Skip to main content
Erschienen in: Wirtschaftsinformatik & Management 1/2021

Open Access 18.01.2021 | Schwerpunkt

„Jede Woche eine neue Welt“ – wir sind seit Anfang 2020 im Ausnahmemodus unterwegs

Erschienen in: Wirtschaftsinformatik & Management | Ausgabe 1/2021

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
loading …
Hinweise
Das Gespräch führte Prof. Dr. André Ludwig, Kühne Logistics University
Dr. Jan Schneider, Tchibo GmbH, Hamburg (jan.schneider@tchibo.de)
Dr. Jan Schneider verantwortet als „Head of Logistics Operations“ in der Tchibo Zentrale Hamburg alle Lager- und Transportprozesse und trägt zudem einen Teil der Zoll-Verantwortung.
Die Corona-Pandemie hat viele Unternehmen in Deutschland schwer getroffen. Handelsunternehmen kämpfen insbesondere im stationären Einzelhandel mit sinkenden Kundenzahlen und massiv schwankender Nachfrage. Daneben stellt vor allem die Versorgung mit Produkten aus dem Ausland ein drängendes Problem dar. Wie eines der größten deutschen Handelsunternehmen mit den logistischen Herausforderungen der Corona-Pandemie umgeht und welche Strategien, Lösungsansätze und Informationstechnologien es zu deren Bewältigung einsetzt, berichtet Dr. Jan Schneider, Head of Logistics Operations der Tchibo GmbH, im einleitenden Interview zum Schwerpunktheft „Ad-hoc-Supply-Chains“.

Wie erleben Sie die Corona-Zeit aus Sicht des Logistik- und Supply-Chain-Managements? Welche Herausforderungen ergeben sich, wenn Lieferketten kurzfristig neu aufgebaut, umgebaut, angepasst oder auf Probleme in globalen Lieferketten reagiert werden muss?

Schneider: Das Jahr 2020 war für uns eine sehr herausfordernde Zeit. Schauen wir uns den gesamten Prozess einmal an. Auf der Beschaffungsseite mussten wir schon Anfang des Jahres, als die Pandemie in Asien gerade begonnen hatte, mit massiven Verzögerungen in der Warenversorgung umgehen und sind seitdem im Ausnahmemodus unterwegs. Wir mussten beispielsweise zusätzliches Personal hinzuziehen, unser Reporting anpassen oder Artikel auf spätere Wochen umplanen. Während die Verzögerungen zunächst durch die Lieferanten verursacht wurden, viele mussten ihre Werke schließen, hat sich das Problem im Anschluss auf die Seewege verlagert. Die Container-Knappheit durch zum Teil stillgelegte Flotten führte zu völlig überbuchten Frachtschiffen. Es gab nur begrenzte Möglichkeiten, auf Ausweichrouten, auf Schiene oder Luft umzuschalten. Wir mussten uns daher Woche für Woche neu fragen: Bleiben wir überhaupt bei Seefracht oder gehen wir zu Luftfracht über, wechseln wir den Reeder, nehmen wir gegebenenfalls eine zeitliche Verzögerung in Kauf, haben wir die Möglichkeit, durch interne Puffer oder spätere Beschleunigung im Nachlauf den langfristig geplanten Phasenstart eines Artikels noch zu treffen oder riskieren wir sogar eine Artikelstreichung? Im Ergebnis mussten wir bei bis zu 50 % unserer Artikel Ausnahmeregelungen treffen, während diese sonst im einstelligen Bereich liegen. Wir waren einmal sogar gezwungen, eine komplette Sortimentsphase durch eine andere Wochenwelt zu ersetzen, nicht nur weil die Artikel zum Teil zu spät angekommen wären, sondern auch weil die Produkte sich in der aktuellen Pandemie nicht hätten verkaufen lassen. Sie können sich vorstellen, wie dies nicht nur das Supply-Chain-Management auf die Probe stellt.
Auch auf der Distributionsseite zum Kunden hin mussten wir mit sehr kurzfristigen Ereignissen umgehen. Wenn ein Bundesland innerhalb von wenigen Tagen in den kompletten Lockdown geht und wir damit unsere sämtlichen Filialen schließen müssen, dann muss sehr kurzfristig das gesamte automatische Demand-Management aus Pilot‑, Push- und Pull-Versorgung einschließlich der Retouren-Abholprozesse umgestellt werden. Ware muss kurzfristig umdisponiert und Sonderlösungen beispielsweise für die Tchibo-Filialen in Einkaufszentren oder die Tchibo-Regale bei Handelskunden (Depots) müssen erarbeitet werden. Letztlich setzen wir uns dadurch mit unheimlich vielen Einzelsituationen und -lösungen auseinander. Nicht zu vergessen sind auch unsere Logistikstrukturen dazwischen. Im Frühjahr hatten wir teils stunden- und tagelange Staus an den innereuropäischen Grenzen und mussten im Dauerabgleich mit unseren Transportdienstleistern Mengen vorziehen oder zurückstellen und über alternative Routen die Waren transportieren.

Sicherlich haben sich in diesem Zusammenhang auch die Prioritäten Ihres Bereichs geändert. Welche Rolle spielen die Themen Risikomanagement und Robustheit von Lieferketten für Sie und welche Strategien nutzen Sie hier?

Schneider: Das Thema Risikomanagement ist im Supply-Chain-Bereich zentral verankert, erfordert aber sowohl zentrale Entscheidungen als auch lokale pragmatische Lösungen. Wir haben in unserem Ausnahme- und Risikomanagement stark in Alternativen gedacht. Tchibo hat beispielsweise mit alternativen Lieferanten Kontakt aufgenommen, aber auch mit unseren bestehenden Lieferanten Ausweichmöglichkeiten geprüft. Dabei haben wir festgestellt, dass es, um an unserem Qualitäts-Mengen-Kosten-Ansatz festzuhalten, gar nicht so einfach ist, alternative Beschaffungsstrukturen kurzfristig aufzubauen. Risikomanagement muss aber auch Wechselwirkungen im Blick haben. Während der stationäre Handel unter den Pandemie-Bedingungen allgemein mit geringeren Kundenfrequenzen umgehen muss, konnten wir unsere Umsätze im E‑Commerce deutlich steigern und mussten dann wiederum absichern, dass unsere Logistik diese Steigerungen zuverlässig bewältigt. Wir haben in den letzten Jahren umfassende Investitionen in unsere E‑Fulfillment-Strukturen gesteckt, sodass wir hier problemlos deutlich mehr Volumen umschlagen können. Auch im Transportbereich (Inbound insbes. Sea und Fernverkehr insbes. Road) ist es wichtig, nach Möglichkeit schnell alternative Transportdienstleister und -routen auswählen zu können und sich mit Spediteuren kurzfristig und permanent gegenseitig über die Auftrags‑, Verlade- und Lieferstatus zu informieren.
Ein Thema, das mir schon länger unter den Nägeln brannte und welches wir jetzt verstärkt angegangen sind, ist der Aufbau eines Risk-Assessment- und Business-Continuity-Plans (Desaster Recovery System) für die gesamte Lieferkette. Das heißt, wir sammeln und dokumentieren für jeden Bereich, welche potenziellen Risiken bei Störereignissen wie Wasserschäden, Bränden oder Lieferanten- und Dienstleisterausfällen entstehen können. Wir schätzen deren Eintrittswahrscheinlichkeit, welchen vermeintlichen Schaden sie anrichten und wie wir sie verhindern oder auf sie reagieren können. Dazu sind auch entsprechende IT-Systeme notwendig.

Auf welche IT-Systeme setzen Sie, um aktuell und auch zukünftig mit diesen Änderungen und Anpassungen in Logistik und Supply-Chain-Management umgehen zu können?

Schneider: Aktuell ist unser größtes IT-Projekt die Umstellung auf die SAP S/4HANA-Umgebung. Ich sehe hier großes Potenzial, relevante Unternehmensprozesse in Echtzeit zu steuern und andererseits über analytische Verfahren regelmäßige Analysen durchzuführen. Über Frühwarnsysteme können wir Entwicklungen besser abschätzen und flexibel auf Marktveränderungen reagieren. Wichtig ist allerdings, die gesamte Organisation beim Systemwechsel mitzunehmen.
Ein weiteres wichtiges Element unserer IT-Systeme wird ein neues Transportmanagementsystem darstellen. Die Ausschreibung dazu läuft aktuell. Unsere bisherige recht fragmentierte Systemlandschaft mit verteilten Datenstrukturen wird abgelöst durch ein neues vereinheitlichtes System, das uns in einer Ende-zu-Ende-Transportbetreuung die Abläufe verschlankt und beschleunigt, weitgehend papierlos arbeitet und mit sinnvollen Visualisierungen und Dashboards ein angenehmeres Arbeiten erlaubt. Ergänzt werden kann das System dann mit Komponenten wie z. B. ETA-Prognose oder einer Ladehilfsmittelverwaltung.
Die klassischen Automatisierungsthemen wie Warehouse-Automatisierung über Shuttlesysteme, Fördertechnik oder fahrerlose Transportsysteme fallen auch weitestgehend in diesen Bereich. Nur mit Automatisierung können wir die genannten Umschlagsmengen, die sich zum Teil sprunghaft ändern, überhaupt bewältigen.
Wichtig ist aber auch, dass man den Kunden im Fokus behält. Wir haben mit Blick auf den Kunden unsere wöchentlichen Themenwelten teils neu arrangiert, beispielsweise ist das Thema Reisen zurückgestellt worden, während Themen wie Home Sporting oder Gartenarbeit herausgestellt wurden. Welche Themenbereiche besonders gefragt sind, kann über Marktbeobachtungen, analytische Systeme und Kundendaten herausgearbeitet werden. Hier freut mich, dass wir auch aus den universitären Einrichtungen heraus junge Leute mit dahingehenden analytischen und digitalen Fähigkeiten finden und bei uns einsetzen können.

Welche Veränderungen im Personalbereich haben Sie pandemiebedingt umgesetzt?

Schneider: Glücklicherweise hatten wir in unseren Lagerstandorten nur sehr wenige Corona-Fälle und setzen hier auch weiterhin auf bewährte Schutzmaßnahmen. Unsere Mitarbeiter in der Hamburger Zentrale arbeiten inzwischen fast ausschließlich mobil. Ich finde es bewundernswert, wie unsere IT diese Art des Arbeitens für mehrere Tausend Mitarbeiter in wenigen Tagen umgesetzt hat. Auf Basis der bekannten Kollaborationsplattformen funktionieren unsere Arbeitsabläufe inzwischen problemlos und werden fortlaufend optimiert. Entlang unserer Prozessdomains arbeiten verschiedene crossfunktionale Teams teils agil an ihren Projekten. Ausgelöst durch definierte Bedarfe, priorisieren und steuern sie Aufgaben über Aufgabenmanagementsysteme, verwalten selbst ihre Budgets und bestimmen somit eigenverantwortlich über ihre Projekte mit.
Weiterhin haben wir überall, wo es möglich war, auf neue Formen des Austauschs und virtuelle Events gesetzt. Beispielsweise führen wir alle zwei Wochen Change Stand-ups durch, in denen kleinere Optimierungsprojekte angestoßen werden. Damit diese und weitere neue Formate funktionieren, ist es allerdings wichtig, dass vor allem die Initiative und Eigenverantwortung des Einzelnen vorhanden ist, mit dieser neuen Form des Arbeitens umzugehen. Die Führungskräfte sind aufgefordert, ihre Mitarbeiter auf diesem Lernweg zu begleiten und zu „empowern“.

Zu guter Letzt, welche drei Handlungsempfehlungen können Sie uns mitgeben?

Schneider: Erstens: Nehmen Sie Ihre Mitarbeiter mit. Auch wenn es nur virtuell möglich ist, vernetzen Sie sie und befähigen Sie sie, das Unternehmen in der Mischung aus Tages- und Projektgeschäft erfolgreich durch diese durch Wandel geprägte Zeit zu führen.
Zweitens: Treiben Sie Digitalisierungs- und Automatisierungsprojekte voran. Hier liegen die Werkzeuge, um kurzfristig mit veränderten Situationen umgehen zu können und auch präventiv über analytische Verfahren Risiken abschätzen und entsprechend reagieren zu können.
Drittens: Bauen Sie Ihr Risk- und Recovery-Management auf und aus. Stärken Sie die Robustheit Ihrer Systeme. In der Lage zu sein, beispielsweise schnell auf alternative Transportmittel und -wege wechseln zu können oder mit ausreichenden Lagerkapazitäten auch Spitzen abfangen zu können, halte ich für äußerst wichtig, um das Geschäft stabil am Laufen zu halten.
Ludwig: Ich bedanke mich für dieses Gespräch.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Unsere Produktempfehlungen

WIRTSCHAFTSINFORMATIK

WI – WIRTSCHAFTSINFORMATIK – ist das Kommunikations-, Präsentations- und Diskussionsforum für alle Wirtschaftsinformatiker im deutschsprachigen Raum. Über 30 Herausgeber garantieren das hohe redaktionelle Niveau und den praktischen Nutzen für den Leser.

Business & Information Systems Engineering

BISE (Business & Information Systems Engineering) is an international scholarly and double-blind peer-reviewed journal that publishes scientific research on the effective and efficient design and utilization of information systems by individuals, groups, enterprises, and society for the improvement of social welfare.

Wirtschaftsinformatik & Management

Texte auf dem Stand der wissenschaftlichen Forschung, für Praktiker verständlich aufbereitet. Diese Idee ist die Basis von „Wirtschaftsinformatik & Management“ kurz WuM. So soll der Wissenstransfer von Universität zu Unternehmen gefördert werden.

Metadaten
Titel
„Jede Woche eine neue Welt“ – wir sind seit Anfang 2020 im Ausnahmemodus unterwegs
Publikationsdatum
18.01.2021
Erschienen in
Wirtschaftsinformatik & Management / Ausgabe 1/2021
Print ISSN: 1867-5905
Elektronische ISSN: 1867-5913
DOI
https://doi.org/10.1365/s35764-020-00314-7

Weitere Artikel der Ausgabe 1/2021

Wirtschaftsinformatik & Management 1/2021 Zur Ausgabe