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22.10.2021 | Kanzlei | Interview | Online-Artikel

"Überflüssig wird der Jurist definitiv nicht"

verfasst von: Angelika Breinich-Schilly

5:30 Min. Lesedauer

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Interviewt wurde:
Stephan Jahrling

ist Chief Technology Officer (CTO) von advocado.

In vielen Kanzleien kommen bereits Algorithmen zum Einsatz. Noch vereinfachen sie vor allem das Datenmanagement. Wie Legal Tech die Arbeit und das Berufsbild von Juristen in Zukunft verändert, erläutert Experte Stephan Jahrling im Gespräch.

Springer Professional: Legal Tech will Technologie und Recht im Arbeitsalltag verbinden. In welchen Bereichen lassen sich Kanzleien oder Rechtsabteilungen in Unternehmen am häufigsten durch entsprechende Tools unterstützen? Können Sie uns ein praktisches Beispiel geben?

Stephan Jahrling: Durch die Legal-Tech-Software werden zunächst ganz allgemein Arbeitsabläufe automatisiert. Dafür sind Bereiche prädestiniert, die standardisiert ablaufen, wie zum Beispiel die Vertragserstellung oder das Verfassen einer Klageschrift. Im ersten Schritt benötigen Kanzleien Unterstützung bei der Mandantenakquise und bei deren Marketingaktivitäten. Im zweiten Schritt liegt der Fokus darauf, die Daten der Rechtsuchenden zu standardisieren, um mithilfe von Technik Teststrecken aufzubauen. Das Ziel ist es, die Arbeit der Anwälte zu beschleunigen, damit deren Mandanten schneller zu ihrem Ergebnis, also zu ihrem Recht kommen. 

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Nun gibt es verschiedene Kategorien, die Legal Tech kennzeichnen. Hierzu gehören Enabler Technologien, die lediglich die Digitalisierung der Kanzlei fördern, aber auch Support Process Solutions für das Fall-, Dokumenten- und Wissensmanagement und sogenannte Substantive Law Solutions, die sogar Rechtsberatung übernimmt. Welche dieser Instrumente kommen derzeit am häufigsten zum Einsatz?

Die Support Process Solutions sollen in erster Linie Kanzleien unterstützen. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) und Digitalisierung können deren Prozesse verbessert und verkürzt werden. Das kommt am Ende den Rechtsuchenden zugute. Dennoch ist Digitalisierung im Rechtsbereich primär auf Kanzleien fokussiert. Deshalb konzentrieren sich auch zwei von drei Unternehmen, die sich auf Legal Tech spezialisiert haben, explizit auf Kanzleien und nicht auf die Rechtsberatung. Bei den Substantive Law Solutions, die sogar Rechtsberatung übernehmen, ist Deutschland meiner Meinung nach noch nicht so weit, da hier nur zugelassene Rechtsanwälte Rechtsberatung anbieten und durchführen dürfen. Es gab in der Vergangenheit diesbezüglich Bestrebungen, aber wer tatsächlich Rechtsberatung machen darf, das ist in Deutschland sehr, sehr eng ausgelegt.

Was bringt es dem Rechtsuchenden, wenn Legal Tech juristische Arbeitsprozesse unterstützt oder sogar gänzlich automatisiert?

Für die Rechtsuchenden bringt es zunächst eine schnellere Lösung des eigenen rechtlichen Anliegens, durch Beschleunigung der Arbeitsprozesse. Verzögerungen, die durch einen zu hohen Arbeitsaufwand, Krankheitsausfall oder urlaubsbedingte Lücken entstehen, können dadurch besser abgefedert werden. Indirekt wirken sich automatisierte Arbeitsprozesse auch auf die Kosten aus, da weniger Stundensätze abgerechnet werden und damit die Honorarkosten überschaubar bleiben. Zudem tragen Legal-Tech-Unternehmen dazu bei, die Hürde für Rechtsuchende stark zu senken. Mit niedrigschwelligen Angeboten können auch Menschen zu ihrem Recht kommen, die früher mit Klein- und Kleinstfällen den Rechtsanwalt nicht kontaktiert hätten. Dies ist für die Rechtsanwälte und Legal-Tech-Unternehmen nur durch eine tiefgreifende Standardisierung und Automatisierung der Prozesse möglich.

Hat die Technologie auch einen Einfluss auf das Berufsbild von Juristen oder macht sie diese sogar auf lange Sicht überflüssig?

Ich bin überzeugt, dass die Beratung in den allermeisten Fällen nur noch digital ablaufen wird. Insbesondere außergerichtliche Verfahren werden in Zukunft ausschließlich digital ablaufen. Repetitive Fälle können vollautomatisiert abgewickelt werden. Ich glaube auch, dass der Trend zur standardisierten Abarbeitung gleichartiger Fälle in einem Rechtsgebiet durch Legal-Tech-Unternehmen mit spezieller Software anhalten wird. Durch immer komplexere Fälle sind bisher nur Großkanzleien in der Lage, viele Rechtsgebiete im eigenen Haus zu bedienen. Die Digitalisierung hilft jedoch insbesondere den kleineren Kanzleien, im Wettbewerb bestehen zu können.

Bedeutet das das Aus für den klassischen Juristenberuf?

Überflüssig wird der Jurist beziehungsweise Rechtsanwalt auf absehbare Zeit definitiv nicht. Durch Legal-Tech-Software und den zunehmenden Einsatz von KI werden immer mehr standardisierte und repetitive Aufgaben entfallen oder ausgelagert. Der Rechtsanwalt selbst wird aber weiterhin die Aufgabe haben, die Ergebnisse der Software-Tools zu prüfen, zu bewerten und in seine Arbeit einfließen zu lassen. Die Software wird rechtliche Texte erstellen können und diese mit Querverweisen zu Gesetzestexten und gerichtlichen Urteilen versehen können. Auch eine Einschätzung des Falles durch eine KI wäre denkbar. Die Arbeit des Rechtsanwalts kann damit sehr effektiv gestaltet werden. Sie kann ihn aber nicht ersetzen. Nicht zuletzt spielen hier sicher auch Haftungsfragen eine Rolle.

Welche neuen Berufsbilder entwickeln sich in diesem Bereich, auf die Kanzleien künftig nicht mehr verzichten können?

Ein Berufsbild, das sich bisher herausgebildet hat, ist das des Legal Engineers. Das sind Mitarbeiter, die an der Schnittstelle zwischen juristischer Arbeit und Informatik tätig sind und sich mit der Standardisierung und Automatisierung juristischer Tätigkeiten beschäftigen. Dies kann sowohl bereichsübergreifende Aufgaben im Kanzleimanagement umfassen, zum Beispiel ein individualisiertes Fristenmanagement, Erinnerungen und E-Mails bei Frist- und Vorfristablauf oder das Überprüfen von Fristen, als auch fachliche Thematiken wie das Automatisieren juristischer Bedingungen und Schriftsätze.

Nun findet dieser strukturelle Wandel nicht nur in den Kanzleien statt. Auch der Staat digitalisiert seine Arbeitsprozesse und die Kommunikation. In Dänemark und den Niederlanden gibt es bereits Pilotprojekte, die ganze Strafprozesse digital abwickeln. Wie wird Legal Tech die Arbeit der Jurisprudenz als solches langfristig beeinflussen? 

Auch in Deutschland müssen Gerichte laut dem Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs ab 2022 in der Lage sein, Schriftsätze digital zu empfangen und zu verarbeiten. Indem diese Dokumente digital vorliegen, können sie auch digital bearbeitet und ausgewertet werden. Auch hier wird es Softwarelösungen geben, die ähnliche Fälle oder Gesetzestexte anzeigen. Legal Tech wird, wie bei den Rechtsanwälten auch, Werkzeuge zur Verfügung stellen, die die Arbeitsprozesse an den Gerichten standardisieren und automatisieren und damit eine schnellere Bearbeitung erlauben. Diese Werkzeuge unterliegen jedoch einer größeren Sorgfaltspflicht, da sie in die richterliche Entscheidungsfindung eingreifen können und werden. 

Was heißt das für die Praxis?

In den USA kommen schon heute sogenannte Criminal Risk Assessment Algorithms zum Einsatz, welche mithilfe von KI die Wahrscheinlichkeit für die Rückfälligkeit eines Straftäters ermitteln. Obwohl dies nur ein zusätzliches Hilfsmittel für richterliche Entscheidungen sein soll, konnte gezeigt werden, dass Richter sich überdurchschnittlich oft auf diesen Wert verließen und längere Haftstrafen aussprachen. Außerdem beruhen alle diese Algorithmen auf historischen Daten. Wurden in der Vergangenheit bestimmte Menschengruppen überdurchschnittlich oft und zu längeren Haftstrafen verurteilt, wird der Algorithmus dies erst einmal übernehmen. Solche Effekte konnten auch in den USA nachgewiesen werden.

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