Der Umbau des Energiesystems von einer weitgehend hierarchischen hin zu einer stark dezentralisierten und nachhaltigen Struktur erfordert umfassende Überlegungen zur Entwicklung geeigneter IT-Lösungen. Dabei beeinflussen einerseits der Stand technischer Entwicklungen, andererseits der Stand der Regulatorik und Standardisierung die Verfügbarkeit und die Akzeptanz „passender“ Anwendungssysteme. Es wird zudem deutlich, dass weniger das Fehlen innovativer Ansätze in der IT, als vielmehr geeignete Wege zur „richtigen“ Kombination bereits verfügbarer – und vielfach auch bereits in anderen Bereichen bewährter – Technologien und Komponenten den notwendigen niederschwelligen IT-Einsatz erschweren. Dieser Einführungsbeitrag stellt daher ausgehend von den Besonderheiten des im Umbau befindlichen Energiesystems zentrale Technologien, Konzepte und Elemente im IT-Kontext vor, die notwendig sind, um die Herausforderungen bewältigen zu können. Ein Ausblick rundet den Beitrag ab.
Hinweise
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
1 Energiewirtschaftliche Ausgangslage
Ein konsequenter und vollständiger Umbau der Energiewirtschaft hin zur Nutzung erneuerbarer Energien und dezentraler Strukturen gilt heute als unumgänglich. Drei bis heute andauernde Entwicklungen trugen und tragen hierzu bei:
Schrittweiser Ersatz fossiler durch erneuerbare Energieträger
Bereits 1990 wurde mit dem Stromeinspeisegesetz (StromEinspG) als Vorläufer des Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) der Vorrang der erneuerbaren Energieerzeugung festgeschrieben. Ziel aktueller Planungen ist es, bis 2045 auf den Einsatz fossiler Brennstoffe in der Energiewirtschaft zu verzichten.
Neue Einsatzgebiete elektrischer Energie
Zahlreiche neue Anwendungen für elektrische Energie und der damit verbundene zusätzliche Bedarf an elektrischer Energie (Kemmler et al. 2021) entstehen aktuell beispielsweise durch die Dekarbonisierung im Verkehrssektor (E-Mobilität), im Gebäudesektor (Heizungstechnologien, Smart Home) und in der Industrie („grüner Stahl“). Zudem wird Strom für die Energieumwandlung (z. B. Wasserstoffgewinnung) sowie für den Betrieb moderner Kommunikationsnetze (einschließlich der darin betriebenen Endgeräte) und Rechenzentren in einer zunehmend datenorientierten Gesellschaft und Wirtschaft benötigt.
Öffnung der Energiewirtschaft für neue Marktteilnehmer
Ziel der politischen Willensbildung war es, die Monopolstrukturen in der Energiewirtschaft aufzulösen und so Wettbewerb zu ermöglichen, was in anderen Industrien schon lange galt. Da es sich bei den Stromnetzen um ein natürliches Monopol handelt, wurden dazu die Bereiche Netzbetrieb und Stromvertrieb unternehmensrechtlich getrennt (Unbundling). Der Bereich Stromvertrieb wurde geöffnet, Stromlieferanten wurde diskriminierungsfrei Zugang zu den Netzen gewährt, sodass diese ohne Betreiben eines eigenen Netzes Kunden beliefern können. Damit dieser Wettbewerb funktioniert, müssen zahlreiche neue (Geschäfts‑)Prozesse mit Hilfe von IT abzubilden sein (Holstenkamp und Radke 2018). Dies berührt auch die neu geschaffene Rolle des Energieserviceanbieters (ESA). Insgesamt nimmt die IT in der Energiewirtschaft mit der Liberalisierung einen sehr hohen Stellenwert ein.
Das Zusammenspiel aller Marktrollen wird in der Beschreibung der Prozesse, die zu einer funktionierenden Energieversorgung notwendig sind, von der Bundesnetzagentur (BNetzA) über Verordnungen geregelt, die außer den Prozessen auch die Kommunikationsschnittstellen zwischen den Marktrollen festlegt (BNetzA 2020, 2024a) und damit wesentliche fachliche Vorgaben für die notwendigen Anwendungssysteme formuliert. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. (BDEW) wiederum verantwortet die technische Spezifikation der Marktkommunikation, die ebenfalls Auswirkungen auf die Gestaltung der hierfür notwendigen IT hat.
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Damit stellt dieser Umbau der Energiewirtschaft neue und mitunter hohe Anforderungen an die IT und bewirkt dort teilweise umfassende Veränderungen. Ausgehend von den veränderten energiewirtschaftlichen Strukturen und Prozessen ist es Ziel des Beitrags, einen Überblick über ausgewählte wesentliche Bestandteile der an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Anwendungsszenarien oder für unterschiedliche Rollen notwendigen IT herzustellen.
Der Beitrag beginnt mit einer Einführung in die Charakteristika der Energiewende. Schwerpunktmäßig wird der Umbau des Stromnetzes1 auf Verteilnetzebene weg von zentralen, hin zu dezentralen Strukturen aufgezeigt. Der folgende Abschnitt stellt die mit der Digitalisierung verbundene Strategie, die zu ihrer Umsetzung notwendigen Informationssysteme und genutzten Technologien vor. Ein Ausblick fasst derzeit noch offene Aspekte mit Blick auf die IT zusammen.
2 Energiewirtschaftliche Grundlagen
2.1 Bedeutung und Zusammenspiel dezentraler und zentraler Strukturen
Der Begriff „Energiewende“ hat sich zu einer populären, wenngleich kontrovers diskutierten Bezeichnung für den Umbau des Energiesystems entwickelt, unter der vielfältige Trends und Veränderungen energiewirtschaftlicher Strukturen zusammengefasst werden. Der Begriff hält insbesondere durch die Publikation des Öko-Instituts „Energie-Wende. Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“ (Öko-Institut 19802) Einzug in energiewirtschaftliche Debatten, die eine Abkehr von fossiler und atomarer Energieerzeugung zum Inhalt haben. Idee und Begriff der Energiewende sind daher nicht zuletzt aufgrund des deutschen Kernenergieausstiegs eng mit dem deutschen Energiesystem verknüpft.
Grundsätzliches Ziel der Energiewende in Deutschland ist es, nicht-erneuerbare Energieträger durch erneuerbare Energieträger sektorübergreifend zu substituieren. Dabei kommen elektrischer Energie, ihrer Erzeugung, Speicherung und Verteilung eine zentrale Bedeutung zu.
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Um die gesellschaftlichen Anforderungen an eine moderne Stromversorgung erfüllen zu können, ist ein passendes Strommarktdesign erforderlich (Böttger et al. 2021), das neben vielen anderen Maßnahmen den systematischen Ausbau der technischen Infrastruktur und die damit verbundenen sehr großen Investitionen umfasst:
Bau neuer Erzeugungsanlagen für Windenergie und Photovoltaik
Hierunter fallen sowohl große Anlagen (Wind- und Solarparks institutioneller Betreiber), als auch noch stärker dezentrale PV-Anlagen auf Dächern, an Zäunen und Balkonen in der Verantwortung zahlreicher „Prosumer“. Unter einem Prosumer lassen sich alle Letztverbraucher zusammenfassen, die gleichzeitig über entsprechende Anlagen zur Energieerzeugung und -speicherung (PV-Anlagen, stationäre Batteriespeicher und Speicher im Kontext der E‑Mobilität) verfügen und damit aktiv am Energiemarkt teilnehmen. Sie können abhängig von der konkreten Gestaltung ihr hausinternes Netz selbst regeln. Hierfür setzen Sie ebenfalls IT ein. Der erzeugte Strom dient zum Eigenverbrauch, lediglich der zusätzlich benötigte oder erzeugte Strom wird aus dem öffentlichen Netz bezogen oder in das öffentliche Netz eingespeist.
Ausbau der Übertragungs- und Verteilnetze
In zahlreichen Infrastrukturprojekten werden derzeit bestehende Netze durch Verstärkung und Engpassbeseitigung ertüchtigt3. Neue Fernleitungen sollen die Norddeutschen Erzeugerschwerpunkte (On- und Offshore-Windparks) mit den süddeutschen Verbraucherschwerpunkten verbinden. Wo nötig wird auch die steuernde und überwachende IT modernisiert.
Die bislang überwiegend zentrale Energieversorgung (in Ballungszentren mit ihren stadtnahen Kraftwerken und den von ihnen ausgehenden Stromtrassen sehr gut beobachtbar) erfährt insbesondere aufgrund des Zubaus kleinteiliger, erneuerbarer Energieanlagen im ländlichen, zunehmend auch im städtischen Raum eine Dezentralisierung. Der damit einhergehende Prozess wurde jedoch nicht durch neue Erfindungen angestoßen, sondern durch einen politisch-gesellschaftlichen Diskurs initiiert. Kaum ein anderer Bereich hat eine derartig dynamische Systemtransformation erlebt wie der Energiesektor (Doleski 2017, 2020a). Die Lösungen zur Unterstützung der Energiewende sind vielfältig und umfassen neben dem Bau erneuerbarer Energieanlagen sowie dem Ausbau des Übertragungs- und Verteilnetzes insbesondere die Sektorkopplung, Bemühungen zur Steigerung der Energieeffizienz sowie eine Erhöhung der Elektromobilität.
Die Transformation des Energiesystems beinhaltet auch zentrale Elemente. Solche zentralen Elemente können beispielsweise große Offshore-Windparks in der Nord- und Ostsee darstellen oder Großspeicher. Ferner können durch die Konzentration der Energieerzeugung an bestimmten Standorten Effizienzgewinne erzielt werden, etwa durch bessere Auslastung von Anlagen, Skaleneffekte bei der Produktion oder eine Optimierung der Netzintegration erneuerbarer Energien.
Zur Bewältigung dieser Transformation sind digitale Lösungen erforderlich. Geeignete digitalen Lösungen umfassen Anlagen und Geräte, die IT-Infrastruktur (Netzwerke, Server), Anwendungssysteme sowie Daten. Sie unterstützen bei den beiden wesentlichen Aufgaben, die im Rahmen des Betriebs von Stromnetzen anfallen:
der physikalische Ausgleich (Regelenergie)
Hierunter wird die Stabilisierung des Netzes verstanden, konkret, das Halten von Spannung und Frequenz durch das Gleichgewicht von Einspeisung und Entnahme zu jedem Zeitpunkt. Dies gelingt durch den Einsatz steuerbarer Erzeuger und Verbraucher, Stromspeicher und netzdienliches Verbraucherverhalten.
der bilanzielle und finanzielle Ausgleich (Ausgleichsenergie)
Hierunter wird die verursachungsgerechte Umlage der Kosten der Regelenergie verstanden. Ziel ist es, die kostenintensive Unter- oder Überproduktion (Unter- oder Überspeisung) und die damit verbundenen kostenintensiven Redispatch-Maßnahmen4 zu vermeiden.
2.2 Der physikalische Ausgleich
Bislang erfolgt die Steuerung des Netzes auf Höchst- und Hochspannungsebene durch die Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber (ÜNB bzw. VNB). Hierzu können durch den Handel mit Stromkontingenten bis einen Tag vor Ausführung der Stromlieferung über Handelsplattformen Strommengen auf Basis von Viertelstundenwerten ausgeglichen werden. Im Intraday-Handel ist sogar ein Ausgleich bis eine Stunde vor Lieferung möglich. Unmittelbar vor der physikalischen Erfüllung können Fehlmengen frequenzabhängig automatisiert über die Primärreserve ausgeglichen werden. Weiterhin stehen, Sekundärregelleistung und Minutenreserve zur Verfügung. Über- oder Unterdeckung zum Ausführungszeitpunkt werden durch Regelstrom ausgeglichen, der am Regelenergiemarkt beschafft wird. Für die Regelstromversorgung vorgesehene Kraftwerke werden im Rahmen des Einspeisemanagements zu- oder abgeschaltet beziehungsweise gedrosselt. Auch Industrieanlagen und andere Großverbraucher können zu- oder abgeschaltet werden. Der Überlastung von einzelnen Leitungsabschnitten kann durch Eingriffe in die Erzeugungsleistung von Kraftwerken (räumliche Verschiebung der Erzeugung) entgegengewirkt werden (klassischer Redispatch).
In einem künftigen Netz erfolgt die Steuerung durch die Verteilnetzbetreiber zusätzlich auch auf lokaler Mittel- und Niederspannungsebene. Denn die Herausforderung dieses „neuen“ physikalischen Ausgleichs liegt in der fluktuierenden Energieeinspeisung durch eine Vielzahl dezentraler Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien aus Wind und Sonne, die nun bereits ab einer Leistung größer 100 KW an das Mittelspannungsnetz angeschlossen werden dürfen. Dazu werden die Rollen Anlagenbetreiber (AB) und Einsatzverantwortlicher (EIV) zur Bereitstellung von Anlagendaten und Prognosen eingeführt. Bausteine zur Stabilisierung können hier beispielsweise Elektrofahrzeuge, stationäre Batteriespeicher und weitere Speichertechnologien sein, aber auch Wärmepumpen und Anlagen für die Kraft-Wärme-Kopplung, indem sie als Micro Grid (Abschn. 3) das Energiesystem netzdienlich unterstützen (Wesselak et al. 2017) und je nach Auslegung auch als Netzbooster (BMWK 2020) wirken können. Je nach Erfordernis sind sie in der Lage, in Sekundenbruchteilen Energie bereitzustellen oder aus dem Gesamtsystem zu entnehmen.
Um optimiert auf die neuen Verhältnisse reagieren zu können, reduzierte die Novellierung der „Abschaltbare Lasten Verordnung“ (AbLaV) aus dem Jahr 2016 die erforderliche Mindestgrenze deutlich auf 5 MW abschaltbare Leistung. Aktuell lassen sich im Sinne des § 14a EnWG und des § 14c EnWG (marktgestützte Beschaffung von Flexibilitätsdienstleistungen5 im Verteilnetz) auch kleinere steuerbare Verbraucher zur Netzstabilisierung heranziehen.
Gleichzeitig ist es volkswirtschaftlich nicht sinnvoll, für jeden denkbaren Lastfall Reserven zu schaffen. Vielmehr lassen sich Überlastungen des Netzes auch durch Anpassung des Erzeuger- und Verbraucherverhaltens vermeiden. Hierzu werden marktwirtschaftliche Anreize gesetzt. Zur Beeinflussung des Prosumer-Verbraucherverhaltens bietet sich eine Steuerung über variable oder dynamische Tarife an, die seit 2021 angeboten werden können, bis 2025 angeboten werden müssen. Dabei wird unter einem variablen Tarif ein Tarifmodell verstanden, das den Preis der bezogenen Energie in Abhängigkeit von der Zeit, der Last (Kunden- oder Systemlast), dem Verbrauch oder dem Lastmanagement variiert (Nabe et al. 2009; Forschungsstelle für Energiewirtschaft 2022). Dynamische Tarife wiederum variieren fortlaufend in Anlehnung an den Spotmarktpreis (Day-Ahead oder Intraday) für Strom.
Dezentrale Einheiten wechseln zur Stabilisierung in einem solchen Tarifsystem dynamisch zwischen Eigenverbrauch, Systemdienstleistungen und Handelsmärkten. Letztlich wird Flexibilität auf Basis festgelegter Prozesse zur Verfügung gestellt, um dezentrale Anlagen in ein Gesamtsystem zu integrieren. In einem solchen „neuen“ Netz werden Redispatch und Einspeisemanagement zusammengeführt (Redispatch 2.0). Hierdurch soll das Beseitigen von Netzengpässen kostengünstiger werden. Gleichzeitig lassen sich in einem solchen System die auch weiterhin benötigten Reservekapazitäten vermehrt auf freiwilliger (marktwirtschaftlicher) Basis bereitstellen. Sie müssen daher über interessante Angebote vergütet werden.
Der Schlüssel dazu liegt in der Erhebung und Nutzung von Energiedaten. Aktuell besteht hier jedoch eine „digitale Lücke“ (Strüker et al. 2021), die überwunden werden muss, denn weder die technischen Voraussetzungen noch die Prozesse für eine systematische Marktintegration sowie die Nutzung netzdienlicher Beiträge dezentraler Anlagen sind derzeit vollumfänglich erfüllt.
2.3 Der bilanzielle und finanzielle Ausgleich
Eine solche Bereitstellung und deren Vergütung müssen sorgfältig geplant werden. Neben energietechnischen, durch entsprechende Anlagensteuerungen gestützte Aktivitäten sind hierzu energiewirtschaftliche Überlegungen notwendig.
Um im Vorfeld von Stromlieferungen zu ausgeglichenen Strommengen zu kommen, sind alle Einspeise- und Verbrauchsstellen Bilanzkreisen zugeordnet, die stets ausgeglichen sein müssen. Die hierfür notwendige Bilanzierung von Energiemengen führen die Marktrollen Bilanzkreisverantwortlicher (BKV) und Bilanzkoordinator (BIKO) durch. Der BKV sorgt für einen ausgeglichenen Bilanzkreis und trägt die wirtschaftliche Verantwortung für Abweichungen zwischen Einspeisung und Entnahme. Der BIKO erstellt zu jedem Liefermonat eine Bilanzkreisabrechnung für jeden Bilanzkreis seiner Regelzone und ermittelt die Preise für die Regelenergie6.
In den 2011 erstmals formulierten „Marktregeln für die Durchführung der Bilanzkreisabrechnung Strom“ (BnetzA 2024b) wird die Kommunikation zu den prognostizierten und tatsächlich gelieferten Strommengen festgelegt. Nach der Kraftwerk-Einsatzplanung (Dispatch) und den daraus folgenden Stromlieferungen werden die tatsächlichen Viertelstundenwerte des Stromverbrauchs bilanzkreis-scharf vom VNB für einen Liefermonat akkumuliert und an den ÜNB gesendet. Der ÜNB in der Rolle des BIKO berechnet die Über- und Unterspeisungen jedes Bilanzkreises (Regelenergie). Die Beschaffungskosten des Regelstroms für jede Viertelstunde, der über den Regelstrommarkt bezogen wird, werden dann einmal im Monat – getrennt nach Über- und Unterspeisung – an die BKV gesandt und dort auf die Verursacher verteilt.
Dieses Verfahren sieht für jeden Liefermonat eine Frist von acht Monaten bis zur endgültigen Bilanzkreisabrechnung vor. Ursache für den langen Zeitraum ist die Konsolidierung der oft fehlerhaften und unvollständigen Messdaten in einem aufwendigen Clearingverfahren7.
Ein wichtiges Ziel der Digitalisierung besteht daher in einer deutlichen Verbesserung der Qualität von Energiedaten. Durch das Messstellenbetriebsgesetz (MsbG) und das Gesetz zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende (GNDEW) wurden die gesetzlichen Voraussetzungen zur flächendeckenden Einführung von intelligenten Messsystemen (iMSys, Abschn. 3) geschaffen.
Hierzu beschreibt die Verordnung „Marktkommunikation 2020“8 (BNetzA 2020, 2024a) zur weiteren Anpassung der Vorgaben zur elektronischen Marktkommunikation eine sternförmige Datenkommunikation vom iMSys zu allen berechtigten Marktpartnern. Die Akkumulationsverantwortung für die in Zeitreihen gespeicherten Verbrauchsdaten geht vom VNB auf den ÜNB über. Trotz einer vergleichsweise komplexen Logik des Verfahrens führt der Wegfall von Zwischenschritten zu einer gewissen Vereinfachung. Dies verringert die Fehleranfälligkeit und erhöht die Datenqualität.
Eine besondere Herausforderung ist die Abrechnung von Systemleistungen zur Stabilisierung des Stromnetzes. Hierzu hat die BNetzA kürzlich einen Beschluss veröffentlicht, der die Vergütung von Leistungen aus dem Redispatch vereinheitlichen soll (BNetzA 2024c). Eine weitere Herausforderung ist der bilanzielle Ausgleich von Energiemengen bei vom jeweiligen ÜNB angeordneten Redispatch-Maßnahmen. Erzeuger dürfen bereits vermarktete Strommengen nicht einspeisen oder zusätzliche Strommengen müssen als vermarktet bilanziert werden. Notwendige Umbuchungen sind wegen der lang andauernden Clearingprozesse im MaBis zeitaufwendig und führen zu Verzögerungen beim finanziellen Ausgleich von Systemleistungen.
3 Die Energieinformatik
Wie in anderen Branchen hielt auch im Energiesektor als Teil der Kritischen Infrastruktur (KRITIS) (Naumann 2024; BSI 2024; openKRITIS 2024) die IT schrittweise Einzug. In Kraftwerken, Netzleitstellen, Umspannwerken und weiteren in die Stromversorgung eingebundenen Elementen wurden im Zeitablauf analoge Steuerungen durch Systeme mit stetig wachsendem IT-Anteil eingesetzt, Funktionalitäten wurden ergänzt, Prozesse damit optimiert, die (Betriebs‑)Sicherheit erhöht. Es entstanden aber auch neue Risiken und Herausforderungen, etwa durch die zunehmende Vernetzung. Systeme, die zuvor geographisch und technisch unerreichbar waren, sind nunmehr trotz sorgfältig entwickelter Sicherheitskonzepte, etwa durch Netzsegmentierungen oder getrennte Netze mitunter dennoch nur wenige Kommandozeilen-Befehle entfernt.
Der sowohl technische, als auch rechtliche Umbau des Energiesystems (Abschn. 2), die damit verbundenen Fragestellungen und zahlreichen Möglichkeiten für neue Geschäftsmodelle, aber auch die zunehmenden Auswirkungen unterschiedlichster Vorgaben auf die genutzte IT, führten zu Notwendigkeit und Wunsch einer digitalen Transformation des gesamten Energiesektors. Der Ruf nach einer wissenschaftlichen Disziplin, die interdisziplinär an dazu passenden Lösungen forschen und die Gestaltung des neuen Energiesystems vorantreiben kann, wuchs. Die Energieinformatik entstand. Sie entwickelt, nutzt und verbindet inter- und transdisziplinär Methoden aus der technischen Informatik, der Datenanalyse, der Energietechnik und der Energiewirtschaft (Goebel et al. 2014).
Ziel dieser Disziplin ist es, aufbauend auf einem Gesamtbild die unterschiedlichen Technologien und Konzepte auf Eignung für die angestrebte digitale Transformation des Energiesektors zu überprüfen, weiterzuentwickeln und in das Gesamtbild einzuordnen, um so eine „passende IT“ aufzubauen.
3.1 Das Gesamtbild: Informationssysteme und ihre IT-Architektur
Eine solche passende IT lässt sich aus den in Abschn. 2 skizzierten gesellschaftspolitischen, volkswirtschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Strategien ableiten, die mit der Energiewende verfolgt werden. Die zahlreichen Akteure gestalten dabei ihre IT-Strategien mit dem Ziel, ein innovatives, intelligentes Gesamtsystem zu schaffen – subsumiert unter dem Begriff „Utility 4.0“ (Aichele 2018). Auf Basis der IT-Strategien gestaltet das IT-Governance‑, Risk- und Compliance-Management (Strahringer und Knoll 2018) die für die jeweiligen Akteure „passenden“ Informationssysteme (Abb. 1).
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IT-Governance sorgt dabei für eine gesamthafte Planung und Steuerung. Damit soll idealerweise verhindert werden, dass innerhalb und zwischen den Organisationen einzelner Akteure Partikularinteressen-gesteuerte (Insel‑)Lösungen eine effektive und effiziente IT-Funktion und einen notwendigen effektiven und effizienten Informationsaustausch verhindern. Risk- und Compliance-Management wiederum stellen sicher, dass Risiken bestmöglich beherrscht und alle relevanten Vorgaben eingehalten werden. Ist IT-Risikomanagement bereits für jedes Unternehmen herausfordernd, gelten im Bereich der Kritischen Infrastruktur noch einmal verschärfte Anforderungen. Dies bedingt die Forderung nach durchdachten und konsequent umgesetzten Risikomanagement-Prozessen und einem leistungsfähigen Internen Kontrollsystem. Unter den Compliance-Aspekt schließlich fallen nicht nur die staatliche Regulierung, sondern auch alle technischen und andere branchenspezifischen sowie unternehmensinternen Normen, Standards und Richtlinien.
Die unter einem angemessenen und wirksamen IT-GRC-Management gestalteten Informationssysteme bestehen aus den energiewirtschaftlichen Prozessen, den energiewirtschaftlichen Daten und den IT-Systemen. Die IT-Systeme basieren auf geeigneten IT-Architekturen, die von den jeweiligen Organisationen gewählt wurden. Eine IT-Architektur (Keller 2024) legt Strukturen fest (Aufbau-Aspekt) und definiert Regeln (Ablauf-Aspekt), die das Zusammenwirken aller IT-Systeme und deren Bestandteile sowie Daten und Datenflüsse koordinieren. Hierzu nutzt sie Methoden, Modelle und Richtlinien.
Die durch die digitale Transformation entstehende neue IT-Architektur erweitert die fachlichen und technischen Möglichkeiten. Sie erlaubt auf Basis des Gesetzes zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende (GNDEW) aus dem Jahr 20239 neben einer intelligenten Steuerung die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und einer Plattformökonomie (Edelmann und Kaniut 2020). Innerhalb der IT-Architektur wird zwischen Anwendungsarchitektur und Datenarchitektur unterschieden (Lilienthal 2024; Serra 2024).
In der Anwendungsarchitektur sind dabei alle Anwendungen zur Unterstützung des physikalischen Ausgleichs (sogenannte „OT“, Operational Technology/„Betriebstechnologie“) und des bilanziellen und finanziellen Ausgleich (sogenannte „IT“, „Informationstechnologie“) enthalten.
Die IT wird abhängig vom jeweiligen Akteur zur Unterstützung seiner betriebswirtschaftlichen Prozesse genutzt. Hierzu zählen sowohl Standardprozesse (Kunden‑/Vertragsverwaltung, Verbrauchsabrechnung), als auch Anwendungen im Kontext neuer Services, etwa Chatbots (Doleski 2020b). Zudem umfasst die IT auch Business-Intelligence-Anwendungen zur Analyse der zunehmenden Menge an Energiedaten sowie zur Unterstützung zahlreicher, aus der Regulierung entstandener Berichtspflichten, etwa die Meldungen an die BNetzA und weitere aufsichtsrechtliche und regulierende Stellen. Während diese Anforderungen aus dem bilanziellen und finanziellen Ausgleich im Rahmen der Öffnung des Marktes und des neuen Marktdesigns weitestgehend durch vorhandene Standardsoftware und einer (nicht zeitkritischen) Vernetzung der Marktteilnehmer erfüllt werden können, erfordert die dafür notwendige „intelligente“ Steuerung des Stromnetzes ein Umdenken beim Einsatz von OT.
OT umfasst dazu neben spezialisierten Steuerungs- und Automatisierungs-Anwendungen, etwa Lösungen für Leitwarten, eine stark zunehmende Anzahl vielfältiger Geräte des „(industriellen) Internet der Dinge“ (sog. IIoT-Devices). Solche Geräte umfassen bis in Privathaushalte hinein in diesem Kontext bislang nicht genutzte Sensorik zur Erzeugung von Daten und Aktorik zur Ausführung von Regeleingriffen, die nun an beliebigen Orten im Kontext der effektiven und effizienten Erzeugung, Verteilung, Speicherung und Nutzung von Energie notwendig sind. Dies reicht beispielsweise von Temperatur- und Drucksensoren in einem Kraftwerk über Strom- und Spannungsmesser in Umspannwerken, Gerätesteuerungen in Trafostationen (Krone und Bachmann 2017) bis zum „Balkonkraftwerk“ in einem Privathaushalt, das einfache Sensorik und Aktorik enthält und über eine Cloud-basierte App gesteuert werden kann. War solche OT bislang vielfach nicht vernetzt, proprietär und in Teilen analog, wird nun geeignete leistungsfähige Hard- und Firmware sowie die Fähigkeit zur Vernetzung10 über schnelle Echtzeit-Verbindungen und standardisierte Technologien11 gefordert.
IT und OT werden damit gemeinsam zu „Enablern“ des Umbaus der Energiewirtschaft. Sie müssen dazu fünf grundsätzliche Anforderungen erfüllen:
Flexibilität und Skalierbarkeit
Aufgrund der zunehmenden Dezentralisierung in der Energiewirtschaft und den damit verbundenen vielfältigen fachlichen und technischen Anforderungen müssen IT- und OT-Komponenten flexibel und schnell auf Veränderungen reagieren können und skalierbar sein. Dazu gehört beispielsweise die Fähigkeit, Lasten IT-gestützt zu- und abschalten und innerhalb sehr kurzer Zeiten sehr große Datenmengen verarbeiten zu können (Pflaum und Egler 2017).
Modularität und Interoperabilität
Neue Hard- und Software muss sich leicht integrieren und modifizieren lassen. Dies geschieht über einen modularen Aufbau, der die Interoperabilität fördert, sowie über geeignete Koordinationsmechanismen. Gleichzeitig sollen – wo möglich – standardisierte, herstellerunabhängige Schnittstellen, Protokolle und Technologien unter Beachtung der Datensouveränität und des Datenschutzes genutzt werden (Hennig et al. 2018). Ein solcher modularer Aufbau lässt sich auf Architekturebene beispielsweise durch eine serviceorientierte Architektur (SOA) und in der OT mit OPC/UA (Rohjahns 2010) realisieren. Damit ist technisch eine m:n-Kommunikation zwischen allen IT-/OT-Elementen möglich.
IT-OT-Konvergenz
In der digitalen Energiewirtschaft nimmt die OT eine vollkommen neue Position ein. Gefordert wird eine in der Vergangenheit technisch meist nicht realisierbare und mit Blick auf mögliche (IT- und Cyber-Sicherheits‑)Risiken aus Sicht der verantwortlichen Akteure undenkbare, heute jedoch zwingend notwendige, rasch fortschreitende Konvergenz zwischen IT und OT. Tatsächlich hat diese Konvergenz nicht nur weitreichende technische Folgen, etwa den Verlust der sogenannten „Air Gap“, die bislang eine gewisse Sicherheit vor Angriffen bot, oder die Notwendigkeit zur Schaffung universeller Kommunikationsprotokolle, Adapter und Schnittstellen. IT-OT-Konvergenz erfordert auch eine umfassende Beschäftigung mit der Aufbau- und Ablauforganisation innerhalb der beteiligten Unternehmen, um eine effektive und effiziente Kommunikation zwischen dem IT- und OT-Personal sicherzustellen. Gleichzeitig müssen veränderte Qualifikationsprofile und die sich daraus ergebenden Weiterbildungs- und Recruiting-Aspekte betrachtet werden.
Sicherheit und Datenschutz
IT- und OT mit dieser Komplexität in kritischen Infrastrukturen stellen hohe Anforderungen an ihre Informationssicherheit, insbesondere die Cybersicherheit (Loomans und Vogel 2021; Stuckenholz 2020; BSI 2021), die Resilienz gegenüber Sicherheitsvorfällen (Security Resiliance) sowie angesichts der Sensibilität von personenbezogenen Verbrauchsdaten an den Datenschutz. Dies erfordert beispielsweise auch den Aufbau einer Public-Key-Infrastruktur für eine sichere Datenkommunikation aller Marktpartner (Vortanz und Zayer 2017). Zugleich sind eine stets gemeinsame Betrachtung von IT und OT und aufeinander abgestimmte Sicherheits-Prozesse für eine wirkungsvolle Reduktion der Angriffsfläche und eine schnelle, konsequente und zielorientierte Reaktion im Sinne höchstmöglicher Sicherheit und eines größtmöglichen Datenschutzes unerlässlich. Aktuell wird in diesem Kontext die Umsetzung der europäischen Richtlinie 2022/2555 (Netzwerk- und Informationssicherheitsrichtlinie 2/NIS-2) über das NIS-Umsetzungsgesetz (NIS2UmsuCG) diskutiert. Es soll noch in 2024 in Kraft treten und wird zahlreiche neue Anforderungen an die Informationssicherheit in kritischen Infrastrukturen und damit auch für den Energiesektor mit sich bringen.
Zeitsynchronisation
Die Steuerung und Koordination der OT in immer stärker dezentralisierten energiewirtschaftlichen Systemen stellen hohe Anforderungen an die zeitliche Genauigkeit. Damit das Zusammenspiel der einzelnen Elemente störungsfrei funktioniert, ist eine Zeitsynchronisation unerlässlich (Rinaldi et al. 2017; BSI 2021).
In der Datenarchitektur sind alle Daten exakt beschrieben und zueinander in Beziehung gesetzt. Zu den Daten zählen betriebswirtschaftliche und technische Daten. Die Daten werden jeweils unterschieden in Stamm- und Bewegungsdaten. Idealerweise werden standardisierte Datenformate12 genutzt. Eine strikte Trennung hinsichtlich der Nutzung technischer und betriebswirtschaftlicher Daten gibt es nicht, was durch die gezackte Linie in Abb. 1 ausgedrückt werden soll. Denn auf den ersten Blick scheinen zwar technische Daten dem physikalischen Ausgleich und betriebswirtschaftliche Daten dem bilanziellen und finanziellen Ausgleich zugeordnet. Tatsächlich jedoch sind Energiedaten auch zur Ermittlung des Verbrauchs oder der Menge eingespeister Energie notwendig.
Zu den betriebswirtschaftlichen Stammdaten zählen beispielsweise Kundeninformationen oder Preisinformationen, zu den technischen Stammdaten Angaben zur Messinfrastruktur oder das EEG-Anlagenregister.
Betriebswirtschaftliche Bewegungsdaten entstehen in Abrechnungs- und Kundenmanagementprozessen. Technische Bewegungsdaten werden unterschieden in Energie- und Anlagendaten. Energiedaten besitzen stets einen Zeitbezug und umfassen alle Energieverbrauchs- und -einspeisedaten, die von (I)IoT-Geräten erfasst werden. Anlagendaten umfassen alle übrigen betriebsrelevanten Daten, die ebenfalls von (I)IoT-Geräten erfasst werden, etwa Betriebszustände (Effenberger und Hilbert 2018). Energiedaten lassen sich wiederum unterteilen in Planungsdaten, Onlinedaten und Zählwerte. Onlinedaten und Zählwerte unterscheiden sich in der Erfassungsfrequenz. Onlinedaten („Echtzeitdaten“) werden kontinuierlich, Zählwerte in festen Perioden erfasst (Pflaum und Egeler 2017).
Eine weitere Systematik unterscheidet nach der Herkunft der Energiedaten. Daten der Feldebene werden messtechnisch erfasst. Sie umfassen Daten der Gebäude- und Prozessleittechnik, Daten zum Lastmanagement und Daten aus intelligenten Messsystemen (iMSys, Abschn. 3.2). Hier erleichtert die IT-OT-Konvergenz eine Mehrfachnutzung der Energiedaten. Gleichzeitig lassen sich zahlreiche, bislang als nicht relevant eingestufte Anlagendaten durch Umrüstung bestehender oder Entwicklung neuer Anlagen erstmals kostengünstig mit hoher Genauigkeit und Detailliertheit erheben. Externe Daten umfassen beispielsweise Klima- und Börsendaten.
Insgesamt stehen bei konsequenter historisierter Speicherung durch Rückgriff auf die so entstandene große Datenbasis und gegebenenfalls in anonymisierter und aggregierter Form zeitgenaue Einspeise- und Verbrauchsdaten, Anlagen- und Netzzustandsdaten, Wetterdaten sowie Preisdaten und viele weitere Informationen im energiewirtschaftlichen Kontext für Analysen zur Verfügung. Sie stammen unter Beachtung von Datenschutzregelungen sowohl aus Privathaushalten und Industrieunternehmen, als auch von Netzbetreibern, Energieversorgern und weiteren Quellen und lassen sich zur Planung und Steuerung des Stromnetzes und seiner Ressourcen einsetzen. Auf Basis dieser Daten ist nicht nur der Aufbau einer Plattformökonomie (Edelmann und Kaniut 2020) und der darin eingeschlossenen neuen Konzepte wie variable Tarife hinsichtlich Zeit, Last und weiterer Faktoren oder vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance) möglich, es lässt sich auch gezielter auf witterungs- und lastabhängige Besonderheiten reagieren, was die in Abschn. 2 dargestellte Anforderung nach Flexibilitäten erfüllt (Pflaum und Egeler 2017).
3.2 Technologien und Konzepte
Zur Realisierung neuer Informationssysteme für die Energiewirtschaft greift die Energieinformatik auf bereits bewährte Technologien und Konzepte zurück und entwickelt sie weiter. Einige für den Umbau der Energiewirtschaft besonders zentralen Ansätze werden im Folgenden vorgestellt.
3.2.1 Energieinformationssysteme und Energiedatenmanagement
Die in Abschn. 2 dargestellte Transformation der Energiewirtschaft erfordert die Speicherung und Analyse sehr großer vergangenheitsbezogener und zukunftsgerichteter Datenmengen.
Dazu werden alle Daten zentral und/oder dezentral in Energieinformationssystemen (Energy Information Systems, EIS, vgl. Matuschik-Weiss 2023; Effenberger und Hilbert 2018) gespeichert. Zur Speicherung von Energiedaten in EIS werden relationale Datenbanken genutzt. Für bestimmte Einsatzzwecke bieten sich jedoch auch eine Blockchain oder dokumentenorientierte Datenbanken (sog. NoSQL-Datenbanken) an (Achenbach 2020).
Solche EIS sind Bestandteil von Energiedatenmanagementsystemen (EDMS), die wiederum Teil von Energiemanagementsystemen (EMS) sind (Engelmann 2019).
Die Zielsetzung solcher EMS besteht in der Herstellung von Transparenz über die energetischen Strukturen in Unternehmen und Privathaushalten, um einerseits jederzeit einen Überblick über den Verbrauch und die Erzeugung von Energie zu besitzen und andererseits mögliche Optimierungspotenziale mit Blick auf die Einsparung von Energiekosten und die Steigerung der Energieeffizienz erschließen zu können (Engelmann 2019).
3.2.2 Intelligente Messsysteme (iMSys)
Die bislang vielfach noch immer vorhandene Mess-Infrastruktur erlaubt lediglich eine Bereitstellung von Messwerten, die zwar für die jährliche Abrechnung praktikabel, jedoch für die in Abschn. 2 geforderte Flexibilisierung viel zu grobgranular sind. Es bedarf daher einer flächendeckenden Implementierung von intelligenten Messsystemen (iMSys). Solche iMSys gelten als das „smarte Energiesystem der Zukunft“ (Kelly 2020), über das unterschiedliche Akteure mit ihren Geschäftsmodellen in das neue Energiesystem eingebunden werden sollen (Vortanz und Zayer 2017). Sie bestehen aus Hardware- und Softwarekomponenten, die eine sichere, genaue und zeitnahe Erfassung, Übertragung und Verarbeitung von Verbrauchs- und Netzzustandsdaten ermöglichen. Dies erhöht die Transparenz im Verteilnetz. Zugleich lassen sich steuerbare Verbraucher netz- und marktdienlich einbinden. Zur Erfüllung dieser Aufgaben bestehen iMSys aus drei Komponenten13:
einem oder mehreren digitalen Stromzählern mit Kommunikationsmodul
Sie besitzen neben einer digitalen Anzeige eine Schnittstelle zur Übermittlung des (zeitlich differenzierten) Leistungsbezugs aus dem Netz sowie der Leistungseinspeisung in das Netz.
einem Smart-Meter-Gateway (SMGW) mit (CLS-)Schnittstellen
Es sammelt, verarbeitet und überträgt unter Einhaltung hoher Sicherheitsstandards die Energieverbrauchsdaten und fungiert als Schnittstelle zwischen dem Letztverbraucher, dem Energielieferanten, dem Messstellenbetreiber und weiteren Partnern. Zudem übernimmt es die Authentifizierung von Teilnehmern, die Verschlüsselung von Daten und die Sicherstellung der Datenintegrität. Auch die Abbildung von Tarifmodellen und Profilen, die für die Marktkommunikation notwendig sind, erfolgt im SMGW.
einem software-basierten CLS-Adapter/CLS-Gateway
Ein solcher Adapter bindet unterschiedliche lokale Anwendungen und Geräte (Controllable Local Systems/CLS) ein, etwa PV-Anlagen, Wärmepumpen, Wallboxen, eine Smart-Home-Lösung oder Lösungen der Gebäudeautomation. Dies ist Voraussetzung für die Nutzung dynamischer oder variabler Tarife.
Auf diesem Weg können Daten in Echtzeit für berechtigte Nutzer im Netz bereitgestellt, aber auch Steuerbefehle an angeschlossene Anlagen übermittelt werden. Hierzu verfügt das Smart-Meter-Gateway über drei Schnittstellen:
die erste Schnittstelle bindet das lokale metrologische Netz (local metrological Network, LMN) und die darin enthaltenen digitalen Stromzähler an
die zweite Schnittstelle ermöglicht über das Weitverkehrsnetz (Wide Area Network, WAN) den Zugriff durch den Messstellen- und Verteilnetzbetreiber sowie weiterer autorisierter Partner (Marktteilnehmer) entsprechend den vergebenen Berechtigungen auf die digitalen Stromzähler und weitere Funktionen des SMGW
die dritte Schnittstelle (logische CLS-Schnittstelle) ermöglicht über das Heimnetz (Home Area Network, HAN) den Zugriff auf das lokale Netz des Letztverbrauchers für die Übermittlung von Informationen in oder aus CLS über CLS-Adapter/Gateways.
Edge-Computing bezeichnet die lokale (Vor‑)Verarbeitung von Daten. In der Energiewirtschaft wird Edge-Computing aufgrund der zunehmenden Dezentralität verstärkt dann eingesetzt, wenn spezielle Anforderungen, etwa an kurze Latenzzeiten oder die reine Datenmenge eine lokale (Vor‑)Verarbeitung gegenüber einer Verarbeitung in der Cloud sinnvoller erscheinen lassen (Hennig et al. 2018).
Cloud Computing (Mell und Grance 2011) wiederum ermöglicht eine zentrale Verarbeitung. Es erlaubt bedarfsorientiert die zeitnahe und in der Regel unkomplizierte Bereitstellung, Nutzung und Abrechnung geteilter Ressourcen als Dienstleistung (Service). In der Energiewirtschaft lassen sich zahlreiche Anlagen und Geräte (beispielsweise Balkonkraftwerke, PV-Anlagen, Wärmepumpen, Haushaltsgeräte) über Cloud-basierte Anwendungen verwalten. Die Kunden sind dadurch in der Lage, ortsunabhängig Informationen abzufragen oder Steuerungsanweisungen zu übermitteln. Die Verteilnetzbetreiber, die Anlagenhersteller und weitere Partner wiederum können die durch Kunden und Anlagen generierten Daten in vielfältiger Form nutzen.
3.2.4 Blockchain
Eine Blockchain ist eine spezielle Technologie zur dezentralen, verteilten Datenhaltung. Eine verwaltende zentrale Instanz ist nicht notwendig. Die Speicherung der Daten innerhalb der Blockchain geschieht durch Aneinanderreihung der Daten in einzelnen Blöcken (Schlatt et al. 2016). In der Energiewirtschaft sind mehrere Einsatzszenarien für die Blockchain-Technologie vorstellbar (Mika und Goudz 2020):
die Abwicklung von Abrechnungen unter Rückgriff auf Smart Contracts (Wilkens und Falk 2019), sowohl für die Erzeugung/Einspeisung als auch für den Verbrauch von Energie, insbesondere für sogenannte Quartierslösungen, etwa größere Wohnanlagen oder Stadtteile. Hierzu werden intelligente Messsysteme vorausgesetzt.
das Führen von Registern zur Dokumentation. Ein Beispiel für ein solches Register könnte das gesamte Marktstammdatenregister (MaStR)14 oder ein Teil daraus sein. Ebenso können große Akteure in der Energiewirtschaft ihre IT- und OT-Assets in einem Blockchain-basierten Register speichern.
die Kennzeichnung von Energieflüssen (sog. „Labeling“), etwa für den Ökostromnachweis. Die hierfür notwendige Blockchain kann Ökostrom-Siegel und ein Ökostrom Register umfassen (Klaus et al. 2020).
3.2.5 Smart und Micro Grid
Ein Smart Grid („intelligentes Stromnetz“) beschreibt ein Stromnetz aus dezentralen Verbrauchern und Erzeugern. Ein Micro Grid wiederum ist ein Zusammenschluss von Stromerzeugern und -verbrauchern in einem auch autark zu betreibenden Teilstromnetz, etwa in Quartieren oder großen Wohnanlagen. Smart und Micro Grids erfordern geeignete Systeme zur Steuerung und fortlaufenden Optimierung. Smart Grids verfügen durch regulatorische Spezifika zwar über keine zentralen Steuerungssysteme. Dennoch sind die Systeme aller Akteure auf unterschiedliche Weise und unter Rückgriff auf bewährte Technologien miteinander vernetzt. So können durch Regelungstechnik die Auslastung optimiert und alle weiteren, damit verbundenen Prozesse (wie etwa die Abrechnung) gesteuert werden. Ein Smart Grid kann mehrere Micro Grids umfassen.
Innerhalb eines Micro Grids sorgt ein Energiemanagement für eine optimale Auslastung und Energieeffizienz. Je nach gewähltem Tarif kann das primäre Ziel der maximale Eigenverbrauch beziehungsweise eine möglichst vollständige Speicherung selbst erzeugter Energie sein (variable Tarife), aber auch der bestmögliche Verkauf von Energie (dynamische Tarife). Auch das Micro Grid kann die Abrechnung steuern. Ein Micro Grid muss über ein intelligentes Messsystem verfügen. Bei Störungen im öffentlichen Netz schaltet ein Micro Grid in den sogenannten Inselmodus.
Modelliert werden können Use Cases für Smart und Micro Grids mit UML (Unified Modeling Language) oder BPMN (Business Process Model and Notation). Insbesondere für system- und unternehmensübergreifende Kontexte und die damit verbundenen notwendigen Standardisierungs‑, Interoperabilitäts- und Integrationsaspekte lässt sich auch das Smart Grid Architecture Model (SGAM) heranziehen (Faller et al. 2020).
3.2.6 Digitaler Zwilling
Ein digitaler Zwilling beschreibt eine virtuelle Repräsentation von realen Assets und Prozessen, die mit einer zuvor festgelegten Frequenz und Genauigkeit synchronisiert werden. Digitale Zwillinge können eigenständig existieren, werden aber häufig in größere Systeme zur Überwachung, Analyse und Steuerung integriert. In der Energiewirtschaft erlauben digitale Zwillinge auf Basis der IT/OT-Konvergenz und die dadurch entstehende größtmögliche Transparenz der aktuellen Lastsituation ein vollständiges digitales Abbild in Form von strukturierten Echtzeit-Infrastruktur- und -Bewegungsdaten. Diese Daten stammen aus dem Netzbetrieb, aber auch aus Kraftwerken und großen Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energie. Digitale Zwillinge gelten damit einerseits als Enabler für die Optimierung bestehender oder die Entstehung neuer Energiedienstleistungen. Es lassen sich mit ihnen entsprechende Produkte und unterstützende Anwendungen virtuell entwickeln, testen und optimieren. Dazu zählen beispielsweise unterschiedliche Steuerungskonzepte für regelbare Verbrauchseinrichtungen nach § 14a EnWG oder alternative Durchführungen von Netzanschlussprüfungen. Andererseits erlauben digitale Zwillinge Betriebs-seitig beispielsweise eine verbesserte Netzplanung oder die Simulation von neuen oder optimierten Netzbetriebsprozessen sowie kritischer Netzzustände und den Auswirkungen möglicher Reaktionen darauf (Golovatchev 2020). Digitale Zwillinge bieten damit insgesamt eine kostengünstige und fundierte Möglichkeit, Prozesse des laufenden Betriebs sowie alle strukturelle Änderungen am Übertragungs- oder Verteilnetz hinsichtlich ihrer Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken belastbar zu untersuchen und die bestmögliche Alternative für eine Übertragung auf die Realität vorzuschlagen.
3.2.7 Künstliche Intelligenz
Künstliche Intelligenz (KI) imitiert menschliche kognitive Fähigkeiten, indem sie Informationen aus Eingabedaten erkennt und sortiert. Eine solche Intelligenz kann auf regelbasierten Abläufen beruhen oder in neuronalen Netzen durch maschinelles Lernen erzeugt werden (Abdelkafi und Döbel 2019). Die aktuell erzielten großen Fortschritte beruhen vor allem auf der zunehmenden Verfügbarkeit von sehr großen Datenmengen und hoher Rechenleistung. Da die digitalen Transformation der Energiewirtschaft neue Möglichkeiten zur Erfassung und Speicherung sehr großer Mengen an Energiedaten und sonstiger Daten schafft, lässt sich das Verhalten der Erzeuger, Speicher, Netze und Verbraucher besser analysieren und neue (bisher nicht erkannte) Zusammenhänge erkennen. Dies ermöglicht eine Reihe von interessanten Einsatzmöglichkeiten (Aichele 2022):
Chatbots
Chatbots lassen sich vielseitig in der Kundenkommunikation einsetzen. Sie entlasten den Support und ermöglichen so eine intensivere und schnellere Bearbeitung komplexer Sachverhalte. Für die unmittelbare Interaktion mit Kunden eignen sich Large-Language-Modelle (LLMs). Ihr Vorteil ist eine lebensnahe Kommunikation, der Charakter einer maschinengenerierten Antwort ist hier nicht oder nur schwer erkennbar, was die Akzeptanz in der Nutzung erhöht. Nachteilig ist, dass LLMs ihre Antworten auf Basis von Wahrscheinlichkeiten generieren, was zu „Halluzinationen“ führt. Um verlässliche und rechtssichere Antworten zu erzielen, müssen solche LLMs daher mit regelbasierten Ansätzen verknüpft werden.
Expertensysteme
Expertensysteme lassen sich sowohl für technische, als auch energiewirtschaftliche Fragestellungen einsetzen.
Eine typische technische Aufgabenstellung ist der Einsatz als Assistenzsystem im Kontext von Wartung und Instandhaltung. Dies betrifft zum einen das Netz, zum anderen aber auch Services aller Art, einschließlich einer Anlagenwartung bei Endkunden, etwa PV-Anlagen.
Energiewirtschaftliche Aufgabenstellungen umfassen beispielsweise eine Unterstützung für genauere Prognosen im Energieeinkauf.
Vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance)
Ausfälle im Bereich der Stromerzeugung und -verteilung sollten auf ein Minimum beschränkt bleiben. Werden umfassende Daten aus dem Netzbetrieb und angeschlossenen Erzeugern (etwa PV- oder Windkraftanlagen) erhoben und historisiert gespeichert (vgl. Abschn. 3.1) können Störungen und damit verbundene mögliche (Teil‑)Ausfälle mit KI-Unterstützung bereits anhand minimaler Unregelmäßigkeiten und Auffälligkeiten in den Messgrößen sehr exakt prognostiziert und durch rechtzeitige Wartungseingriffe vermieden werden (Urbansky 2024). Dies steigert vielfach die Prozesseffizienz und senkt Kosten.
Betriebssteuerung
Die zunehmende Dezentralität und der volatile Charakter erneuerbarer Energien erfordern ein schnelles Reagieren. Eine KI-basierte Steuerungslogik kann dabei unterstützen, das Gesamtsystem stabil zu halten.
4 Ausblick
Ein noch weiter gehender Einsatz innovativer IT-Lösungen im energiewirtschaftlichen Kontext ist weniger ein IT-seitiges, eher ein regulatorisches und ein Akzeptanzproblem. Zahlreiche Themen sind zudem technisch, betriebswirtschaftlich oder rechtlich noch nicht abschließend betrachtet. Hierzu gehört etwa die Umwandlung von Strom in Wasserstoff und Nutzung in Gaskraftwerken zur Stromerzeugung bei Flauten oder die Entwicklung großer, sicherer und zugleich Ressourcen-schonender Batteriespeicher auf Basis leicht verfügbarer statt seltener und kritischer Werkstoffe. Dies verlangsamt vielfach auch die Entwicklung passender IT-Lösungen für solche Anwendungsfälle. Zudem sind vielfach Standardisierungs- und Spezifikationsprozesse in der IT, insbesondere für Schnittstellen und Protokolle, noch nicht abgeschlossen oder die bislang erzielten (Teil‑)Ergebnisse führen zu einer für den praktischen Einsatz zu hohen Komplexität und Unsicherheit. Gerade im Bereich der Gebäudeautomation und „Smart Home“, das dabei unterstützt, die Vielzahl von Privathaushalten energieeffizienter zu gestalten und mit kleinen, aber leistungsfähigen Energiemanagementsystemen auszurüsten, herrscht Unsicherheit über die Einsatzmöglichkeiten.
Mit Blick auf die Energieinformatik wird es daher eine wichtige Aufgabe sein, den jetzt und in der nahen Zukunft notwendigen energiewirtschaftlichen Transformationsprozess durch eine leistungsfähige und auf die Bedürfnisse der Akteure zugeschnittene, integrative IT zu unterstützen.
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Krause F, Bossel H, Müller-Reißmann K‑F (1980): Energie-Wende: Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran ein Alternativ-Bericht des Öko-Instituts Freiburg, S. Fischer, Frankfurt.
Das Vorgängergesetz zur Digitalisierung der Energiewende (GDEW) aus dem Jahr 2016 scheiterte beim Versuch, hierfür erfolgreich die Rahmenbedingungen zu schaffen.