irgendwie aufnehmen und wiedergeben. Also, das ist ja das allgemeine Prinzip. Und irgendwann läuft es halt auch darauf hinaus, dass man es nur so passiv macht, irgendwie. Dass es einem gar nicht so richtig deutlich wird. (LENA, Pos. 53)
Die Codierungen stehen, wie anhand des präsentierten Auszüge angenommen werden kann, in einem Zusammenhang mit einem Relevanzempfinden für die Themen, dass sich scheinbar erst jenseits der schulischen Aufbereitung einstellt.
Veranschaulichung theoretischer Unterrichtsinhalte. Einige Jugendliche beschreiben, dass die Bedeutung der Realbegegnungen für sie darin liege, dass als theoretisch empfundenen Unterrichtsinhalte veranschaulicht würden. Es dokumentiert sich eine Differenzordnung von Theorie und Praxis einerseits und die Möglichkeit andere Perspektiven (aus der Praxis) konkret kennenzulernen.
Ich würde sagen, es ist so – es ist auf jeden Fall nicht das Gegenteil, was dann da eigentlich gemacht wird, aber es ist halt, ja, deutlich anders, als man’s dann in der Schule dann in dieser Theorie hat, dass die Praxis dann eigentlich wirklich anders ist, als man’s normalerweise erwartet, weil du auch andere Perspektiven dann siehst. (PETER, Pos. 129)
Aktivierung durch Realitätsabgleich; Glaubwürdigkeit. Von einigen Befragten wird dies noch weiter spezifiziert und sie sprechen von einem Abgleich oder Vergleich der schulischen Inhalte mit der Realität. Das außerschulisch Erfahrene sei eine Bestätigung oder Erweiterung des Unterrichtsstoffes:
Meinetwegen muss man ja gar nicht unbedingt dran zweifeln, aber (…) man könnte theoretisch sogar das ganze komplette Gegenteil erfahren oder man wird halt in der Sache bestätigt und die Gedanken, die man darüber, also, die man fasst und dem Urteil, was man dann vielleicht im Kopf bildet. Kann man entweder bestätigt werden oder man ändert seine Meinung halt noch. (OLAV, Pos. 104)
Bei Jan geht dieser Aspekte noch weiter, indem er eine Skepsis gegenüber der Sachlichkeit und Neutralität von Sachtexten formuliert. Zu wissen, „wer dahintersteht“, verleihe den Inhalten eine besondere Glaubwürdigkeit. Dabei scheint es nicht nur um eine Art der Aufrichtigkeit und Seriosität der Informationsquelle zu gehen, sondern auch um die Standortgebundenheit von Positionen (somit auch von Autor*innen) und der Möglichkeit einer Einordnung in einen Gesamtzusammenhang:
Wenn man das liest, dann weiß man auch nicht, was für eine Person dahintersteht und das ist tatsächlich ja sehr wichtig, wenn man einen Text liest, wenn man weiß, wer dahintersteht. Weil wenn man jetzt so `nen Text liest, zum Beispiel so Vor- und Nachteile dargelegt werden, der dann aber irgendwie so in eine Richtung ein bisschen ausschlägt und man weiß nicht, von wem das kommt, ist das schon ein bisschen fragwürdig. (JAN, Pos. 107)
Die Codierungen innerhalb der Subkategorien „Veranschaulichung theoretischer Unterrichtsinhalte“ sowie „Aktivierung durch Realitätsabgleich; Glaubwürdigkeit“ eint der Bezug auf Transferprozesse zwischen den Kontexten Schule und Gesellschaft. Es zeigt sich, dass für die außerschulische Erfahrung der besondere Modus des Erkennens in einem Wechselspiel zwischen Induktion und Deduktion kennzeichnend ist. Die außerschulischen Begegnungen stellen aus Schüler*innensicht eine andere Art der sonst üblichen Informationsbeschaffung dar und unterscheiden sich darin im besonderen Maße von den didaktisierten Informationen. Das Lernen in informellen Räumen zeichnet sich aus Schüler*inennsicht durch eine gewisse Glaubwürdigkeit und Bedeutsamkeit aus.
Reflexion der Urteilsbildung. Die Jugendlichen beschreiben das Lernen in der Unterrichtseinheit und die Funktion der außerschulischen Begegnungen als eine Art der Informationsbeschaffung, die aber über reines Faktenwissen hinausgeht. Ein Schüler fasst es folgendermaßen zusammen: „Man erfährt natürlich ganz viel, man sammelt Informationen und Sichtweisen“. In den Aussagen der Befragten deuten sich metakognitive Prozesse an, indem der lernende als urteilender Zugang selbst thematisiert und reflektiert wird. In Franziskas Schilderungen zeigt sich dies darin, dass sie beschreibt, wie sie als lernendes Subjekt „in der Mitte steht“ und sich damit einer räumlichen Symbolik bedient. Politische Urteilsbildung wird als ein Prozess beschrieben, in dem die Perspektiven anderer berücksichtigt werden und Implikationen für das eigene, möglicherweise sich solidarisierende Handeln gezogen werden:
Ich denke, dass diese Akteure eine sehr stark ausgeprägte Meinung für ihre eigenen Interessen haben. Und dadurch, dass man so in der Mitte steht, muss man beide Meinungen in die eigene Meinung miteinfließen lassen, damit man eine vernünftige Meinung darüber haben kann und damit man auch überlegen kann, was man selber unterstützt. (FRANZISKA, Pos. 113)
Auch Peter erläutert, dass das eigene Urteil den Zusammenhang zwischen den zwei außerschulischen Begegnungen stiftet.
Der Zusammenhang, den man eigentlich schließen könnte, aus meiner Sicht jetzt, ist die Meinung, die man sich dazu halt bilden muss, weil es ist halt, es ist halt perspektivische Arbeit, die wir dann halt gemacht haben, so was ist kritisch, was ist schlecht, aber auch erstmal, warum wird das überhaupt so gemacht, wie ist sowas – ja, wie wird sowas verursacht. (PETER, Pos. 129)
Die außerschulischen Begegnungen haben durch das entfaltete Spannungsverhältnis einen Aufforderungscharakter für die Schüler*innen und ihrem individuellen Prozess der Meinungsbildung. Die Notwendigkeit der Distanzbewegung zum außerschulisch Vorgefundenen wird von den Befragten selbst beschrieben (siehe dazu K3, 3.1, JENDRIK, Pos. 184). Von dem Großteil der Jugendlichen wird betont, dass die außerschulischen Begegnungen die individuelle Urteilsbildung unterstützt haben. Aus Lenas Schilderungen geht hervor, dass sich das Relevanzempfinden („nie wirklich so deutlich geworden“) sowie die empfundene Selbsttätigkeit für die Thematik („sich selbst […] eine Meinung bilden“) förderlich auf die Urteilsbildung auszuwirken vermag:
Weil es wirklich den Schülern nahebringt, wie die eigentlichen Sichten sind. Also, es wurde gezeigt, dass Leute von der Grünen sehen, wie das wirklich Landwirte sehen (...). Dann kann man sich selbst auch eine Meinung bilden. Und ich persönlich (...) habe auch wirklich dazugelernt. Ich konnte mir selber eine Meinung bilden. Ich habe da zwar selber auch vorher natürlich drüber nachgedacht so ein bisschen, aber das Thema an sich ist mir nie wirklich so deutlich geworden, das Thema. Die einzelnen Sichtweisen und auch meine eigene Meinung. (LENA, Pos. 174–179)
Im Material dokumentieren sich in diesem Zusammenhang Hinweise darauf, dass der forschende als ein deutender und um ein Verstehen ringender Zugang zur gesellschaftspolitischen Wirklichkeit selbst in den Blick gerät. Durch die außerschulischen Begegnungen mit konfligierenden Perspektiven wird zwangsläufig eine Metaperspektive eingenommen, in der die Argumente einen gesellschaftspolitischen Standort zugewiesen und die Singularität des Falls (bspw. der einzelne Landwirt) auf verallgemeinerbare Aspekte hin untersucht wird.
K3.3 Bezüge zu schulischer Nachhaltigkeitsbildung
Empfindung von Überdruss: Problematisierungsdiskurs mit Handlungsaufforderung. Als induktiv gebildete Kategorie wurden Textstellen gesammelt, die Bezüge zur Nachhaltigkeitsbildung in der Schule im Allgemeinen herstellen. Hiernach wurde nicht explizit gefragt, vielmehr rückte die Thematik während des evaluativen Teils des Interviews in den Vordergrund. Einige Schüler*innen bringen ihren Überdruss über die Häufigkeit der Thematik zum Ausdruck. Bildung für nachhaltige Entwicklung begegnet den Jugendlichen als Querschnittsaufgabe in vielen Fächern. Karen zufolge sei die Thematisierung von Nachhaltigkeit „ein bisschen ausgelutscht“:
Als ich das gehört habe, dass wir halt wieder über Nachhaltigkeit reden, war das halt ein bisschen so: ‚Schon wieder?‘ Man hat – das ist manchmal auch so, ja, jetzt umgangssprachlich gesagt, schon ein bisschen ausgelutscht, das Thema, weil man halt das irgendwie so oft hört und immer in so vielen Fächern. (KAREN, Pos. 152)
Nachhaltigkeit wird als ein Thema wahrgenommen, das in nahezu allen Fächern unterrichtet wird (siehe auch K2, 2.1). Einige Unterrichtsvorhaben wie „Der Weg des T-Shirts“ scheinen sich für die Jugendlichen in verschiedenen Fächern zu wiederholen.
Also, man hat das eben schon tausend Mal gemacht in verschiedenen Fächern und es ist so ein bisschen, so ein bisschen so langgezogen. So, ein bisschen kaugummimäßig so. Das denken sich dann die meisten so: ‚Ach, ‘ne, schon wieder Nachhaltigkeit.‘ So, ein bisschen. Weil es eben dann doch auch anstrengend wir für die meisten so, ‘ne? So ein Thema tausendmal in verschiedenen Fächern. Englisch, Politik, Erdkunde, Deutsch auch noch und... – keine Ahnung. (LENA, Pos. 27)
Die Jugendlichen betonen, wie wichtig ihnen die Thematik sei; die hohe Frequenz wird jedoch als ermüdend erlebt. Im Material zeigen sich Hinweise darauf, dass diese Empfindung stark mit der Art und Weise der Vermittlung zusammenhängt. Bildung für nachhaltige Entwicklung wird von einigen Jugendlichen als ein Problematisierungsdiskurs empfunden, in denen sie als Problemlöser*innen adressiert werden, wie diese Aussage von Olivia verdeutlicht:
Die wissen das Problem, jeder von uns weiß das Problem, das ist halt, weil halt eben jedes Mal in ‘ner Unterrichtseinheit gesagt wird: ‚Das ist blöd, das ist blöd‘. Und jedes Mal auch versucht werden so Ansätze, die wir dann natürlich sagen müssen: ‚Ja, was kann man verbessern?‘ Aber es gibt halt Leute, die machen dann halt nichts… (OLIVIA, Pos. 153)
Olivia kritisiert die Untätigkeit trotz des Wissens, das schulisch vermittelt wird. Sie bezieht sich damit auf ihre Mitschüler*innen, kritisiert aber auch das vorhersehbare Ablaufschema der schulischen Vermittlung, aus dessen Botschaft aber nichts folge. Die Jugendlichen richten einen umfassenden Blick auf die Umsetzung schulischer Querschnittsaufgaben; hieraus folgt, dass eine Abstimmung und Ausrichtung der Fächer in einem fächerübergreifenden Lernfeld sowie das Anknüpfen an Vorwissen und Lebenswelten besonders relevant sind, um einem Überdruss vorzubeugen.
Kontroversität um Nachhaltigkeit. Die Jugendlichen vertreten im Hinblick auf die Urteilsbildung die Auffassung, dass eine Meinung etwas Persönliches sei und der privaten Sphäre angehöre. Aussagen wie „das ist halt jedermanns Sache“, „da hat jeder als seine eigene Meinung“, „ist ja jedermanns eigenen Sache, ob er das wichtig findet“ fielen im Rahmen der Interviews, aber auch in den Unterrichtsstunden, häufig. In dieser Vorstellung von Pluralismus und Demokratie werden eine Vielzahl von Meinungen, Werten und Ansichten angenommen und als zu respektieren markiert – gleichzeitig kann die Tendenz festgestellt werden, dass jene als privat und nicht als Teil eines öffentlichen Diskurses verstanden werden. Der Umstand, dass Meinungen im politischen Kontext konkurrieren und in der Frage des gemeinsamen Zusammenlebens und der Regelung öffentlicher Angelegenheiten in einem legitimen Wettbewerb miteinander stehen, ist weniger vertraut.
Dieser Umstand scheint im Kontext der Nachhaltigkeitsbildung über ein gewisses Frustrationspotenzial zu verfügen. Denn die Jugendlichen nehmen einen gesellschaftlichen Handlungsdruck wahr und werden in der Schule fächerübergreifend mit Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung konfrontiert, dabei rede man den Befragten zufolge aber nur über die Probleme, nicht darüber, wie die Umsetzung fernab von individuellen Alltagspraktiken zu gestalten seien. Sobald das Wie des gesellschaftlichen Wandels thematisiert werde, sei man sich in der Klassengemeinschaft nicht einig.
Weil wir halt echt wirklich in Unterrichteinheiten und allgemein nur über das Problem reden, nicht, wie kann man das jetzt eigentlich umsetzen. Und ja, ich glaub´ einfach wirklich, da wird’s halt wirklich bisschen unterschiedlich die Meinung, wie man das umsetzen kann. Bezogen ja auch auf Politikunterricht, da die eine Diskussion, das ging ja auch schon wirklich ‘n bisschen auseinander. Ich denk´ das ist bei anderen Maßnahmen nicht anders, weil jeder Mensch hat so seinen eigenen Kopf, eigene Gedanken und jeder möchte so ‘n bisschen seinen eigenen Weg da gehen und jeder hat seine eigenen Einstellung zu dem Thema, denke ich. (OLIVIA, Pos. 199)
Olivia vermisst in der schulischen Nachhaltigkeitsbildung die Auseinandersetzung mit Formen des konkreten politischen Handelns. In vielen Aussagen der Jugendlichen deutet sich an, dass das Bedürfnis besteht, Schlüsse aus den Problemen zu ziehen. Gleichwohl werden Meinungsunterschiede im Unterrichtsdiskurs als mühselig erlebt. Kontroversität wird weniger als ein Nebeneinander verschiedener Handlungsoptionen bzw. Lösungen verstanden, sondern erscheint in einigen Äußerungen wie ein Hemmnis im gesellschaftlichen Wandel.
Bedeutung der (Schul-)Öffentlichkeit. Aus Olivias Perspektive brauche die schulische Nachhaltigkeitsbildung Öffentlichkeit. Ihre Äußerungen diesbezüglich sind regelrecht als Antwort auf die beschriebene Ermüdung und den konstatierten Überdruss zu verstehen.
Vor allem, weil bei uns ist das ja so, wir Jugendlichen könnten ja rein theoretisch noch relativ viel jetzt anrichten, wenn man jetzt [mit den Umweltaktivist*innen] – das hat mein Vater mal gesagt – wenn wir mit denen zum Beispiel ‘n Foto machen würden oder das in die Zeitung und da ‘n riesen Artikel zu schreiben würden, würde das glaube ich extrem großes Aufsehen bekommen, aber so ist das halt so – habe ich das Gefühl, wir werden immer ein bisschen zurückgedämmt und irgendwie passiert halt nicht viel. (OLIVIA, Pos. 36)
Olivia vermutet öffentliches Aufsehen, würde man in der Zeitung über ein solches Unterrichtsprojekt berichten. Es ist an der Stelle nicht deutlich, ob sich das „immer“ auf schulische Nachhaltigkeitsbildung bezieht oder generell auf den politischen Einfluss von Jugendlichen. Olivias Hinweis macht aufmerksam auf die Resonanzbeziehung, die die schulische Nachhaltigkeitsbildung mit dem Nahbereich, der Kommune, dem Quartier etc. eingehen muss, um ihren bloß problematisierenden Charakter zu verlieren. Die Äußerungen dieser Kategorie umfassen eine Gleichzeitigkeit von eines Zu-Viel und eines Zu-Wenig: zu viel Problematisierungsdiskurs und skriptartige Überleitung zu einem „Was kannst du tun?“ auf der einen Seite; zu wenig – der Sache angemessene – Folgerungen für die öffentliche Gestaltung eines sozial-ökologischen Transformationsprozesses.
Im Rahmen der Hauptkategorie „Anregungspotenziale der außerschulischen Begegnungen“ wurde untersucht, wie die Jugendlichen die Bedeutung des außerschulischen Lernens für ihren persönlichen Lern- und Urteilsprozess beurteilen bzw. welches Bildungspotenzial in den Reflexionen rekonstruiert werden kann. Das Anregungspotenzial der außerschulischen Begegnungen wurde mit Blick auf den Stellenwert im Gesamtzusammenhang der Lerneinheit, die Bedeutung für den persönlichen Lern- und Urteilsprozess sowie unter Bezugnahme auf schulische Nachhaltigkeitsbildung im Allgemeinen rekonstruiert. Die anfängliche Skepsis gegenüber außerschulischem Lernen konnte – durch die schulische Einbettung – in eine interessierte Haltung überführt werden. Es konnten Anregungspotenziale für den persönlichen Lern- und Urteilsprozess identifiziert werden: Die authentische Begegnung und damit der Kontakt und das Gespräch mit Menschen sowie die Relevanz und das Interesse an der Thematik waren für die Schüler*innen bedeutsam. Insbesondere im Kontrast zur schulischen Routine kann angenommen werden, dass eine passive, den Themen gegenüber gleichgültige Haltung durchbrochen werden kann. Durch Veranschaulichung wird auch Glaubwürdigkeit hergestellt. All jenes scheint sich von der sonst erlebten schulischen Nachhaltigkeitsbildung abzuheben, der gegenüber Schüler*innen einen gewissen Überdruss formulieren. Als besonders bemerkenswert ist schließlich hervorzuheben, dass sich mit dem eigenen Urteilsprozess reflexiv auseinandergesetzt wird.

8.2.1.4 Zusammenfassung: Anregungspotenziale des Unterrichtsprojektes

Die Auswertungsdimension I „Anregungspotenziale des Unterrichtsprojektes“ folgte der Frage, welche Reflexions- und Sinnbildungsprozesse aus Sicht der Lernenden auf welche Art und Weise angeregt werden konnten. Im Folgenden werden die drei betrachteten Hauptkategorien in ihren Ausprägungen zusammengefasst.
In den geschilderten Erinnerungen der Jugendlichen an das Unterrichtsprojekt zeigt sich eine Unterscheidung zwischen schulisch und außerschulisch vermittelten Inhalten (K1, siehe Abschn. 8.2.1.1). Die Befragten berichten, dass ihnen die außerschulischen Momente im Unterschied zu den Unterrichtsstunden im Klassenraum sehr präsent sind. Der Lerngegenstand wird vor allem in seinen ökonomischen Bezügen rekonstruiert. Die unterrichtlich vermittelten Inhalte werden von vielen Befragten abstrakt und grob verschlagwortet (Landwirtschaft; Ernährung; Globalisierung). Schilderungen, in denen die didaktische Progression des mehrwöchigen Lehr-Lern-Arrangements im Hinblick auf die verhandelten Fragen in einem abstrakteren Zusammenhang thematisiert werden, sind zunächst Ausnahmen.
Der Lern- und Urteilsprozess wird mit Blick auf die persönliche Sichtweise auf das Thema vor allem als bestätigend und bestärkend beschrieben (K2.1; siehe Abschn. 8.2.1.2). Die Jugendlichen geben an, sich in ihrer eigenen Position unterstützt zu fühlen. Eine qualitative Veränderung der persönlichen Sichtweise und Positionierung wird nur vereinzelt berichtet. Für die meisten ist es hingegen wichtig zu betonen, dass sie hinsichtlich des Themenfeldes bereits problembewusst und sensibilisiert seien sowie ohnehin schon „darauf achten“ würden – ein spezifischer pädagogisch oder sozial erwünschter Outcome wird vonseiten der Jugendlichen antizipiert. An den Rändern des Spektrums dieser Subkategorie zeigt sich in Selbstbeschreibung entweder eine umfassende Transition (Franziska) oder ein Hadern im Umgang mit Komplexität und Ungewissheit (Jendrik) (siehe K2.1).
Die inhaltlichen Schlussfolgerungen (K2.2; siehe Abschn. 8.2.1.2), die von den befragten Jugendlichen aus dem Unterrichtsprojekt gezogen wurden, sind sehr heterogen und wurden in drei Subkategorien zweiter Ordnung differenziert. In den Reflexionen konnte eine Politisierung der Umweltthematik identifiziert werden, die sich etwa in der Berücksichtigung von Akteur*innengruppen sowie der Einsicht, dass auch landwirtschaftliche Güter global gehandelt werden, offenbart. Kritische Reflexionen über die Ausrichtung des Wirtschaftssystems, etwa an dem Prinzip der Gewinnmaximierung und Massenproduktion, werden dargelegt, wobei angegeben wird, dass diese Positionen bereits vorher bestanden und sich verstärkt haben. Einige beziehen ihre Kritik ausschließlich auf das „System“, andere letztendlich auf den verbrauchenden, konsumierenden Menschen. Die Privilegien in einem globalen Ernährungssystem, etwa in Form einer großen Auswahl an Produkten, werden erkannt und im Einzelfall überdies als Eigeninteresse gekennzeichnet und von einigen in Pflichten und Verantwortung überführt. In vielen Schlussfolgerungen äußert sich neben einem mehr oder weniger ausgeprägten Problembewusstsein eine Forderung oder Bereitschaft zum Handeln. Darüber hinaus zeigen sich Reflexionen über jenes potenzielle Fordern und Handeln, in denen das individuelle Selbstwirksamkeitsempfinden zwischen Verantwortung und Zweifel thematisiert wird. Es zeigt sich einerseits die Thematisierung einer bewussten, achtsamen Alltagspraxis und andererseits ein Zweifel an der Effektivität privater Handlungsstrategien. Dabei scheint das individuelle nachhaltigkeitsbezogene Handeln nicht zwangsläufig mit positiven Gefühlen assoziiert zu sein, sondern wird als Pflicht und Verantwortung beschrieben. Im zurückhaltenden Aussprechen politischer Forderungen und simultanen Zurückweisen individueller Handlungspraktiken scheint ein gewisses Unbehagen anzuklingen, da nicht der Anschein erweckt werden soll, man relativiere Probleme und deren Lösungen.
Das Anregungspotenzial der außerschulischen Begegnungen (K3; siehe Abschn. 8.2.1.3) wird mit Blick auf den Stellenwert im Gesamtzusammenhang der Lerneinheit, die Bedeutung für den persönlichen Lern- und Urteilsprozess sowie unter Bezugnahme auf schulische Nachhaltigkeitsbildung im Allgemeinen rekonstruiert. Die anfängliche Skepsis, dass außerschulische Begegnungen mit dem Grundschulunterricht assoziiert wurden, wurde von einem Großteil der Befragten durch die schulische Einbettung in eine interessierte Haltung überführt. Das Verlassen des Klassenraums mit einer konkreten Fragehaltung hat in der Perspektive der Lernenden dazu maßgeblich beigetragen. Für einige Jugendliche begründete sich rückblickend der unterrichtlich verhandelte Lerngegenstand erst durch die außerschulischen Begegnungen, was mit Blick auf eine subjektorientierte Bildungspraxis bemerkenswert ist. In den Äußerungen konnte ein vielfältiges Spektrum an Anregungspotenzialen für den persönlichen Lern- und Urteilsprozess ausgemacht werden – die Ausprägungen wurden in Subkategorien zweiter Ordnung differenziert. Für die Lernenden ist die authentische Begegnung und damit der Kontakt und das Gespräch mit Menschen, die eine bestimmte Perspektive auf den Problemzusammenhang einnehmen, der bedeutendste Faktor. Diese emotionale-affektive Ansprache ist wiederum förderlich für das Interesse, da die Relevanz und Authentizität der Thematik im Realkontext erlebt wird. Das Erleben von Unmittelbarkeit findet dabei Ausdruck in räumlichen und körperlichen Metaphern und scheint ein Resonanz- und Verbundenheitsempfinden zwischen Selbst und Welt zu evozieren, das auch als Aufforderung ausgelegt wird, Stellung zu beziehen. Zugleich birgt jenes Unmittelbarkeitsempfinden im Kontext politischer Bildungsprozesse auch Gefahren, die im Abschnitt 8.3.1 zu diskutieren sind.
Ein weiteres wesentliches Potenzial der außerschulischen Begegnungen wird schüler*innenseitig im Kontrast zu den üblichen Tätigkeiten im Schulalltag identifiziert. Die Jugendlichen beschreiben typische schulische Arbeitsformen in ihrer Routiniertheit und Vorhersehbarkeit – und das außerschulische Lernen als Besonderheit und Ausbruch aus diesem Handlungsprogramm. Die sich in den Schüler*innenäußerungen zeigende gewohnte Repräsentation von Lerngegenständen in Textform und die Erschließung im Modus des Bearbeitens erinnert an die Heuristik des „Schülerjobs“ in den ethnografischen Studien von Breidenstein (2006). Die Unterbrechung dieser üblichen Logik vermag eine der Thematik gegenüber passiven Haltung in eine die Bedeutsamkeit verstehende zu überführen. Des Weiteren wird einerseits die Veranschaulichung der Thematik sowie andererseits ein Abgleich der als theoretisch empfundenen Unterrichtsinhalte mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit möglich. Die über die außerschulischen Begegnungen gewonnenen Informationen stellen für einige Befragte eine besondere Glaubwürdigkeit her. Schließlich reflektieren die Jugendlichen ihren Urteilsprozess selbst. Der hermeneutische Zugang im Sinne eines forschenden politischen Lernens wird von den Schüler*innen selbst thematisiert und kann durch die Integration konfligierender Perspektiven eine Aufforderung zum Urteilen bereithalten.

8.2.2 Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen der außerschulischen Begegnungen

Im Rahmen des folgenden Unterkapitels werden die Ergebnisse zu den Hauptkategorien der Auswertungsdimension II „Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen der außerschulischen Begegnungen“ präsentiert (siehe Tab. 8.6). Hierbei ist die Forschungsfrage leitend, welche Reflexions- und Sinnbildungsprozesse sich in den Reflexionen der Jugendlichen über die außerschulischen Begegnungen mit den Landwirt*innen und den Umweltaktivist*innen identifizieren lassen.
Tabelle 8.6
Auszug aus dem Kategoriensystem bezüglich der Auswertungsdimension II. (siehe Tab. 8.2; Abschn. 8.1.4.2)
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In den folgenden zwei Unterkapiteln werden die Ergebnisse mit Blick auf die außerschulische Begegnung mit den Landwirt*innen (Abschn. 8.2.2.1) sowie mit den Umweltaktivist*innen (Abschn. 8.2.2.2) nacheinander vorgestellt. Dabei wird jeweils den Fragen nachgegangen, wie die Begegnungen von den Jugendlichen rekonstruiert werden (Forschungsfrage 3a) und welche Schlussfolgerungen sie daraus ziehen (Forschungsfrage 3b). Der Unterschied zwischen den Kategorien „thematische Rekonstruktion“ und „Schlussfolgerung“ besteht folglich darin, dass die thematischen Rekonstruktionen Schüler*innenäußerungen umfassen, die auf inhaltliche Aspekte der außerschulischen Begegnungen rekurrieren. Innerhalb der Kategorie der Schlussfolgerungen geht es um evaluative Urteile der Schüler*innen (siehe Abschn. 3.​2.​1); sie enthalten implizit oder explizit eine Wertung und/oder eine Positionierung. Innerhalb der Analyse geht es entsprechend darum, zu untersuchen, welche individuellen Schlussfolgerungen und Standpunkte sich in den Aussagen der Schüler*innen dokumentieren. Die Schlussfolgerungen werden auf der Basis der thematischen Rekonstruktionen abgeleitet. Hieraus ergeben sich in der Auswertung zwangsläufig Mehrfachcodierungen von Materialpassagen, weshalb auch im Rahmen der vorliegenden Dokumentation Textstellen den Lesenden auch mehrfach, nämlich im Kontext unterschiedlicher Kategorien, begegnen können.
In Abschnitt 8.2.2.3 werden die Ergebnisse der Forschungsfrage 3c vorgestellt: Inwiefern integrieren, koordinieren und reflektieren die Jugendlichen über die außerschulisch eingebrachten Sichtweisen? Welche Besonderheiten der Sinnbildung und Muster der Urteilsbildung können nachvollzogen werden? Die Ergebnisse der Auswertungsdimension II werden in Abschnitt 8.2.2.4 zusammengefasst.

8.2.2.1 Die außerschulische Begegnung mit den Landwirt*innen

In dieser Hauptkategorie liegt das forschungsleitende Erkenntnisinteresse darauf, wie die Begegnung mit den Landwirt*innen schüler*innenseitig erinnert bzw. rekonstruiert wird und welche Schlussfolgerungen die Jugendlichen aus der Begegnung ziehen (Forschungsfrage 3a und 3b; Teil 1). Auf der Ebene der Subkategorien 1 wurden die Äußerungen in thematische Rekonstruktionen (K4.1) und Schlussfolgerungen (K4.2) differenziert – eine weitere Ausdifferenzierung der Kategorien (Subkategorien 2) erfolgt nach den thematischen Aspekten, die sich im Material dokumentiert haben (siehe Tab. 8.7).
Tabelle 8.7
Hauptkategorie 4: Außerschulische Begegnung: Landwirt*innen
Hauptkategorie
Subkategorien 1
Subkategorien 2
K4:
Außerschulische Begegnung: Landwirt*innen
K4.1 Thematische Rekonstruktion
Ökonomische Anforderungen
Personen und Innenperspektiven
Tierhaltung und Tierwohl
Produktionsweise
K4.2 Schlussfolgerungen
Die Lage der Erzeuger*innen
Anpassung der eigenen Vorstellungen über konventionelle Landwirtschaft
Zur Bewertung konventioneller Haltungsbedingungen
Mögliche Umstellung auf ökologische Landwirtschaft
Marktlogiken als Herausforderung für eine nachhaltige Landwirtschaft
K4.1 Thematische Rekonstruktion
Ökonomische Anforderungen. In den Schilderungen der Realbegegnung mit den Landwirt*innen wird besonders häufig auf die ökonomischen Anforderungen, die an diese gestellt sind, sowie die Bedingungen, unter denen gearbeitet und produziert wird, schüler*innenseitig rekurriert. Präsent in den Äußerungen der Jugendlichen ist die geringe Entlohnung für die Milch, die Folgen der Liberalisierung des Milchmarktes und die daraus resultierende Milchkrise. Darüber hinaus führen die Schüler*innen die einzuhaltenden Richtlinien hinsichtlich der Landnutzung, regionale Flächennutzungskonflikte durch die Nähe zur Stadt und die Abhängigkeiten von anderen Unternehmen wie der Molkerei oder auch dem Einzelhandel an, aber auch die Witterung, die wiederum über die Futtersituation (und einen möglichen Zukauf) entscheidet. Die betriebsinternen Zusammenhänge sowie die makroökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen werden in den Schilderungen der Jugendlichen angeführt und zeigen, dass die Jugendlichen die Vielschichtigkeit, Komplexität und Vernetztheit der unternehmerischen Perspektive erfasst haben.
Die Milchquote wurde abgeschafft und deswegen ist es bei denen auch relativ kritisch mit der, mit dem Einkommen, das heißt, die müssen immer viel Milch produzieren, damit die überhaupt Gewinn machen und deswegen ist Bio für die erstmal so nicht möglich, weil die dann sich wirklich in Schulden stürzen würden und das hat dann sozusagen ein bisschen die ökonomischen und ökologischen Aspekte für mich verknüpft. (LUKAS, Pos. 42)
Dass der informell dargebotene Lerngegenstand vor allem in seiner ökonomischen Dimension erkannt wird, kann auf eine Verknüpfung zum Unterrichtsthema verweisen, die die Aufmerksamkeit der Jugendlichen ausrichtet. Hierin wird auch schüler*innenseitig der Unterschied zu einem Bauernhofbesuch in der Primarstufe ausgemacht:
Ich war früher auf jeden Fall schon mal auf ‘nem Bauernhof in der Grundschule und so was, aber da hat man sich ja mit ganz anderen Sachen beschäftigt, weil man sich ja mit den Tieren oder so beschäftigt und jetzt hat das eher einen eher wirtschaftlichen Aspekt gehabt, fand ich, als wir da waren, das hat auf jeden Fall die Sicht verändert. (OLAV, Pos. 55)
Personen und Innenperspektiven. Die Inhalte wurden durch die regionalen Akteur*innen selbst vorgebracht und erläutert; so verwundert es nicht, dass Personen selbst sowie die imaginierte Innenperspektive in den Erinnerungen der Jugendlichen einen markanten Bezugspunkt darstellen. Die Schilderungen aus den Realbegegnungen haben selten die Form reiner Sachinformationen, sondern werden narrativ verwoben – sie sind häufig personen- und emotionsbezogen, indem Innenperspektiven konstruiert werden. Die unterrichtlich verhandelte Milchkrise als Lerngegenstand wird erweitert und rückgebunden an konkrete Personen, die unmittelbar von den wirtschaftspolitischen Veränderungen betroffen sind. Honoriert wird der Mut, dies öffentlich zu kommunizieren.
Auch mit der Milchkrise, wie die Familie intern gehandelt hat, dass die ja wirklich auch überlegt haben, den Bauernhof zu schließen und so, dass die das halt so der großen Gruppe so erzählt hat, fand´ ich halt schon so mutig, weil klar auf der einen Seite weiß jeder, dass die Milchkrise nicht gut für die Landwirte war, aber dass die das halt alles so nacheinander so rausgehauen hat, fand ich schon bemerkenswert. (OLIVIA, Pos. 64)
Die Konsequenzen einer wirtschaftspolitischen Maßnahme für einen einzelnen landwirtschaftlichen Betrieb berichtet zu bekommen, beeindruckt die Jugendlichen. Dabei imponiert die Offenheit der Landwirt*innen im Akt des Berichtens, auch wenn sie eher kritisch eingestellt sind, wie das folgende Zitat zeigt:
Was ich insgesamt (…) trotz der Einstellung (…) ganz gut fand, ist, dass sie sich zu zweit da wirklich hingestellt haben und sich allem gestellt haben, was wir gefragt haben. (…) Und auch dazu stehen, was sie machen und nicht versuchen da unten irgendwie durchzuschlüpfen, mit irgendwelchen Ausreden. (ANNA, Pos. 75)
Im Kontext der Äußerungen, die die vermeintliche Innenperspektive der Landwirt*innen betreffen, werden Spekulationen über das emotionale Befinden angestellt. So mutmaßen einige Jugendliche, die Landwirt*innen seien unzufrieden mit ihrer Situation (vgl. ANNA, Pos. 115); andere, sie seien glücklich über das Interesse der Lerngruppe, wie Olav es schildert:
Sie wirkte eigentlich auch so ganz glücklich, dass sich irgendjemand mal interessiert für den Bauernhof, hatte ich so das Gefühl irgendwie, also, sie hat es auf jeden Fall nicht gescheut, dass wir da waren, und hat deswegen auch relativ viel preisgegeben eigentlich fand’ ich. Sie war auch bereit Fragen zu beantworten, wir haben danach ja auch, ja kritische Fragen gestellt, oder Fragen gestellt, irgendwie, die für ihre Zukunft ja auch ‘ne Rolle spielen, zum Beispiel wie sie die Rolle für die Höfe sieht, oder wie sie das mit den Monopolstellungen von größeren Höfen findet. Und da hat man auf jeden Fall schon gemerkt, dass das ziemlich an ihr genagt hat. Sie meinte ja auch, dass sie eine Krise hatten, wo sie fast einmal gesagt haben, ob das überhaupt noch Sinn macht, den Hof zu betreiben. (OLAV, Pos. 73)
Die Jugendlichen fokussieren sich stark auf die Sorgen und Nöte, auf die die Landwirt*innen im Zuge ihrer Interviewfragen eingegangen waren. Zur außerschulischen Erfahrung gehört für die Schüler*innen demnach auch, im direkten Kontakt Fragen zu stellen. Dies wurde zum Teil als Konfrontation empfunden und kostete Überwindung. Olav beschreibt, die Landwirtin habe „relativ viel preisgegeben“ und man habe „gemerkt, dass das ziemlich an ihr genagt hat“ (Pos. 75). Diese fallbezogenen Spekulationen über den Gemütszustand der Akteur*innen verdeutlicht die große Bedeutung der emotional-affektiven Dimension in der Rekonstruktion der Begegnung. Die gewonnenen Einblicke erhalten als Ausschnitte einer Lebensrealität einen exklusiven Charakter und werden als bedeutsam empfunden. Das Gesehene weist in den Erinnerungen über sich hinaus; Lena geht etwa davon aus, dass vermutlich nicht alle Probleme mitgeteilt wurden:
Ich weiß nicht, ob sie jetzt wirklich offen geredet haben mit uns oder, ob sie da nicht noch mehr Probleme haben eigentlich. Kann ich mir nämlich schon vorstellen, weil mit so wenig Land und so einem kleinen Betrieb kann man nicht viel produzieren. (LENA, Pos. 199)
Auch die Lebensgestaltung der Personen wird vielfach thematisiert; so sei es den Landwirt*innen etwa nicht möglich, ohne organisatorischen Aufwand in den Urlaub zu fahren. Die persönlichen Einschränkungen, die aus einem hohen Arbeitspensum und der Verantwortung für den eigenen Betrieb erwachsen, stehen laut Tina einem vergleichsweise geringen Verdienst gegenüber. Sie setzt dies in ein Verhältnis zu den günstigen Preisen, von denen sie als Verbraucherin profitiert. Dies empfindet sie als bedauerlich.
Ich find’ das krass, (…) die arbeiten ja so viel, morgens um sechs schon und dann eigentlich den ganzen Tag und die können ja nicht sagen, ja wir fahren in den Urlaub oder so. Dann muss man erstmal gucken, wer das dann übernimmt in der Zeit (…). Und dass die dann aber eigentlich so wenig Geld dafür bekommen, finde ich echt irgendwie traurig. Weil man freut sich zwar, dass man Milch irgendwie billig kaufen kann, aber wenn man das dann sieht, dass die Menschen, die dafür arbeiten so wenig dafür kriegen, finde ich das schon traurig. (TINA, Pos. 45)
Die Momente der Perspektivenübernahme, die sich im Material zeigen, beziehen sich nicht nur auf die antizipierte Lebenslage, sondern auch auf strategische sowie unternehmerischen Erwägungen, etwa zum Zwecke der Existenzsicherung. So überlegt Lukas, welche Vorteile es hätte, wenn Preise garantiert wären und die Erzeuger*innen durch die Zusammenarbeit mit Molkereien wirtschaftlich besser abgesichert und „krisenfester“ wären (LUKAS, Pos. 48). Franziska erinnert sich noch an die Aussage der Landwirtin im Gespräch, sie wünsche sich die Milchquote nicht zurück. Sie kann diesen Standpunkt nicht nachvollziehen, denn sie „würde sie als Bauer haben wollen“:
Und das hat ich echt gewundert, dass sie’s nicht wollten, weil ich das Gefühl hatte, dass dadurch, dass die Milchquote jetzt nicht mehr da ist, dass es einfach immer mehr wird. Also fast schon so Richtung Milchinflation, wenn man das so sagen kann. Also, dass es halt immer mehr Milch gibt für immer weniger Geld. (…) Und deswegen konnte ich nicht verstehen, dass sie gesagt haben, dass sie die Milchquote nicht brauchen. Also ich glaub‘, ich würde sie als Bauer haben wollen. (FRANZISKA, Pos. 93)
Die Antizipation der Innenperspektive trägt und prägt die Erinnerungen an die außerschulische Begegnung. Die Äußerungen zeugen aber nicht nur von einer Fähigkeit, sich einzufühlen, sondern eben auch den interessengebundenen Standpunkt dieser Person einzunehmen. Absichten und Motive werden nachvollzogen, aber nicht notwendigerweise ins eigene Urteil übernommen. Auch Anna sagt, sie versteht, was die Landwirt*innen sagen, teilt diese Standpunkte jedoch nicht und nimmt eine oppositionelle Position ein.
Tierhaltung und das Tierwohl. Die Schilderungen der Jugendlichen zur Rekonstruktion der Begegnungen mit den Landwirt*innen beziehen sich des Weiteren auf Äußerungen, die die Tierhaltung und das Tierwohl betreffen. Häufig werden die Haltungsbedingungen in den Erinnerungen an den Besuch direkt bewertet. Dabei kommen die Schüler*innen zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen: Jendrik betont, er „habe jetzt nichts irgendwie Negatives da beobachten können“ (Pos. 70). Franziska nahm dies anders wahr; ihrer Auffassung nach war es relativ eng für die Tiere:
Also was neu für mich war, oder was ich vorher nicht so gesehen hab’, war dass ich da schon fand, (…) dass es wirklich viele Tiere waren und dass es fast schon eng war. Und dann habe ich noch darüber nachgedacht, dass es eigentlich viel größere Betriebe noch gibt. (FRANZISKA, Pos. 99)
Lena bewertet die gesehene Tierhaltung als unproblematisch, indem sie einen Vergleich zu größeren Betrieben zieht.
Also, ich fand das auch gar nicht so schlimm, wie die Tiere an sich da gehalten wurden. Weil sie eben doch relativ viel Platz hatten, finde ich. Also, im Vergleich zu Schweineställen aus Massentierhaltungen oder Hühnerställen ging das bei den, bei den Kühen auf jeden Fall, finde ich. Die waren lichtdurchflutet, an den Seiten offen… (LENA, Pos. 103)
Tina beschreibt, dass sie es problematisch fand, dass die Tiere nicht auf die Weide dürfen. Durch die Erklärung der Landwirt*innen habe sie aber verstanden, „dass es wirklich nicht anders geht“:
Also, ich fand es mit der äh Haltung noch ganz interessant, dass die wirklich nur drinnen halten. Das fand ich einerseits im ersten Moment erstmal blöd, weil ich dachte, das ist doch kacke für die Kühe, wenn die nicht irgendwie auf ´ner Weide rumrennen können und so. Aber dann haben die auch ihre Situation erklärt, dass es wirklich nicht anders geht und dass die nur noch dieses kleine Stück haben, wo (…) die trächtigen Kühe waren, die durften dann ja rausgehen. (TINA, Pos. 49)
Es wird deutlich, dass die situative Wahrnehmung der Jugendlichen unterschiedlich war, sodass sie auch im Rückblick und in der individuellen Rekonstruktion des Beobachteten zu einer differenten Bewertung kommen. Es wird dabei nicht berichtet und dann bewertet, sondern die Schilderung des Erlebten ist bereits in Urteilsprozesse verwoben. Eine weitere Analyse dieser Facette erfolgt im nachfolgenden Abschnitt (K4.2 Schlussfolgerungen).
Produktionsweise. Eine weitere Relevanzsetzung erhält die Schüler*innenfrage, warum der besuchte landwirtschaftliche Betrieb keine ökologische, sondern konventionelle Landwirtschaft betreibe und warum keine Umstellung angestrebt werde. Von vielen Jugendlichen wird berichtet, dass die Gründe für die Produktionsweise neu waren. Flächenknappheit und die Kosten zur Umstellung werden von den Jugendlichen erwähnt.
Ja, ich glaub’ der Grund war, dass sie zwar ein bisschen mehr verdienen würden, aber die Kosten zum Umstellen wären halt so hoch, dass es ewig brauchen würde, bis sich das lohnen würde. Und deswegen haben die das nicht gemacht. (JAN, Pos. 65)
Die Reaktionen der Jugendlichen erstrecken sich von Kritik bis zu Verständnis: Franziska und Anna finden die genannten Gründe der Landwirt*innen nicht nachvollziehbar und kritisieren die gewinnorientierte Perspektive. Lukas erinnert die Darstellungen der Landwirt*innen als plausibel und beschreibt diese Erkenntnis als neu, da er differenzierte Einsichten gewinnen konnte und die Komplexität einer Umstellung durchdrungen hat:
Es ist natürlich einfach gesagt, ja produziert da mal Bio. Man kennt, oder ich kannte das vorher so nicht, oder ich wusste auch nicht, dass das so teuer ist dann umzustellen auf Bio und ich dachte, das wäre eigentlich nur so ‘ne Entscheidung von Gewinnmaximierung und was weiß ich. (…) Und das hat dann tatsächlich geholfen, zu bemerken, was da wirklich hinter “Bio” steckt. (LUKAS, Pos. 58)
Die Subkategorien zu den Inhalten und Aspekten, die aus Schüler*innensicht im Rahmen der außerschulischen Begegnung thematisiert wurden, beziehen sich auf Gesagtes, Erzähltes und Gesehenes. Im empirischen Material dokumentiert sich, dass die Verknüpfung mit den Inhalten der Unterrichtseinheit schüler*innenseitig überwiegend gelingt. Zugleich stellen die Authentizität des persönlichen Kontaktes und die Unvermitteltheit des Erfahrenen einen wichtigen Bezugspunkt in den Erinnerungen dar. Die Personen- und dadurch Emotionsbezogenheit der Eindrücke regt die Jugendlichen zum Imaginieren einer Innenperspektive an. Zugleich deutet sich an, dass die Schilderungen des Erlebten, auch durch den zeitlichen Abstand, bereits in Urteilsprozesse verwoben sind, d. h. die Rekapitulation der Jugendlichen erfolgt nicht rein berichtend (Reporting und Responding), sondern kommentierend und bewertend (Relating und Reasoning; siehe Abb. 8.2; siehe Abschn. 8.1.3).
K4.2 Schlussfolgerungen aus der außerschulischen Begegnung mit den Landwirt*innen
Die Forschungsfrage 3b lautet: Welche Schlussfolgerungen ziehen die Jugendlichen aus den außerschulischen Begegnungen mit den Landwirt*innen? Unter der Subkategorie „Schlussfolgerungen“ wurden die persönlichen Erkenntnisse, die von den Befragten im Rahmen der Auseinandersetzung gezogen und im Interviewgespräch formuliert wurden, codiert. Diese Codierungen wurden thematisch ausdifferenziert; sie betreffen die Lage der Erzeuger*innen, die Anpassung der eigenen Vorstellungen über konventionelle Landwirtschaft, die Bewertung konventioneller Haltungsbedingungen und die mögliche Umstellung auf eine ökologische Landwirtschaft sowie Marktlogiken als Herausforderung für eine nachhaltige Landwirtschaft.
Die Lage der Erzeuger*innen. In allen elf episodischen Interviews berichten die Jugendlichen von der herausfordernden Lage der Erzeuger*innen. Lena beschreibt diese als „prekär“ und sieht die Ursache dabei nicht nur in der finanziellen Situation der Familie, sondern auch in den politischen und gesellschaftlichen Erwartungen an eine zukunftsfähige Landwirtschaft begründet.
Dass man gesehen hat, wie die schon in der Klemme stecken irgendwie. (…) Also einerseits produzieren zu müssen, andererseits natürlich auch den Anforderungen der Gesellschaft auch. Dass die Gesellschaft erwartet, dass die Bauernhöfe umrüsten und das eigentlich gar nicht wirklich geht. Und, dass (…) da einfach ein bisschen Druck ausgeübt wird. (LENA, Pos. 99–101)
Einige Befragte gehen auf die Spezifika des Berufs ein; geschildert wird ein Berufsprofil, welches durch die Verantwortung für Lebewesen und den Erhalt der unternehmerischen Einheit gekennzeichnet ist. Peter, Anna und Franziska gehen auf die daraus resultierende geringe Freizeit ein, darauf, dass es keine feste Bezahlung gibt, dass das Handelsgut Milch verderblich ist und die Erzeuger*innen von dem Produkt abhängig sind. Auf die Frage, ob sich die eigene Sichtweise geändert hat, führt Peter aus:
So, also es hat schon in ziemlicher Weise was geändert, weil auch als die erzählt hat, hmja, wieviel sie überhaupt arbeitet, so, das ist ja nochmal ganz anders als so ein normaler Acht-Stunden-Job, der ja auch schon anstrengend ist. Aber, wenn sie dann erzählt, dass sie dann teilweise bis zu, naja, bis zu 12 Stunden arbeitet, nur auf diesem Bauernhof, und dann im aller seltensten Fall mal einen Urlaub machen kann, oder irgendwie ein Wochenende rauskommt – das ist schon, ja, eigentlich ziemlich hart. (PETER, Pos. 127)
Peter bezieht sich vor allem auf die anspruchsvolle berufliche Situation der Landwirt*innen, die sich stark von einer Lohnarbeit im Angestelltenverhältnis mit einer 40-Stunden-Woche abhebt. Peter markiert die Perspektive der Landwirt*innen als eine unterrepräsentierte Betroffenenperspektive, verteidigt diese und erhebt den Anspruch, die Sorgen und Nöte der Erzeuger*innen sollen deutlicher Berücksichtigung finden, wie das nachfolgende Zitat zeigen wird. Es wird ein Zusammenhang zwischen dem Arbeitspensum der Landwirt*innen und den begrenzten Möglichkeiten zur Erholung einerseits und einer mangelnden Wertschätzung im gesellschaftlichen Diskurs und neuen Anforderungen an eine nachhaltige Produktionsweise andererseits hergestellt, die aus dem Ziel einer nachhaltigen Entwicklung erwachsen.
Ich würde sagen, man muss sich erstmal in die Lage von solchen Bauern versetzen, das würde ich auch erstmal sagen. So, ich meine, das wird halt alles kritisiert und da fällt halt auch so ein bisschen, ja, so die Arbeit, die die Bauern da so überall reinstecken, dass die das überhaupt noch machen, dass den Leuten, die Milch, die dann letztendlich im Supermarkt ankommt, garantiert wird. Das wird halt überhaupt nicht, finde ich aus meiner Sicht, überhaupt nicht beachtet, weil’s irgendwie so, weil alles so auf dieses eine Thema, ist es jetzt strikt oder ist es jetzt schlecht, das ist halt so, da fällt so ein bisschen die Arbeit, die die eigentlich überhaupt investieren und ja, wie wenig Zeit die dann eigentlich haben, so mal entspannt zu sein, oder mal ein bisschen, ja, Pause zu haben, das gibt es da ja gefühlt gar nicht. (PETER, Pos. 125)
Aus der Fokussierung „auf dieses eine Thema“, gemeint sind Klimaschutz und Nachhaltigkeit, seien die Landwirt*innen einer permanenten Bewertungssituation ausgesetzt. Auch von anderen Befragten wird die Annahme geteilt, dass den Erzeuger*innen nicht ausreichend Wertschätzung entgegengebracht wird. Die Jugendlichen gewinnen die Einsicht, dass die Erzeuger*innen sowohl mit Existenzängsten als auch mit Handlungsaufforderungen durch eine zunehmend ökologisch-sensibilisierte Gesellschaft konfrontiert sind.
Wenn die [Landwirtin] das mit ihren Emotionen nochmal so sagt… – dass die mit der Milchkrise, (…) – dass die ja wirklich echt dachten so: ‚Ok, jetzt geht’s gar nicht weiter‘, und allgemein, wie die Kritik – das wusste ja auch keiner eigentlich, dass da auf Facebook immer gesagt wird: ‚Nee, das ist alles ganz schlecht hier‘, und so und das find´ ich – das hat schon auf jeden Fall ‘ne Bedeutung für alle. (OLIVIA, Pos. 68)
Auf die Größe des Unternehmens wird häufiger Bezug genommen. So wurden Jan und Lukas in ihrer Auffassung bestätigt, dass kleine Betriebe ökonomische Nachteile mit sich bringen, da sie abhängiger vom Markt, damit anfälliger für Krisen sind und „weniger produzieren“ (JAN, Pos. 61). Franziska hingehen betrachtet die Betriebsgröße vor dem Hintergrund eines Trends zu größeren Betrieben im Zuge einer zunehmenden Exportorientierung, der den einzelnen Hof vor die Frage stellt, sich zu vergrößern, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Das fand ich schon sehr repräsentativ, dass diese Bauern halt auch viel Konkurrenz haben und viel darauf achten müssen, wie viele Kühe sie haben und ob sie sich noch vergrößern oder ob sie überhaupt ihren Hof so weiter betreiben können und dass sie halt auch Existenzängste haben, dadurch dass viele Höfe jetzt einfach viel, viel mehr Tiere haben. Und wie schon gesagt, es ist einfach so, dass diese ganzen Höfe so riesig sind und so viele Tiere und wir so viel auch exportieren, was wir auch einsparen könnten und das war schon sehr repräsentativ für die ganze Milchwirtschaft, so wie ich sie mir vorstelle. (FRANZISKA, Pos. 109)
Deutlich wird, dass die soziale und emotionale Komponente der Begegnung bei vielen im Vordergrund steht und eine Betroffenheit auf Schüler*innenseite entstanden ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Lage der Erzeuger*innen nicht nur beschrieben, sondern teilweise auch Solidarität verbalisiert, für Anerkennung und Wertschätzung plädiert und das mangelnde Verständnis vieler Menschen kritisiert wird. Einige Schüler*innen haben explizit angemerkt, dass sie sich von der Thematik selbst eigentlich nicht betroffen fühlen und es sie eher weniger interessiert. Durch den persönlichen Kontakt und den Nachvollzug der externen Sichtweisen sind viele aber emotional angerührt. Eine Ausnahme stellt Olav dar, dem die Zustandsbeschreibungen der Landwirt*innen in einer wirtschaftlichen Einordnung nicht plausibel erscheinen:
Das Ding ist, dass ich einfach nicht weiß, ob, ob es den Bauern eigentlich immer so schlecht geht, wie die’s sagen, (…) wirtschaftlich müsste man solche Höfe eigentlich schon direkt schließen. Ich meine, es ist zwar ein Familienunternehmen sozusagen, (…) aber ich denke, dass sich die Mühe nicht lohnen würden, wenn’s nicht rentabel wäre und dann könnten sie ja auch gar nicht überleben im Prinzip. (OLAV, Pos. 81)
Von Interesse ist mit Blick auf die Schlussfolgerungen seitens der Schüler*innen auch, inwieweit nicht nur Empathie für eine Betroffenenperspektive aufgebracht wird, sondern auch die politische Perspektivenübernahme einer Interessengruppe gelingt. Anna ist ein Beispiel dafür, wie personenbezogene Einzeleindrücke verallgemeinert werden. Der wahrgenommene Gemütszustand, der lediglich den Status von Spekulationen innehat, wird auf die Situation von Landwirt*innen im Allgemeinen übertragen:
Und die wirkten so unzufrieden und das hatte ich vorher nicht so im Blick. Also das ist für die mehr – hatte ich das Gefühl, dass das so ‘ne Pflichtsache ist (…) – das habe ich so’n bisschen mitgenommen. (…) Ich glaube, das lässt sich dann auch auf andere übertragen, dass viele dann damit einfach nicht mehr glücklich sind. Und früher viel zufriedener sein konnten, wenn sie sowas hatten. (ANNA, Pos. 113–115)
Eine weitere Stelle im Material betrifft ihre Einsicht, dass jeder einzelne Hof einen Unterschied machen kann, etwa durch Direktvermarktung oder Öffentlichkeitsarbeit:
Man kann (…) sagen, das ist nur ein kleiner Hof. Aber im Grunde genommen ist es nicht nur ein kleiner Hof. So ein kleiner Hof kann auch Auswirkungen auf das große Ganze haben. So zum Beispiel, wenn ein Hof Inspiration ist für andere genau das Gleiche zu tun, ist es kein kleiner Hof mehr. ((lacht)) Dann ist es der kleine Hof, der dafür gesorgt hat, dass die ganzen großen Höfe auch das Gleiche machen. Also... also das glaube ich seitdem wirklich. Also ich glaub’ nicht, (…) dass der nichts machen kann. (ANNA, Pos. 107)
Annas Reflexionen sind geprägt durch einen eher personal-privaten als öffentlichen Zugang zum Politischen. Lena hingegen zeichnet sich in ihren Ausführungen eher durch eine selbstdistanzierte, politisch-institutionelle Sichtweise aus, etwa wenn sie die Bedeutung neuer Technologien zum Ziele der Nachhaltigkeit hervorhebt sowie betont, dass für die Erzeuger*innen Bedingungen geschaffen werden müssen, die Mut machen.
Weil [der Einsatz neuer Technologien] eben wirklich hilft und auch entlastet und somit mehr produziert werden kann. (...) Dann müssen die Felder weniger gespritzt werden, weil man einfach bessere Technologien hat und das einfach alles effizienter ist. (...) Also, ich denke, dass das wichtig ist, dass man das so immer erneuert (...). Also, ich habe jetzt auch gehört, dass die Landwirte, also teilweise Landwirte, Angst haben, (…) ihren Hof zu verändern, weil wirklich gefühlt alle paar Wochen neue Gesetzgebungen kommen, neue Standards. Dass sie Angst haben, dass es plötzlich gar nicht mehr den Standards entspricht. (…) – Und dass man eben Mut bekommt, sich zu verändern. Seinen Hof zu verändern, seine Art (...) des Wirtschaftens zu verändern zugunsten der Umwelt und zugunsten der Konsumenten. (LENA, Pos. 161–165)
Lena gelingt es in ihren Ausführungen sowohl auf die Interessen der Landwirt*innen einzugehen, als auch auf das gesamtgesellschaftliche Ziel einer nachhaltigen Entwicklung bzw. diese Perspektiven zu koordinieren und so ein potenziell handlungsleitendes (auf politisches Handeln gerichtetes) Urteil zu formulieren.
Die Jugendlichen unterscheiden sich zwar in der Differenziertheit und den Niveaus der politischen Auseinandersetzung; inhaltlich wurden jedoch insgesamt fachübergreifende Einsichten gewonnen oder auch bestätigt, die die Erzeuger*innenperspektive mit einer Agglomeration ökonomischer, ökologischer und gesellschaftlicher Anforderungen verknüpfen und als Ausdruck eines gewissen Komplexitätsbewusstseins zu deuten sind.
Anpassung der eigenen Vorstellungen über konventionelle Landwirtschaft. In den schlussfolgernden Äußerungen der Jugendlichen stellen die Produktionsweise und die Unterschiede zwischen konventioneller und ökologischer Landwirtschaft ein wichtiges Thema dar. Die außerschulische Begegnung fand auf einem konventionellen Milchviehbetrieb mit 130 Milchkühen statt. Die konventionelle Ausrichtung des Betriebs wurde in allen Interviews durch die Befragten selbst thematisiert. Viele berichten, dass sie mit konventioneller Landwirtschaft ein negatives Bild verbinden. Olivia und Lena beschreiben, dass der Besuch zu einer Ausdifferenzierung bzw. Anpassung der eigenen Vorstellung geführt habe. Oliva beschreibt, dass sie erwartet habe, dass die Tiere wenig Platz haben und es schwierig sei, Nachhaltigkeit umzusetzen, sei aber von dem Besuch positiv überrascht.
Als wir da waren, habe ich mich halt schon so ein bisschen in meiner Position (…) umgedreht und hab´ schon gesehen: Ok, da sind einige Möglichkeiten, die sind wirklich nicht schlecht. Sodass man den Kühen das so ein bisschen gerecht macht (…). (OLIVIA, Pos. 107)
Lukas berichtet von seiner eher negativen Erwartungshaltung vor dem Treffen und dem positiven Eindruck, den er aber vor Ort erhalten habe. Er habe die Einsicht gewonnen, dass konventionelle Tierhaltung nicht mit Massentierhaltung gleichzusetzen sei.
Ganz zu Anfang dachte ich, dass die auch Bio produzieren, aber als dann gesagt wurde, dass sie konventionell produzieren, dann bin ich da auch mit ‘ner bisschen anderen Einstellung hingegangen und das war dann aber doch eigentlich relativ – ...Ich bin jetzt kein Kuhflüsterer oder so ((lacht)), aber die Kühe wirkten schon relativ glücklich. (…) Die haben auch schon so gewirkt, als sorgen die sich auch, also kümmern die sich auch gut um die. (…) Und das ist ja auch eigentlich nur in deren Interesse, dass es den Kühen gut geht, deswegen – (…) das ist glaube ich ein ganz gutes Beispiel gewesen, dafür, dass konventionell eigentlich fast genauso gut sein kann wie Bio, nur dass die halt nicht draußen waren. (…) Also, joa und sonst hat das eigentlich an neuen Perspektiven nur aufgezeigt (…), dass konventionell nicht immer so auf Massentierhaltung ähnlich sein muss und es den Tieren da schlecht geht. (LUKAS, Pos. 34–36)
Die Ausführungen dieser Art können nicht als reine Übergeneralisierungen aufgefasst werden – diese werden eher aufgebrochen. Dies zeigt sich auch daran, dass die Tatsache problematischer Haltungsbedingungen von den meisten Jugendlichen nicht bestritten wird, sondern der Einzelfall in ein Verhältnis zu anderen Höfen gesetzt sowie die interessengebundene Selbstdarstellung der Landwirt*innen erfasst wird:
In Relation war es gar nicht so schlecht. Also ich habe es mir schlimmer vorgestellt, tatsächlich. Das fand ich auch wichtig zu sehen, dass es den Tieren da gar nicht so unglaublich schlecht geht, meine ich jetzt. Aus meiner Sicht. (LENA, Pos. 107)
Da wir natürlich im Vorhinein hatten, dass es eben kein Biobetrieb ist, hat man schon erstmal ein negatives Bild davon gehabt, aber am Anfang wurde das dann eigentlich recht ausgelöscht und man hatte schon ‘nen guten Eindruck davon. Aber natürlich wird dann auch von denen ja schon einseitig dann positiv darüber berichtet, aber man konnte eigentlich schon mit 'nem positiven Bild da rausgehen fand ich. (…) Also mit Tieren oder so haben ich jetzt nichts irgendwie Negatives da beobachten können oder so. (JENDRIK, Pos. 68–70)
Franziska und Anna beschreiben ebenso einen positiven Blick auf den konkreten Einzelfall, betonen aber an anderer Stelle deutlich, dass ihre kritische Haltung zu konventioneller Tierhaltung bestehen bleibt.
Die Diskrepanz zwischen den eigenen Vorstellungen über konventionelle Landwirtschaft im Allgemeinen und den außerschulischen Eindrücken tangiert auch mit der Frage nach einer zeitgenössischen Landwirtschaft. Franziska und Peter hinterfragen in ihren Reflexionen, inwieweit ihre Sichtweise „altmodisch“ oder ein „Klischee“ sei:
Ich fand’s trotzdem total traurig, dass die einfach den ganzen Tag im Stall stehen und vielleicht habe ich da auch einfach so ‘ne ganz altmodische Sicht drauf, ((lacht)) dass ich am liebsten alle die Kühe alle so auf einer Weide sehen würde und dann kommt so’n einzelner Bauer und melkt die mit seiner Hand. Aber ich find’s einfach erschreckend, wie sehr sich da so schon modernisiert hat. (FRANZISKA, Pos. 67)
Ich hatte halt immer noch dieses Klischee von den alten Bauernhöfen, dass die die Kühe noch selber melken. (PETER, Pos. 101)
Während sich Franziska skeptisch gegenüber Modernisierungsprozessen zeigt, sieht Peter aber die Vorteile der Digitalisierung, die zu einer Entlastung der Landwirt*innen beitragen könnten.
Einige Jugendliche ziehen umfassende Schlüsse über konventionelle Haltung im Allgemeinen, wobei die Angemessenheit der Generalisierung fraglich ist (Beispiel LUKAS). In anderen Reflexionen zeigt sich eine Differenziertheit im empirischen Material, indem Einschränkungen mit Blick auf die eigene Beurteilung (LENA: „Aus meiner Sicht.“), die eigenen Erwartung (FRANSZISKA: „dann kommt so’n einzelner Bauer und melkt die mit seiner Hand“) oder Aussagekraft des Gesehenen (OLIVIA: „Ok, da sind einige Möglichkeiten“) vorgenommen werden.
Zur Bewertung konventioneller Haltungsbedingungen. Die Güte der Haltungsbedingungen ist in den Schlussfolgerungen ein zentraler Referenzpunkt, wobei sich die Beurteilungen und Schlussfolgerungen dazu seitens der Schüler*innen deutlich unterscheiden – dies wird nachfolgend anhand von kontrastierenden Belegen aus dem empirischen Material veranschaulicht. Von fast allen Befragten wurde das Faktum kritisch bewertet, dass die Kühe nicht raus auf die Weide gehen, sondern ausschließlich im Stall gehalten werden. Auch die positiven Bewertungen der Haltungsbedingungen sind von einer Kritik an dieser Praktik gefolgt. Es zeigt sich, dass Vorgefundenes auf dem landwirtschaftlichen Betrieb verschieden wahrgenommen und beurteilt wird.
Im Folgenden werden in fallorientierter Perspektive zwei Positionen kontrastierend dargestellt, um aufzuzeigen, inwieweit die außerschulische Begegnung mit den Landwirt*innen in Übereinstimmung mit den eigenen politischen Positionierungen decodiert wird: Franziska und Tina. Franziska begreift sich selbst als problembewusst; das Unterrichtsprojekt habe ihr „die Augen geöffnet“ und die Dringlichkeit eines Wandels zu einer nachhaltigen Landwirtschaft und Gesellschaft erkennen lassen. Tina beschreibt sich selbst hingegen als realistisch und verteidigt den Status quo in der konventionellen Landwirtschaft; das Unterrichtsprojekt habe sie darin bestätigt, dass die zivilgesellschaftliche Kritik an der konventionellen Wirtschaftsweise überzogen sei.
Beide äußern sich kritisch über die ausschließliche Stallhaltung, ziehen aber unterschiedliche Schlüsse. Franziska hatte zwar den Eindruck, dass die Landwirt*innen gut mit ihren Kühen umgehen und „es halt wirklich ein guter Stall ist“, für sich persönlich schlussfolgert sie jedoch, dass die Tierhaltung nicht tragbar ist – trotz der Worte und Eindrücke vor Ort:
Aber trotzdem ist mir so’n bitterer Beigeschmack davon geblieben, dass diese Kühe keine Lebewesen sind, sondern dass es einfach fast schon so Maschinen sind. Also die haben ja auch darüber geredet, wie viel Liter Milch eine Kuh geben kann und auch dass man diese Kühe so kreuzen kann, dass man genau die Faktoren bekommt, die man auch haben möchte, zum Beispiel Kühe, die noch mehr Milch produzieren können. Und auch als wir da in dem einen Stall standen, hatte ich auch das Gefühl, dass die zwar sagten, dass die wirklich einen großen Stall hatten und die Tiere konnten sich ja auch alle mehr oder weniger alle frei bewegen. Aber dennoch. (FRANZISKA, Pos. 67)
Tina hingegen gibt an, dass die Begründungen der Landwirt*innen dazu geführt haben, dass sie den Umstand plausibilisieren und akzeptieren konnte. In dem folgenden Ausschnitt zeigt sich, dass ihre als realistisch verortete Betrachtungsweise bereits vorher wirksam war und die Argumente der Landwirt*innen diese dann weiter gestützt haben.
[W]enn man das realistisch betrachtet, hatten die es da schon gut. Und also vor allem, nachdem die dann da ihre Situation erklärt haben, warum die die so halten, konnte ich das auch verstehen, obwohl man im ersten Moment natürlich denkt, wieso können die nicht auf die Weide so? (TINA, Pos. 53)
Tinas Reflexionen sind geprägt durch eine emotionale Involviertheit. Sie antizipiert ein konflikthaftes Verhältnis zwischen Kritiker*innen und Befürworter*innen einer derartigen Tierhaltung. Dabei verteidigt sie die Landwirt*innen und solidarisiert sich, markiert deren Handeln als alternativlos und wirft der begegneten Umweltaktivistin vor, keine Empathie gegenüber der Situation der Landwirt*innen aufzubringen.
Es gibt halt finde ich so zwei Seiten. Eine Seite, die das eher so’n bisschen realistisch sehen und eine Seite, die dann so, ohne drüber nachzudenken, direkt so sagt: ‚Ja Tierschutz! Öh, die müssen raus und so, das ist ja gegen das Tierwohl und nicht artgerecht‘ und bla bla. Aber das sind dann finde ich meistens solche Leute, ohne, dass ich die jetzt kritisieren würde, es ist ja trotzdem deren Meinung, aber dass die halt, ohne deren Situation zu sehen, erstmal direkt rummeckern, dass es alles nicht artgerecht ist und so. Ich finde schon. Also es sind Nutztiere, es ist einfach so. Die können nicht jeder Kuh ‘nen Sofaplatz irgendwie ermöglichen… (…) – das geht halt nicht. So und es sind halt Nutztiere und trotzdem, finde ich, werden die schon gut behandelt. (…) Und das habe ich manchmal vermisst, wenn wir mit der [Pia (Umweltaktivistin)] diskutiert haben. Man muss sich auch in die Lage der Menschen versetzen, die mit den Folgen leben müssen. (TINA, Pos. 77)
Tina plausibilisiert ihre Argumentation durch Verweise auf die außerschulischen Erfahrungen, die in die eigenen Annahmen und Schlussfolgerungen eingehen. Es kommt zu einer Übereinstimmung und insofern Bestätigung der außerschulischen Eindrücke mit den eigenen Vorannahmen. Auf die Nachfrage, welche Akteur*innengruppe sie in ihren Anliegen eher unterstützen würde, manifestiert sich erneut die Antizipation der „anderen Seite“ durch Delegitimation. Die Aktivist*innen seien nicht existenziell bedroht und ihr Anliegen daher weniger legitim:
Ich glaube die Bauern, weil sie persönlicher kämpfen, denn am Ende – ob der Regenwald gerettet wird oder nicht – ist das für die NGO einfach so. Also, ich denke, sie können nachts noch schlafen. Aber ich denke, wenn man irgendwelche Finanzen oder etwas anderes auf dem Tisch hat und nicht mehr überleben kann... Ich denke, das ist für die Bauern viel extremer. (TINA, Pos. 134–135)
Ich denke, [Pia (Umweltaktivistin)] sieht eher das große Ganze, so allgemein. Und ich denke, sie konzentriert sich mehr auf große Projekte. Und die interessieren sich, ohne ihnen jetzt die Schuld geben zu wollen, das ist ganz normal, eher für ihren eigenen Hof. Und, dass der Hof überlebt. Und ich denke, sie sehen so viel mehr die Realität, was wirklich da ist, was einfach die Realität auf deutschen Höfen ist. Und in der Wirtschaft einfach. Und [Pia] sieht nur das große Ganze und diesen Perfektionismus und auch ein wenig eine Ideologie, denke ich. (TINA, Pos. 117)
Dem ‚Realen‘ wird das ‚große Ganze‘ gegenübergestellt. Die Umweltaktivistin sehe „nur das große Ganze und diesen Perfektionismus“ – ein Anliegen im Sinne des Gemeinwohls wird nicht erkannt bzw. anerkannt. Die Perspektivenkoordination ist bei Tina dadurch gekennzeichnet, dass die ihr zugeneigte Perspektive weiter plausibilisiert und insofern ausdifferenziert wird, als Einwände von Kritiker*innen antizipiert werden. Gegenüber der eher abgelehnten Perspektive kann die eigene affektive Abwehr weiter begründet und dahingehend ausdifferenziert werden. Zu- und Abneigung plausibilisiert sich durch die außerschulische Begegnung. Im Material zeigt sich, dass die Perspektivenübernahme – als Nachvollzug fremder Perspektiven und Standpunkte – bei Tina bei der zugeneigten Perspektive ausgeprägter ist. Kognitive Konflikte scheinen durch die kontroversen außerschulischen Begegnungen angeregt worden zu sein, diese werden emotionalisiert und in bestehende Deutungshorizonte eingehegt.
Franziska unterscheidet sich in der Wahrnehmungsstruktur deutlich von Tina. Auch wenn sie den besuchten Betrieb als moderates Beispiel einstuft, gewann sie die Einsicht, dass es „viele Tiere waren und dass es fast schon eng war“ (FRANZISKA, Pos. 99). Die Beurteilung der vorgefundenen Haltungsbedingungen wird in einen Zusammenhang mit dem Ernährungssystem und der Ernährungskultur gesetzt, die durch Überangebot, Überkonsums und einer egoistischen Lebensweise gekennzeichnet seien:
Also, für mich hat das so gezeigt, dass wir einfach so viele Tiere haben, also wenn das ein noch ziemlich kleiner konventioneller Hof war, dann fand ich's einfach erschreckend, wie viel Milch wir verbrauchen oder wie viel Milcherzeugnisse auch und wie viel wir anscheinend auch exportieren. Dass wir so viele Höfe haben, auf denen das so, oder noch viel extremer aussieht. Also es war da ja, es waren ja jetzt nicht irgendwie schlechte Bedingungen für die Tiere, auf gar keinen Fall, aber schon... es sind jetzt nicht diese glücklichen Biokühe, ((lacht)), die über die Wiese laufen. Und es hat mich einfach erschreckt, dass wir unsere Ernährung einfach nur auf uns selbst beziehen, also danach, worauf wir Lust haben und nicht danach, was wir besser machen könnten. Also zum Beispiel, dass wir uns mehr regional ernähren und mehr mit den saisonalen Sachen und nicht – also Milch ist jetzt ja nicht irgendwie nur in einer Saison, aber zum Beispiel, dass wir da auch ein bisschen runterschrauben und gucken, was es da für Alternativen gibt, vielleicht auch pflanzlich. Dadurch dass einfach die vielen Tiere auch echt viel Futter brauchen und das wird dann ja auch wieder pflanzlich angebaut und dadurch verlieren wir total viel Ackerfläche und wenn weniger Leute Milchprodukte brauchen würden oder so viele Milchprodukte, dann könnten wir definitiv effizienter unsere Landwirtschaft betreiben. (FRANZISKA, Pos. 105)
Auch im Falle von Franziska zeigt sich, dass die außerschulische Erfahrung argumentativ eingehegt wird. Die außerschulischen Eindrücke und regionalen Akteur*innen werden zu Referenzen in der eigenen Argumentation und werden in beiden Fällen zur Plausibilisierung herangezogen.
Am Beispiel der Beurteilung der Haltungsbedingungen zeigt sich, dass die außerschulischen Begegnungen je nach individuellem Deutungshorizont in ganz unterschiedliche Erklärungszusammenhänge gesetzt werden und entsprechend anderes wahrgenommen und anderes geschlussfolgert wird. Während sich die beschriebenen Fälle als besonders kontrastreich ergeben haben, zeigt sich diese Tendenz auch bei den anderen Befragten.
Die mögliche Umstellung auf ökologische Landwirtschaft. Alle Jugendlichen nahmen in ihren Reflexionen Bezug auf die Frage einer möglichen Umstellung des Betriebs auf ökologische Landwirtschaft. Diese Frage wurde im Interview nicht aktiv gestellt, sondern von den Jugendlichen als reflexive Frage selbst aufgeworfen. Die Landwirt*innen hatten auf Nachfrage der Schüler*innen erläutert, warum dies ihrer Ansicht nach nicht möglich sei. Die Jugendlichen berichteten häufig, dass ihnen die Anforderungen an eine Umstellung, die von Betrieben umzusetzen sind, nicht bekannt waren, sodass sie nun ein besseres Verständnis für die konventionelle Landwirtschaft hätten bzw. vor dem Hintergrund neuer Informationen auch zu einem anderen Schluss kämen. Jan erinnert sich an die Ausführungen der Landwirtin, was ihm plausibel erscheint und nicht hinterfragt wird. Für ihn stehen damit die Forderungen der Gesellschaft, „immer mehr Bio“ zu produzieren, in Konflikt mit der Aussage einer Erzeugerin, dass es sich für sie unter den für sie gegebenen Voraussetzungen unternehmerisch nicht rentieren würde:
Bei dem Betrieb fand ich das interessant, dass die Aussage (…) von den Leuten da kam, dass sich ein Biohof quasi nicht lohnt, aber dass ein Biohof jetzt immer mehr Ansehen hat so in der Gesellschaft. Dass man das so immer mehr wertschätzt, aber dass der Betrieb dann selber sagt, dass es sich einfach nicht lohnt das zu machen. Das fand ich sehr interessant, also dass man quasi immer mehr Bio will, aber es sich im Endeffekt gar nicht lohnt für die diese Menschen. Und man dasselbe wahrscheinlich nicht machen würde, wenn man in deren Situation wäre. (JAN, Pos. 23)
Lukas und Lena berichten ebenfalls, dass ihnen die Darlegung der Landwirt*innen im Gedächtnis geblieben ist, warum eine Umstellung auf ökologische Landwirtschaft für sie schwer zu realisieren sei. Der Konflikt zwischen Forderungen nach mehr ökologischer Landwirtschaft und der ökonomischen Machbarkeit der Erzeuger*innen wird schüler*innenseitig mit Verständnis und Relativierung, aber auch evaluativ begegnet. Anna sagt, sie versteht es, findet es aber nicht gut:
Ja, ich meine (…) eigentlich jeder argumentiert so. Ich mein, die, die Bio machen, sagen ‚Okay, die Umwelt müssen wir schützen‘ und die, die nicht Bio machen, sagen, ‚Ich hab‘ kein Geld dafür.‘ Es gibt eigentlich kaum andere Gründe dafür, dass jemand das macht oder nicht macht. (…) Ich, ich verstehe es so, dass sie es sagen, aber ich find’s nicht gut, persönlich. Also, ich würd’s anders handhaben. (ANNA, Pos. 63–65)
Ausgehend von dem erkenntnisleitenden Forschungsinteresse der Arbeit stellt sich an dieser Stelle darüber hinaus die Frage, inwieweit die außerschulische Begegnung zu einer unlauteren Beeinflussung der politischen Urteilsbildung geführt haben könnten. Wurden die Jugendlichen in diesem Aspekt überzeugt? Es zeigt sich an den hier exemplarisch ausgewählten Belegen, dass eine differenzierte Antwort erfolgen muss: Die Aussagen der Schüler*innen zeigen eine integrale Darstellung der Informationen, die in einer weiteren urteilenden Perspektive angenommen oder zurückgewiesen werden. Bei diesem Aspekt zeigt sich, dass ein „Sich-überzeugen-lassen“ stärker gegeben ist, wenn es eine Anschlussfähigkeit zwischen bestehenden Deutungshorizonten und den neuen Informationen gibt.
Marktlogiken als Herausforderung für eine nachhaltige Landwirtschaft. In den Reflexionen der Jugendlichen werden auch komplexere, in Ansätzen systembezogene und perspektivkoordinierende Zusammenhänge hergestellt, wie sie in den Fällen von Tina und Franziska bereits mit Blick auf die Bewertung konventioneller Haltungsbedingungen dargestellt wurden. Trotz der Tatsache, dass ihre Haltungen sehr konträr sind, sehen sie die ökonomischen Pfadabhängigkeiten und markieren die Erzeuger*innen als den marktwirtschaftlichen Mechanismen ausgesetzte Akteur*innen. Tina betont die Grenzen der Machbar- und Gestaltbarkeit der Erzeuger*innen; Franziska hebt die Probleme einer extensiven Landwirtschaft und die Gestaltbarkeit durch die Verbraucher*innen hervor.
Der Einsicht, dass ein Trend zu größeren Betriebseinheiten besteht, hat sich bei vielen Schüler*innen gefestigt. Dass der besuchte Milchviehbetrieb hinsichtlich der Herdengröße ein moderates Beispiel war, war sowohl den Befürwortenden als auch den Kritisierenden bewusst. Der Hinweis der Landwirt*innen auf größere (Nachbar-)Betriebe sowie die von den Schüler*innen gestellte Frage nach einer Betriebsvergrößerung, werden von den Jugendlichen in den Erinnerungen selbst aufgeworfen und in einem systemischen Zusammenhang interpretiert. Jan zieht für sich die Schlussfolgerung, dass das Projekt der Nachhaltigkeit im Konflikt zu den wirtschaftlichen Interessen steht.
Ja, das sind ja auch wieder diese Gegensätze, (…) die beide nicht wirklich vorteilhaft sind für jeden, weil, von so einem kleinen Hof, der kann weniger produzieren und das ist für die, die den besitzen halt weniger vorteilhaft. Und so ‘ne Massenproduktion ist halt schädlich für Umwelt, wird von vielen Leuten nicht unterstützt… ja verdient halt mehr Geld und kann billiger produzieren, deswegen lohnt sich das halt heutzutage wahrscheinlich mehr. Und deswegen passiert das auch so. (…) Ich würde jetzt einfach sagen, dass dieser Nachhaltigkeitsaspekt einfach vernachlässigt wird. Weil er eben so viele Nachteile mit sich bringt, für das Unternehmen und das eigentliche Ziel von einem Unternehmen ist ja Profit machen, also Geld. Und das ist halt, da steht diese Nachhaltigkeit dann schon im Weg, so wie es im Moment ist. (JAN, Pos. 69–71)
Lukas nimmt durch den Besuch bei den Landwirt*innen mit, dass sich bereits am Einzelfall die Tendenz zeigt, dass kleinere Betriebe durch einen Trend hin zu größeren Betrieben unter Konkurrenzdruck stehen und Schwierigkeiten haben, dem Wettbewerb standzuhalten. Er verknüpft das außerschulisch Erfahrene mit marktwirtschaftlichen Prozessen vor dem Hintergrund eines allgemeinen Strukturwandelprozesses. Auf die Frage, ob er das außerschulische Erfahrene auf etwas übertragen kann, antwortet er:
Ich glaube (…) das Verhältnis von kleineren und zu den großen Konzernen so. Ich meine irgendwie Nachbarhöfe von denen sind jetzt auch zu irgendwelchen größeren Konzernen oder wurden aufgekauft oder so. Und das ist für die hart, sich zu halten und dass sozusagen diese großen Konzerne immer größer werden und dass die Kleineren immer weniger werden und dass für die immer schwerer wird, sich zu halten. (LUKAS, Pos. 46)
In Tinas Perspektive kann dieser Entwicklung durch regionalen Konsum etwas entgegengesetzt werden. Ihrer Ansicht nach seien kleinere Betriebe unterstützenswert:
Ich find’ auch, dass man mehr auf so regionale Produkte achten sollte, damit solche kleinen Höfe besser überleben können. Weil es gibt, glaube ich, viele von so eher kleineren mit ein paar Hundert Kühen. Und damit die wirklich überleben können, finde ich schon, dass man wirklich mehr auf regionale Sachen achten sollte, weil sowas fände ich, glaube ich, sehr schade, wenn solche kleinen Höfe irgendwie kaputt gehen. (…) Also, ich glaub’, was man am meisten übertragen kann, ist diese Regionalität, dass man jetzt eben nicht von riesigen Ketten irgendwas kauft oder so, sondern dass man, wenn es so eine Milchtankstelle in der Nähe gibt oder so, dass es halt ‘ne super Möglichkeit ist, solche kleinen Bauern zu unterstützen, dass man auch in irgendwelchen Läden darauf achtet, dass man eher regional kauft. (TINA, Pos. 69–75)
Die Vorstellung, dass Regionalisierung eine Lösung und sogar eine Form des Widerstandes darstellt, um den Erhalt dieser kleineren Betriebe zu gewährleisten, dokumentiert sich in verschiedenen Passagen des empirischen Materials. In kritischer Perspektive auf die „riesigen Ketten“ wird versucht, eine strukturelle Perspektive einzunehmen. Aus dem Willen, die Landwirt*innen unterstützen zu wollen, erwächst eine direkte, nahräumliche und konsumbezogene Handlungsperspektive.
Im Rahmen der Hauptkategorie „Außerschulische Begegnung mit den Landwirt*innen“ zeigt sich, dass das außerschulisch Erfahrene in Hinblick auf die Unterrichtsthemen rekonstruiert werden kann. Es kann daher angenommen werden, dass eine Verknüpfung, über die reine Verschlagwortung hinausgehend (siehe K1.1), gelingt. Die Schlussfolgerungen betreffen die besondere Lage und Anforderungssituation der Erzeuger*innen, die Anpassung der eigenen Vorstellungen über konventionelle Landwirtschaft, Bewertungen der konventionellen Haltungsbedingungen, die mögliche Umstellung auf ökologische Landwirtschaft sowie Einsichten über die Marktlogiken als Herausforderung für eine nachhaltige Landwirtschaft. Subjektive Sinn- und Urteilsbildungsprozesse konnten im Rahmen dieser Schlussfolgerungen aufgezeigt werden. Die Perspektivität der außerschulischen Begegnung mit den Landwirt*innen wird erfasst, Betroffenheiten werden nachvollzogen und in Beziehung zu einem Wandlungsprozess einer nachhaltigen Landwirtschaft gesetzt. Die Erinnerungen in Form von Berichten der Schüler*innen (Abschn. 8.1.3; Reporting und Responding, Abb. 8.2) und Reflexionen in Form von Kommentierungen, Bewertungen sowie Abstraktionen (Relating und Reasoning) sind allesamt und bereits umfänglich in Prozessen der Urteilsbildung verwoben. Es zeigen sich darüber hinaus stets Reflexionen über persönliche Erkenntnisse (Meaning-making), die im Zuge der außerschulischen Begegnung mit den Landwirt*innen gewonnen wurde.

8.2.2.2 Die außerschulische Begegnung mit den Umweltaktivist*innen

Mit dieser Hauptkategorie wird nun das forschungsleitende Erkenntnisinteresse auf die Begegnung mit den Umweltaktivist*innen gerichtet. Wie wird diese außerschulische Begegnung schüler*innenseitig erinnert bzw. rekonstruiert und welche Schlussfolgerungen ziehen die Jugendlichen daraus (Forschungsfrage 3a und 3b; Teil 2)? Die Äußerungen auf der Ebene der Subkategorien 1 wurden in Aspekte der thematischen Rekonstruktion (K5.1) und Schlussfolgerungen (K5.2), die die Jugendlichen daraus ziehen, unterschieden und eine weitere empirische Ausdifferenzierung erfolgt in thematischer Hinsicht (Subkategorien 2), wie sie der Tabelle 8.8 zu entnehmen ist.
Tabelle 8.8
Hauptkategorie 5: Außerschulische Begegnung: Umweltaktivist*innen
Hauptkategorie
Subkategorien 1
Subkategorien 2
K5:
Außerschulische Begegnung: Umweltaktivist*innen
K5.1 Thematische Rekonstruktion
Konkrete Aktion und Kampagne
Personen und Innenperspektiven
Positionen der NGO
K5.2 Schlussfolgerungen
Zugänglichkeit zu politischer Aktion
Anerkennung und Würdigung des zivilgesellschaftlichen Engagements
Reflexionen über Aktivismus und Aktivierung
Kritik an Aktionen und Zukunftsentwürfen
Projektionsfläche für bestehende Vorbehalte
Kollektivierung als Chance
Beurteilung der konkreten Kampagne
Reflexionen über die Ambivalenzen des Ernährungssystems
K5.1 Thematische Rekonstruktion
Konkrete Aktion und Kampagne. In den Schilderungen über die außerschulische Begegnung mit den Umweltaktivist*innen ist die Kampagne besonders präsent, die exemplarisch vorgestellt wurde. Die Schüler*innen berichten in den Interviews detailreich davon, was genau im Rahmen der Aktion getan wurde (Schilder aufstellen, Produkte bekleben, Info-Stand etc.). Anna fasst es so zusammen: „Es war neu die Methoden kennenzulernen. Also dass man sich wirklich davorstellt und sagt ‚Stopp‘ ((lacht)), so kann das nicht weitergehen‘“ (ANNA, Pos. 164). Dass diese „Methode“ bzw. Vorgehensweise zum Erfolg geführt hat, hat viele der Befragten besonders beeindruckt.
Was ich am besten halt fand, war diese Kampagne, das mit [dieser Supermarktkette] halt und so, das – weil ich das gar nicht mitbekommen hab´, (…) – und das find ich ganz gut, dass, also das mal zu hören und (…) dass die das mal erzählen, also dass die dabei waren und von deren Sicht aus das mal zu hören, weil sonst hat man halt nicht so oft die Gelegenheit mit so Leuten von [dieser NGO] zu reden und das fand´ ich halt mal ganz gut, wie die zu dieser ganzen Sache stehen (…). (KAREN, Pos. 93–95)
Es dokumentiert sich im Material, dass die meisten der befragten Jugendlichen auch direkt Position zur Kampagne beziehen oder sich zumindest wertend darüber äußern, ob sie den Protest befürworten oder kritisieren. Diese Frage stellte eine Konfliktlinie dar, die intensiv im Rahmen der Nachbereitung der Begegnung diskutiert wurde: „Da kann man sich irgendwie noch 1a dran erinnern“ (OLIVIA, Pos. 99). Einige Jugendliche können die Skepsis ihrer Mitschüler*innen nicht nachvollziehen, vor allem Olivia, Anna, Lena und, hier exemplarisch ausgewählt, Karen:
Ja, ich weiß noch, wir hatten nämlich noch in der Pause weiterdiskutiert über das Thema, weil [eine Mitschülerin] und ich – wir waren halt voll dafür, sage ich mal, wir fanden das total gut und ich weiß noch die anderen waren, glaube ich, dagegen und dann gab’s halt in der Pause auch echt Diskussion darüber, weil wir nicht verstanden haben, was man daran halt negativ… – und natürlich ist das halt, was ich halt als negativen Punkt sehen würde, ist halt, dass die direkt gegen [die Supermarktkette] so geschossen haben, sage ich mal, aber irgendwer muss ja den Anfang machen und ich glaube, die meinten ja, dass die dann danach halt, glaube ich, mit ein paar Unternehmen halt auch Gespräche hatten, ich glaub´ mit [einer anderen Supermarktkette] oder so. Und dass es halt ja was gebracht hat und ich meine, die haben ja auch nicht mega ‘nen Schaden davongetragen und deshalb habe ich nicht verstanden, warum manchen so dagegen waren. (KAREN, Pos. 100)
Karen bringt ihr Unverständnis gegenüber den Auffassungen einiger ihrer Mitschüler*innen zum Ausdruck. Die konkrete Aktion und Kampagne werden im Rahmen der thematischen Rekonstruktionen nicht ausschließlich beschrieben, sondern bereits stark bewertet. So schließen sich bei einigen Schüler*innen auch direkt rechtliche Fragen an (Olav; Jendrik; Jan), „ob dies überhaupt legal“ (OLAV, Pos. 176) sei. Jan stört sich daran, dass auf diese Weise ein Handeln des Unternehmens erzwungen wurde und deutet an, dass Aufklärungsarbeit eine alternative Vorgehensweise dargestellt hätte:
Fand ich auch irgendwie komisch, dass man so ‘nem Unternehmen so große Probleme macht. Nur damit sie das ändern. Ich glaub’, es ist nicht der richtige Weg, also, dass man sie quasi dazu zwingt das zu ändern, anstatt tatsächlich zu zeigen: „Hey, es ist nicht gut, das sollte man vielleicht besser Machen“. (JAN, Pos. 79)
Im empirischen Material zeigt sich, dass die Begegnung mit den Umweltaktivist*innen ebenfalls sehr detailreich erinnert und zudem stark mit der kontroversen Diskussion unter den Mitschüler*innen verknüpft wird, die während des außerschulischen Treffens begann und in der nachbereitenden Schulstunde aufgriffen wurde.
Personen und Innenperspektiven. Wie bereits in den Schilderungen zum Betriebsbesuch entfallen viele Schilderungen auf die Repräsentant*innen – die konkreten Personen:
[Pia (Umweltaktivistin)] überzeugt mich einfach mehr, wenn sie was erzählt, wenn sie sagt: ‚Wir (...) waren dort und wir haben da zusammengearbeitet und wir haben dafür gesorgt, dass die Bedingungen besser werden.‘ Und deswegen, das überzeugt mich einfach mehr und das steht – also es strahlte einfach ((lacht)) was Positiveres aus, so. (ANNA, Pos. 200)
Einige äußern sich sympathisierend, andere eher ablehnend gegenüber den Aktivist*innen. Für Tina etwa ist eine der Vertreter*innen insofern eine „typische Umweltaktivistin“, als dass sie „nicht (…) über andere Standpunkte nachdenkt“ (Pos. 107). Hier zeigt sich ebenfalls, wie auch schon bei den Landwirt*innen, dass die regionalen Akteur*innen zudem als Projektionsfiguren dienen. Die regionalen Akteur*innen stehen für etwas Bestimmtes, was sich auch in den Schüler*innenaussagen dokumentiert. Dennoch wird Respekt und Anerkennung gegenüber dem zivilgesellschaftlichen Engagement ausgedrückt:
Also, ich habe so oder so ein gutes Bild von [dieser Umweltschutzorganisation], die leisten extrem gute Arbeit und das alles freiwillig und ohne, dass die dafür Geld bekommen (…). Da habe ich auf jeden Fall ein gutes Bild von und auch Respekt vor und [Pia (Umweltaktivistin)] als Person, das war halt für mich so ‘ne typische Umweltaktivistin, die dann wirklich, die einfach nicht, glaub’ ich, über andere Standpunkte nachdenkt. (TINA, Pos. 107)
Anerkennung wird vor allem mit Blick auf die konkrete Kampagne ausgedrückt, aber auch hinsichtlich ihrer Tätigkeit, die dem Gemeinwohl dient. Es wird sich beeindruckt zur Durchsetzungskraft geäußert, dass sie „es einfach durchziehen, bis sie was erreicht haben. Das finde ich extrem gut und auch bemerkenswert, da sollte man sich echt in manchen Punkten ‘nen Beispiel drannehmen, dass man (...) sich auch mal einsetzt“ (TINA, Pos. 79).
An den konkreten Personen bestätigen oder widerlegen sich Annahmen – ein Urteilen, Deuten und Auslegen zwischen Induktion und Deduktion bzw. Subsumtion. Anna beschreibt in ihrer Rekonstruktion der Begegnung den Einfluss, den die Person mit ihrer Art der Kommunikation und Beziehungsgestaltung auf den eigenen Meinungsbildungsprozess hatte. Da die Person offen und sachlich orientiert auftritt, wurde es Anna ermöglicht, sich anzuschließen oder auch nicht. Sie beschreibt, dass sie sich im Falle einer zu belehrende Ansprache prinzipiell in die Opposition begeben hätte:
Wenn man [den Namen dieser NGO] hört, die haben halt so’n – ich sag’ jetzt – ich will nicht sagen ‚Ruf‘, aber dass man mit denen viel das Extreme in Verbindung bringt mit solchen Gruppen. Und das Gefühl hatte ich bei ihr einfach nicht. Es war so, sie hat sich vorgestellt, sie hat uns, was ich super fand, halt einfach nicht ihre Meinung quasi dazu so aufgedrängt, sondern sie hat es uns ganz normal, sachlich erklärt und das ist halt irgendwie auch wichtig, finde ich. Weil man kann sich halt sonst nicht wirklich ‘ne eigene Meinung bilden. So wenn man schon merkt, okay, diese Person möchte, dass du das denkst und dass du das denkst, dann bin ich dazu geneigt sonst auch dagegen zu sein, weil ich einfach nicht dafür sein möchte so. Weil ich nicht die Chance habe, mir ein eigenes Bild zu machen. Deswegen – das fand ich super. (ANNA, Pos. 123)
Auch diejenigen, die eher skeptisch gegenüber den Umweltaktivist*innen eingestellt waren, beschreiben die Begegnung als anregend, obwohl sie nicht mit den Positionen der Aktivist*innen vollends übereinstimmen.
Positionen der NGO. Eine weitere Kategorie umfasst Äußerungen der Befragten, die sich auf Positionen der Nichtregierungsorganisation (NGO) beziehen, der die Aktivist*innen angehören. Einige merken an, dass sie dachten, das Engagement der NGO beschäftige sich eher mit der Rettung von Tieren – „zum Beispiel dieses (…) ‚Rettet die Wale‘, das (hat) bestimmt jeder schon mal (…) gehört“ (PETER, Pos. 158). Die regionalen und überregionalen Themen, wie die Positionen zur Agrarwende, waren zuvor nicht bekannt:
Ich hatte von [der NGO] schon eher Vorstellungen, dass die eher so Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum da schützen und gar nicht so auf so Betriebe jetzt eingehen, aber hat man dann ja doch auch so kennengelernt. (JENDRIK, Pos. 134)
Wie sich auch schon bei den Subkategorien „Konkrete Aktion und Kampagne“ und „Personen und Innenperspektiven“ gezeigt hat, werden die Positionen nicht nur wiedergegeben, sondern direkt in Bezug zur persönlichen Position zustimmend oder widersprechend dargelegt. Auf diesen Aspekt wird im folgenden Abschnitt verstärkt eingegangen.
K5.2 Schlussfolgerungen aus der außerschulischen Begegnung mit den Umweltaktivist*innen
Unter der Subkategorie „Schlussfolgerungen“ wurden die persönlichen Erkenntnisse, die von den Befragten im Rahmen der Auseinandersetzung gezogen wurden, codiert. Die Schlussfolgerungen wurden in der weiteren empirischen Ausdifferenzierung thematisch aufgegliedert und somit methodisch abgebildet.
Die Zugänglichkeit zu politischer Aktion. In den Reflexionen der Jugendlichen spielt der persönliche Kontakt und der Dialog über die politischen Anliegen der NGO eine wichtige Rolle. Einige Schüler*innen nahmen die außerschulische Begegnung mit den Umweltaktivist*innen als eine besondere „Gelegenheit“ (KAREN, Pos. 93) wahr, in eine Gesprächssituation zu treten, die ihrer Ansicht nach sonst und auch zukünftig nicht ohne Weiteres zugänglich sei.
Ohne dieses Projekt würde ich wahrscheinlich niemals mit Leuten von [dieser NGO] reden oder irgendwie so im intensiven Gespräch stehen. Das hat auf jeden Fall gezeigt, wie die Meinungen da wirklich sind. Also, wie stark die dafür kämpfen. Also wirklich kämpfen. (LENA, Pos. 215)
Die Möglichkeit zum Austausch wird als Besonderheit empfunden. Die NGO ist die Schüler*innen zwar bekannt, allerdings nur sehr oberflächlich. Im persönlichen Kontakt wurde Interesse geweckt. Olivia fand diesen Teil der Lerneinheit am besten:
Ich fand das mit [der NGO] super cool, muss ich sagen, das fand ich von der ganzen Unterrichtseinheit, glaube ich, am besten. (…) Die haben ihre Meinung so gesagt und ihr Konzept und ich finde von [dieser NGO] hört man nicht so extrem viel als Jugendlicher und da war das mal so wirklich so ein Einblick von denen, wie das da überhaupt läuft und wie ihre Vorstellungen dazu sind. (OLIVIA, Pos. 89–91)
Die empfundene Exklusivität scheint möglicherweise auch aus einer empfundenen Distanz gegenüber politischer Praxis zu erwachsen. Es weist darauf hin, dass schüler*innenseitig Barrieren zum politischen Feld der Zivilgesellschaft empfunden werden. Dies äußern auch die Jugendlichen, die sich an den „Fridays for Future“-Protesten beteiligen (bspw. Lena). Distanz wird aber nicht nur aus einem Mangel an Gelegenheiten empfunden, sondern in einigen Fällen liegt sie auch in einer Reserviertheit gegenüber der NGO und deren Positionen begründet. Im Fall von Anna konnte die Voreingenommenheit durch den persönlichen Kontakt abgebaut werden:
Wenn man [den Namen dieser NGO] hört… – die haben halt (…), ich will nicht sagen „Ruf“, aber dass man mit denen viel das Extreme in Verbindung bringt, mit solchen Gruppen. Und das Gefühl hatte ich bei ihr einfach nicht. (ANNA, Pos. 123)
Olivia verallgemeinert diese reservierte Haltung für ihre Altersgruppe:
Und allgemein find´ ich [diese NGO ist] halt echt ‘ne ganz gute Sache, aber was ich halt schade finde ist, dass die sich halt nicht wirklich – die setzen sich zwar durch in einigen Kampagnen, wie ja bei [dieser Supermarktkette] jetzt, aber halt allgemein haben sie nicht so ein wirkliches Ansehen, finde ich, bei den Jugendlichen. (OLIVIA, Pos. 134)
Es kann geschlussfolgert werden, dass die außerschulische Begegnung mit den Umweltaktivist*innen den Jugendlichen eine Gelegenheit der Begegnung bot, die eine Zugänglichkeit zu politischer Aktion und zivilgesellschaftlichem Engagement aufweist und in einigen Fällen Vorurteile und Hemmnisse abbauen bzw. Vorstellungen ausdifferenzieren kann. Wie bereits im Kontext der Analyse zum Anregungspotenzial der außerschulischen Begegnungen (siehe Abschn. 8.2.1.3) ausgeführt, zeigt sich in den Reflexionen das Erleben von Resonanzbeziehungen. Anna führt im Kontext der außerschulischen Begegnung mit den Umweltaktivist*innen aus:
Es ist wirklich jemand, der kommt aus der Nähe, man merkt so, ich bin in der Nähe dieser Person, es ist bei mir und ich muss jetzt auch selbst darüber nachdenken. (ANNA, Pos. 182)
Das empirische Material dokumentiert zweierlei in Hinsicht auf den Aspekt der Zugänglichkeit zu politischer Aktion aus Lernendenperspektive: Einerseits zeigt sich, dass ein persönliches Gespräch für einige einen gewissen Attraktionsgrad hat (man würde sonst „niemals mit Leuten von [dieser NGO] reden“), dies verweist nicht nur auf den ungewöhnlichen Akt, das Schulgebäude zu verlassen, sondern andererseits auch auf die empfundene Distanz zum politischen Feld der Zivilgesellschaft, die mit der Begegnung zeitweilig aufgehoben wurde.
Anerkennung und Würdigung des zivilgesellschaftlichen Engagements. Das zivilgesellschaftliche Engagement der getroffenen Umweltaktivist*innen ruft bei den meisten der befragten Jugendlichen Anerkennung und Respekt hervor. Neben der Tatsache, dass sie mit dem Ehrenamt „ihre Freizeit (…) opfern“, beeindruckt das gemeinwohlorientierte Tun.
Ich find’, man sollte auch ‘n bisschen Respekt davor haben, dass die sich halt damit befassen und dass die halt auch ihre Freizeit dafür opfern, sage ich mal, um sowas zu machen. Und letztendlich ist es ja auch für die Allgemeinheit. Also die denken ja nicht nur an sich und sagen: „Ja, ich bin jetzt Vegetarier oder so und ich möchte nur, dass es kein Fleisch gibt, weil die Tiere leiden“, es geht hier auch um den Klimawandel und der Klimawandel betrifft ja alle. (KAREN, Pos. 120)
Karen antizipiert an dieser Stelle einen Einwand und argumentiert, dass es nicht nur um die Frage nach Tierleid ginge, sondern damit auch um die Bedrohung durch den Klimawandel, der alle beträfe. Diese Würdigung findet sich auch im empirischen Material anderer Interviews. Die Jugendlichen drücken ihren Respekt für das Engagement der Akteur*innen aus, auch wenn sich nicht alle explizit auf das Konzept von Gemeinwohl beziehen.
Reflexionen über Aktivismus und Aktivierung. Wie bereits in der Subkategorie „Bezüge zu schulischer Nachhaltigkeitsbildung“ (Abschn. 8.2.1.3) erwähnt, wird von einigen Jugendlichen das Thema Nachhaltigkeit als Problematisierungsdiskurs ohne Handlungsfolgen empfunden. Hierzu konnte die außerschulische Begegnung mit den Umweltaktivist*innen einen Gegenentwurf darstellen. In den Schlussfolgerungen der Jugendlichen zeigt sich, dass Auseinandersetzungen über zivilgesellschaftlichen Aktivismus angestoßen wurden. Lena sieht sich in ihrer Auffassung, dass man vom „Sitzen und reden“ endlich ins Handeln kommen müsse, bestätigt und bestärkt. Für sie liefert die Kampagne der NGO ein Beispiel, bei dem die Umsetzung und Problemlösung im Vordergrund steht – die Aktion gewinne dadurch ihre Legitimität:
Ich finde es stark, dass man sich da so für einsetzt. Also, ich bin auch der Meinung, dass man wirklich etwas tun sollte. Also man kann jetzt nicht nur sitzen und reden, das machen ja alle. Sitzen und reden und sagen: ‚Okay, so ist es und das sollte man tun.‘ Aber es geht ja darum, was man dann wirklich macht. Man kann ja reden, aber das bringt einfach ja nichts. Es ist, also, man kann zwar andere Leute von etwas überzeugen, aber, ob was in Bewegung gesetzt wird, ist halt eine andere Frage. Und das ist halt ein Weg, das wirklich Leuten einzuhämmern. Das ist zwar krass, also echt krass, finde ich, aber auch ein Weg. (LENA, Pos. 221)
Lenas formuliert in ihrer gesellschaftlichen Betrachtungsweise eine Differenzordnung zwischen „Überzeugen“, „Aktivieren“ und „Handeln“, die sich aus den unterschiedlichen Wirkgraden ergibt. Dies korrespondiert mit Olivias Sicht auf das entsprechende „Sitzen und Reden“ in der Institution Schule. Die Ermüdung und der Überdruss gegenüber der Nachhaltigkeitsthematik im nur problematisierenden Unterricht, wie es von einigen Schüler*innen beschrieben wird, wird einem Unterricht gegenübergestellt, in dem das Wie bzw. die Methodik des gesellschaftlichen Transformationsprozesses und konkrete Beispiele als Handlungsmodelle in den Fokus rücken.
Ich finde, man kommt halt echt nur an die Gesellschaft, wenn man das ein bisschen radikaler macht. Und nicht nur so flüchtig hier so. Wenn ich das in jeder Unterrichtsstunde mit reinbringe, nimmt doch auch niemand im Endeffekt irgendwas mit. Wenn ich jetzt wirklich mal an so einem konkreten Beispiel hier zeige, hier so Zack, wie bei [dieser Supermarktkette], das fand´ ich halt ganz cool so. Weil dann hatte man wirklich so einen Einblick und hat das auch wirklich absolut verstanden und… – ich weiß nicht, da wurde einem dann auch klar, ok, so kann ich vorgehen, um irgendwas zu ändern. Und sie haben es ja geschafft, also ist es ja irgendwo was Gutes. (OLIVIA, Pos. 201)
Die Begegnung mit den Vertreter*innen der NGO hat für einige Schüler*innen das Potenzial einer Mobilisierung und Aktivierung. Im Fall von Lena und Olivia, aus deren Worten ein gewisser Frust über die gesellschaftliche Untätigkeit hinsichtlich des Klimaschutzes spricht, ist eine Mobilisierung hinsichtlich konkreter Vorgehensweisen zu vernehmen („da wurde einem dann auch klar, ok, so kann ich vorgehen“, s. o.). Im Falle von Tina, die sich eher mit der Perspektive der Landwirt*innen identifiziert und sich kritisch über Umweltaktivismus äußert, ist dennoch eine mit Blick auf das eigene Handeln impulsgebende Aktivierung festzustellen.
Deswegen finde ich es gut, wenn solche Leute auch in der Stadt zum Beispiel informieren und auch diese Sachen zum Beispiel bei [der Supermarktkette] einfach durchziehen, bis sie was erreicht haben. Das finde ich extrem gut und auch bemerkenswert, da sollte man sich echt in manchen Punkten ein Beispiel drannehmen, dass man (…) sich auch mal einsetzt. (…) Ich find das hat so’n bisschen so diese (…) Ausrede von einem weggenommen. So, doch, du kannst auch was machen. Du kannst dich auch irgendwie mit vor [Filialen der Supermarktkette] stellen und dafür sorgen, das kann jeder machen (…). (TINA, Pos. 79–83)
Aus den Reflexionen vieler befragter Schüler*innen spricht die Achtung und Anerkennung für das gemeinnützige Engagement, die offenbar einen Reflexionsanlass darstellt, um über politisches Handeln, Aktivismus und das eigene Handlungspotenzial nachzudenken. Einige andere äußern sich aber auch kritisch; darauf geht der folgende Abschnitt ein.
Kritik an Aktionen und Zukunftsentwürfen. Neben den positiven Zuschreibungen äußern sich einige Schüler*innen auch kritisch, insbesondere Jan und Jendrik. Zwar wird betont, dass sie der Umweltschutzorganisation gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt seien und das Engagement wertschätzen, jedoch werden die Aktionen kritisiert. Dies geht auch mit einem wenig differenzierten Bild von „Aktivismus“, der Organisationsstruktur gemeinnütziger Organisationen und engagierten Personen einher, etwa wenn Kritik und möglicherweise Verunglimpfung in sozialen Netzwerken und Positionen einer etablierten NGO pauschalisierend zusammengefasst werden, wie der folgende Ausschnitt zeigt. Für Jan stellen Kritiker*innen der konventionellen Landwirtschaft eine homogene Gruppe dar:
Ich hatte eigentlich schon vorher so eine Meinung zu denen. Also ich find’ halt das, wofür sie stehen, ganz gut, aber die Maßnahmen sind dann fragwürdig. Das hatten die ja auch... wie hießen die nochmal, der Betrieb? (…) [Schmitts (Landwirt*innen)] haben das ja auch gesagt, dass die so von Veganern angegriffen wurden online. Und das finde ich dann auch so wieder in dem Motiv, dass man nur, weil man diese eine Meinung hat, jetzt mit irgendwelchen illegalen oder gewaltsamen Mitteln jetzt andere dazu zwingt, die auch anzunehmen, anstatt tatsächlich zu zeigen, ja das ist gut, was wir vertreten. (JAN, Pos. 89–91)
Jan stört sich an der Art und Weise des Aktivismus und verknüpft dies mit Berichten der Landwirt*innen über „vegane“ Aktivist*innen, wodurch er seine Sichtweise weiter zu plausibilisieren versucht. Der problematische Aspekt besteht für ihn darin, dass eine Meinung angeblich aufgezwungen wird, anstatt dass Menschen für sachliche Argumente gewonnen werden würden. Jendriks Kritik bezieht sich hingegen stärker auf die politischen Forderungen. Er ist nicht überzeugt von den Umsetzungsideen der NGO und beruft sich auf eine Aussage einer Aktivistin, man solle die Tierhaltung und Produktion auf die Hälfte reduzieren. Er kritisiert ein vereinfachtes Denken und sieht diese Lösung in einem Konflikt mit dem Ziel der Ernährungssicherheit:
Und negativ habe ich halt diesen einen Punkt vor allen Dingen aufgefasst, das ging mir da einfach zu leicht dieses Denken, dass sie gesagt hat, dass theoretisch ja alle Betriebe nur die Hälfte produzieren und dann wäre ja alles viel besser für die Tiere und dann wäre alle Probleme gelöst. (…) So einfach denke ich das dann ja nicht, weil irgendwie müssen ja auch 81 Millionen Menschen in Deutschland ernährt werden und wenn das so zurückgeschraubt werden würde, dann müssten wir wiederum Nahrungsmittel aus anderen Ländern kaufen und das wäre dann ja auch wieder schlecht für die Umwelt und da sind die Bedingungen ja nicht unbedingt besser. Ich würde sogar echt sagen, dass wir in Deutschland ja schon ziemlich viele Normen dazu haben. (JENDRIK, Pos. 138)
Projektionsfläche für bestehende Vorbehalte. Bei einigen Schüler*innen überwiegt die Skepsis gegenüber der NGO, die sich nach eigenen Angaben durch die außerschulische Begegnung mit den Repräsentant*innen bestätigt habe. Tina kritisiert das mangelnde Verständnis für die Handlungszwänge der Landwirt*innen, dabei beruft sie sich nicht auf das konkrete Gespräch, sondern antizipiert bzw. spekuliert über die vermeintliche Haltung der Aktivist*innen.
Ich finde es sehr gut, dass sie sich daran hält, aber ich glaube, dass sie in manchen Punkten eben so ist, dass sie sagt, „Wieso, mach doch einfach. Mach die Massentierhaltung weg, mach Weidenhaltung! – fertig. So, dann ist doch alles schöner.“ Ja natürlich wär’s schöner, aber es ist leider nicht möglich. Ich glaub‘, jeder fände das schöner so. Aber wenn’s nicht möglich ist, dann muss man eben auch wie [Schmitts (Landwirt*innen)] zum Beispiel, das nachvollziehen können, warum die eben so ihren Hof führen. Und das (…) hat mir manchmal bei [Pia (Umweltaktivistin)] so’n bisschen gefehlt, dass sie (…) dieses Verständnis für die einzelnen Personen nicht so aufweisen konnte, sondern eher so ihre Meinung vertreten hat, was natürlich auch einerseits sehr stark ist, aber andererseits auch nicht richtig ist, finde ich, wenn man so eine starke Meinung vertritt. Dann muss man sich eben auch in die Menschen, die mit den Konsequenzen am meisten leben, (…) hineinversetzen. (TINA, Pos. 121)
Die Aktivistin wird an dieser Stelle zur Projektionsfläche für die eigenen Vorstellungen. Für Tina hat sich die Einsicht bestätigt, dass sich Umweltschutzorganisationen nicht in die Menschen „hineinversetzen“, „die mit den Konsequenzen (…) leben“ müssen. Tina wägt in ihren Reflexionen vordergründig ab und gibt an, nicht verallgemeinern zu wollen, ihre Schlussfolgerungen sind aber von deutlichen Vorbehalte getragen:
Es gibt einfach Menschen, ohne dass ich ihr da jetzt was unterstellen will oder so, die einfach so… davon ausgehen, „ja, mach’s doch einfach, mach doch einfach Weidenhaltung, mach doch einfach.“ (…) Das möchte ich jetzt natürlich nicht bei [der ganzen NGO] unterstellen oder so ((lacht)), aber vielleicht gibt es auch einzelne, die einfach so denken und da nicht drüber nachdenken, wie ist denn das eigentlich? Können die das einfach so machen? Haben die das Land dazu? Haben die die Möglichkeiten dazu? Dass die über sowas dann halt nicht nachdenken. (TINA, Pos. 77)
Hinter einem anfangs zögerlich formulierten Vorurteil kann im weiteren Verlauf des Interviews ein grundsätzlicher Vorbehalt vermutet werden, der die getroffene Person gänzlich zur Referenz in der eigenen Argumentation macht, denn: Einerseits stellt sie die Erwägung an, ob die Aktivistin nur ein Einzelfall sei, andererseits subsumiert sie: „Das war halt für mich so ‘ne typische Umweltaktivistin“ (TINA, Pos. 107).
Die Bedeutsamkeit einer affektiven und emotionalen Dimension im Prozess der Decodierung des außerschulisch Erfahrenen und der damit verbundenen Urteilsbildung zeigt sich an vielen Stellen im Material. Sowohl die Befürworter*innen als auch die Kritiker*innen der NGO argumentieren vor dem Hintergrund von Emotionen. Das folgende Beispiel dokumentiert, dass die Beurteilung der NGO und ihrer Anliegen in einem Zusammenhang zum eigenen Selbstbild steht. Für einige Befragte ist keine Übereinstimmung zwischen Selbstbild und dem, wofür die NGO steht, herzustellen. Olav, dessen Argumentationen als wirtschaftsliberal und problembewusst charakterisiert werden können, hadert mit sich und betont, die Perspektive der Aktivist*innen zu verstehen, sich aber „einfach nicht komplett [da]mit identifizieren“ zu können:
Ich verstehe das auf jeden Fall. (…) Ich würde das auch unterstützen. Ich finde es auch gut. Aber ich kann mich selber als Person und (…) als Konsument einfach nicht da rausziehen und sagen, dass ich jetzt nachhaltig leben könnte oder nachhaltig bin. (…) Da kann ich mich einfach nicht komplett mit identifizieren. (…) Also ich verstehe die Situation auf jeden Fall. (…) Das ist halt so ein Zwiespalt immer. (OLAV, Pos. 190–196)
Zwar findet er das Engagement „gut“ und ihm ist die Problematik bewusst, aber er könne sich nicht „rausziehen“ und „nachhaltig leben“ oder gar „nachhaltig sein“. Die Kluft zwischen Wissen und Handeln erleben auch die Kritiker*innen unter den Befragten – für Olav sei dies ein „Zwiespalt“, der auch in anderen Lebenssituationen erlebt und wahrgenommen wird. Seiner Reflexion liegt ein Denken zugrunde, in dem Nachhaltigkeit als ein radikaler Gegenentwurf zu einer für ihn üblichen und gewohnten nicht-nachhaltigen Lebensweise verstanden wird.
Die Aktivist*innen werden zu einer Projektionsfläche – in einem Wechselspiel zwischen Induktion und Deduktion werden Vorbehalte abgeleitet (induktiv) oder plausibilisiert (deduktiv). Zugleich zeigen sich auch Hinweise auf die Ursachen für die grundsätzlichen Vorbehalte: das Empfinden von Ohnmacht (sich nicht „rausziehen“ zu können; konsumieren zu müssen) einerseits sowie das Streben nach einem kongruenten Selbstbild andererseits.
Kollektivierung als Chance. Für einige der befragten Jugendlichen rückt mit der NGO neben dem staatlichen Eingreifen und dem Agieren als Konsument*innen eine weitere Handlungsebene in den Vordergrund: die Zivilgesellschaft. Die Denkweisen vieler Jugendlicher sind geprägt durch die Auffassung, dass ein Eingreifen in den freien Markt zu vermeiden sei. Zugleich bestehen aber auch Zweifel an der Effektivität des Konsument*innenhandelns. In den Reflexionen vom Lena eröffnet sich an dieser Stelle eine politische Einsicht, dass es „im Prinzip (…) eine Allgemeinheit sein“ müsse. Was sie darunter konkret versteht, expliziert sie in der Äußerung nicht, jedoch beschreibt sie, dass sich Menschen zusammenschließen und gemeinsam agieren sollten. Dafür müsse aber jede*r einen Anfang machen:
Dann kann auch die Politik (…) Gelder senden, dass das dann auch funktionieren kann und als Konsument ist es relativ schwierig da wirklich etwas zu bewirken. Sonst wird das so weiterlaufen. Jeder kann nur natürlich für sich ordnen, aber im Prinzip muss es so eine Allgemeinheit sein. (…) Sonst läuft das nicht, glaube ich. Und am wichtigsten ist es, glaube ich doch, dass man sich politisch (…) irgendwie da betätigt. Dass man versucht, da was zu bewirken wirklich. So, ich weiß nicht, man muss jetzt ja nicht unbedingt sich da vor den [Supermarkt] stellen, oder sowas. Das kann man natürlich machen. Das finde ich auch ganz toll, wenn man sich da wirklich reinhängt und sagt: ‚Wir müssen das anders machen.‘ Aber (...) ich glaube, man sollte auf jeden Fall anfangen, drüber zu reden, sich seine Meinung bilden und versuchen, das bestmögliche zu machen. So, von sich aus. (LENA, Pos. 210–212)
Die Aktion der Aktivist*innen („vor den [Supermarkt] stellen“) wird in Lenas Reflexionen als Referenz aufgeführt, als eine von vielen möglichen Handlungsoptionen. Das konkrete Handeln wird als etwas beschrieben, dass kollektiv und öffentlich eingebunden sein muss („so eine Allgemeinheit“), wenn es Wirkung erzielen soll. Zugleich wird als Mindestanforderung ein Anfangen in Form eines zwischenmenschlichen Austausches und individuellen Beitrags beschrieben, das zu Beginn der Passage aber als unzureichend dargelegt wurde.
Auch in den Reflexionen von Olivia wird Kollektivierung als Chance thematisiert, so zweifelt sie an dem Einfluss des Einzelnen, daher habe sich durch die Begegnung mit den Aktivist*innen eine Perspektive eröffnet. In den Schilderungen Olivias dokumentiert sich eine Faszination für einen Zusammenschluss mit dem politischen Ziel, etwas zu erreichen:
Das Problem ist halt, als Einzelmensch kannst du halt nicht viel erreichen und wenn man sich halt so in so ‘ne… – deswegen fand ich [die Umweltschutzorganisation] halt eben cool, weil die sich zusammengeschlossen haben, um was zu erreichen, das ist ja das Ziel, dass die was verbessern wollen und das fand ich für meine Position, und allgemein was ich da alles mitgenommen hab’, entscheidend und auch durch die ganze Unterrichtseinheit ist mir das halt so ‘n bisschen bewusst geworden, finde ich. Dass man sich halt wirklich in ‘ner Gruppe zusammenschließen muss und radikal vorgehen muss und nicht nachlassen kann. (OLIVIA, Pos. 153)
Dieser Eindruck politischer Kollektivierung durch die Begegnung mit den Umweltaktivist*innen ist für Olivia nach eigenem Bekunden „entscheidend“ gewesen. Es kann angenommen werden, dass die Schüler*innen durch die außerschulische Begegnung mit Vertreter*innen der NGO die Einsicht gewonnen haben, dass durch ein kollektives Agieren verstärkt Einfluss auf gesellschaftspolitische Diskurse genommen werden kann. Es zeigt sich, dass gerade bei den potenziell handlungsbereiten Befragten Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Zivilgesellschaft als Handlungsraum zwischen Staat und Individuum gewonnen wurden. Damit werden in den Reflexionen der Schüler*innen machtpolitische Fragen tangiert, etwa bezüglich der Frage, wie der eigene Einfluss geltend gemacht werden kann. Die Begegnungen bieten Anlass zur Reflexion darüber, wie sich politische Handlungsmacht entwickelt.
Beurteilungen der konkreten Kampagne. Die Erinnerungen der befragten Jugendlichen an die außerschulische Begegnung mit den Vertreter*innen der Lokalgruppe der Umweltschutzorganisation beziehen sich sehr stark auf die Beurteilung der vorgestellten Kampagne. In beiden Schulklassen wurde die Legitimität und Effizienz der Aktion kontrovers diskutiert, sowohl im Gespräch mit den Aktivist*innen als auch in der Nachbereitung des Besuchs in der Schule. Dies spiegelt sich entsprechend in den Interviews wider. Das Treffen bot demnach einen vitalen Diskussionsanlass. Lena erinnert sich daran,
dass die Meinungen ziemlich gespalten waren, also, dass es wirklich eine diskutable Sache ist. Also, dass Leute entweder das gänzlich befürworten oder sagen: ‚Es ist in Ordnung, es ist wichtig, dass es Leute so machen.‘ Auch, wenn man sich jetzt nicht unbedingt dazustellen würde. Oder eben, dass man sagt: ‚Das geht gar nicht, (…) man kann sich nicht so verhalten. Das entspricht nicht unserer Norm‘ –irgendwie, ‘ne? (LENA, Pos. 208)
Eine forschungsleitende Annahme zur Erklärung der nachhaltigen Erinnerung an die Diskussion ist das Erleben konträrer Werteorientierungen zwischen den Mitschüler*innen. Die außerschulische Begegnung stellt eine gemeinsam erfahrene Situation dar, die eine Positionierung, Abgrenzung, Kollektivierung und Aushandlung ermöglicht. Die Reflexionen beziehen sich nicht nur auf die konkrete Aktion, die Gegenstand des Workshops war. An der Kampagne wird exemplarisch über Legitimität und Effektivität von Aktivismus im allgemeineren Sinne verhandelt. Olivia beschreibt diese Konfliktlinie entlang verschiedener Personentypen:
Es gibt, glaub’ ich, so ‘ne getrennte Meinung: Einige Menschen lehnen sich halt zurück in ihren Sessel und sagen: ‚Ja, das klappt schon irgendwie, das ist ja ‘n Prozess, der läuft vielleicht von selber", aber einige so, glaube ich, haben sich auch meiner (…) Meinung so ‘n bisschen angeschlossen, dass man da so ein bisschen nachhaken muss. Dass man ein bisschen tiefer in die Wunde, so ein bisschen reinbohren muss und sagen muss: ‚Hier, das ist falsch, was ihr macht, ihr müsst es ein bisschen anders machen.‘ Und ich glaub’ schon, dass das ‘ne Bedeutung hat für einige in der Position so. (…) Ja, deswegen fand ich‘s auch eigentlich ganz cool, also dass wir das gemacht haben. Es hat sich halt schon gezeigt, wer, glaub’ ich, später, oder wer so ‘n bisschen so charaktermäßig so ‘n bisschen zeigt, dass er sich dafür einsetzen möchte. (OLIVIA, Pos. 149–153)
Die Erfahrungen der widerstreitenden Auffassungen in der Lerngruppe selbst im Nachgang zur Realbegegnung werden facettenreich beschrieben, wobei die befürwortenden Jugendlichen Schlüsse ziehen über zugrundeliegende Werte und potenzielle Handlungsbereitschaft der Kritiker*innen. Karen zeigt sich verblüfft über die Kontroverse: „Und dann gab´s halt in der Pause auch echt Diskussion darüber, weil wir nicht verstanden haben, was man daran halt negativ [finden kann]“ (Pos. 98). Wie gesellschaftliche Veränderung angebahnt werden kann – diese Frage stand für die Befürworter*innen der Kampagne im Mittelpunkt. Dabei ist eine Argumentation zu erkennen, nach der der Zweck die Mittel heiligt; Olivia zufolge müssen die Maßnahmen auf eine Gesellschaft reagieren, die sie als untätig beschreibt.
Klar ist das für die eigenen Besitzer, wenn die davor stehen, schon so ein bisschen nicht schön und auch für die Verkaufszahlen dann, glaube ich, nicht mehr so ganz so gut. Aber ich finde, du kommst halt an die Gesellschaft nicht anders ran. Weil in der Zeitung ist es halt so, das liest jeder flüchtig durch, aber im Endeffekt macht man halt eh nichts, man kauft immer noch das gleiche Fleisch und niemand ist über die Folgen wirklich aufgeklärt und deswegen fand ich das eigentlich ganz gut, dass die sich wirklich konsequent nach vorne gestellt haben und sich wirklich radikal so ein bisschen durchgesetzt haben. Und ich find’ das kommt halt deutlich besser an in der Gesellschaft. (…) Die haben sich da so gut durchgesetzt, die haben sich gar nicht klein machen lassen, sondern wirklich: „Hier, das ist schlecht!“, und sie haben damit ja auch was erreicht, so. (OLIVIA, Pos. 103)
Olivia zieht den Schluss, dass Aktionen dieser Art nicht nur legitim sind, sondern auch effektiv, um ein gesellschaftliches Handeln anzustoßen. Die eingesetzten Mittel werden als adäquater und effektiver Weg des Protests beschrieben, um Menschen in ihren Ernährungsgewohnheiten wachzurütteln. Die kritischen Schlussfolgerungen hingegen bezweifeln die Effektivität und Legitimität der Kampagne. So gibt etwa Jan zu bedenken, dass die Reaktion des Unternehmens nicht authentisch wäre, wenn sie unter Druck entstehe:
Fand ich auch irgendwie komisch, dass man so ‚nem Unternehmen so große Probleme macht, nur damit sie das ändern. Ich glaub’, es ist nicht der richtige Weg, also, dass man sie quasi dazu zwingt, das zu ändern (…). Ich finde halt, das Problem liegt eher bei den Unternehmen, dass sie diese moralischen Aspekte nicht in Betracht ziehen und wenn man jetzt mit [der NGO] da ankommt und die dazu zwingt, das so zu machen (…), dann weiß man halt, dass die das nicht gemacht haben, weil die das wirklich wollen, sondern halt, weil die einfach kein Problem mit [der NGO] haben wollen ((lacht)) – so nach dem Motto. (JAN, Pos. 79–83)
Jendrik kritisiert das Vorgehen auch aus der Perspektive der Erzeuger*innen, da diese Kampagne die Probleme verallgemeinere und somit der Landwirtschaft als Ganzes schade. Solche Aktionen schürten Vorurteile, unter denen die landwirtschaftlichen Betriebe leiden. Er bezieht sich in diesem Argument auf das Gesagte im Rahmen der außerschulischen Begegnung mit den Landwirt*innen:
Aber da stechen dann natürlich negative Betriebe ziemlich schnell heraus und das hat, haben die auf dem Hof ja auch gesagt, dass die eben unter diesen Vorurteilen leiden, wenn irgendein Betrieb halt wirklich was ziemlich schlecht macht, dass dann direkt alle über einen Kamm geschert werden. (JENDRIK, Pos. 140)
Wer mit der Kampagne eigentlich adressiert wird, spielt eine zentrale Rolle bei allen Befragten. Welche zugewiesene Verantwortung ist gerechtfertigt? Olav findet, die Aktion der NGO sei gerechtfertigt, jedoch stehe die Legalität infrage, denn es sei „Rufmord“ an der Supermarktkette:
Ich meine im Prinzip haben sie halt recht, aber ich finde sowas ist einfach, äh, ja ich weiß auch gar nicht, ob das überhaupt legal ist, sowas zu machen. Weil ich (…) finde, es ist halt einfach schon ein bisschen Rufmord, so. (OLAV, Pos. 174–176)
Die beurteilende Äußerung „ich finde sowas […] einfach“ weist darauf hin, dass die Kampagne exemplarisch für eine Art und Weise der politischen Kommunikation steht, die abgelehnt wird. Auch die nachbereitende Diskussion in der Schule war implizit geprägt von einem Streit über den Umgang mit den eigenen Affekten. Olivia vermutet als Befürworterin der Kampagne, dass sich die Kritiker*innen lediglich „angegriffen fühlen“:
Wenn sich Leute angegriffen fühlen, dann sollen sie halt reingehen und sich damit nicht auseinandersetzen. (…) Jeder Mensch ist halt in seine eigene Richtung ein bisschen ego, würde ich jetzt sagen. (OLIVIA, Pos. 120–122)
Für Olivia steht fest, dass die Kritiker*innen sich in ihrer Lebensweise und ihren privaten Konsumentscheidungen beleidigt fühlen. Die Ursache für diese Abwehr vermutet sie in der Egozentriertheit solcher Personen.
Die Dimensionalisierung dieser Subkategorie verläuft zwischen den einzelnen Fällen in befürwortende und kritisierende Positionen und fallübergreifend entlang der Urteilskategorien Legitimität und Effektivität: Ist die Kampagne gerechtfertigt und bewirkt sie das, was ihr Ziel ist? In den Codierungen dokumentiert sich die Bedeutung von Emotionen und Affekten für die Bildung von Sach- und Werturteilen. Dabei ist festzustellen, dass einigen Schüler*innen dies sehr bewusst ist und die Bedeutung der Emotionen der anderen selbst zum Reflexionsgegenstand gemacht wird.
Reflexionen über die Ambivalenzen des Ernährungssystems. Auf einer systemischen Ebene sind Aussagen anzusiedeln, die vor allem zwei Aspekte betreffen: Zum einen den internationalen Handel mit Nahrungsmitteln, zum anderen die Profitorientierung der produzierenden, herstellenden und vertreibenden Unternehmen. Tina berichtet, die Umweltaktivistin habe ihr die negativen Seiten eines globalisierten Marktes um Lebensmittel vermittelt:
Sie hat einem so’n bisschen diesen negativen Aspekt davon gezeigt (…). Es ist natürlich cool, wenn man so Sachen von der ganzen Welt sich einfach kaufen kann, irgendwelche Produkte usw. und dass alles so vernetzt ist, aber es eben auch ’ne negative Seite hat, weil das unfassbar die Umwelt belastet. (TINA, Pos. 99)
Die Vielfalt der Produkte wird als Vorteil dargestellt, der aber negative Auswirkungen auf die Umwelt habe. Jan kritisiert die unethische Unternehmensausrichtung an Gewinnmaximierung:
Dass diese moralischen Aspekte ziemlich außer Acht gelassen werden von diesen Unternehmen. Dass man mit der bloßen Tatsache, dass man denen das zeigt, dass es schlimm ist, nicht wirklich geändert wird, dass (…) die Produktion quasi wirklich nur auf den Profit aus ist und auf diese Massenproduktion. (JAN, Pos. 105)
Die Codierungen der Subkategorie weisen darauf hin, dass die systemischen Herausforderungen einer nachhaltigen Entwicklung auch in einem kapitalistisch orientierten Wirtschaftssystem gesehen werden. Die beiden zitierten Fälle können als exemplarisch für die Positionen gelten, die sich diesbezüglich im Material zeigen. Ökonomische Mechanismen werden als ursächlich markiert, aber meist nicht hinsichtlich einer potenziellen Veränderbarkeit thematisiert.
Im Rahmen der Hauptkategorie „Außerschulische Begegnung mit den Umweltaktivist*innen“ zeigt sich, dass die Jugendlichen in ihren Reflexionen Schlussfolgerungen über Aktivismus, Engagement und Momente der Kollektivierung ziehen. Ein Großteil der Befragten würdigt das politische Handeln der Akteur*innen. Allerdings differenzieren sich die Schlussfolgerungen schließlich in befürwortende und kritische Positionen. Einige schlussfolgern über den Einfluss, der durch gemeinsames, kollektives und koordiniertes Handeln auf das politische Geschehen genommen werden kann. Für viele ist damit die Einsicht verbunden, dass grundsätzlich die Möglichkeit besteht, sich auch persönlich daran zu beteiligen und mitzugestalten. Neben diesen Schlussfolgerungen über die potenzielle Zugänglichkeit zum politischen Handeln, beschreiben andere ihre Vorbehalte gegenüber den Aktivist*innen. In der Kritik an den politischen Aktionen und Zukunftsentwürfen spiegeln sich Fragen nach der Legalität und Legitimität, aber auch nach der eigenen politischen Identität wider.
Wie auch in der vorherigen Hauptkategorie zur Begegnung mit den Landwirt*innen zeigt sich auch im Hinblick auf die außerschulische Begegnung mit den Umweltaktivist*innen der NGO, dass Prozesse der Rekapitulation (Abschn. 8.1.3; Reporting und Responding, Abb. 8.2) und der kommentierenden und bewertenden Abstraktion (Relating und Reasoning) bereits sehr stark ineinander verwoben sind. Auch in Rahmen dieser Hauptkategorie zeigt sich, dass Reflexionen über persönliche Erkenntnisse vor dem Hintergrund der eigenen politischen Identität (Meaning-making) angebahnt wurden.
In den vorherigen zwei Abschnitten lag der Fokus auf den Schlussfolgerungen aus den außerschulischen Begegnungen mit den regionalen Akteur*innen. Im folgenden Abschnitt wird der Fokus auf die epistemischen Aktivitäten und Muster der Sinnbildung gelegt, die sich in den Reflexionen der Jugendlichen identifizieren lassen.

8.2.2.3 Epistemische Aktivitäten und Muster in der Sinnbildung im Zuge außerschulischer Begegnungen

Im Folgenden werden die Ergebnisse zu den Forschungsfragen 3c vorgestellt: Inwiefern integrieren und koordinieren die Jugendlichen die außerschulisch eingebrachten Sichtweisen? Welche Besonderheiten der Sinnbildung und Muster der Urteilsbildung lassen sich nachvollziehen? Das Erkenntnisinteresse besteht nach der Analyse der inhaltlichen Schlussfolgerungen nun darin, zu analysieren, welche Prozesse der Sinn- und Urteilsbildung formal angeregt wurde, d. h. etwa wie das Erlebte und die externen Perspektiven mit den eigenen Sichtweisen der Jugendlichen verbunden werden sowie wie mit der Komplexität und Ambiguität umgegangen wird. Nachfolgend werden nicht thematische, sondern analytische Kategorien präsentiert, die aus der Analyse der Codierungen der Kategorien K4.2 und K5.2 entwickelt wurden. Kuckartz (2018) zufolge sind analytische Codes das „Resultat der intensiven Auseinandersetzung des Forscherin oder des Forschers mit den Daten, d. h. die Kategorien entfernen sich von der Beschreibung, wie sie etwa mittels thematischer Kategorien erfolgt“ (ebd., S. 34). Die analytische Ausrichtung des Kategorientyps zeigt sich auch in der begrifflichen Fassung der Kategorien (siehe Tab. 8.9).
Tabelle 8.9
Hauptkategorie 6: Epistemische Aktivitäten und Muster in der Sinnbildung
Hauptkategorie
Subkategorien 1
Subkategorien 2
K6:
Epistemische Aktivitäten und Muster in der Sinnbildung
K6.1 Perspektivenübernahme und -koordination
 
K6.2 Integration der eingebrachten Perspektive in die eigene Sichtweise
Bestätigende und erweiternde Decodierung
Die außerschulischen Begegnungen als Referenz und Evidenz: Plausibilisierung und Projektion
Emotionale Involviertheit: Solidarisierung und affektive Abwehr
K6.3 Selbstbezug, Selbstreflexion und Selbstvergewisserung
Abgleich mit den eigenen Vorstellungen angesichts konfligierender Rationalitäten
Anforderungen an das eigene Handeln
K6.1 Perspektivenübernahme und -koordination
Ziel der Integration zweier außerschulischer Begegnungen in die Lerneinheit war es, im Sinne einer problem- und konfliktorientierten didaktischen Dramaturgie die Auseinandersetzung der Schüler*innen mit den Perspektiven zweier Interessengruppen anzuregen. Auf diese Weise sollte die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme gefördert werden, um Standpunkte und kontroverse Positionen wahrzunehmen, nachzuvollziehen und vor dem Hintergrund von eigenen Interessen und der Interessen anderer analysieren zu können.
In den Ergebnissen der beiden vorangegangenen Unterkapiteln 8.2.2.1 und 8.2.2.2 im Rahmen der Auswertungsdimension II zeigt sich, dass eine Perspektivenübernahme hinsichtlich der Sichtweisen und Argumente der Akteur*innengruppen angeregt wurde. Die Reflexionen sind vor dem Hintergrund der Begegnungen zunächst auf die konkreten Personen, die regionalen Akteur*innen, bezogen: d. h. über die Rekonstruktion von Innenperspektiven werden Beweggründe nachvollzogen. Eine Abstraktion vom außerschulisch Erlebten und den konkreten Personen hinsichtlich politischer Interessenlagen gelingt den Jugendlichen in unterschiedlich elaborierter Weise. In den Reflexionen bezüglich der Landwirt*innen zeigt sich eine Fokussierung auf die Innenperspektive insofern, als über Gemütszustände spekuliert wird. Zudem wird auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Anforderungen eingegangen. Diese schüler*innenseitig erhaltenen Einsichten werden als exklusiv wahrgenommen, was den Eindruck einer sozial orientierten Perspektivenübernahme weiter stützt. Die Reflexionen der Jugendlichen über die NGO haben ebenfalls einen starken persönlichen Bezug insofern, als auf die Personen und ihr gesellschaftliches Engagement rekurriert wird; zugleich werden auch Fragen der Legitimität der getätigten Interessenvertretung aufgeworfen. Die Art der Perspektivenübernahme, wie sie sich im Material dokumentiert, lässt sich als aspektreich charakterisieren (K4.1 und K5.1) und nimmt ihren Ausgangspunkt im Sozialen. Die tangierten abstrakteren Verknüpfungen z. B. zur Milchkrise und Exportorientierung, die sich in den Reflexionen zeigen, sind jene, die im Kontext der unterrichtlichen Nachbereitung behandelt wurden.
Die Perspektivenkoordination als Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven miteinander in Beziehung setzen zu können, zeigt sich in einer verdeckten und vermutlich altersangemessenen Art. In den Codierungen ist eine Tendenz zur Vereinfachung festzustellen, etwa beide Parteien „könnten nicht an einem Tisch sitzen“ oder „sollten sich einfach mal zusammensetzen“. Hierin deutet sich ein zwischenmenschlich verortetes Konflikt- und Kooperationsmodell an, wobei die Frage danach, inwieweit dies durch die außerschulischen Begegnungen sogar noch befördert wird, nicht beantwortet werden kann. Auf der anderen Seite gelingen aber auch abstraktere Perspektivenkoordinationen.
Die Reflexionen über das Verhältnis der Akteur*innengruppen zueinander differenzieren sich in eher konflikt- und konsensorientierten Betrachtungsweisen, die sich hinsichtlich der Komplexität der Darstellung unterscheiden. Anna vertritt die Auffassung, dass sie zwar unterschiedliche Prioritäten, aber ähnliche Anliegen hätten. Dabei wird von den konkreten außerschulischen Akteur*innen gesprochen; eine abstraktere Perspektivenkoordination erfolgt in den Schilderungen nicht:
Sie haben gar nicht so unterschiedliche Ziele, es sind einfach nur andere Prioritäten. (…) Ich glaube, dass die [Schmitts (Landwirt*innen)] und [Pia (Umweltaktivistin)] eigentlich (…) ein ganz gutes Team ((lacht)) wären, weil ich denke, dass sie im Grund genommen, gleiche Sachen wollen. (ANNA, Pos. 186)
Die perspektivenkoordinierenden Überlegungen unterscheiden sich mit Blick auf die Differenziertheit und den Abstraktionsgrad. Lena spricht hingegen beispielsweise nicht von den konkreten Personen, sondern von konventionellen und ökologisch wirtschaftenden Landwirt*innen in einer abstrahierten und differenzierenden Form. Zwar sieht sie das konflikthafte Verhältnis, betont aber den Konsens, der sich längerfristig einstellen werde. Ihrer Auffassung nach wird das Engagement für eine ökologische Landwirtschaft dazu führen, dass konventionelle Betriebe sich nicht bedroht fühlen, sondern Mut fassen und an einem Transformationsprozess in Richtung Nachhaltigkeit mitwirken:
Einerseits muss man natürlich auch differenzieren zwischen konventionellen Betrieben und Bio-Betrieben. Zum Beispiel jetzt die eine Aktion, von der berichtet wurde, war dann ja das mit dem Fleisch. Das ist natürlich eine Aktion auch gegen die Produzenten von diesem Fleisch. Also auch gegen die Landwirtschaft, so. Gegen solche Viehbetriebe eben. Und (...) andererseits, während sie natürlich auch dafür kämpfen, dass mehr Bio produziert wird, so. Und dass mehr für die Umwelt getan wird. Und ich denke, das hilft den Bauern, Mut zu fassen und mitzuwirken. In erster Linie wird das natürlich erstmal schwierig da einzusteigen, sich zu orientieren, aber – (...). Also, in Zukunft wird es dann aber – … werden sie wahrscheinlich doch auf eine Linie kommen, eine Zielgerade. (LENA, Pos. 87)
In stärker konfliktorientierten Reflexionen zeigen sich ebenfalls Unterschiede, die auf verschiedene Abstraktionsvermögen hinweisen. In vielen Darstellungen wird der Konflikt zugunsten einer Perspektive aufgelöst, wie sich im folgenden Beispiel zeigt.
[Die NGO] will, dass diese Tiere gut behandelt werden, viel Platz haben und so. Und auf der anderen Seite stehen dann halt diese Landwirte, die das eben nicht machen können. Also die müssen ja auch ihr Geld verdienen und können es dann halt so nicht. Und dann werden die halt ja, dafür verurteilt, dass sie etwas machen/ nicht machen, was sie halt einfach nicht können (…). (JAN, Pos. 157)
Die Schlussfolgerung, dass von den Landwirt*innen ein Handeln erwartet wird, ohne dass ihnen Handlungsspielraum zur Verfügung stünde, findet sich auch bei Jendrik und Tina. Auch in der folgenden Schilderung wird ein konflikthaftes Verhältnis beschrieben, aber der Rekurs auf Beschuldigungen und Rechtfertigungen sowie die Verwendung wörtlicher Rede verweist mehr auf einen Konflikt im Sinne eines zwischenmenschlichen Streits und weniger explizit auf die zugrunde liegenden Strukturkonflikte:
Die einen sind halt die Produzenten, sage ich mal, von dem und sind halt sozusagen die – … nicht die Verursacher, aber halt die Leute, die halt sozusagen zum Klimawandel auch beitragen. Und ich find´ [die NGO] sind halt die Leute, die dagegen steuern, und dagegen was tun wollen. Und vielleicht haben die dadurch den Konflikt, dass die einen die anderen beschuldigen und sagen: ‚Ja, guck mal, wegen euch, weil ihr so und so produziert, sind hier so viele Abgase und deshalb geht’s unserer Erde schlecht‘, oder so und die anderen sagen: ‚Ja, guck mal, wir können aber trotzdem nichts dafür, es hängt ja auch von anderen Sachen ab‘, oder so. Also, das ist ja, ja, dass die sich halt – dass die halt gegeneinander – also gegenüberstehen und sich halt, äh, ja, gegeneinander halt sind. (ANNA, Pos. 192)
Die Interessen- und Perspektivgebundenheit der regionalen Akteur*innen wird auf einem unterschiedlichen Komplexitätsniveau erfasst (siehe Abschn. 3.​3.​2, Tab. 3.​2). Von Interesse für die Betrachtung ist das Spektrum an Codierungen zwischen Personen- und Strukturbezogenheit. Die angeregte Perspektivenübernahme und -koordination, wie sie sich im Material über jene Begegnungen zeigt, findet bei einigen Befragten orientiert an einer personalisierten Art und Weise statt; beispielsweise dergestalt, wenn nicht die ökonomischen Zwänge der Landwirt*innen kritisiert werden, sondern die Personen, die diese Zwänge nicht antizipieren. Gleichwohl wird etwa die Kampagne der NGO hinsichtlich ihres Empörungspotenzials verhandelt und mit Blick darauf, wie verschiedene Menschen darauf reagieren. Anzeichen einer gesellschaftlich-systemischen Perspektivkoordination sind ebenso auszumachen, aber dokumentieren sich deutlich seltener im Material. Die Beurteilungen der Jugendlichen finden insgesamt stark in einem Bezugshorizont des Sozialen und weniger im Politisch-Systemischen statt. Es kann auf Basis des vorliegenden Datenkorpus angenommen werden, dass die außerschulischen Begegnungen in ihrer Sozialität ein vielschichtiges Konfliktverständnis transportieren konnten.
K6.2 Integration der eingebrachten Perspektive in die eigene Sichtweise
In der Analyse der zwei vorherigen Unterkapiteln 8.2.2.1 und 8.2.2.2 wurden die Spektren an Reflexions- und Sinnbildungsprozessen, die durch die zwei außerschulischen Begegnungen inhaltlich angeregt wurden, im Rahmen der Auswertungsdimension II identifiziert. Wofür steht der konkrete Fall, die konkrete Person im Rahmen der Urteilsbildung der Jugendlichen? In welchem Kontext werden die perspektivgebundenen Aussagen der Akteur*innen von den Jugendlichen rekonstruiert? Die Schlussfolgerungen der Jugendlichen, die im Rahmen des Unterrichtprojektes gewonnen wurden, unterscheiden sich in fallübergreifender Betrachtungsweise. In fallinterner Perspektive zeigt sich im Material, dass einzelne Befragte sich durch das außerschulisch Erfahrene in der eigenen Sichtweise bestätigt sehen. Die Urteilsbildung ist von Generalisierungen und der Anerkennung von Besonderheiten des Einzelfalls geprägt: In diesem Zusammenhang dokumentiert sich darüber hinaus, dass unangemessene Generalisierungen und Subsumtionen wahrscheinlicher sind, wenn es schüler*innenseitig die politisch weniger favorisierte Perspektive betrifft.
Inwieweit und wofür die außerschulische Akteur*innen als exemplarisch aufgefasst werden, wird durch die Schüler*innen aktiv konstruiert. Die Jugendlichen begegnen nicht nur Individuen – durch die Einbettung in den Politikunterricht stellen die Akteur*innen Repräsentant*innen einer Interessengruppe dar, d. h. ihre Argumente sind perspektivgebunden, sofern sie für eine bestimmte Akteur*innen- und Betroffenenperspektive stehen. Für die Schüler*innen besteht also die Herausforderung darin, das Gesehene und Gesagte zu decodieren. Unter dem Begriff der Decodierung wird nachfolgend die Entschlüsselung von Informationen innerhalb der außerschulischen Begegnungen verstanden. Damit ist eine für die politische Urteilsbildung zentrale Verstehensoperation adressiert (siehe Abschn. 3.​2.​2: bspw. Negt, 2010, S. 21).
Bestätigende und erweiternde Decodierungen. Schlussfolgerungen, die aus den Begegnungen gezogen werden, werden nur vordergründig induktiv aus dem außerschulisch Erfahrenen gezogen. An vielen Stellen zeigt sich vielmehr, dass die außerschulischen Begegnungen in Übereinstimmung mit den Vorstellungen und Überzeugungen decodiert werden. Die folgende Materialstelle gibt Einblick in die Reflexion von Jendrik, der die vermeintliche didaktische Intention und seinen Lern- und Urteilsprozess folgendermaßen beschreibt.
Man [hatte] ja schon so eine Anfangsposition (…) und die war..., dass mir das wohl bewusst ist, (…) dass man diese Bauern und nicht alles negativ sehen sollte. Und das hat der Besuch eben unterstützt und da konnte dann auch die [NGO]-Frau nichts mehr dran ändern, sag’ ich mal so. (…) Vielleicht auch weil die von [der NGO] das ja in ‘nem größeren Rahmen sieht und dass das geändert werden sollte und so, aber für den Bauern an sich (…) ist es ja nicht mal nur eben das jetzt so’n bisschen anders zu machen, das ist ja dann viel größer gesehen für die und eben auch wie gesagt mit der Existenz ja auch ein größeres Problem. (…) Dass man insgesamt zwar die Probleme sieht und dass man sagt, das muss irgendwie geändert werden, aber dass es eben nicht so einfach ist, das einfach umzuschwenken. (JENDRIK, Pos. 180)
Jendrik gibt an, bereits vor dem Besuch eine „Anfangsposition“ gehabt zu haben. Das, was er durch den Besuch bei den Landwirt*innen erfahren habe, war ihm bereits vorher bewusst – und dieses subjektive Wissen wurde durch die Begegnung unterstützt bzw. gestützt.
Die bestehenden Vorstellungen rahmen die Wahrnehmung in der informellen Lernsituation. Dieser epistemische Prozess kann an dieser Stelle der vorliegenden Analyse als Schließung im Sehen und Erkennen beschrieben werden, da es lediglich zu einer Einhegung in die bestehende Sichtweise kommt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es nicht auch zu einem Nebeneinander mit Öffnungen des Blickes kommen kann. So gibt etwa Tina an, dass sich Vorurteile bestätigt hätten („so’ne typische Umweltaktivistin“); räumt aber ebenfalls ein, dass diese Person sie „am meisten zum Nachdenken gebracht“ habe. Die für einige Befragten neuen und den eigenen Diskurs überschreitenden Einsichten wurden in den Schlussfolgerungen dargestellt (siehe Kategorie K4.2 und K5.2).
Die außerschulischen Begegnungen als Referenz und Evidenz: Plausibilisierung und Projektion. Die oben beschriebene bestätigende Integration in die bestehende Sichtweise findet scheinbar zunächst auf der Ebene der Wahrnehmung statt – jene Eindrücke werden in den Urteilen der Jugendlichen ex post zur Plausibilisierung herangezogen. Die externen Sichtweisen werden insofern produktiv gemacht, als das außerschulisch Erfahrene als Referenz und Evidenz in der Argumentation dient. Dies zeigt sich besonders bei der Beurteilung der Haltungsbedingungen. Während die einen angeben, die Begegnung habe gezeigt, dass es nicht so schlimm sei, nehmen andere Befragte das Gegenteil wahr. Besonders kontrastierende Fälle sind Tina und Franziska in diesem Kontext (siehe Kategorie K4.2):
Ich finde die [Schmitts (Landwirt*innen)] waren eigentlich schon ein Positivbeispiel für einen Milchviehbetrieb, weil ich denke, dass das sicherlich um einige schlimmere äh Sachen gibt, die man sehen kann oder wahrscheinlich nicht sehen kann, weil das natürlich dann nicht an die Öffentlichkeit gerät. (TINA, Pos. 69)
Also was neu für mich war, oder was ich vorher nicht so gesehen hab’, war dass ich da schon fande, (…) dass es wirklich viele Tiere waren und dass es fast schon eng war. Und dann habe ich noch darüber nachgedacht, dass es eigentlich viel größere Betriebe noch gibt. (FRANZISKA, Pos. 99)
Dieses Argument stützende Wahrnehmen bzw. argumentative Einhegen der außerschulischen Erfahrung macht die außerschulischen Begegnungen zur Projektionsfläche bestehender Vorstellungen, die am konkreten außerschulischen Fall (wieder-)entdeckt werden. Auch einzelne Äußerungen der Akteur*innen oder schüler*innenseitig gewonnene Eindrücke zum Gemütszustand werden erinnert und fungieren als Referenz für konkrete Schlussfolgerungen der Jugendlichen (bspw. K4.1, Subkategorie „Personen und Innenperspektive“). Durch die informelle Lernsituation und entsprechend skriptlose Darbietung des Gegenstandes wird das Ausdeuten und Spekulieren angeregt.
Emotionale Involviertheit: Solidarisierung und affektive Abwehr. Die Jugendlichen sind in ihren Sinn- und Urteilsbildungsprozessen emotional involviert (siehe K4.2 und K5.2 sowie auch K3.2). Die Perspektivenübernahme endet nicht beim bloßen Nachvollzug. Die externen Sichtweisen werden integriert und produktiv gemacht, indem den Akteur*innen beigepflichtet oder ihre Perspektive verteidigt wird sowie auch Akteur*innen widersprochen und ihre Standpunkte zurückgewiesen werden. Dies äußert sich in Mustern der Solidarisierung und der affektiven Abwehr – diese bilden jeweils Extrempole auf einem Kontinuum. Die Solidarisierung mit den Landwirt*innen – hier exemplarisch an Tina dargestellt – mündet bei ihr in der Handlungsoption, die regionale Landwirtschaft durch den Konsum zu unterstützen:
Also ähm... so am meisten finde ich, dass man regionale Bauern oder irgendwelche ja Läden Höfe sowas halt unterstützen, mehr unterstützen sollte, weil ich auch auf dem Bauernhof dann ja erfahren hab’, dass die manchmal echt so bangen müssen um ihre Existenz, weil die halt eher klein sind und dass ich dann das wichtig finde, dass man eher so auf regionale Sachen achtet und dann halt im Winter zum Beispiel keine Erdbeeren oder irgendwas kauft. (TINA, Pos. 33)
Die Perspektive der Landwirt*innen wird häufig als eine unterrepräsentierte Betroffenenperspektive markiert. Ablehnungstendenzen sind vermehrt gegenüber der NGO festzustellen. Ihre Befürworter*innen hegen jedoch wenig Groll gegenüber den Landwirt*innen (siehe z. B. Lena; Franziska im Rahmen der K4.2), sondern sehen Handlungsbedarf hinsichtlich nachhaltigkeitsbezogener Strategien, die beide Perspektiven berücksichtigen.
K6.3 Selbstbezug, Selbstreflexion und Selbstvergewisserung
Es dokumentieren sich im Material auch Schlussfolgerungen der Jugendlichen, die die eigene Urteilsbildungsprozesse thematisieren, interpretieren und reflektieren. Einerseits zeigen sich innersubjektive Prozesse der Aushandlung verschiedener Rationalitäten, die als Urteilsmaßstäbe abgewogen werden; andererseits zeigt sich bei einigen Befragten, dass Anforderungen für das eigene Urteilen und Handeln abgeleitet werden.
Abgleich mit den eigenen Vorstellungen angesichts konfligierender Rationalitäten. Das außerschulisch Erlebte hat die Befragten angeregt, die eigenen Vorstellungen und Positionierungen zu hinterfragen, gegebenenfalls anzupassen oder sich in ihnen gar bestärkt zu sehen. Es lassen sich Momente der Reflexion von Urteilsmaßstäben und des Abwägens konfligierender Rationalitäten identifizieren. Franziska beschreibt etwa (siehe Kategorie K4.1), dass das zweckrationale Handeln der Landwirt*innen einen „bittereren Beigeschmack“ für sie hatte und sie die Einsicht gewonnen hat, die Kühe werden wie „Maschinen“ behandelt (Pos. 67). Dies habe sie mit ihrer eigenen Sichtweise konfrontiert und sie zum Hinterfragen ihrer möglicherweise „altmodischen Sicht“ angeregt. Sie bilanziert schlussendlich, dass sie die Modernisierung der Landwirtschaft als erschreckend empfindet. Dieses Aufeinandertreffen der Rationalitäten hat einen Prozess der Selbstvergewisserung über die eigene Haltung angebahnt, durch den sie sich in ihrem Standpunkt bestärkt fühlt.
Anforderungen an das eigene Handeln. Das Empfinden von Resonanzbeziehungen durch die außerschulischen Begegnungen wurde bereits als ein besonderes Anregungspotenzial des außerschulischen Lernens beschrieben (siehe Abschn. 8.2.1.3, K3.2). In den Reflexionen der Jugendlichen zeigt sich, dass ein Verstehen angebahnt wurde, das nicht nur die Spannungsverhältnisse in der Sache betrachtet (als Weltverhältnis), sondern das eigene Selbst in dieses Spannungsverhältnis setzt (Selbstverhältnis). Die erlebte Unmittelbarkeit verfügt über einen gewissen Aufforderungscharakter. Eine Schülerin erläutert dies folgendermaßen:
Es ist wirklich jemand, der kommt aus der Nähe, man merkt so, ich bin in der Nähe dieser Person, es ist bei mir und ich muss jetzt auch selbst darüber nachdenken. (ANNA, Pos. 182)
Die Interessengruppen haben nicht explizit zum Handeln motiviert; die Handlungsaufforderung ist aus der persönlichen Begegnung sowie der räumlichen Nähe heraus erwachsen. Die schüler*innenseitig wahrgenommene Handlungsaufforderung bezieht sich vor allem darauf, sich eine eigene Meinung zu bilden. Eine Schülerin beschreibt es so, als stünde sie „in der Mitte“ zwischen den konfligierenden Perspektiven und als sei es nun ihre Aufgabe, sich ein Urteil zu bilden (FRANZISKA, Pos. 113, siehe K3.1). Die räumlichen Bezüge in den Codierungen verweisen darauf, dass die Jugendlichen sich dazu aufgefordert empfinden, sich zwischen konfligierenden Perspektiven in einem politischen Raum wie der Region individuell zu positionieren.
Im Rahmen der Hauptkategorie „Epistemische Aktivitäten und Muster in der Sinnbildung im Zuge außerschulischer Begegnungen“ (Meaning-making; siehe Abschn. 8.1.3; Abb. 8.2) zeigt sich, dass die Jugendlichen zur Perspektivenübernahme angeregt wurden. Die unterschiedlichen Interessenlagen, Ziele und Betroffenheiten werden von den Jugendlichen im Zuge der außerschulischen Begegnungen erfasst. Dabei kann bei vielen Jugendlichen eine Fokussierung auf die Innenperspektive ausgemacht werden. Im Material dokumentiert sich, dass die Beobachtungen und Zuschreibungen auch an die konkreten Personen gebunden sind. In der didaktischen Intervention der Lerneinheit wurden zwei Perspektiven außerschulisch integriert, um die Kontroversität erfahrbar zu machen, aber auch um die Fähigkeit zur Perspektivenkoordination didaktisch anzusprechen. Im Vergleich zur Perspektivenübernahme ist eine politisch-systemische Perspektivenkoordination selten in den Reflexionen der Jugendlichen auszumachen. Als Besonderheiten bei der Sinnbildung konnte rekonstruiert werden, dass die Integration der didaktisch eingebrachten Perspektiven stark von den bestehenden Vorstellungen der Jugendlichen abhängt. Diese rahmen die Wahrnehmung in der informellen Lernsituation, sodass es zu einer Einhegung in die bestehende persönliche Sichtweise kommt. Dies geschieht auch in argumentativer Absicht, d. h. die außerschulischen Erfahrungen werden als Referenzen und Evidenzen in eigenen Beurteilungen produktiv gemacht. Ferner dokumentiert sich eine emotionale Involviertheit, indem Emotionen der Solidarität und der Ablehnung zum Ausdruck gebracht werden. Die Reflexionen stellen nicht zuletzt eine Selbstreflexion und -vergewisserung dar: Die Jugendlichen hinterfragen ihre subjektiven Vorstellungen sowie das eigene Handeln angesichts der konfligierenden Rationalitäten. Die Reflexionen der außerschulischen Begegnungen finden nicht nur vor dem Hintergrund eigener subjektiver Vorstellungen statt, sondern es kann angenommen werden, dass eine Auseinandersetzung mit der eigenen, sich entwickelnden politischen Identität angebahnt wurde.

8.2.2.4 Zusammenfassung: Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen der außerschulischen Begegnungen

Die Auswertungsdimension II folgte der Frage, welche Reflexions- und Sinnbildungsprozesse sich in den Reflexionen der Jugendlichen über die außerschulischen Begegnungen mit den Landwirt*innen (K4; 8.2.2.1) und den Umweltaktivist*innen (K5; 8.2.2.2) identifizieren lassen. Im Kontext der Hauptkategorie 6 wurden die epistemischen Aktivitäten und Muster der Sinnbildung analysiert und untersucht, inwiefern die Jugendlichen die außerschulisch eingebrachten Sichtweisen reflektieren, integrieren und koordinieren (K6, 8.2.2.3). Im Folgenden werden die drei betrachteten Hauptkategorien in ihren empirischen Erkenntnissen zusammengefasst.
In den Erinnerungen der Jugendlichen dokumentieren sich anspruchsvolle Reflexions- und Sinnbildungsprozesse. Im Rahmen der Hauptkategorien 4 und 5 wurden alle Textstellen codiert, die die außerschulischen Begegnungen betreffen – differenziert wurde zwischen thematischen Rekonstruktionen (K4.1 und K5.1) und Schlussfolgerungen (K4.2 und K5.2). Die besondere Präsenz der außerschulischen Begegnungen, wie sie sich bereits explizit in den evaluativen Äußerungen der Jugendlichen in den Kategorien 1 (K1, „Rekonstruktionen des Lerngegenstandes“) und 3 (K3, „Anregungspotenziale der außerschulischen Begegnungen“) zeigt, dokumentiert sich auch in den tiefergreifenden Analysen der vorliegenden Auswertungsdimension II. Die Schilderungen der Jugendlichen zu den thematischen Rekonstruktionen der Begegnungen mit den Landwirt*innen und den Umweltschutzaktivist*innen sind umfassend (K4.1; K5.1). Wie im Rahmen der jeweiligen Subkategorien zweiter Ordnung empirisch differenziert belegt werden konnte, gelingt es den Schüler*innen auch rückblickend, die Begegnung zu kontextualisieren und von der konkreten Situation zu abstrahieren. Das Treffen mit den Landwirt*innen wird mit Blick auf die ökonomischen Anforderungen, die Personen und Innenperspektiven, die Tierhaltung und das Tierwohl sowie die vorgefundene konventionelle Produktionsweise rekonstruiert. In den Schilderungen über das Treffen mit der NGO wird vor allem auf die thematisierte konkrete Aktion und Kampagne, die Personen und die Positionen der Organisation rekurriert.
Die Decodierung der sozialen Situation verläuft vor dem Hintergrund einer unterrichtlich verhandelten Thematik. Es zeigt sich, dass eine Verknüpfung mit den Inhalten des Fachunterrichts hergestellt werden konnte. Die Reflexions- und Sinnbildungsprozesse kreisen um die konkreten Personen und ihrer antizipierten Innenperspektiven. Sie stellen die Träger*innen und Vermittler*innen von Information dar; ihre Art des Sprechens, ihre Gestik und Mimik stellen einen wichtigen Teil der außerschulischen Erfahrung dar, der von den Schüler*innen individuell ausgedeutet wird. Scheinbar beiläufige Erwähnungen werden erinnert und im Kontext der Thematik spezifische Bedeutungen beigemessen. Diese Befunde verweisen darauf, dass es in den thematischen Rekonstruktionen zu einer Verschränkung des episodisch-narrativen mit dem semantisch-begrifflichen Wissen (Flick, 2011) gekommen ist.
Die Jugendlichen gewannen im Kontext der außerschulischen Erfahrungen spezifische Einsichten (K4.2 und K5.2). Die Schlussfolgerungen, die die Jugendlichen aus der Begegnung mit den Landwirt*innen zogen und im Rahmen der Analyse identifiziert werden konnten, wurden in fünf Subkategorien zweiter Ordnung differenziert: Sie betreffen die besondere Lage und Anforderungssituation der Erzeuger*innen, die Anpassung der eigenen Vorstellungen über konventionelle Landwirtschaft, Bewertungen der konventionellen Haltungsbedingungen, die mögliche Umstellung auf ökologische Landwirtschaft sowie Einsichten über die Marktlogiken als Herausforderung für eine nachhaltige Landwirtschaft. Die Schlussfolgerungen, die im Zusammenhang mit dem Treffen mit den Umweltaktivist*innen gezogen wurden, lassen sich in acht Subkategorien zweiter Ordnung unterteilen: Sie betreffen die Zugänglichkeit zu politischer Aktion, die Anerkennung und Würdigung des zivilgesellschaftlichen Engagements, Reflexionen über Aktivismus und Aktivierung, kritische Auseinandersetzungen mit Aktionen und Zukunftsentwürfen der NGO, bestehende Vorbehalte und Ressentiments, Kollektivierung als Chance, die Beurteilung der vorgestellten Kampagne sowie Reflexionen über die Ambivalenzen des Ernährungssystems.
Die Ergebnisse zeigen ein vielfältiges Spektrum an Reflexions- und Sinnbildungsprozessen, die im Kontext der zwei außerschulischen Begegnungen angebahnt und sich einige Wochen später in den Erinnerungen und Reflexionen der Schüler*innen manifestieren. Wie bereits angemerkt, verdichten sich die Reflexionen um die jeweiligen Personen, ihren Anliegen und ihren Lebenssituationen. Fallübergreifend kann festgestellt werden, dass die Befragten in diesem Zusammenhang ihre Anerkennung und Wertschätzung ausdrücken. Die perspektivgebundenen Ziele und Bedingtheiten der jeweiligen Akteur*innen werden respektiert.
Wie in den Ergebnisdarstellungen dargelegt, unterscheiden sich die Fälle in anderen Hinsichten deutlicher: Das, was vor Ort erlebt und wahrgenommen wurde, scheint zu variieren. Der Fallvergleich von Franziska und Tina konnte exemplarisch zeigen, wie die außerschulische Erfahrung vor dem Hintergrund der subjektiver Deutungshorizonte argumentativ und sinnbildend eingehegt wird. Auf inhaltlicher Ebene gibt es zwei Themen, an denen sich die Reflexions- und Sinnbildungsprozesse in besonderer Weise verdichten: die Beurteilung konventionaler Tierhaltung sowie die Beurteilung von Aktivismus.
Viele berichten, dass sie mit einer konventionellen Landwirtschaft ein negatives Bild verbinden. Bei einigen führt die außerschulische Begegnung in dem landwirtschaftlichen Betrieb dazu, die offenbar zuvor vorherrschende Gleichsetzung zwischen konventioneller Produktionsweise und Massentierhaltung infrage zu stellen. Andere geben an, es habe gezeigt, dass es „nicht so schlimm“ sei oder sie aber in ihrem negativen Bild bestätigt wurden. In den Reflexionen offenbaren sich Vorstellungen über zeitgenössische Landwirtschaft, die von Diskrepanzen geprägt sind: Es spiegelt sich ein Nebeneinander von idealisierten und schockierenden Bildern. Der Besuch auf dem Milchviehbetrieb eröffnet einen Abgleich dieser Vorstellungen, wirft aber auch die Frage nach der Repräsentativität auf. Die Beurteilung der Haltungsbedingungen mit Blick auf das Tierwohl stellt einen Schwerpunkt für die Jugendlichen dar und fällt sehr unterschiedlich aus.
An der Beurteilung der Kampagne der NGO entzündet sich die Frage danach, ob der Zweck die Mittel heilige. Die Kampagne wird hinsichtlich der Legitimität und Effizienz beurteilt. Einerseits wird die Kampagne als notwendig begriffen, um der Sorglosigkeit der Konsument*innen, Produzent*innen und Unternehmen des Einzelhandels etwas entgegenzusetzen. Andererseits wird sie als bloße Symbolpolitik zurückgewiesen, die in die Souveränität der Konsument*innen und Unternehmen eingreift. An der Konfliktlinie zwischen „legitim, da erforderlich“ und „illegitim, da übergriffig“ spannen sich kontroverse Positionen auf. In den Schüler*innenäußerungen zeigt sich, dass den Utopist*innen dabei vereinfachtes Denken vorgeworfen wird, den Realist*innen mangelnder Wille zur Veränderung.
Der Umstand, dass sich die thematischen Rekonstruktionen und Schlussfolgerungen analytisch überlappen, liegt einerseits darin begründet, dass die thematische Rekonstruktion die inhaltliche Basis und gewissermaßen als Argumentationsgrundlage für die individuellen Schlussfolgerungen dient. Darüber hinaus sind die Überlappungen aber auch darauf zurückzuführen, dass die Sinnbildung bereits fortgeschritten ist und die Erinnerungen mit den daraus gezogenen Schlussfolgerungen zunehmend identisch sind. Das Schildern der Erinnerung (Reporting und Responding; siehe Abschn. 8.1.3, Abb. 8.2) fällt mit den Bewertungen und Schlussfolgerungen (Relating und Reasoning, ebd.) zusammen bzw. scheinen ineinander aufzugehen. Dies wird forschungsmethodisch reflektiert (siehe Abschn. 8.3.2).
Im Kontext der Hauptkategorie 6 wurde die Frage untersucht, inwiefern die Jugendlichen die außerschulisch eingebrachten Sichtweisen reflektieren, integrieren und koordinieren (K6, 8.2.2.3). Hierfür wurden auf der Basis der thematischen Codierungen analytische Kategorien gebildet. Es kann festgehalten werden, dass die Jugendlichen in ihren Reflexionen die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme unter Beweis stellen. Im Fallvergleich sind in den Ausführungen dabei unterschiedliche Grade an Komplexität und Elaboriertheit auszumachen. Die Reflexionen über die Akteur*innengruppen gehen auf eine Vielzahl an Aspekten ein, die im Kontext ihrer Interessen relevant sind. Die außerschulischen Begegnungen haben längerfristig einen Einblick in die Innenperspektive der konkreten Personen ermöglicht. Wünsche, Sorge und Ängste können schüler*innenseitig nachvollzogen werden. Die Art der Perspektivenübernahme nimmt ihren Ausgangspunkt im Persönlichen und Sozialen. Weniger personen-, sondern stärker strukturbezogene Verknüpfungen lassen sich den Inhalten der unterrichtlichen Einbettung zuordnen. Perspektivenkoordinierende Schlussfolgerungen, in denen die Perspektiven miteinander in Beziehung gesetzt werden, manifestieren sich seltener und auf eine latentere Art im Material. Auch diesbezüglich sind fallvergleichend verschiedene Grade an Komplexität und Elaboriertheit auszumachen. Es zeigen sich Reflexionen, denen eher ein personengebundenes Konflikt- und Kooperationsmodell zugrunde liegt, als auch strukturell ausgerichtete Betrachtungsweisen. Zweiteres zeigt sich deutlich seltener; durch die Fokussierung auf die Innensichtweisen der Akteur*innen zeigt sich dennoch ein vielschichtiges Konfliktverständnis.
Die Integration der eingebrachten Perspektiven in die eigene Sichtweise zeigt sich überwiegend in Form von selbstbestätigenden Decodierungen, wenn auch von Einsichten berichtet wird, die die individuelle Sichtweise vorgeblich erweitert hätten. Die außerschulischen Begegnungen werden in den individuellen Argumentationen als Referenz und Evidenz herangezogen und dienen damit funktional der Plausibilisierung. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Begegnungen auch zu Momenten der Projektion wurden und werden. In den Reflexionen der Schüler*innen zeigen sich Sinnbildungsprozesse in einer Wechselbeziehung zwischen Induktion und Deduktion. Das Wahrnehmen und Bewerten der außerschulischen Begegnungen sowie das Herstellen von Zusammenhängen und das Ableiten persönlicher Einsichten und Urteile verläuft vor dem Hintergrund bestehender Vorstellungen und Werteorientierungen – jene stellen eine Interpretationsfolie für die angestoßenen Reflexions- und Sinnbildungsprozesse dar. Darüber hinaus spielt die emotionale Involviertheit eine große Rolle – Emotionen, sowohl in Form von Solidaritätsbekundungen als auch affektiven Abwehrtendenzen, zeigen sich deutlich und prägen insbesondere die Projektionen. Eine Besonderheit sind darüber hinaus die vielfältigen Selbstbezüge: das Hinterfragen und Reflektieren über den eigenen Standpunkt sowie über das individuelle Handeln. Die erlebte Unmittelbarkeit der außerschulischen Erfahrungen scheint über einen Aufforderungscharakter zu verfügen, sich zu positionieren, zu solidarisieren oder potenziell gar zu kollektivieren.

8.3 Diskussion

Die Interviewstudie ex post verfolgte das Ziel, die Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen des Unterrichtsprojektes zu explorieren und hierdurch die Ergebnisse der Interventionsstudie um einen verstehensorientierten Zugang zu den Sichtweisen der Jugendlichen zu ergänzen. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf die Integration der außerschulischen Begegnungen gelegt. Im Folgenden werden die Ergebnisse der vorliegenden Interviewstudie entlang der zwei übergeordneten Forschungsfragen und der entsprechenden Auswertungsdimensionen diskutiert und gewonnene Erkenntnisse vor dem Hintergrund bestehender Forschung formuliert (Abschn. 8.3.1). Dabei werden Implikationen für die Förderung der politischen Urteilsbildung und die didaktische Integration außerschulischer Begegnungen in den (Politik-)Unterricht abgeleitet. Abschließend erfolgt die forschungsmethodische Diskussion in Abschnitt 8.3.2.

8.3.1 Diskussion der Ergebnisse

Die Forschungsfrage 2 der Interviewstudie lautete: Welche Reflexions- und Sinnbildungsprozesse konnten im Rahmen des Unterrichtsprojektes auf welche Weise angeregt werden?
Auswertungsdimension I: Anregungspotenziale des Unterrichtsprojektes. In den evaluativen Äußerungen der Jugendlichen zum Unterrichtsprojekt zeigt sich eine deutliche Relevanzsetzung auf das außerschulische Lernen. Die außerschulischen Begegnungen sind in den Erinnerungen sechs Wochen nach der Lerneinheit deutlich präsenter als die Unterrichtsstunden im Schulgebäude. Die außerschulischen Lernerfahrungen scheinen eine besondere Bedeutung für die Schüler*innen zu haben. Die Schilderungen der außerschulischen Begegnungen speisen sich aus episodisch-narrativem Wissen und sind entsprechend an zeitlichen Abläufen und Tätigkeiten sowie Gesehenem, Gesagtem und Gefragtem orientiert. Im Vergleich dazu kann angenommen werden, dass die unterrichtlichen Inhalte semantisch-begrifflich zunächst nur in Form von Schlagwörtern memoriert werden. In den Schilderungen überdecken die außerschulischen Erfahrungen zunächst den Lernprozess im Hinblick auf das gesamte Unterrichtsprojekt. In den tiefergehenden Analysen, insbesondere im Rahmen der zweiten Auswertungsdimension, konnten anspruchsvolle und persönlich bedeutsame Schlussfolgerungen identifiziert werden, in denen vom außerschulisch Erlebtem abstrahiert wird und die auf inhaltliche Verknüpfungen mit dem Unterricht hinweisen.
In den Schilderungen der Jugendlichen über ihre gewonnenen inhaltlichen Einsichten im Rahmen des Unterrichtsprojektes im Allgemeinen konnten drei zentrale Ausprägungen identifiziert werden: eine Politisierung der Umweltthematik, kritische Auseinandersetzungen mit der Ausrichtung des Wirtschaftssystems sowie Reflexionen über Selbstwirksamkeit zwischen Verantwortung und Zweifel. Die Politisierung der Umweltthematik zeigt sich etwa in einer Erfassung der Komplexität, indem verschiedene Interessengruppen, das Eigeninteresse und das Gemeinwohl thematisiert sowie globale Zusammenhänge hergestellt werden können. Die Jugendlichen geben an, dass im sonstigen Schulunterricht vor allem die belastete Umwelt im Mittelpunkt der Betrachtung steht, nicht aber die ökonomischen Zusammenhänge sowie die damit verbundenen konfligierenden Perspektiven verschiedener Interessengruppen. Die Politisierung der Thematik, wie sie sich in den inhaltlichen Schlussfolgerungen zum Unterrichtsprojekt zeigt, verläuft für die meisten Jugendlichen über das wachsende Verständnis ökonomischer Zusammenhänge. Die Ausprägungen der Politisierungen unterscheiden sich jedoch in einer fallübergreifenden Betrachtungsweise: Welcher Aspekt für eine Person eine politische Reibungsfläche eröffnet, ist hochgradig individuell.
Die kritischen Schlussfolgerungen hinsichtlich der zeitgenössischen Ausrichtung des Wirtschaftssystems sehen das gesellschaftliche Projekt der Nachhaltigkeit in einem Konflikt mit marktwirtschaftlichen Mechanismen und neoliberalen Prinzipien. In den Schlussfolgerungen der Jugendlichen werden Probleme zwar konstatiert und Kritik vage formuliert, die darauf verweisen, dass systemische Zusammenhänge hergestellt werden können. Ein politischer Gestaltungsbedarf der Strukturen wird nur vereinzelt abgeleitet. Vielmehr suchen viele Jugendliche nach Einfluss- und Gestaltungsmöglichbereichen, in denen sie selbst wirksam werden können. Diese Ergebnisse sind im Lichte der Befunde von Fischer et al. (2016) zu Schüler*innenvorstellungen zur Globalisierung interessant: Sie konnten zeigen, dass der Markt für einen Großteil der befragten Gymnasiast*innen „einen weitgehend unhinterfragten Denkrahmen“ darstellt (ebd., S. 16). Es kann angenommen werden, dass jene „Naturalisierung des marktwirtschaftlichen Rahmens“ (ebd.) einer Vorstellung von einer politischen Gestaltbarkeit eben jenem entgegensteht. Ebenfalls dominiert die Vorstellung einer Einflussnahme über individuelles Konsumverhalten (ebd.). In den Ergebnissen der vorliegenden Studie deutet sich bei einigen Jugendlichen durchaus ein systemisches Infragestellen angesichts der Klimakrise an, das aber unspezifisch bleibt – möglicherweise da die Kenntnis etwa wirtschaftspolitischer Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt ist. Der Konsum sowie die Unterstützung der regionalen Landwirtschaft ist in den Schilderungen der Jugendlichen zwar ein häufiger Bezugspunkt; es deutet sich in einigen Fällen aber auch ein differenziertes Verständnis von Akteur*innenkonstellationen und Handlungsoptionen an.
In den Reflexionen über das potenzielle eigene Handeln bewegen sich Selbstwirksamkeitsüberzeugungen zwischen Verantwortung und Zweifel. Möglichkeiten zum politischen Gestalten werden überwiegend auf der Ebene des Privaten verortet und von vielen der Befragten als Pflicht und Verantwortung begriffen. Dabei dokumentiert sich, dass das Selbstwirksamkeitsempfinden fragil ist. Es zeigt sich ein Nebeneinander von positiven Emotionen, die sich aus dem Glauben an den politischen Einfluss des Einzelnen speisen, und negativen Emotionen, die mit einem Zweifel an der Effektivität individueller Handlungsstrategien verbunden sind. Dies korrespondiert mit den Forschungsbefunden zu den Emotionen, Hoffnungen und Befürchtungen von jungen Menschen, die in Abschnitt 2.​4.​3 vorgestellt wurden. Die Ambivalenzen, die die individuelle politische Position betreffen und die in dem Prozess der politischen Verortung zutage treten, werden von den Schüler*innen selbst thematisiert. Die subjektive Urteilsbildung wird von einigen Jugendlichen explizit als herausfordernd und unbefriedigend beschrieben. Aufgrund der Komplexität und Tragweite nachhaltigkeitsbezogener Problemstellungen wird das eigene Urteil als unzureichend erlebt. Dabei zeigt sich wiederum bei einigen Jugendlichen auch eine Tendenz, die Diskrepanz zwischen dem Anspruch einer nachhaltigen Lebensweise und dem individuellen Handeln als eine Inkongruenz im Verhalten anderer zu kritisieren – die indirekt dann auch das eigene Selbstwirksamkeitsempfinden schmälert. Die Ergebnisse tragen zu einem tiefer gehenden Verständnis der Schüler*innenperspektiven bei: Nachhaltigkeitsbezogene Fragen werden unter Jugendlichen kontrovers diskutiert – und zum Teil affektiv abgewehrt, moralisch verkürzt oder in einer theoretisierenden Art und Weise neutralisiert. Die Ergebnisse der vorliegenden Interviewstudie korrespondieren teilweise mit den Befunden aus den rekonstruktiven Studien von Asbrand (2009) und Holfelder (2018), die insbesondere die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln bei Jugendlichen empirisch herausgearbeitet haben (siehe Abschn. 2.​4.​2). Gleichwohl kann auf der Grundlage der vorliegenden empirischen Analysen angenommen werden, dass sich Überzeugungen und Einstellungen von Jugendlichen in den letzten Jahren, in denen die Nachhaltigkeitsthematik an Dynamik gewonnen hat, deutlich verändert haben. Statt eines bloßen Delegieren von Verantwortung und einer Konzentration auf Konsumfragen zeigen die Analysen der vorliegenden Studie, dass Jugendliche sich vom gesellschaftlichen Diskurs um Nachhaltigkeit betroffen empfinden, dazu aktiv Stellung nehmen können und die zeitgenössischen Lebensweisen und sich selbst – im Urteilen und Handeln – hinterfragen. Die Jugendlichen geben an, dass der Lern- und Urteilsprozess im Rahmen des gesamten Unterrichtsprojektes sich vor allem als bestätigend und bestärkend auf die persönliche Sichtweise zum Themas ausgewirkt hat. Der überwiegende Anteil der Befragten äußert, sich in seiner eigenen Position unterstützt zu fühlen, während Veränderungen in der individuellen Positionierung nur vereinzelt berichtet werden. Jedoch ist anzumerken, dass im Rahmen dieser Kategorie nur explizite Aussagen diesbezüglich betrachtet wurden. Im Rahmen der Auswertungsdimension II konnten durch die Analyse implizite Veränderungen herausgearbeitet werden.
Die Bedeutung des außerschulischen Lernens auf den persönlichen Lern- und Urteilsprozess wird von den Befragten als hoch eingeschätzt. Die bildsamen Facetten des außerschulischen Lernens konnten in den Reflexionen der Jugendlichen rekonstruiert werden (K3 Anregungspotenziale). Die Abbildung 8.4 veranschaulicht die Wirkungsbeziehung der außerschulischen Begegnung zwischen regionalen Akteur*innen und Schüler*in, so wie es aus der Schüler*innenperspektive rekonstruiert werden konnte – die einzelnen Facetten werden nachfolgend diskutiert.
Das identifizierte Spektrum an Anregungspotenzialen der außerschulischen Begegnungen offenbart das besondere Potenzial für politische Lern- und Urteilsbildungsprozesse. Die persönliche Begegnung spricht in besonderer Weise die emotionale-kognitive Dimension der Lern- und Urteilsprozesse an: Sowohl die authentische und emotionsgebundene Begegnung als auch die empfundene Relevanz der Thematik konnte ein Interesse aufseiten der Schüler*innen evozieren. Die außerschulischen Begegnungen ermöglichen einen lebenswelt- und erfahrungsorientierten Zugang, durch die Bedeutsamkeit erfahrbar und Betroffenheit spürbar wird (Henkenborg, 2000). Dies dokumentiert sich besonders in den Reflexionsprozessen der weiblichen Befragten. Die Zuschreibung von Relevanz ist eine entscheidende motivationale Komponente in der Auseinandersetzung mit komplexen Themen, die durch ein Lernen in authentischen Kontexten gefördert werden kann (Krapp, 1999; List & Alexander, 2017):
Je stärker eine Person sich in eine Situation involviert und von ihr betroffen fühlt, desto eher wird sie sich mit dieser und mit allen damit zusammenhängenden Informationen auseinandersetzen: So beeinflusst die persönliche Relevanz die Tiefe und Form der Auseinandersetzung und führt zu tieferen Verstehens- und Elaborationsprozessen (…). (Trempler & Hartmann, 2020, S. 1063)
Das Empfinden von Resonanzbeziehungen im öffentlichen (Nah-)Raum zwischen Lerngegenstand, regionalen Interessengruppen und der eigenen Person stellt sich durch die unmittelbaren Begegnungen und den zwischenmenschlichen Kontakt ein. Im Material dokumentiert sich, dass sich die Befragten in der Auseinandersetzung mit involvierten Personen und dahinterliegenden Strukturkonflikten implizit aufgefordert empfinden, Stellung zu beziehen. Das Erleben der Perspektivität gesellschaftlicher Sachverhalten und der Interessen- und Standortgebundenheit von Argumenten kann Komplexität veranschaulichen, sie aber auch gewissermaßen strukturieren und mit verallgemeinerbaren Lebenslagen verknüpfbar machen. Menschen mit ihren Interessen und Absichten erscheinen in ihrer Vielschichtigkeit und werden so für die Schüler*innen nahbar und anerkennungswürdig. Initiiert wird ein Modus, der an die „erweiterte Denkungsart“ (Kant, 2000, S. 26 f.) erinnert – eine wertgebundene Berücksichtigung der Perspektiven anderer (siehe Abschn. 3.​2.​2; Juchler, 2005a). Auf der Basis der Analysen im Rahmen der Interviewstudie ist anzunehmen, dass die außerschulischen Begegnungen einen positiven Einfluss auf den Umgang mit Komplexität und Ambiguität im Rahmen gesellschaftlicher Transformationsprozesse in Richtung Nachhaltigkeit haben.
Ein weiteres Bildungspotenzial der außerschulischen Begegnung besteht im privilegierten Stellenwert der außerschulischen Begegnungen im Kontrast zum üblichen Schulunterricht. Interessanterweise wird von vielen Jugendlichen ein kontrastierendes Bild vom alltäglichen Unterricht in seiner Prozessualität, Routiniertheit und Vorhersehbarkeit gezeichnet, in dem die fachliche Erschließung im Modus eines eher passiven Bearbeitens erscheint. Diese Beschreibungen korrespondieren mit der Heuristik des „Schülerjobs“ in den ethnografischen Studien von Breidenstein (2006), dessen Ordnung durch das Verlassen des Schulgebäudes aufgebrochen wird. Die empirische Analyse dokumentiert, dass außerschulische Begegnungen in ihrer Nichtalltäglichkeit Lernsituationen eröffnen, indem die außerunterrichtliche Relevanz erfasst und so ein tieferes Verstehen ermöglicht wird. Combe und Gebhard (2012) betrachten gerade die Ausnahmen von der skripthaften Routine als potenzielle Momente des Verstehens:
Momente des Verstehens ereignen sich nicht tagtäglich. […] Sie sind gewissermaßen Inseln in einem Meer von Routine – und genau hier liegt ihre Bedeutung für die Schule, hier verlangen sie sowohl professionelle Aufmerksamkeit wie entsprechende sie begünstigende Arrangements. (Combe & Gebhard, 2012, S. 228)
In Abschnitt 4.​1 und 4.​3 wurde dargelegt, dass das außerschulische Lernen mit hohen, möglicherweise überhöhten didaktischen Erwartungen einhergeht. Insbesondere ein hoher Didaktisierungsgrad außerschulischer Lernsituationen kann den informellen Charakter abschwächen und die verbreitete Auffassung, dass außerschulisches Lernen eine vermeintliche Gegenwelt zum Schulischen darstellt, erst recht fragwürdig erscheinen lassen (Budde & Hummrich, 2016; Deinet & Derecik, 2016, S. 19–25; Overwien, 2020, S. 234). Die in der vorliegenden Interviewstudie gewonnenen Erkenntnisse legen nahe, dass gerade für Schüler*innen selbst das Verlassen des Schulgebäudes ein bedeutsamer Moment ist. Es ist davon auszugehen, dass die empfundene Bedeutsamkeit (Relevanz und Interesse) durch die Kontrasterfahrung verstärkt wird. Es kann angenommen werden, dass es zu einer Wirkung kommt, die Ernst-Heidenreich (2019) in seiner theoretisch-empirischen Annäherung an eine Soziologie situativer Nichtalltäglichkeit analysiert: Im Rahmen nichtalltäglicher Arrangements am Beispiel einer Hörsaalbesetzung und einer schulisch organisierten Jugendreise zeigt er, dass es im Kontext nichtalltäglicher Settings zu einer Intensivierung des Sozialen, dem Eindruck der Bedeutsamkeit und einer Tendenz zur Überschwänglichkeit der Wahrnehmung kommt (ebd., S. 424). In seinen Analysen beschreibt er die Dynamik einer „Strukturlosigkeit, welche eine kreative Produktivität entfacht“ (ebd., S. 429) – eine ähnliche Beobachtung konnte auch in der vorliegenden Studie im Hinblick auf die Perspektivenübernahme und das kreative Ausdeuten der Innenperspektiven sowie das Empfinden von Relevanz gemacht werden. Die außerschulischen Begegnungen sind mit den analysierten Arrangements nur bedingt vergleichbar, weisen jedoch scheinbar jene Charakteristika situativer Nichtalltäglichkeit auf.
Ein weiteres Bildungspotenzial außerschulischer Begegnungen liegt den Ergebnissen zufolge in der Veranschaulichung der Inhalte und einen dadurch ermöglichten Abgleich mit der außerschulischen Realität. Die über die außerschulischen Begegnungen gewonnen Informationen stellen für einige Befragte eine besondere Glaubwürdigkeit her. Dieser Aspekt spiegelt sich besonders in den Reflexionen der männlichen Befragten wider. Es kann geschlussfolgert werden, dass die Schüler*innen die außerschulischen Begegnungen selbst als einen forschenden Zugang rekonstruieren und wertschätzen, indem Hypothesen gewissermaßen selbst überprüft werden können. Schließlich regen die außerschulischen Begegnungen den Jugendlichen zufolge auch die Reflexion der eigenen Urteilsbildung an, indem sie sich in der Vielfalt der Perspektiven selbst verorten müssen – in vielen Reflexionen dokumentiert sich ein antizipierter Aufforderungscharakter der außerschulischen Begegnungen, der die Jugendlichen anregt, Stellung zu beziehen.
Die skizzierten Bildungspotenziale bergen jedoch auch potenzielle Probleme, die sich aus dem dokumentierten Erleben von Unmittelbarkeit speisen. Das evozierte Resonanz- und Verbundenheitsempfinden zwischen Selbst und Welt, welches sich in räumlichen und körperlichen Metaphern im Material manifestiert, scheint Betroffenheit und Bedeutsamkeit zu befördern. Hierin besteht zunächst einmal ein außerordentliches pädagogisches und politikdidaktisches Potenzial, insbesondere auch für einen emotionssensiblen Zugang. Gleichwohl können die außerschulischen Begegnungen gerade deshalb überinterpretiert und in ihrer Aussagekraft überschätzt werden. Im Material konnte in den Reflexionen eine Tendenz zur Eigentlichkeit identifiziert werden: Die Akteur*innen werden als Repräsentant*innen einer Perspektive subsumiert; die Schüler*innen nehmen an, in den Begegnungen „die eigentlichen Sichtweisen, wie sie wirklich sind“ kennengelernt zu haben. Die Unmittelbarkeit der außerschulischen Situation kann mit einer vermeintlichen Unmittelbarkeit in der Sache verwechselt werden und unangemessene Verallgemeinerungen befördern (Haller & Wolf, 1979; Rößler, 2019, S. 333 ff.). Hierin liegt der Zweifel begründet, inwieweit außerschulische Erfahrungen tatsächlich grundlegende politische Einsichten vermitteln können – jener Frage wurde sich im Kontext von Auswertungsdimension II gewidmet. Als Implikation für die politische Bildungspraxis ergibt sich, das induktive und deduktive Schlussfolgern im Kontext der außerschulischen Erfahrung selbst zum Gegenstand der schulischen Nachbereitung zu erheben, um Fehlverständnissen und problematischen Verallgemeinerungen zu begegnen. Der forschende Zugang ist als ein deutender Zugang zu thematisieren, um die politische Urteilsbildung explizit zu unterstützen.
Die Forschungsfrage 3 der Interviewstudie lautete: Welche Reflexions- und Sinnbildungsprozesse lassen sich in den Reflexionen der Jugendlichen über die außerschulischen Begegnungen mit den Landwirt*innen und den Umweltaktivist*innen identifizieren?
Auswertungsdimension II: Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen der außerschulischen Begegnungen. Im Kontext der Auswertungsdimension II wurden Reflexions- und Sinnbildungsprozesse im Rahmen der außerschulischen Begegnungen identifiziert. Es konnte gezeigt werden, dass die befragten Schüler*innen nicht nur das außerschulisch Erlebte rekapitulieren, sondern thematisch rekonstruieren und Verknüpfungen zu den Inhalten des Unterrichtsprojektes hergestellt werden konnten. In den Schilderungen schienen sich die thematischen Rekapitulationen und Schlussfolgerungen teilweise zu überlappen (siehe Abschn. 8.1.3; Bain et al., 2002), was als Hinweis darauf gedeutet werden kann, dass individuelle Sinnbildungsprozesse im Sinne von Assimilation- und Akkommodationsprozessen sechs Wochen nach der Lerneinheit bereits weit fortgeschritten sind.
Die Stärken in der Verknüpfung des außerschulisch Erlebtem und schulisch Vermitteltem liegen je Begegnung in unterschiedlichen Bereichen. Im Hinblick auf die Landwirt*innen zeigt sich das Nachvollziehen der komplexen Anforderungssituation zwischen (Welt-)Markt und Nachhaltigkeitszielen sowie die Wertschätzung der Erzeuger*innenperspektive. Die betriebsinternen Zusammenhänge sowie die makroökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen werden in den Schilderungen der Jugendlichen angeführt und zeigen, dass die Jugendlichen die Vielschichtigkeit, Komplexität und Vernetztheit der unternehmerischen Perspektive erfasst haben. Bezüglich der Umweltschutzorganisation konnten komplexe Reflexionen über politisches Handeln auf verschiedenen Handlungsebenen identifiziert werden. Dabei rückte das Potenzial kollektiven Handelns sowie die Bedeutung der Zivilgesellschaft stärker in den Mittelpunkt. Darüber hinaus wird auch die potenzielle Zugänglichkeit zu politischem Engagement für die Schüler*innen aufgezeigt.
Eine starke Wirkung der Begegnungen zeigt sich in der Antizipation der Innenperspektiven der regionalen Akteur*innen. Dabei wurde die Komplexität dieser in ihrer systemischen Eingebundenheit (Akteur*innen und Abhängigkeiten entlang der Produktion; Wirksamkeit von symbolpolitischen, zivilgesellschaftlichen Aktionen) erfasst. Gleichwohl umfassen die Reflexions- und Sinnbildungsprozesse auch wertbezogene Aspekte; die Jugendlichen bringen ihre Anerkennung und Wertschätzung gegenüber den regionalen Akteur*innen zum Ausdruck. Auf der Basis der Ergebnisse kann davon ausgegangen werden, dass außerschulische Begegnungen mit regionalen Akteur*innen die Fähigkeit zur Perspektivübernahme fördern können. Dabei zeigt sich, dass die Begegnungen als authentischer Kontakt Emotionen ansprechen – im Material wird deutlich, dass sie zentrale „Ausgangspunkte der Welterschließung“ darstellen (Besand, 2014, S. 380). Emotionale Zugänge sind gerade angesichts der Komplexität und Perspektivität politischer Problemstellungen eine adäquate Ergänzung zu den überwiegend kognitivistischen Vermittlungsweisen (ebd.). Die gestatteten Einblicke in die Perspektiven der Akteur*innen werden als Gelegenheiten, als exklusiv und bedeutsam erlebt und insofern als relevant markiert – aufseiten der Jugendlichen werden Betroffenheiten erzeugt und Identifikationspotenziale eröffnet. In gewisser Weise vergleichbar mit der Strukturlosigkeit nichtalltäglicher Arrangements, die eine „kreative Produktivität entfach[en]“ (Ernst-Heidenreich, 2019, S. 429), laden auch die Begegnungen zu fallbezogenen Spekulationen ein, die die Perspektivenübernahme anregen. Die soziale Situation wird von den Teilnehmenden im Hinblick auf die Mimik, Gestik und Wortwahl der regionalen Akteur*innen, also in ihrer informellen Dichte und als Ausschnitt aus einer Lebensrealität von den Teilnehmenden, ausgedeutet. Es kann angenommen werden, dass auf diese Weise ein facettenreiches, vielschichtiges und nicht zuletzt auch mehrperspektivisches Verständnis über relevante Akteur*innen im Transformationsfeld Landwirtschaft und Ernährung ermöglicht werden kann, das dem sonst im Politikunterricht üblichen Pro-Contra-Formalismus in Textform überlegen ist.
Die politischen Sinnbildungsprozesse der Jugendlichen sind in fallvergleichender Betrachtungsweise als heterogen zu charakterisieren. Der politische Sinn, der im Rahmen der Realbegegnungen generiert wird, unterscheidet sich zwischen den einzelnen Schüler*innen zum Teil stark, da das außerschulisch Erfahrene im Lichte der eigenen Werteorientierungen decodiert wird. Es konnte gezeigt werden, dass die Begegnungen sowie die regionalen Akteur*innen selbst in den Reflexionen der Jugendlichen als Projektionsfläche fungieren. Die zugeneigte Perspektive kann offenbar differenzierter nachempfunden werden und erscheint plausibler als die weniger präferierte Perspektive. Dies ist ein bekannter Befund aus der sozialpsychologischen Forschung (vgl. z. B. Galinsky & Moskowitz, 2000) und kann darüber hinaus auch durch eine Art der Urteilsbildung erklärt werden, die vor allem auf Heuristiken zurückgreift und nicht bewusst systematisch erfolgt (Chen & Chaiken, 1999; Nolte et al., 2019; siehe Abschn. 3.​2.​1). Es zeigen sich Hinweise darauf, dass kognitive Konflikte zum Teil aufgelöst wurden, indem sie personalisiert bzw. emotionalisiert wurden – etwa, wenn strukturelle Anforderungen oder systemische Zusammenhänge als lediglich zwischenmenschliche Missverständnisse dargestellt wurden (siehe Abschn. 8.2.2.3). In den Reflexionen und Argumentationen der Jugendlichen zeigt sich, dass die Zu- oder Abneigung gegenüber den regionalen Akteur*innen an den konkreten Personen plausibilisiert wird, d. h. die außerschulischen Momente werden argumentativ eingehegt. Sie liefern subjektiv sinnstiftende Evidenzen, die im Kontext der eigenen Deutungshorizonte entstehen.
Die Ergebnisse geben Einsicht in einen hochgradig konstruktivistischen Lernprozess, in welchem episodisches-narratives und semantisch-begriffliches Wissen in einem potenziell bildsamen wie Lernen verhinderndes Spannungsverhältnis stehen. In Anlehnung an die Grafik von Flick (2011; siehe Abschn. 8.1.1, Abb. 8.1) veranschaulicht Abbildung 8.5 die für die Urteilsbildung bedeutsamen Lernprozesse in schulisch-außerschulischen Lehr-Lern-Arrangements.
Das Bildungspotential erfahrungsorientierter Zugangsweisen ist trotz der Potenziale umstritten. Wie in Abschnitt 4.​5.​2 und Abschnitt 5.​2 dargelegt, ist fraglich, ob über nahräumliche Erfahrungen grundlegende politische Einsichten gewonnen werden können. Weber (2019) merkt an, dass Realbegegnungen
in ihren didaktischen Möglichkeiten auch überschätzt [werden], indem sie zufällige und auf den Einzelfall bezogene Eindrücke bergen, (…) nicht zwangsläufig verallgemeinerbare Informationen verfügbar machen, während komplexe Zusammenhänge oder auch systemische Konfliktursachen (…) nur schwer zugänglich sind. (Weber, 2019, S. 98 f.)
Für die vorliegende Lerneinheit und die Bildungsprozesse der daran teilnehmenden Jugendlichen kann diese Annahme zum Teil entkräftet und zum Teil bestätigt werden. Es zeigen sich einerseits anspruchsvolle Reflexionen, die auf das Erfassen komplexer Zusammenhänge verweisen. Die außerschulischen Begegnungen ermöglichen eine Konfrontation mit konfligierenden und interessengebundenen Perspektiven und regen durch ein Wechselspiel zwischen außerschulischem Besonderen und politisch offenen und möglicherweise unterrichtlich verhandeltem Allgemeinen in besonderer Weise Verstehens- und Urteilsprozesse an. Die beschriebene Fokussierung auf die Innenperspektive und die starke Gebundenheit an die Personen als Repräsentant*innen bestimmter Akteur*innengruppen hat bei einigen Schüler*innen möglicherweise aber auch ein naives Konflikt- und Kooperationsmodell im Sinne eines „Sich einfach mal zusammensetzen“ (zutage) befördert. Andererseits dokumentiert sich auch eine Tendenz zur Bestätigung der eigenen Vorstellungen und zum Heranziehen von Evidenzen, die das eigenen Urteil stützen.
Studien im Kontext der Conceptual change Forschung (Stark, 2002; Vosniadou, 2007) konnten zahlreiche empirische Befunde dafür liefern, dass Vorstellungen im Zuge von Bildungsprozessen nicht einfach ersetzt, sondern umstrukturiert und gegebenenfalls korrigiert werden. Vorstellungen erweisen sich dabei häufig als stabil, sofern sie sich bewährt haben: Neues Wissen, das nicht in Dissonanz mit den bestehenden Vorstellungen steht, wird eher akzeptiert und integriert als konfligierende Informationen (Vosniadou & Brewer, 1992; Chinn & Brewer, 1998). Diese Befunde widersprechen nicht der sozialkonstruktivistischen Annahme, dass kognitive Konflikte Lernprozesse anstoßen und so die Weiterentwicklung der Vorstellungen evoziert wird (siehe Abschn. 3.​3.​3), jedoch sensibilisieren sie für die tendenzielle Konstanz und Trägheit, die auch im Kontext der politischen Bildungsarbeit und kontrovers aufbereiteter Lernsituationen von zentraler Bedeutung sind. Das innerpsychische Streben nach Kongruenz bzw. die Tendenz, kognitive Dissonanzen aufzulösen, wird auch als Confirmation bias beschrieben: „Confirmation bias […] connotes the seeking or interpreting of evidence in ways that are partial to existing beliefs, expectations, or a hypothesis in hand“ (Nickerson, 1998, S. 175). Die tendenzielle Konstanz und Trägheit der urteilsrelevanten Vorstellungen in Lernsituationen herauszufordern und mit den lernenden Subjekten ein reflexives Verhältnis dazu einzunehmen, wird damit zum zentralen Bildungsanliegen.
Vor diesem Hintergrund plädieren Pintrich et al. (1993) dafür, motivationale und emotionale Faktoren, auch im Kontext institutioneller Bedingungen, stärker zu berücksichtigen. Für die Untersuchung von Urteilsprozessen sind diese Befunde von großer Bedeutung, da sie auf der Basis dieser Vorstellungen stattfinden. Die theoretische Vorstellung eines cold conceptual change entspricht nicht der Urteilspraxis, dies spiegelt sich auch in den Ergebnissen der vorliegenden Studie wider. Urteilsprozesse zu fördern und zu untersuchen, bedeutet daher auch, hier ist Menthe (2012) zuzustimmen, „die typische rationalistische Verkürzung […] aufzubrechen“ (ebd., S. 180), wie sie idealtypisch in normativen Modellen zum Bewerten und Urteilen angenommen wird. Überwältigung als eine vielfach politikdidaktisch diskutierte Gefahr (siehe Abschn. 2.​3), die die selbstbestimmte Urteilsbildung korrumpieren würde, erscheint damit in einem anderen Licht: Die Vor-Prägung „schützt“ im erwünschten wie unerwünschten Sinne. Es besteht Anlass zur Annahme, dass sich die Schüler*innen im Unterrichtsprojekt nicht allzu leichtfertig entgegen ihrer Überzeugung haben beeindrucken lassen. Gleichzeitig geht dies aber auch mit einer Einschränkung des fachdidaktischen Potenzials einher, neue Erfahrungen zu machen, die die Homogenität des eigenen Erfahrungs- und Sinnhorizontes übersteigen.
Inwiefern Vorstellungen und darin enthaltende Überzeugungen und Emotionen, die die Wahrnehmung und Urteilsbildung prägen, in besonderer Weise durch die außerschulische Begegnung mit konkreten Personen aktiviert, plausibilisiert und als Projektionsfläche für den Urteilsprozess gewissermaßen tragend werden, kann im Rahmen dieser Forschung nicht abschließend beantwortet werden. Hier wären Anschlussstudien in einer stärker sozialpsychologischen Perspektive erforderlich, die diese Frage systematisch untersuchen. Hierfür müsste ein Vergleich zu Befragten angestrebt werden, die an keinen außerschulischen Begegnungen teilgenommen haben. Zu untersuchen wäre etwa, ob jene Schüler*innen auf einem höheren, systemischen Niveau argumentieren können – und ob sich auch in einem rein schulischen Arrangement Hinweise auf das Empfinden von Betroffenheit und Bedeutsamkeit zeigen.
Mit der Interviewstudie ex post wurde das Ziel verfolgt, auf der Basis empirischer Erkenntnisse über den schüler*innenseitigen Akt des Erschließens, Reflektierens und Sinnbildens das politikdidaktische Potential außerschulischer Begegnungen zu überprüfen (siehe Abschn. 4.​6). Im Hinblick auf die Urteilsbildung und insbesondere die Perspektivenübernahme können aus den Ergebnissen ein förderndes Potenzial, aber auch Implikationen für die pädagogische Praxis abgeleitet werden. Für die Integration außerschulischer Begegnungen in den Fachunterricht ist die Auseinandersetzung mit den je subjektiven Deutungsmustern, die spezifische Sinnbildung erzeugen, zentral. Wie die Ergebnisse zeigen, regen die außerschulischen Begegnungen eine Reflexion über die eigene Urteilsbildung an. Einerseits wird die Aufforderung empfunden, sich zu positionieren, solidarisieren oder potenziell gar kollektivieren; andererseits findet eine Selbstverortung durch den Abgleich mit anderen Standpunkten und Perspektiven statt. Das individuelle Wechselspiel zwischen Induktion und Deduktion in der unterrichtlichen Nachbereitung aufzugreifen und die intersubjektive Aushandlung unter den Lernenden über das Gehörte und Gesehene anzustiften, ist entscheidend, um entgegen einer naiven Erfahrungspädagogik die vermeintliche Unmittelbarkeit (Haller & Wolf, 1979; Rößler, 2019, S. 333 ff.) aufzubrechen, die die Sinnbildungen der Schüler*innen in Form von subjektiven Evidenzen prägen. Ein nachbereitendes Auswertungsgespräch könnte sich dabei eines reflexiven Ansatzes bedienen und ähnlich der Taxonomie nach Bain et al. (2002) schrittweise erfolgen (Reporting, Responding, Relating, Reasoning, Reconstructing; siehe Abschn. 8.1.3), damit einer vorschnellen Bestätigung der eigenen Sichtweise vorgebeugt werden kann. Gerade im Kontext einer politischen Nachhaltigkeitsbildung lässt sich das Kontrastieren der je eigenen Wahrnehmung und der daraus gewonnen Schlussfolgerung für einen pluralen, kontroversen Unterrichtsdiskurs fruchtbar machen.

8.3.2 Forschungsmethodische Diskussion

Im Folgenden werden die Potenziale und Limitationen diskutiert und die Güte der vorliegenden Interviewstudie vor dem Hintergrund der Kriterien für die qualitative Forschung nach Steinke (2017) evaluiert: intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Indikation des Forschungsprozesses, empirische Verankerung der Forschungsergebnisse, Limitation, Kohärenz, Relevanz und reflektierte Subjektivität.
Das Erkenntnisinteresse der Interviewstudie war es, durch das Unterrichtsprojekt angebahnte Reflexions- und Sinnbildungsprozesse zu explorieren sowie die Anregungspotenziale außerschulischer Begegnungen für den Urteilsbildung für Jugendliche zu bestimmen. Zur Herstellung der internen Studiengüte wurde bei der Entwicklung des Untersuchungsdesigns (Abschn. 8.1.1), im Auswertungsprozess (Abschn. 8.1.4) sowie im Rahmen der Ergebnisdokumentation (Abschn. 8.1.4.3) auf Transparenz geachtet. Auf diesen Wegen wurde beabsichtigt, dem Prinzip der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit nachzukommen.
Der Forschungszugang hat sich als zielführend und vielsprechend erwiesen, da eine Passung zwischen qualitativem Vorgehen und Forschungsgegenstand vorhanden war (Indikation). Über den methodischen Zugang des episodischen Interviews konnten die Erfahrungen des Unterrichtsprojektes und die Schlussfolgerungen, die subjektseitig aus den außerschulischen Begegnungen gezogen wurden, erhoben werden. Dabei konnte die methodologische Annahme nach Flick (2011), zwischen episodischem und semantischem Wissen zu differenzieren, für den vorliegenden Kontext (außerschulische Erfahrungen und schulische Vermittlungsinhalte) adaptiert werden. Auf diese Weise konnten nicht nur die subjektiven Sichtweisen der Jugendlichen zum Unterrichtsprojekt erhoben werden, sondern auch Lern- und Urteilsprozesse im Rahmen eines konkreten Lehr-Lern-Arrangements in ihrer Genese analysiert werden. Diese qualitative Analyse bleibt jedoch nur ein Annäherungsprozess: Die Reflexions- und Sinnbildungsprozesse wurden in der vorliegenden Studie in den geschilderten Erinnerungen und Reflexionen der Schüler*innen sechs Wochen nach dem Unterrichtsprojekt rekonstruiert. Durch die zeitliche Distanz sollte die Einstellung eines reflexiven Verhältnisses angebahnt werden, um bloße situative Nacherzählungen zu vermeiden. Gleichwohl dokumentiert sich im Material deutlich, dass individuelle Assimilations- und Akkommodationsprozesse stattgefunden haben. Daher gilt es zu reflektieren, inwieweit die Heterogenität in den Schlussfolgerungen dem zeitlichen Abstand geschuldet ist und sich in der direkten schulischen Nachbereitung möglicherweise anders zeigen würde. Im Rahmen einer sinn- und soziogenetisch ausgerichteten Analyse und Typenbildung sowie mit einer noch stärker rekonstruktiv statt inhaltsanalytisch orientierten Auswertungsstrategie hätten die individuellen Bezugshorizonte der jeweiligen Fälle voraussichtlich noch fokussierter ausgewertet werden können (vgl. z. B. das Vorgehen zur Rekonstruktion von Orientierungen von Jugendlichen zu Nachhaltigkeitsthemen von Holfelder, 2018).
In der Interviewkonstellation ergab sich ein spezifisches Spannungsfeld von Nähe und Distanz bzw. von Vertrautheit und Fremdheit (Kruse, 2015, S. 302), das es hinsichtlich der Auswirkungen auf die Ergebnisse und auch vor dem Hintergrund des Gütekriteriums der Indikation zu reflektieren gilt. Nähe bestand insofern, als sich Interviewerin und die Befragten durch das siebenwöchige Unterrichtsprojekt bekannt waren und Erlebnisse teilten. Eine Distanz und gewisse Fremdheit war trotz dieser Bekanntheit gegeben, da sich der Feldaufenthalt nur auf die Dauer des Projektes erstreckte. Auf diese Weise konnte ein Raum eröffnet werden, in dem die sichere Möglichkeit, aber auch Notwendigkeit zur Explikation gegeben war (ebd., S. 300). In den Interviewgesprächen ist es gelungen, ein vertrauensvolles Kommunikationsklima zu etablieren (Helfferich, 2019). Dies zeigte sich beispielsweise daran, dass die Jugendlichen auch persönliche Themen ansprachen, sich kritisch über die Unterrichtsgestaltung, den Politikunterricht, die Schule und Aspekte des Nachhaltigkeitsdiskurses äußerten. Die Vertrautheit erwies sich als Vorteil, da an das gemeinsame Unterrichtsprojekt angeknüpft werden konnte und die Themen auf geteilte Erfahrungen rekurrierten – und so den spezifischen Forschungszugang überhaupt erst ermöglichten (Kruse 2015, S. 298). Auf diese Weise konnte im Gespräch mit den Jugendlichen eine „Authentizität und Tiefe“ (Kuckartz & Rädiker, 2022, S. 237) erreicht werden. Die Forscherin führt die Güte der Daten insbesondere auf die zuträgliche Interviewkonstellation zurück. Darüber hinaus verhinderte der Aufenthalt der Forscherin im Feld voreilige Diagnosen in der Analyse des Materials (ebd., S. 251). Der leistungs- und bewertungsbezogene schulische Kontext ist dennoch zu berücksichtigen, da er einen Einfluss auf das Antwortverhalten der Jugendlichen haben kann. Auch wenn, etwa in der Leitfadenkonstruktion, methodische Entscheidungen getroffen wurden, die beispielsweise ein sozial erwünschtes Antwortverhalten abmildern sollten, kann davon ausgegangen werden, dass sich entsprechende Tendenzen auch in den Ergebnissen spiegeln – etwa bei der überaus positiven Beurteilung der Lerneinheit. Aufgrund der Heterogenität der Schüler*innenäußerungen im fallübergreifenden Vergleich sowie der direkten Art der Befragten („Das war langweilig“) wird der Einfluss dieser Tendenz in der vorliegenden Studie jedoch als gering eingeschätzt.
Die empirische Verankerung der Forschungsergebnisse wurde durch die inhaltsanalytische Auswertung hergestellt. Hierbei wurden die Gütekriterien nach Kuckartz berücksichtigt (2018; Kuckartz & Rädiker, 2022). Die Inhaltsanalyse wurde in mehreren Codierschleifen computergestützt durchgeführt. Es wurden Teile des Materials von einer weiteren Person codiert und eine Übereinstimmung bei der Verwendung der Kategorien angestrebt (Kuckartz & Rädiker, 2022, S. 239). Auf diese Weise wurde die Konsistenz und Nachvollziehbarkeit des entwickelten Kategoriensystems gewährleistet. Die analytischen Schlussfolgerungen aus dem Material wurden in verschiedenen Analysegruppen und Forschungskolloquien zur Diskussion gestellt (siehe Abschn. 8.1.4.1). Die Schlussfolgerungen lassen sich in den Daten begründen, wobei darauf geachtet wurde, eine fallorientierte Perspektive beizubehalten, um ungemessene Übergeneralisierungen zu vermeiden und Mehrdeutigkeiten im Material abzubilden. Entsprechend wurden die Spektren der Ausprägungen in ihrer Komplexität dargelegt und an Ausschnitten aus dem Material plausibilisiert (Kuckartz & Rädiker, 2022, S. 238). Die Ressourcen im Rahmen des Dissertationsprozesses ließen eine Codierung des kompletten Materials durch mehrere Codierende sowie die Ermittlung eines Übereinstimmungskoeffizienten nicht zu. Es sprechen auch methodologische Gründe gegen ein solches Verfahren, wie in Abschnitt 8.1.4.1 dargelegt (Kuckartz & Rädiker, 2022, S. 250). Jene Verfahren sind für größer angelegte qualitative Verfahren zu empfehlen, um den Codierprozess und kollaborative Analysen methodisch stärker zu kontrollieren.
Die Grenzen der Verallgemeinerbarkeit liegen nicht zuletzt in den Voraussetzungen der Forschungsergebnisse, die unter bestimmten Untersuchungsbedingungen entstanden sind (Limitation). Inwiefern sind die Forschungsergebnisse auf andere Schüler*innen und ähnliche Unterrichtsarrangements übertragbar und in einem gewissen Maße verallgemeinerbar? Zunächst ist die Fallauswahl in den Blick zu nehmen, denn „[d]as Sampling […] entscheidet maßgeblich darüber, welche Aussagequalität mit der Analyse der Daten erreicht wird oder werden kann, bzw. welche Reichweite die Ergebnisse beanspruchen können“ (Kruse, 2015, S. 238). Wie in Abschnitt 8.1.2 erläutert, wurden die Befragten zwar gezielt angefragt, aber auf die Freiwilligkeit der Teilnahme hingewiesen. Die meisten Jugendlichen erklärten sich im Zuge der Anfrage bereit. Eine gewisse Verzerrung etwa dahingehend, dass eher interessierte und aufgeschlossene Schüler*innen dem Sample angehören, ist nicht gänzlich auszuschließen.
Im Gegensatz zur quantitativen Forschung geht es in der qualitativen Forschung „nicht um die Repräsentativität, sondern um Repräsentation“ (Kruse, 2015, S. 57, H. i. O.; siehe auch Helfferich, 2011, S. 172 ff.). Die fallorientierte Auswertung hat wie beabsichtigt heterogene Sichtweisen zutage befördert (siehe Abschn. 8.1.2) und dabei auch Widersprüche in der Interpretation offengelegt (Kohärenz). Die Reichweite ist begrenzt – weitere Befragte hätten weitere Fälle und damit potenziell weitere Reflexionsprozesse und Muster der Sinnbildung dargestellt. Eine höhere Fallzahl sowie ausgiebigere und vergleichende Einzelfallrekonstruktionen hätten die Generalisierbarkeit weiter erhöhen können. Der Umfang von elf Interviews ist im Hinblick auf das Anliegen einer komplementären, vertiefenden Analyse jedoch als angemessen zu beurteilen (Helfferich, 2011, S. 175).
Für die Beurteilung der Generalisierbarkeit ist weiterhin die spezifische Thematik zu beachten. Alle Befragten partizipierten an einem Unterrichtsprojekt zum Thema Landwirtschaft und Ernährung als Transformationsfeld einer nachhaltigen Entwicklung, in der außerschulische Begegnungen mit ausgewählten Interessengruppen integriert wurden. Die Befunde bezüglich der Anregungspotenziale außerschulischer Begegnungen wurden in diesem konkreten thematischen Kontext gewonnen und beziehen sich auf eine Einbettung in den Politikunterricht der gymnasialen Oberstufe. Wie in Kapitel 6 dargelegt, war bei der Konzeption der Lerneinheit das Prinzip der Exemplarität zentral – eine gewisse Übertragbarkeit auf andere Transformationsfelder einer nachhaltigen Entwicklung wie etwa Mobilität, Wohnen, Konsum oder Energie und entsprechende Realbegegnungen mit Interessengruppen sowie anderen politischen Themenstellungen im Rahmen ähnlicher Lehr-Lern-Situationen kann zumindest angenommen werden. Wie im vorangegangenen Kapitel diskutiert, konnten empirisch fundierte Erkenntnisse generiert und didaktische Implikationen für die politische Bildungsarbeit abgeleitet und insofern das Kriterium der Relevanz erfüllt werden.
Abschließend ist auf das Gütekriterium der reflektierten Subjektivität einzugehen. Der Forschungsprozess ist nicht ohne das forschende Subjekt zu denken, das sich mit Annahmen und einem bestimmten Wissen sowie soziokulturellen Prägungen und Vorurteilen ins Forschungsfeld begibt. Sowohl die Interviewsituation als soziale Kommunikationssituation als auch der Auswertungsprozess in seiner hermeneutisch-interpretativen Ausrichtung sind dadurch beeinflusst. Vor diesem Hintergrund wurde die Rolle als Forscherin im gesamten Forschungsprozess reflektiert, u. a. durch das Führen eines Forschungstagebuchs während der Auswertung und regelmäßigen Austausch mit Expert*innen, um verschiedene Lesarten am Material kollegial zu validieren (Kruse, 2015; siehe Abschn. 8.1.4.2).
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Anhänge

Elektronisches Zusatzmaterial

Fußnoten
1
In einem dritten Teil des Interviews, der nicht im Rahmen dieser Arbeit dokumentiert wird, wurden die nachhaltigkeitsbezogenen Einstellungen, das Verhältnis zur Nachhaltigkeitsthematik und Haltungen der Lernenden, ohne explizite Bezugnahme auf das Unterrichtsprojekt, thematisiert. Im Zentrum standen Fragen nach dem Interesse an Nachhaltigkeit und Umweltschutz, der Motivation zu handeln, der wahrgenommenen Bedeutung verschiedener Handlungsebenen und ihrer transformatorischen Relevanz.
 
2
Im Folgenden werden die Kategorien mit „K“ abgekürzt, bspw. K1 = Kategorie 1.
 
3
In Abschnitt 8.1.1 zum Untersuchungsdesign wurde der methodische Zugang begründet und in Abschnitt 8.1.4 zum Auswertungsverfahren wurde offengelegt, wie mittels einer induktiv-deduktiven Kategorienbildung inhaltsanalytisch Erkenntnisse generiert werden. Das Potenzial des qualitativen Zugangs und die empirische Nähe zum Material liegt darin begründet, auf diese Weise an die subjektiven Sichtweisen und Konstruktionen der zu beforschenden Schüler*innen und ihrer Reflexions- und Sinnbildungsprozesse qua Inhaltsanalyse und Rekonstruktion zu gelangen. Das macht es unerlässlich mit dem konkreten Material zu arbeiten und stellt in der forschungsmethodischen Vorgehensweise als analytischen Zugang auch eine Herausforderung dar.
 
4
Die Kategorien werden folgendermaßen abgekürzt: bspw. K1 = Kategorie 1. Die Subkategorien erster Ordnung werden beispielsweise mit K1.1 abgekürzt. Eine weitere inhaltliche Ausdifferenzierung auf der Ebene der Subkategorien zweiter Ordnung ist durch Kursivsetzung gekennzeichnet (siehe auch Abschn. 8.1.4.3 „Dokumentation der Forschungsergebnisse“).
 
5
Sie betreffen globalisierte und exportorientierte Märkte, das eigene Kaufverhalten und die Erfordernis jenes zu ändern, die notwendige Unterstützung regionaler Landwirtschaft, den Handlungsdruck und Veränderungsbedarf, den Schaden an der Umwelt und die Kurzsichtigkeit der Politik, die Vernachlässigung von Nachhaltigkeitsaspekten in der Wirtschaft sowie die Tendenz zur billigen Massenproduktion, soziale Ungleichheit und die unterschiedlichen Bedingungen einer nachhaltigen Lebenspraxis, die Notwendigkeit einer bedarfsorientierten Exports und einer effizienten und rentablen Landwirtschaft sowie die Sorge um einen gesellschaftlichen „Rückschritt im Fortschritt“ durch suffiziente Lebensstile.
 
Metadaten
Titel
Interviewstudie ex post zur Analyse politischer Reflexions- und Sinnbildungsprozesse
verfasst von
Annegret Jansen
Copyright-Jahr
2025
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-46149-2_8