Ökologische Großgefahren wie der Klimawandel betreffen alle, sie ebnen soziale Ungleichheiten aber keineswegs ein. Die Klassenvergessenheit ökologischer Aufklärung trägt dazu bei, dass Maßnahmen gegen die Erderhitzung auf soziale Barrieren treffen. Deshalb ist die sozial-ökologische Transformation konfliktträchtig. Anhand empirischer Tiefenbohrungen bei zwei deutschen Autoherstellern zeigt der Beitrag, wie Management und Arbeiterschaft einer Karbonbranche mit den Veränderungen umgehen. Mit Hilfe klassentheoretischer Überlegungen werden die untersuchten Werke als Klassengesellschaften in Miniatur beschrieben. Sie konstituieren soziale Felder, in denen die Transformation nicht nur das Spiel, sondern auch die Spielregeln ändert, nach denen die betrieblichen Akteure handeln. Klassenachse und ökologische Achse müssen in ihrer jeweiligen Besonderheit betrachtet werden, um ihre Wechselwirkungen in Transformationskonflikten zu verstehen. Nur so lässt sich erklären, warum Konflikte transformativ oder konservierend verlaufen können. Die Haltung betrieblicher Interessenvertretungen und gewerkschaftlicher Strukturen, aber auch der Einfluss externer Vetospieler (Klimabewegungen, radikale Rechte) beeinflussen die Konfliktdynamiken erheblich. Fallübergreifend zeigt sich, dass institutionell eingehegte Klassenauseinandersetzungen in mitbestimmten Unternehmen mehr und mehr zu sozial-ökologischen Transformationskonflikten werden. Es handelt sich um Mehrebenenkonflikte, in denen eigentumsbasierte Entscheidungsmacht eine zentrale Rolle spielt. Weder entsteht eine ökologische Klasse jenseits der Produktion, noch bildet sich ein ökologisches Proletariat heraus. Stattdessen setzt sich ein Transformationskorporatismus durch, der am Entscheidungsmonopol über Geschäftsmodelle, über das Eigentümer und strategiefähiges Management verfügen, an klassenspezifische Grenzen stößt.
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
1 Einleitung: Klassenvergessenheit und Klimawandel
Er sei „Autonarr“ und empfinde große Freude dabei, seinen PKW auf „über 220 km/h zu tunen“, um auf der Autobahn Teslas zu jagen, bis diese „mit überhitztem Motor von der Spur müssen.“ Mit diesen Worten beginnt ein Arbeiter das Interview zur Transformation des Eisenacher Opel-Werks. Der Gewerkschafter macht deutlich, dass er sich sein Hobby von niemandem wird nehmen lassen und fügt hinzu:
Also Fridays for Future. Wir sagen immer scherzhaft: „Sie sollten sich nicht vor uns auf die Straße kleben. Das wäre schlecht für sie. Hupps. Von der Kupplung gerutscht. Tut mir leid!“ (Opel-Arbeiter, KMK)
Wo immer wir auf das Beispiel verweisen, reagiert das Publikum mit Schaudern. Doch woher rührt die aggressive Ablehnung von Klimaprotesten, wie sie der befragte Arbeiter „scherzhaft“ artikuliert? Jeder Antwortversuch führt ins Zentrum von Konflikten, in denen die Klasse, zu der unser Opel-Arbeiter gehört, eine besondere Rolle spielt. Einerseits stehen Produktionsarbeiter:innen im „Sturmzentrum“ der sozial-ökologischen Transformation, andererseits kommen sie mit ihren Arbeitsbedingungen, Interessen und Lebensentwürfen in den meinungsbildenden Öffentlichkeiten kaum vor.
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Unbeabsichtigt verstärkt die ökologische Aufklärung in ihren Hauptströmungen dieses Problem. Ihr Grundfehler wurzelt in der Annahme, bloßes Wissen um ökologische Großgefahren genüge, um Gesellschaften zu Einsicht und Umkehr zu bewegen. Soziologische Expertise hat zu solch harmonistischen Fehldiagnosen durchaus beigetragen. „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch“, hatte Ulrich Beck (1986, S. 48) einst in seiner paradigmatischen Risikogesellschaft diagnostiziert. Seine Erwartung, die Logik klassenspezifischer Verteilungskämpfe werde in reichen Gesellschaften mehr und mehr von der „Allbetroffenheit“ durch globale ökologische Großgefahren überlagert (ebd., S. 27), hat sich nicht bewahrheitet. Tatsächlich treffen Gefahren wie die des Klimawandels alle, sie ebnen Klassenunterschiede aber keineswegs ein. Im Gegenteil: In Gesellschaften, in denen der „demokratische Klassenkampf“ (Korpi 1983) öffentlich marginalisiert wird, löst das Widerständigkeiten aus, die als gewaltiger Bremsklotz für ökologische Nachhaltigkeitsziele wirken können. Dementsprechend ist die „Frage, wie groß der Einzelne die Gefahr durch die Klimakrise einschätzt“, zu einer „zentralen ideologischen Trennlinie dieser Gesellschaft geworden“ (Riehl 2023, S. 4).
Dieser Konfliktträchtigkeit können sich auch die Sozialwissenschaften nicht länger verschließen. Im Bemühen, die verbreitete „class cluelessness“ (Williams 2017, S. 4) zu korrigieren, zeichnen sich in den soziologischen Debatten zwei diametral entgegengesetzte Positionen ab. An dem einen Pol finden sich Deutungen, die davon ausgehen, dass der ökologische Gesellschaftskonflikt das Terrain traditioneller Klassenauseinandersetzungen lediglich erweitert (Foster et al. 2011). Das Ringen um eine Begrenzung der Erderhitzung wird als „class war“ mit einem „focus on production“ (Huber 2022, S. 3) interpretiert. Die Gegenthese am anderen Pol lautet, eine ökologische Klasse könne sich nur „gegen die Produktion“ (Latour und Schultz 2022, S. 83) formieren, denn wer die „Bewohnbarkeitsbedingungen des Planten“ (ebd., S. 26) erhalten wolle, müsse konsequent mit dem alten Produktivismus und dessen Hauptklassen brechen. Beide Positionierungen werden den Interessen und Lebensentwürfen, die unser Opel-Arbeiter verkörpert, jedoch nicht gerecht.
Denn Transformationskonflikte in der Arbeitswelt, so die erste von drei Thesen, können angemessen nur analysiert werden, wenn die Hauptachsen dieses Konflikts, die ökologische und die Klassenachse, in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit Beachtung finden. In Betrieben und Unternehmen gehen diese Konfliktachsen eine spannungsvolle Synthese ein, wobei die Konfliktdynamiken, das ist die zweite These, von Eigentümerinteressen bestimmt werden. Eigentumsbasierte Entscheidungsmacht über Produkte, Produktionsverfahren und deren stoffliche Zusammensetzung konfligiert mit den Interessen von Beschäftigten, die erworbenes Sozialeigentum erhalten und ihren Status bewahren wollen. Ob Transformationskonflikte eher konservierend oder eher transformativ verlaufen, hängt in mitbestimmten Unternehmen maßgeblich von Betriebsräten und Gewerkschaften ab. Wahrscheinlich ist in diesen Arenen – so These drei – die Herausbildung eines Transformationskorporatismus, der nachhaltig nur wirkt, sofern Belegschaften beginnen, Verantwortung für das zu übernehmen, was sie herstellen.
Nachfolgend prüfen wir diese Thesen anhand von Großbetrieben aus der Automobilindustrie, einer Branche, die wegen verbindlicher Dekarbonisierungsziele unter besonderem Veränderungsdruck steht. Im ersten Schritt beleuchten wir die Hauptachsen sozial-ökologischer Transformationskonflikte und führen ein eigenes Klassenmodell ein, das sich auf die betriebliche Arbeitswelt anwenden lässt (Abschn. 2). Es folgen empirische Tiefenbohrungen, die das Spannungsverhältnis von sozialen und ökologischen Zielsetzungen beleuchten, welches in den beiden untersuchten Werken allgegenwärtig ist (3, 4). Abschließend nehmen wir die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von sozialer Frage und ökologischem Gesellschaftskonflikt wieder auf und ordnen unsere Befunde in die aktuelle soziologische Transformationsdebatte ein (5).
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2 Heuristischer Rahmen: Klasse, Klima, Konflikt
Um Transformationskonflikte in der Arbeitswelt untersuchen zu können, betrachten wir hauptsächlich zwei Konfliktachsen: die Klassenachse und die Achse des ökologischen Gesellschaftskonflikts. Beide sind im Konzept der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise (Dörre 2022b) verbunden. Das Konzept der Zangenkrise besagt, dass das wichtigste Mittel zur Pazifizierung sozialer Konflikte in wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismen – die Generierung von Wirtschaftswachstum – unter Status-Quo-Bedingungen ökologisch zunehmend destruktiv und deshalb gesellschaftszerstörend wirkt. Mit dem Status Quo sind in diesem Zusammenhang hoher Emissionsausstoß, ressourcenintensive Produktions- und Lebensweisen sowie ein beständig steigender Energieverbrauch auf fossiler Grundlage gemeint. Moderne kapitalistische Gesellschaften bewegen sich demnach zwischen Scylla und Charybdis: Bleibt das Wirtschaftswachstum aus, steigt die soziale Not, zieht das Wachstum an, eskalieren ökologische Großgefahren, allen voran der Klimawandel. Laut Emissions GAP Report könnte sich der Planet bis zum Jahrhundertende um durchschnittlich bis zu 2,8 Grad Celsius erhitzen (UNEP 2023) – ein Szenario, bei dem bis zu einem Drittel der Menschheit die angestammten Klimanischen und damit ihre Existenzgrundlage verlöre (Lenton u. a. 2023). Das 1,5-Grad-Szenario der Pariser Klimakonferenz von 2015 scheint bereits außer Reichweite (IPCC 2023). Auch bei sozialen Nachhaltigkeitszielen wie der Überwindung von Armut, der Beseitigung des Hungers und der Bekämpfung sozialer Ungleichheit verzeichnen viele Weltregionen Stagnation oder gar Rückschritte (UN 2023). Für zusätzlich Dramatik sorgt, dass die Zeitbudgets, die für grundlegende Kurskorrekturen noch zur Verfügung stehen, schrumpfen. Diese epochale Krisenkonstellation erzeugt den Problemrohstoff, der Transformationskonflikte antreibt (Dörre 2019).
2.1 Die Klassenachse der Transformation
Was Ulrich Beck verkannte und große Teile der ökologischen Aufklärung noch immer übergehen: Auch bei vergleichsweise reichen, sicheren Staaten wie der Bundesrepublik handelt es sich noch immer um Klassengesellschaften. Mit Klassen sind nach Dahrendorf „aus bestimmten Strukturbedingungen hervorgegangene Interessengruppierungen“ gemeint, „die als solche in soziale Konflikte eingreifen und zum Wandel sozialer Strukturen beitragen“ (Dahrendorf 1957, S. VIII f.). Bis heute führen diese Interessengruppierungen einen Kampf um das gesellschaftlich erzeugte Mehrprodukt, der derzeit aufgrund von Inflation sowie realen oder antizipierten Wohlfahrtsverlusten wieder Fahrt aufnimmt. Klassentheorien interpretieren Verteilungskämpfe allerdings in besonderer Weise. Sie operieren mit Kausalitätsvermutungen, die das „Glück der Starken“ mit „der Not der Schwachen“ verbinden (Boltanski und Chiapello 2003, S. 398).
Erik Olin Wright (2015, S. 12) unterscheidet drei Cluster klassenrelevanter Kausalmechanismen, denen sich jeweils spezifische Schlüsselprozesse zuordnen lassen. Auf der Mikroebene individueller Lebensführung erwerben Personen klassenrelevante Eigenschaften (individual attributes). Hinter diesen Eigenschaften wirkt Distinktion als sozialer Mechanismus, der Personen in Klassenpositionen einschließt und sie zugleich aus anderen Positionen ausgrenzt. In diesem Cluster sind Ansätze zu verorten, die mit dem Feld- und Kapitalbegriff Pierre Bourdieus operieren. Auf der Mesoebene lassen sich Positionen und Chancen innerhalb von Marktbeziehungen analysieren, die durch soziale Schließung, positive oder negative Privilegierung aufeinander bezogen sind (opportunity hoarding). Das ist die Ebene weberianischer Kausalitätsvermutungen. Um Chancenmehrung handelt es sich beispielsweise, wenn Barrieren geschaffen werden, die das Angebot an attraktiven Mittelklasse-Arbeitsplätzen einschränken und das Gros der Arbeiterschaft von solchen Tätigkeiten ausschließen. Auf makrosozialer Ebene geht es schließlich um Positionierungen innerhalb von Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen sowie um die damit verbundenen Auseinandersetzungen vor allem in der Produktion (ebd., S. 13). Das ist die Ebene marxianischer Theorie („marxian“ anstelle von „marxist“). Hier bestimmen private Eigentumsrechte an den Produktionsmitteln die Klassenbeziehungen (ebd., S. 8). Als Verbindungsprinzipen wirken Herrschaft und Ausbeutung. Herrschaft – oder treffender: Beherrschung (domination) – beruht auf der Fähigkeit, die Arbeit und die Aktivitäten anderer zu kontrollieren. Ausbeutung (exploitation) beinhaltet die Generierung ökonomischer Vorteile aus der Arbeitstätigkeit derjenigen, die beherrscht werden. Jede Ausbeutung impliziert daher eine Art von Herrschaft, aber nicht jede Beherrschung bringt Ausbeutung mit sich (ebd., S. 9).1
Wrights klassentheoretische Überlegungen sind anregend, wir folgen ihnen in ihren eigentumsbasierten, konfliktlogischen Implikationen. Mit Blick auf Transformationskonflikte müssen wir das klassentheoretische Grundverständnis allerdings erheblich modifizieren und erweitern, damit sich die Klasseneinteilungen auf die Konfliktdynamiken beziehen lassen. Eigentumsbasierte Entscheidungsmacht prägt nicht nur Ausbeutungs- und Herrschaftsbeziehungen, sie beeinflusst auch die stoffliche Beschaffenheit von Produkten und Produktionsverfahren. Zur Begründung dieser Auffassung haben wir in einem ersten Schritt ein eigenes Klassenmodell entwickelt (Dörre 2023b). Dabei kommt es uns zunächst nicht darauf an, Klassenzugehörigkeiten und deren Habitualisierungen in Längsschnittuntersuchungen zu belegen. Vielmehr geht es um eine Heuristik, die es ermöglichen soll, Annahmen zu klassenspezifischen Einflüssen auf Konfliktdynamiken zu prüfen.
Anhand der Kriterien (a) „Eigentum an und/oder Verfügung über Produktionsmittel“, (b) der in Wirtschaftsorganisationen ausgeübten oder staatlich gewährten „Kontrollmacht über Personen“ sowie (c) dem angeeigneten „Sozialeigentum“ von Lohnabhängigen2, das als Gegenbegriff zum kapitalistischen Besitz fungiert, differenziert unser Modell sechs Erwerbsklassen, von denen vier – Selbstständige und Lohnabhängige Mittelklasse (SMK, LMK) sowie Neue und Konventionelle Arbeiterklasse (NAK, KAK) – je eigene Exklusionsbereiche (EB) hervorbringen. In Exklusionsbereichen werden die Beschäftigungs‑, Arbeits- und Einkommensstandards, die die Grundklassen setzen, aufgrund außerökonomischer Beherrschung deutlich unterboten; charakteristisch ist eine defizitäre Ausstattung mit Sozialeigentum, die sich aus atypischer Beschäftigung und prekärem Einkommen ergibt. Auf der Grundlage eines Datensatzes (n = 19.381)3, den wir für eine Sekundärauswertung nutzen, lassen sich die Relationen von Erwerbsklassen berechnen (Abb. 1).
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An dieser Stelle ist es unmöglich, das Klassenmodell im Detail zu beschreiben, für Transformationskonflikte ist jedoch Folgendes bedeutsam: Strategische Entscheidungen über die Geschäftsmodelle von größeren Unternehmen werden ausschließlich von einer Oberschicht4 innerhalb der Herrschenden Klasse (HK, 0,9 Prozent) und damit von einer winzigen gesellschaftlichen Minderheit verantwortet. Die beiden Mittelklassen (31,2 Prozent einschließlich Exklusionsbereiche), deren Klassenpositionen antagonistische Interessen einschließen (Wright 1985, S. 47; 2015, S. 135 ff., 155 ff.), sind von strategisch weitreichenden Entscheidungen ausgeschlossen. Mit kapitalistischem Kleinbesitz und/oder bürokratischer Kontrollmacht über weniger als 250 Personen, die in Unternehmen bzw. in staatlichen Behörden ausgeübt wird, verfügen sie aber über Mittel, um ihre Interpretationen von Wachstum und Nachhaltigkeit in hierarchischen Entscheidungsstrukturen durchzusetzen.
Die Neue Arbeiterklasse (13,7 Prozent einschließlich Exklusionsbereich), die wir im Anschluss an ältere Debatten um eine „nouvelle classe ouvrière“ (Mallet 1965, S. 57 ff.) konstruieren, verfügt weder über Produktionsmittel noch über Kontrollmacht. Akademische oder vergleichbar hohe Bildung und entsprechende berufliche Fähigkeiten verhelfen dieser Großgruppe jedoch zu Klassenpositionen, von denen aus sie in Grenzen Einfluss auf Produktionsabläufe nehmen kann. Beschäftigte ohne Spezialkenntnisse, die zur Konventionellen Arbeiterklasse zählen, besitzen diese Möglichkeit nicht. Mit ihren vorwiegend mittleren Bildungsabschlüssen und dazu passenden beruflichen Fähigkeiten erreichen sie Positionen, von denen aus sie allenfalls Teilbereiche von Arbeitsprozessen überblicken. Von Produktionsentscheidungen sind sie vollständig ausgeschlossen. Fasst man den Arbeiterbegriff weit und subsumiert man auch die Krankenschwester oder den Altenpfleger unter diese Kategorie, stellt die Konventionelle Arbeiterklasse mit ihren häufig standardisierten, routinehaften Tätigkeiten die relative Mehrheit der Erwerbstätigen (38,8 Prozent). Auffällig ist der im Verhältnis zur Grundklasse (21,3 Prozent) exorbitant große Exklusionsbereich (17,5 Prozent). Die Übergänge zur Unteren Klasse sind dementsprechend fließend. Ausschließlich geringfügig Beschäftigte bilden wegen ihrer sozialen Heterogenität keine Erwerbsklasse; da weder existenzsichernd entlohnt noch sozial geschützt, befinden sie sich jedoch im Modell am unteren Ende der Arbeitshierarchie.
Als Summe klassenspezifischer Exklusionsbereiche umfasst der klassenüberspannende Exklusionssektor nahezu ein Drittel der Erwerbspersonen (32,1 Prozent mit Unterer Klasse). Da nicht alle atypischen Beschäftigungsverhältnisse prekär sind, ist er in Relation zu den Grundklassen, die soziale Standards setzen, überdimensioniert. Dennoch veranschaulicht das Klassenmodell, dass unsichere, verwundbare Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse zu einer „normalen Organisationsform“ (Castel 2011, S. 136) des sozialen Lebens geworden sind. Das Prekariat ist aber keine soziale Klasse, wie Mike Savage (2015, S. 174) annimmt, sondern allenfalls Ausprägung eines sozial heterogenen Sektors mit verschiedenen Formen klassenspezifischer Prekarität (Wright 2015, S. 158 ff.). Hier legitimiert außerökonomische Herrschaft, etwa mittels rassistischer oder sexistischer Klassifikationen, Überausbeutung und ungleichen Tausch (Choonara et al. 2022). Einfluss auf Produktionsentscheidungen oder Arbeitsprozesse haben die Ausgeschlossenen nicht.
Der ständige kostenintensive Kampf um das Maß an Kontrolle über die Verausgabung und Nutzung von Arbeitskraft, den Ausbeuter und Ausgebeutete zielgerichtet führen (Wright 2015, S. 46), wird in zeitgenössischen Kapitalismen überwiegend im ökonomischen Feld und seinen Wirtschaftsorganisationen ausgetragen. Von anderen sozialen Feldern unterscheidet sich das ökonomische Feld insofern, als hier die Sanktionen besonders brutal sind und „das unverhohlene Streben nach der Maximierung des individuellen materiellen Profits öffentlich zur Zielvorgabe des Verhaltens gemacht werden kann“ (Bourdieu 1998, S. 169 ff.). Es handelt sich um eine historisch gewachsene, relationale Struktur mit ineinander verschachtelten Teilfeldern (Branche, Unternehmen, Betrieb, Profitcenter, Abteilung), die sich durch je spezifische, relativ autonome Machtbeziehungen und Kräfteverhältnisse auszeichnen. Im „Feld der Unternehmen“ werden die Machtrelationen und Spielregeln wesentlich von marktbeherrschenden Konzernen bestimmt. Öffnet sich die black box, erscheint das Feld des Unternehmens, „das relative Autonomie gegenüber den aus der Position im Feld der Unternehmen herrührenden Zwänge besitzt“ (ebd., S. 191, Hervorh. im Orig.). Für die Teilfelder des Betriebes, der Abteilung und des Arbeitsplatzes gilt Ähnliches.
Die von Wright benannten Schlüsselprozesse, die zu Klassenbildung führen, finden sich in allen Teilfeldern, Betrieb und Unternehmen eingeschlossen. Großbetriebe, wie wir sie untersuchen, sind Orte sozialer Distinktion, in ihnen wird über die Verteilung sozialer Chancen entschieden. Sie sind Schauplatz von Verteilungskämpfen und zugleich Arenen, in denen (Über‑)Ausbeutung organisiert und ungleicher Tausch durchgesetzt wird. Welche Konflikte dabei entstehen und wie sie verlaufen, hängt vom Einsatz der Machtressourcen ab, über die Kapital und Arbeit im Feld verfügen (Wright 2015, S. 186 ff.; Schmalz und Dörre 2013). Wichtig ist, dass in der Arena des Großbetriebs bewusst betriebene – gewerkschaftliche – Klassenbildung stattfindet. Klassenhandeln wird hier zum Handeln von Netzwerken und formalen Organisationen Lohnabhängiger, die Klassenpositionen verteidigen oder verbessern wollen (Therborn 1987, S. 143).
2.2 Die ökologische Konfliktachse
Wie lassen sich diese Überlegungen auf den ökologischen Gesellschaftskonflikt und die Auseinandersetzungen um den Klimawandel beziehen? Eine gute Antwort bietet Jason Moore, demzufolge die Steigerung des Ausbeutungsgrades lebendiger Arbeit auf vielfältige Weise mit der Aneignung „billiger Naturen“ korrespondiert. In seinem bahnbrechenden Werk Kapitalismus im Lebensnetz (2020), das die kapitalistische Gesellschaftsformation als ein globales Ökosystem inmitten einer umfassenderen Weltökologie begreift, veranschaulicht Moore, wie diese Art der Aneignung seit dem Frühkapitalismus zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und damit zu Akkumulation und ökonomischem Wachstum, aber auch zu Naturzerstörung beigetragen hat. Aneignung ist demnach ein Kausalmechanismus, mit dessen Hilfe „die Arbeit der Natur in den Wert der Bourgeoisie“ umgewandelt wird (ebd., S. 114, Hervorh. im Orig.; vgl. Russ 2023). Der Einsatz von Produktionstechnologie erhöht die Arbeitsproduktivität, indem man sich „die Fähigkeit besagter Naturen zunutze“ macht, „unentgeltlich zu arbeiten“ (ebd.). Betriebe und Unternehmen organisieren diesen Aneignungsprozess.
Wie das kapitalistische Ökosystem insgesamt durchläuft auch die Perfektionierung der Naturaneignung verschiedene Phasen. Dabei ist zu beachten, dass der individuelle Klimafußabdruck mit der jeweiligen Klassenposition variiert. Zwar ist die Datenlage zum Verhältnis von sozialer Ungleichheit und Treibhausgasemissionen unbefriedigend, die Berechnungen und Schätzungen des Ökonomen Lucas Chancel (2022) belegen jedoch einen eindeutigen Trend: 2019 zeichneten die obersten zehn Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung für 48 Prozent der Gesamtemissionen verantwortlich, die untere Hälfte nur für zwölf Prozent. 1990 ließen sich noch 62 Prozent der globalen Ungleichheit bei den individuellen CO2-Emissionen auf die ökonomischen Ungleichheiten zwischen den Ländern zurückführen, in denen die jeweiligen Personen lebten. Fast dreißig Jahre später hat sich das Verhältnis umgekehrt: 2019 waren fast zwei Drittel (64 Prozent) der globalen Ungleichheit bei den individuellen klimaschädlichen Emissionen auf die Kluft zwischen Niedrig- und Hoch-Emittenten innerhalb der Länder zurückzuführen. In Nordamerika und Europa hat die untere Einkommenshälfte – unter ihnen viele Angehörige der Konventionellen Arbeiterklasse – ihre Emissionslast um fünf bis 15 Prozent reduziert. Diese Einkommensklassen erreichen damit Werte, die sich denen der Pariser Klimaziele für 2030 mit einer jährlichen Pro-Kopf-Emissionslast von etwa zehn Tonnen in den USA und ungefähr fünf Tonnen in europäischen Ländern annähern oder diese gar erreichen. Die wohlhabendsten ein Prozent der Weltbevölkerung emittierten 2019 hingegen pro Kopf 26 Prozent mehr als vor 30 Jahren, die reichsten 0,01 Prozent legten gar um 80 Prozent zu. Hauptursache für die steigende Emissionslast sind Investitionen, nicht individuelle Konsummuster. 2019 resultierten über 70 Prozent der Emissionen der reichsten ein Prozent aus Investitionen von privaten Unternehmen oder Staaten. Parallel zum Anstieg der Ungleichheit und zur Konzentration der Vermögen hat der Anteil der Investitionen am Pro-Kopf-Fußabdruck der kapitalistischen Eliten seit den 1990er Jahren beständig zugenommen (ebd.).
Die Daten signalisieren, dass die Luxusproduktion für den Luxuskonsum der wohlhabendsten Klassen zu einem der wichtigsten Treiber des Klimawandels geworden ist. Dennoch wäre es grob fahrlässig, wollte man annehmen, Lohnabhängige, die auf soziale Gerechtigkeit pochen, seien unweigerlich auch die Vorreiter ökologischer Nachhaltigkeit. Die Sorge um Arbeitsplätze, sozialen Status, die Zukunft der Kinder und der Heimatregion kann das Gegenteil bewirken. Das hängt vor allem mit der eigensinnigen Dynamik zusammen, die der ökologische Gesellschaftskonflikt entfaltet. Diese Dynamik darf weder auf Klassenkampf reduziert werden, noch ist sie mit ihm identisch. Die „Arbeit der Natur“ ist etwas anderes als Lohnarbeit. Ihr nähert man sich, wenn Arbeit über die Erwerbstätigkeit hinaus als „lebensspendender Prozess“ (Foster et al., 2011, S. 381) begriffen wird, der die Gebrauchswertproduktion der Natur einbezieht. Hervorzuheben ist zudem, dass die ökologische Konfliktachse auch innerhalb sozialer Klassen spaltet. Sie trennt die Gewinner der sozial-ökologischen Transformation von den Verlierern.
Für Konflikte auf der Naturachse gilt deshalb, dass sie eigendynamisch verlaufen, wenngleich sie bei Eigentumsrechten, den Kosten der Transformation und den Konsequenzen für Lebensweisen Überlappungen mit der Kapital-Arbeit-Achse aufweisen. Wie die Klassenachse wirkt auch der ökologische Gesellschaftskonflikt innerhalb von Betrieb und Unternehmen. In diesen sozialen Teilfeldern wird die „Arbeit der Natur“ angeeignet, in Wert gesetzt und privatem Gewinnstreben unterworfen. Nutzung und Aneignung von Naturressourcen waren jedoch in früheren Stadien kapitalistischer Entwicklung eher die Aufgabe von Spezialist:innen. Das beginnt sich unter den Bedingungen der ökonomisch-ökologischen Zangenkrise zu ändern. Das Ziel, die klimaschädlichen Emissionen in Deutschland bis 2045 auf netto Null zu reduzieren, bedeutet für alle Wirtschaftsbereiche, insbesondere aber für die industriellen Karbonbranchen, eine tiefgreifende Zäsur.
Unsere Forschungen in der Automobilindustrie, die zur Emissionsreduktion in den zurückliegenden Jahrzehnten faktisch nichts beigetragen hat, gründen auf der Annahme, dass sich dort eine Kausalität bemerkbar macht, die – dem Ausbeutungskonzept Wrights (2015, S. 84) vergleichbar – drei konstitutiven Prinzipien folgt: (a) das umgekehrt interdependente Wohlfahrtsprinzip: Der auf fossiler Basis angeeignete Wohlstand herrschender Klassen mit großem Klimafußabdruck verhält sich in umgekehrter Abhängigkeit zum Wohlstand beherrschter Klassen, die eine geringe Emissionslast verursachen; (b) das Ausschlussprinzip: Die umgekehrte Interdependenz beruht darauf, dass beherrschte Klassen von Entscheidungen über Investitionen und Innovationen ausgeschlossen sind; (c) das Aneignungsprinzip: Der Ausschluss verschafft Klassen mit großer Entscheidungsmacht einen materiellen Vorteil, weil er ihnen ermöglicht, sich „billige Naturen“ auf Kosten beherrschter Klassen anzueignen. Zugespitzt formuliert läuft dieser Aneignungsmechanismus darauf hinaus, dass winzige Minderheiten Entscheidungen treffen, die das Überleben all derer beeinträchtigen, die zum Klimawandel am wenigsten beitragen und die unter den Folgen der Erderhitzung in der Regel am stärksten zu leiden haben.
2.3 Tiefenbohrungen bei Autoherstellern – Methodik und Sample
Ob das zutrifft, wie die Mikro-Makro-Dynamik von Transformationskonflikten verläuft und in welcher Weise sie auf die Gesellschaft einwirkt, lässt sich nur empirisch klären. Nachfolgend konzentrieren wir uns auf Untersuchungen bei zwei Autoherstellern. Erhoben haben wir im VW-Komponentenwerk Kassel in Baunatal sowie im Opel-Montagewerk in Eisenach. Die Teilstudie haben wir nach der von uns hinlänglich erprobten Methodik soziologischer Tiefenbohrungen durchgeführt (Dörre et al. 2018, S. 59 ff.).5 Zwar sind die Ergebnisse der Untersuchungen nicht in einem statistischen Sinne repräsentativ, sie zeichnen sich aber durch hohe Plausibilität aus. Befragt wurden von Frühjahr 2021 bis in die Sommermonate 2023 Personen aller Hierarchieebenen der untersuchten Werke (n = 118). Das Spektrum reicht von den Werksleitungen über mittlere Führungskräfte und Spezialist:innen bis hin zu Arbeiter:innen, Auszubildenden, Leiharbeitskräften und andere prekär Beschäftigten. Als Erhebungsinstrument dienten problemzentrierte Interviews und Expertenbefragungen, deren Leitfäden auf betriebliche Statusgruppen zugeschnitten waren (Kaufmann 1999; Witzel 2000). Alle Interviews wurden protokolliert, teilweise auch vollständig transkribiert. Im Anschluss an die Codierung erfolgte eine inhaltsanalytische Auswertung des Materials (Kelle und Kluge 2010, S. 43 f.).
Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass jede befragte Person einer Position im vorgestellten Klassenmodell zugeordnet werden kann. Die Klassen dienen uns als Zellen, die mittels theoretical sampling (Glaser und Strauss 1998, S. 51 ff.) zu besetzen sind. In beiden untersuchten Werken agieren Erwerbsklassen im Miniaturformat. In einem Großbetrieb wie VW Baunatal zählen Werksleitung und teilweise die Abteilungsleiter zur Herrschenden Klasse, mittlere Führungskräfte einschließlich der Meister zur Lohnabhängigen Mittelklasse. Ingenieur:innen und Angestellte in Stäben und Planungsbüros, die nicht über Kontrollmacht verfügen, können der Neuen Arbeiterklasse zugeordnet werden. Auf Beschäftigte, die der Konventionellen Arbeiterklasse angehören, richten wir unser besonderes Augenmerk. Die Exklusionsbereiche werden in den Werken hauptsächlich durch Leiharbeit sowie über Kontraktunternehmen, Zulieferer und Werkvertragsnehmer repräsentiert. Definitionsgemäß kommt die Untere Klasse in Betrieben nicht vor; auch die Selbstständige Mittelklasse ist nur im Werksumfeld und in den Zulieferketten vertreten. Freigestellte Betriebsräte haben wir, abhängig von Qualifikation und Direktionsbefugnissen, entweder der Lohnabhängigen Mittelklasse oder der Neuen Arbeiterklasse zugerechnet. Bei Opel sind wir ähnlich vorgegangen. Da das Eisenacher Werk deutlich kleiner ist als VW-Baunatal, beziehen sich die Kontrollbefugnisse auf geringere Personenzahlen; individuelle Klassenzugehörigkeiten lassen sich dennoch in vergleichbarer Weise abbilden.
Gefragt haben wir zumeist in Einzel-, in geringer Zahl auch in Gruppengesprächen. Themen waren Bildungs- und Berufswege, die aktuelle Arbeitssituation, das Erleben sozial-ökologischer Transformation, Einschätzungen zu betrieblichen Interessenvertretungen und Gewerkschaften, Haltungen zu Klimawandel und Klimaprotesten sowie Gesellschaftsbilder, einschließlich der Selbstverortung im sozialen Gefüge der Bundesrepublik. Im Anschluss an die Interviews wurde den Befragten ein standardisierter Fragebogen vorgelegt, der neben soziodemographischen Daten zusätzlich Einstellungen zur Gesellschaft, zu sozialen Ungleichheiten und Transformationskonflikten erfasst hat. Nicht alle Personen haben diesen Fragebogen ausgefüllt, die Grundgesamtheiten von standardisierter Erhebung (fallübergreifend n = 110; VW/Opel n = 65) und qualitativem Datensatz weichen daher voneinander ab.
Entscheidend für den Verlauf von Konflikten ist, wie die Klassenachse und die ökologische Achse im Akteurshandeln aufeinander bezogen werden. In diesem Zusammenhang ist der Fall Baunatal von herausgehobener Bedeutung. Wir haben das Werk bewusst ausgewählt, weil die Betriebsratsspitze durch offene Kritik am Geschäftsmodell der Autohersteller aufgefallen war. So erklärte der damalige Betriebsratsvorsitzende in einem bemerkenswerten Interview:
Das Problem ist das Geschäftsmodell der Branche, das dafür ausgelegt ist, jährlich 70 Millionen Autos in den Weltmarkt zu drücken. Was wir brauchen, sind weniger Autos, kleinere Autos, ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs mit bedarfsgerechten Rufbus- und Carsharing-Angeboten für den ländlichen Raum. (Bätzold 2021)
In Paraphrase haben wir dieses Zitat für die Interviews in allen Untersuchungsbereichen genutzt.
Opel Eisenach eignet sich als Kontrastfall, weil Vorgespräche mit dem Betriebsrat nahelegten, dass die AfD als externer Vetospieler6 einen weit größeren Einfluss auf Teile der Belegschaft ausübt, als das in Baunatal der Fall ist. Die Untersuchungsmethodik entspricht dem „critical engagement“ (Bezuidenhout et al. 2022), einer speziellen Variante öffentlicher Soziologie. Ein aus exklusiven betrieblichen Zugängen gewonnenes Wissen wird in bearbeiteter Form an die betrieblichen Akteure zurückgespielt, um die Transformation zum betrieblichen Thema zu machen. Erste Untersuchungsergebnisse haben wir in gemeinsamen betrieblichen Veranstaltungen mit Management, Betriebsräten, Vertrauensleuten sowie in einer Bürgerversammlung vorgestellt. Das kritische Feedback ist wiederum in die Auswertung des empirischen Materials eingeflossen (Büchling et al. 2023).
Zu Transformationskonflikten werden unterschwellige Interessengegensätze erst, sobald sie von „manifesten Interessengruppen“ (Dahrendorf 1957, S. 165 ff.) geführt werden, die sich ihrer Anliegen bewusst sind. Interessen, die von Scharnierpersonen und strategischen Gruppen intentional definiert werden, bestimmen dann die Konfliktdynamik. Im Falle von Großbetrieben mit intakten organisierten Arbeitsbeziehungen würde es naheliegen, Transformationskonflikte im Rahmen von institutionalisierter Mitbestimmung und Tarifdemokratie zu bearbeiten. Geschäftsleitungen und Management repräsentieren dann die Kapitalmacht, Betriebsräte, Gewerkschaften und Belegschaften die organisierte und die institutionelle Lohnarbeitsmacht. Beiden Machtquellen liegt die Primärmacht von Lohnarbeitenden zugrunde, die sich aus der Stellung am Arbeitsmarkt und in den Produktionsprozessen ergibt (Schmalz und Dörre 2013). Wie unsere empirischen Tiefenbohrungen zeigen werden, bleiben die Akteure organisierter Arbeitsbeziehungen aber niemals unter sich. Abgesehen vom Staat, der als regelsetzender und ressourcenverteilender Akteur im sozialen Feld eines Großbetriebs zumindest indirekt stets zugegen ist, sehen sich betriebliche Konfliktparteien in der Transformation mit mindestens zwei Gruppen externer Vetospieler konfrontiert, die, selbst wenn sie in den betrieblichen Arenen nicht unmittelbar präsent sind, das Transformationsspiel und seine Regeln beeinflussen.
Die erste Akteursgruppe bezieht ihre Macht aus dem Bemühen, der unsichtbaren „Arbeit der Natur“ zu einer öffentlichen Stimme zu verhelfen.7 Diese Macht kann sowohl mit Kapital- als auch mit Lohnarbeitsinteressen in Konflikt geraten. Wie unsere Forschungen zeigen, werden Anliegen dieser Vetospieler über Kinder und Jugendliche in die Familien der Werksangehörigen hineingetragen. Über Medien oder oppositionelle Minderheiten in Gewerkschaft oder Betriebsrat erreichen sie die Beschäftigten. Deshalb sind die Aktionen von Fridays for Future, der Letzten Generation oder von den Klimacamp-Aktiven des Wolfsburger Projekthauses Amsel 44 (Müßgens 2023)8 in den Belegschaften der Autohersteller präsent, obwohl die Proteste in der Regel außerhalb der Werkstore und Arbeitsstätten stattfinden. Die zweite Gruppe von Vetospielern negiert die „Arbeit der Natur“, sie leugnet oder relativiert den Klimawandel, verknüpft die Sehnsucht nach der alten Republik mit einem rebellischen Gestus, ersetzt das Deutungsmuster klassenspezifischer Interessengegensätze durch die Denkschablone ethnisierter Innen-Außen-Konflikte und polarisiert politisch, indem sie Klimabewegungen und grüne Formationen zu Hauptfeinden „normaler“ Bürger:innen erklärt. Wichtigste Kontraakteure sind Organisationen der radikalen Rechten, allen voran die AfD. Der Einfluss beider Gruppen externer Vetospieler macht sich auch in den untersuchten Werken bemerkbar.
3 Autohersteller in der Transformation
VW Baunatal und Opel Eisenach gehören zu einer Branche, die mit nahezu 775.000 Direktbeschäftigten, davon über 460.000 bei Endherstellern, noch immer ein Herzstück der deutschen Industrie bildet (Statistisches Bundesamt 2023). Da ab 2035 innerhalb der EU nur noch emissionsfreie Neuwagen auf den Markt kommen sollen (Europäischer Rat 2022), befinden sich Hersteller und Zulieferer im Umbruch. Allein die Umstellung auf elektrobatteriebasierte Antriebe könnte die Branche eine Viertelmillion Arbeitsplätze kosten. Zwar verzeichneten die deutschen Hersteller 2022 zeitweilig Rekordumsätze und -gewinne (Ernst & Young 2023), doch die Zeit der Traummargen scheint sich dem Ende zuzuneigen. Fraglich ist, ob die PKW-Produktion zu steigern ist, ohne Zugeständnisse beim Preis zu machen. Zwar wächst die Nachfrage nach E‑Fahrzeugen, die Marktanteile deutscher Hersteller bleiben jedoch hinter den Erwartungen zurück (Automotive 2023). Zudem erzielen die meisten Endproduzenten mit dem Verbrenner noch immer deutlich höhere Gewinne als mit E‑Fahrzeugen.
Da an der Steigerung des Elektroabsatzes jedoch kein Weg vorbeiführt, stehen trotz guter Umsatz- und Gewinnsituation drastische Kostensenkungsprogramme bevor, andernfalls droht „dauerhaft eine deutlich niedrigere Profitabilität“ (Ernst & Young 2023). Trotz erster Gewinnwarnungen bei VW war in den untersuchten Werken von Arbeitsplatzabbau allerdings noch keine Rede. In Baunatal wurde die Belegschaft aufgestockt, bei Opel Eisenach herrschte permanent Personalknappheit. Ungeachtet dessen hat die Transformation bei beiden Herstellern längst begonnen. Nachfolgend skizzieren wir die regionale Bedeutung der beiden Werke, schildern Haltungen von Führungskräften und Belegschaften zu Transformation und E‑Mobilität und beleuchten das Konfliktpotential der Veränderungen.
3.1 Endhersteller: Überleben in der Transformation
Die Werke in Baunatal und Eisenach sind industrielle Leuchttürme mit strukturprägendem Einfluss auf ihr regionales Umfeld. Kassel-Land rangiert im Ranking der von Transformationsfolgen besonders hart getroffenen Kreise an fünfter Stelle (Kühling 2023). Auf die knapp 28.000 Einwohner Baunatals kommen über 16.000 Arbeitsplätze des VW-Komponentenwerks. Im Zuge der Antriebswende könnten, gemessen am Stand von Dezember 2018, 5.000 bis 8.000 Arbeitsplätze verloren gehen. Das Werk als solches werde aber „nicht sterben“ (Betriebsrat, LMK). Verantwortlichen Kommunalpolitikern treibt diese Aussicht dennoch Sorgenfalten auf die Stirn, denn Arbeitsplatzabbau bei VW bedeutet sinkende Steuereinnahmen. Gleichwertige regionale Beschäftigungsalternativen sind, abgesehen von der boomenden Kasseler Rüstungsindustrie, nicht in Sicht. In der expandierenden städtischen Dienstleistungsökonomie wird deutlich schlechter bezahlt, etwa die Hälfte der Arbeitsplätze gilt als prekär (Lacher 2018).
Im Baunataler Werk verdient man bei kürzeren Arbeitszeiten deutlich besser als in Eisenach. Der Eingruppierung nach gilt Montage- im Regelfall als Facharbeit. Wer bei VW zur Stammbelegschaft zählt, hat zudem trotz des absehbaren Stellenabbaus kaum Angst vor Arbeitsplatzverlust. Man ist sich relativ sicher, im Werk oder zumindest innerhalb des VW-Konzerns Beschäftigungsalternativen zu finden und erlebt das tagtäglich vor Ort: Während im Bereich Abgasanlagen Beschäftigung abgebaut wird, entsteht beim E‑Antrieb zusätzlicher Personalbedarf. Zum Sicherheitsempfinden tragen eine langfristige Beschäftigungs- und eine fünfzehnjährige Teilegarantie für produzierte Komponenten bei, von der das Werk profitiert. Dieser Grundhaltung wohnt allerdings etwas Zwiespältiges inne. Von außen betrachte man VW-Beschäftigte als Beamte, „obwohl sie Arbeiter sind“. Das führe, wie ein Betriebsrat meint, dazu, dass viele Beschäftigte glaubten „alles ist geregelt“ (VW-Betriebsrat, LMK).
Darin VW Baunatal ähnlich, sind auch die Arbeitsplätze bei Opel Eisenach im regionalen Umfeld heiß begehrt. Wer den Sprung in die Stammbelegschaft schafft, hat sich wie bei VW in betrieblichen Auswahlverfahren für die Arbeit im Werk qualifiziert. Wenngleich bescheidener als in Baunatal, sind Bezahlung und Arbeitsbedingungen im regionalen Vergleich vergleichsweise gut: 3.800 Euro brutto, die man bei Opel verdienen kann, bekommt man als Arbeiter:in in Thüringen ausgesprochen selten. Im bundesweiten Entgeltvergleich der Endhersteller ist das Montagewerk zwar das Schlusslicht. Wer, wie die unteren 44 Prozent der abhängig Arbeitenden im Thüringer Landkreis Sonneberg, von einem Zwölf-Euro-Mindestlohn profitiert (Pusch und Emmler 2021), hält die Opelaner in Eisenach aber für privilegiert. Sie gelten als „Leute, die auf hohem Niveau jammern“ (IGM-Sekretär, NAK).
Anders als im gut 100 Kilometer entfernten Baunatal sind die unmittelbaren Zukunftsängste in Eisenach groß. Zwar hat der hochprofitable Stellantis-Konzern dem Montagewerk mit seinen mehr als 1.200 Beschäftigten nach zähen Verhandlungen und Konflikten die Produktion eines vollelektrischen Fahrzeugs zugesagt, die Einrichtung der Fertigungslinien ist in vollem Gange, doch die Sorgen bleiben. Noch immer herrscht Einstellungsstopp. Nur Leiharbeitskräfte dürfen erstmals seit der Corona-Rezession wieder in den Betrieb. Ob Opel Eisenach die Herausforderungen der automobilen Transformation dauerhaft meistern kann, ist ungewiss. Auf die Frage nach dem wichtigsten Zukunftsprojekt antwortet eine gewerkschaftliche Vertrauensfrau: „Überleben!“. Es herrsche ständige Unsicherheit:
Das Eine ist das Produkt an sich, was sich gerade ändert, wo wir in eine Antriebsartänderung bekommen, nämlich hin zur Elektromobilität. Parallel dazu durch die CO2-Debatte wird es neue Mobilitätsanbieter, neue Mobilitätsmodelle geben, die Einfluss haben werden auf das Werk in Eisenach. Und wir werden natürlich auch damit konfrontiert, was aktuell politisch passiert. Da ist die Abhängigkeit von China. Und dann eben der Ukraine-Krieg. Und das hat natürlich massive Auswirkungen auf das Werk. Wir merken das mit instabiler Produktion. (Opel-Betriebsrätin, NAK)
Einige der genannten Verunsicherungen gelten für die gesamte Branche und finden sich auch bei VW Kassel. Die Reaktionen der Stammbelegschaften beider Werke, die sich mehrheitlich aus der Konventionellen Arbeiterklasse zusammensetzen, sind von Verlustängsten geprägt. Dabei ist es nicht so sehr die Furcht vor Arbeitslosigkeit, sondern drohender Statusverlust, der die Befragten umtreibt: „Ich habe Angst“, so ein Opelaner, „dass ich den Standard, den ich mir mit meiner Frau aufgebaut habe, so nicht halten kann!“ (Opel-Arbeiter, KAK). Status meint hier weit mehr als gute Entlohnung. Es geht um Würde, um Anerkennung für eine Arbeit, die körperlich wie psychisch stark belastet, um die Möglichkeit, ein gutes Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen. Befürchtet wird der Verlust von Schutz durch tarifliche Regelungen, Betriebsvereinbarungen, Beschäftigungsgarantien, Mitbestimmungsmöglichkeiten und unternehmensseitige Sozialleistungen. Es geht um den Erhalt eben dieses Sozialeigentums, das dem Arbeiterdasein einen Status verleiht.
Für langjährige Stammbeschäftigte sind die Kolleg:innen zudem „wie eine Familie“: Man vertraut sich, teilt informelles Wissen über Produktionsabläufe und gewinnt so innerhalb enger Grenzen ein wenig Kontrolle über die Arbeits- und Leistungsbedingungen. „Transformation“ ist hingegen vornehmlich ein Begriff von „strategischen Gruppen“, zu denen neben Führungskräften auch die Betriebsräte zählen. Für Beschäftigte in der Produktion handelt es sich eher um ein Unwort. Den Opelanern steht der Begriff für die Deindustrialisierung der Nachwendezeit. In Baunatal verbinden ihn viele mit Ex-VW-Vorstand Wolfgang Bernhard, der seinerzeit die Komponentenfertigung verkaufen wollte. Hinzu kommt, dass die Arbeiter:innen beider Großbetriebe beruflich überwiegend schon erreicht haben, was mit ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten erreichbar ist. Von den bevorstehenden Veränderungen erwarten sie zumeist Verschlechterungen. Weil die Transformation politisch vorgegeben ist und möglicherweise bedroht, was das eigene Leben angenehm macht, wird sie von Teilen der Belegschaften als zusätzliche Verunsicherung erlebt oder gar als Eingriff in individuelle Freiheiten betrachtet. Der Wandel geht vielen zu rasch. Dementsprechend widersprüchlich sind die Haltungen der Belegschaften zu Antriebswende und E‑Mobilität.
3.2 Oberes Management: Vorfahrt für grünes Wachstum
Für den Oberen Managementkreis in Kassel-Baunatal und – weniger enthusiastisch – die Werksleitung von Opel Eisenach sind die strategischen Grundentscheidungen in Sachen Antriebswende gefallen. Transformation identifizieren Führungskräfte beider Werke, die wir der Herrschende Klasse oder der in sozialer Nachbarschaft befindlichen Lohnabhängigen Mittelklasse zuordnen, mit Digitalisierung und der Umstellung auf elektrobatteriebasierte Antriebe. Ökologische Nachhaltigkeit betrachten sie vornehmlich als ökonomisches Effizienzproblem. Im Oberen Managementkreis von VW setzt man vorbehaltlos auf grünes Wachstum. Gegenüber Konkurrenten wie Tesla räumen Führungskräfte „Rückstände bei der Digitalisierung“ (VW-Führungskraft, HK) ein. Während ein Tesla mit einem Bordcomputer und passendem Betriebssystem fahre, beruhe das VW-System auf einer ungleich komplexeren PC-Steuerung mit zahlreichen Schnittstellen, was eine hohe Störanfälligkeit bewirke. Dennoch ist der Optimismus, letztendlich als einer von wenigen Plattformherstellern siegreich aus dem Verdrängungswettbewerb der Branche hervorzugehen, teilweise überbordend. Im Eisenacher Montagewerk ist die Zuversicht unter Führungskräften weniger ausgeprägt, doch auch dort weiß man, dass die Produktion eines vollelektrischen Fahrzeugs den Erhalt des Werks für einige Zeit sicherstellt.
In beiden Großbetrieben hat das lokale Top-Management aber nur begrenzten Einfluss auf strategische Unternehmensentscheidungen. VW Kassel liefert weltweit Komponenten für sämtliche Marken des Konzerns. Das Werk konkurriert dabei mit externen Anbietern. Strategische Entscheidungen werden überwiegend in der Wolfsburger Zentrale gefällt. Daraus resultiert eine begrenzte Interessenkongruenz zwischen Management, Betriebsrat und Belegschaft: „Das sind nicht die Klassenlinien, die da die Rolle spielen, sondern das Werk gegen die Zentrale“ (ehem. VW-Manager, LMK). Für das Eisenacher Montagewerk gilt Ähnliches. Um jede Zusage für ein neues Fahrzeug muss auch konzernintern in harten Standortkonkurrenzen gerungen werden. Das macht die Zugehörigkeit zur Stammbelegschaft zu einer ständigen „Bewährungsprobe“ (Boltanski und Chiapello 2003, S. 74), denn der Zuschlag für ein neues Modell muss mit Zugeständnissen bei Lohnbestandteilen erkauft werden. Die Unternehmensstrategie wird räumlich weit entfernt in der Stellantis-Zentrale, bei Peugeot oder im Rüsselsheimer Opel-Werk festgelegt. Bei Führungskräften und im Betriebsrat besteht zudem der Eindruck, man müsse mit dem Einstellungsstopp den Personalüberhang ausbaden, den es aus der Konzernperspektive im Rüsselsheimer Stammwerk gibt.
Unterschiedlich ausgeprägt findet sich in beiden Werken ein Steuerungssystem, das Ende der 1990er-Jahre als „straffe Profitsteuerung“ (Dörre 2001, S. 686) beschrieben wurde. Unabhängig von rhetorischen Konjunkturen und einer vermeintlichen Abkehr vom Shareholder-Value (Schwab und Mallerret 2020, S. 218 f.) hat sich an den Grundelementen dieses am Eigentümerinteresse ausgerichteten Managementkonzepts wenig geändert. Beide Großbetriebe werden nach Key Performance Indicators (KPIs) geführt. Die Unternehmenszentralen geben Ziele vor, die dann zum Gegenstand unternehmenspolitischer Aushandlungen werden. Letztendlich sind Stückzahlen und Erträge die entscheidenden Steuerungsgrößen. Abhängig vom Produkt und der Stellung in der Wertschöpfungskette sind die Spielräume, den Druck aus den Zentralen abzufedern, unterschiedlich groß. In beiden Werken operiert das Management mit Produktivitätsvorgaben, die teilweise nicht zu realisieren sind. Es sei naiv zu glauben, so ein führender VW-Betriebsrat, in jeder Fertigung könnten jedes Jahr Produktivitätssteigerungen um fünf Prozent gelingen. Große Produktivitätssprünge mache man mit einem neuen Produkt in einer neuen Linie, nach zehn Jahren sei das „ausgelutscht“, „da holst du gar nichts mehr raus“ (VW-Betriebsrat, LMK). Trotz oder wegen unerreichbarer Produktivitätsziele gelingt es den Werksleitungen, den ökonomischen Druck bis an einzelne Beschäftigte weiterzugeben. Beschäftigungssicherheit und gute Entlohnung im Tausch gegen ständig steigende Produktivität und Effizienz, lautet das Credo der Führungskräfte – mit weitreichenden Folgen für die Belegschaften:
Jeder Kollege ist für Millionen verantwortlich auf einmal, obwohl er gar nichts dafür kann. Und dieser Druck, der psychisch entsteht, ist enorm. Plus die Art und Weise des Arbeitens, die Intensität. Das ist ja nicht wie früher, dass wir am Wochenende ein halbes Schwein gegrillt haben, das ist alles weg, da gibt es ja nichts mehr. Es gibt ja kaum noch Lücken, wo du tatsächlich im sozialen Miteinander was machen kannst. Wenn Pause ist, sitzen alle nur noch da und gucken, dass sie irgendwie durchkommen. (ehem. VW-Betriebsrat, LMK)
Während die Kritik von Betriebsräten und Beschäftigten am VW-Management noch relativ verhalten ausfällt, wird sie im Opel-Werk teilweise mir großer Heftigkeit vorgetragen. Bezeichnend ist, dass sie nicht so sehr das räumlich weit entfernte Top-Management der Konzernzentrale, sondern eher die vor Ort verantwortlichen Manager trifft:
Wir haben einen Teil von diesen Managern bekommen, die sich in Eisenach aufspielen, als ob sie der Chef persönlich wären. Und diesen Druck ausüben. Koste es, was es wolle. Und warum machen sie das? Weil im Büro die Mischmaschine steht. Und jeden Tag der Stuhl fest zementiert werden muss. Sie arbeiten an ihrem Stuhl, nicht an dem Stuhl von Opel. Und oben unsere Werksleitung sagt, schneller, schneller. Und Kurs halten! Sie [die lokalen Führungskräfte, d. A.] sind aber auch nur eine Nummer in dem System. (Opel-Arbeiter Logistik, KAK)
Wachsender Leistungsdruck und Intensivierung der Arbeit sind im Bewusstsein der Führungskräfte beider Werke kaum präsent. Alle Befragten aus dem strategiefähigen Management sind sich allerdings darin einig, dass es mit der Umstellung auf E‑Antriebe gelingen wird, die „Arbeit der Natur“ auf neue Weise in Gewinn für das Unternehmen und damit auch in eigene Vorteile zu verwandeln. Aus Sicht des strategiefähigen Managements geben die Leitmärkte in China und den USA das Tempo eines für unausweichlich gehaltenen Wandels vor, der das Wettbewerbsspiel im Feld der Unternehmen bestimmt und deshalb im eigenen Großbetrieb für Anpassungsdruck sorgt.
3.3 Hallenboden: Skepsis gegenüber E-Mobilität
Das Management-Leitbild von grünem Wachstum, E‑Mobilität und Klimaverträglichkeit dominiert in beiden Werken. Hegemonial im Sinne von Ideen, die Belegschaften inhaltlich überzeugen, ist es nicht. Je näher man dem Hallenboden kommt – eine gängige alltagssprachliche Bezeichnung für die Beschäftigten in der Fertigung –, desto heftiger fällt die Kritik am elektrifizierten PKW-Verkehr aus. Teilweise speist sich die Kritik der Arbeiter:innen an der E‑Mobilität aus einem Glauben an moderne Technik und der Hoffnung, mit E‑Fuels und grünem Wasserstoff könne der individuelle PKW-Verkehr zukunftsfähig gemacht werden. Viele Kritikpunkte sind aber auch bei Klimaprotesten zu hören. Moniert werden Ausbeutung und Naturzerstörungen bei der Beschaffung von Lithium und Kobalt. Wachsender Strombedarf, der derzeit aus Kohle und Erdgas, also fossil, erzeugt wird, ist ebenso Thema wie die hohen Preise für aktuell produzierte E‑PKWs. Im Opel-Werk fällt diese Kritik besonders harsch aus:
Also ich bin fest davon überzeugt, die Autohersteller, wenn die komplett auf E‑Mobilität setzen, schaufeln sie sich ihr eigenes Grab. Das ist nicht die Zukunft. Das funktioniert nicht. Wir sehen es ja jetzt im Moment aktuell durch die Energiekrise. Die diskutieren schon die ganze Zeit, welche öffentlichen Gebäude nicht mehr anzustrahlen sind, ob wir im Winter frieren. Ist jetzt schon fast nicht genug Strom da. Wenn man dann überlegt, dass wir aber ungefähr 35 Millionen Fahrzeuge auf den deutschen Straßen haben und jedes wäre davon ein Elektroauto, was dann los wäre. Da werden alle nach Feierabend den Stecker reinstecken. Das würde einen kurzen Schlag tun und dann wäre alles dunkel und keiner kommt zur Arbeit. Also es ist nicht möglich. Zumindest derzeit nicht. Und das wird sich auch so schnell nicht ändern können. (Opel-Arbeiter Endmontage, KAK)
Zwar sei es richtig, den Klimawandel zu bekämpfen, jedoch ohne überstürzte Maßnahmen und mit größerer fachlicher Kompetenz. „Für mich ist der Verbrennungsmotor aktuell mit das Sauberste, was es gibt“ (Opel-Arbeiter, KAK), lautet ein in der Belegschaft verbreitetes Urteil. Während die Betriebsratsspitzen in Baunatal und – weniger offensiv – in Eisenach für nachhaltige Verkehrssysteme mit reduziertem Autoverkehr plädieren, ziehen viele Beschäftigte am Hallenboden aus der Kritik an der Elektrifizierung des PKW-Verkehrs einen anderen Schluss. Sie wollen den Wandel langsamer und weniger radikal vollziehen.
Unter den Arbeiter:innen sind drei Grundhaltungen verbreitet. Eine Minderheit ist für (a) Produktkonversion offen und vermag sich die Herstellung von Produkten für eine nachhaltige Verkehrswende durchaus vorzustellen. Man setzt auf die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das Fachwissen für neue Produkte sei grundsätzlich da, es gebe viele Hochqualifizierte, das könne man nutzen. Vorherrschend sind unter den Beschäftigten jedoch Haltungen, die mit (b) Technikzentrierung und (c) Beharrung treffend bezeichnet sind. Im erstgenannten Fall setzt man darauf, die Dekarbonisierung mittels technischer Innovation bewerkstelligen zu können. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, das Auto in gewohnter Weise nutzen und den eigenen Lebensstil im Großen und Ganzen beibehalten zu können. Beharrung impliziert, das Transformationstempo zu verlangsamen, den Übergang zu E‑Antrieben zeitlich hinauszuschieben und für eine Übergangszeit weiter auf konventionelle Antriebe wie etwa moderne Dieselmotoren zu setzen. Die Kritik an teuren E‑Fahrzeugen fällt auch deshalb heftig aus, weil beide Werke Arbeitskräfte aus ländlichen Regionen rekrutieren. Wer auf dem Land lebt, benötigt das Auto als Lebensmittel:
Ich kann von Bad Langensalza nach Eisenach keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. Wie soll ich das machen? Ich müsste mit dem Zug nach Gotha fahren. Von Gotha nach Eisenach. So. Und der Bus, der klappert die ganzen Dörfer ab. Ja, da bin ich hundert Jahre unterwegs. (Opel-Arbeiter, KAK)
Für Baunatal gilt ähnliches. Bis zu 80 Prozent der Beschäftigten des Werks wohnen auf dem Lande, ohne Auto „sind die verloren“ (VW-Führungskraft, LMK). Angesichts dieser Problematik erscheinen die Politik der „grünen“ Regierung, aber auch die Vorschläge aus der Klimabewegung lebensfremd:
Ja. Es muss was gemacht werden, um das Klima zu schützen, gell? Das ist nicht ganz verkehrt. Aber die Klimaaktivisten sind viel zu radikal und viel zu beschränkt auf den Individualverkehr. Das wird immer wieder Gegendruck erzeugen gegen diese Klimaaktivisten. Und ich sage: Nicht umsonst gibts überall die Aufkleber, die über dem Auspuff hängen. „Fuck you, Greta!“ (Opel-Vertrauensmann, KAK)
Die Klimaschützer wollen, so die Wahrnehmung, zwar der „Arbeit der Natur“ eine Stimme geben, doch dies unter Ausblendung des Alltags der Arbeiterschaft. „Die Natur wird geschützt, aber wer schützt die Menschen?“ (Opel-Expertin Ost, KAK), lautet eine bezeichnende Frage.
4 Die Mikro-Makro-Dynamik großbetrieblicher Transformationskonflikte
Die Vehemenz, mit der die Kritik an Klimaprotesten vorgetragen wird, verweist auf einen Problemdruck, der in alltäglichen Arbeitsprozessen entsteht und sich in mehrdimensionalen Transformationskonflikten entlädt. Von Erik Olin Wrights Heuristik klassenrelevanter kausaler Prozesse inspiriert, unterscheiden wir in den untersuchten Großbetrieben im Folgenden vier Konfliktebenen: Auf der Mikroebene von Arbeitsweise und individueller Lebensführung geht es um Spielräume für ein gutes Leben, die der Fremdbestimmung abgetrotzt werden. Der Ausschluss von Produktionsentscheidungen begünstigt, dass Nachhaltigkeitsgebote zum Gegenstand symbolischer Distinktionskämpfe werden. Auf der Mesoebene drehen sich Auseinandersetzungen um das Ausmaß an Kontrolle und die Verteilung sozialer Chancen in der Transformation. Nachhaltigkeitsgebote werden am Hallenboden häufig im Modus bürokratischer Beherrschung wahrgenommen. Makrosozial geht es nicht allein um die Abmilderung von Ausbeutung und Beherrschung, die Akteure ringen um Entscheidungen, die über das Was und das Wozu, aber auch über das Womit der Produktion befinden. Jenseits der Werksgrenzen entladen sich die Spannungen, die im Zuge der Transformation entstehen, im politischen Feld, in der Auseinandersetzung mit Regierung und Staat. Alle genannten Konfliktebenen sind in den Werken präsent und wirken aufeinander ein.
Beginnen wir mit der Arbeitsweise und deren Auswirkung auf die individuelle Lebensführung. In moderner Industriearbeit reproduziert sich, was der Philosoph Günter Anders einst als Trennung von Produktion und Gewissen bezeichnet hat. Herstellung und Verantwortung für das Produkt seien moralisch auseinandergerissen. Der Arbeitsbetrieb produziere „Gewissenlosigkeit“, bewirke Gleichgültigkeit der Arbeitenden gegenüber den erzeugten Gütern und sei deshalb der „Geburtsort des Konformisten“ (Anders 2018 [1956], S. 321). Die von Anders klug beschriebene Entfremdung gegenüber dem Produkt ist allerdings niemals eine totale, denn Arbeit, bei welcher Produzent:innen ihren Intellekt vollständig ausschalten, gibt es nicht. Das Spannungsverhältnis von Tauschwert- und Gebrauchswertperspektive ist im „doppelten Bezug“ auf Erwerbsarbeit seit jeher angelegt. Die konkret-nützliche Seite der Produktionsarbeit büßt ihre identitätsbildende Kraft daher niemals vollständig ein (Schumann et al. 1982, S. 399 ff.). In den Produktionsbereichen der untersuchten Großbetriebe macht sich das Spannungsverhältnis beider Perspektiven jedoch in besonderer Weise bemerkbar. Wohl werden die Tätigkeiten in der Produktionswelt der Konventionellen Arbeiterklasse, die beide Großbetriebe prägt, noch immer in kleinste, sich ständig wiederholende Schritte zerlegt und ins Korsett enger Zeitvorgaben gepresst. Doch ist es selbst bei relativ einfachen Montagetätigkeiten unmöglich, den Kopf völlig auszuschalten und sich in reiner Routine zu verlieren.
Im VW-Werk ist die Produktionsarbeit im Verlauf der Jahrzehnte deutlich anspruchsvoller geworden. Es geht nicht mehr um die einzelne Maschine. Anlagenführer müssen die gesamte „Fertigung im Blick behalten“, Qualitätssicherung und Werkzeugwechsel machen den „größten Anteil der Tätigkeiten“ aus (VW-Meister, LMK). Vom „Ende der Arbeitsteilung“, wie sie die Arbeitssoziologen Horst Kern und Michael Schumann (1984) in den 1980er-Jahren zu erkennen glaubten, ist auf den ersten Blick nicht viel geblieben. Gearbeitet wird in Teams mit gewählten Sprechern, doch teilautonome Gruppen mit großen Arbeitsumfängen, wie das im längst geschlossenen Volvo-Werk Uddevalla der Fall war, gibt es nicht. Üblich sind Tätigkeiten an verketteten Stationen mit stark reduzierten Inhalten. Vollautomatisierte Stationen mit 27-Sekunden-Takten koexistieren mit Handarbeitsplätzen, an denen sich Tätigkeiten im 30-Sekunden-Takt wiederholen. Die komplexen Maschinenparks erweisen sich allerdings als störanfällig, kleinere technische Probleme werden von den Teams selbst behoben. Die Unterbrechungen bleiben ohne unmittelbare Auswirkungen auf nachgelagerte Stationen, denn „es gibt kleine Puffer“ (VW-Meister, LMK). Die Teams arbeiten nach dem Rotationsprinzip. Sämtliche Tätigkeiten im Teambereich ausüben zu können, ist aber ein hoher Anspruch, der sich nur schwer einlösen lässt: „Ich habe selber Stationen, da schaffe ich die Taktzeit nicht. Das funktioniert einfach nicht, weil man gefühlt zu dumm ist.“ (VW-Arbeiter Getriebefertigung, KAK) Zum Aufstören von Routinen trägt ein Dreischichtsystem bei, das Arbeiter:innen ein Höchstmaß an Flexibilität abverlangt. Regulär wird fünf Tage die Woche in drei verschiedenen Schichten gearbeitet. Der ständige Schichtwechsel belastet dabei noch stärker als die routinisierte Arbeitstätigkeit. Vielen Arbeiter:innen gilt die ständige Verfügbarkeit für die Produktion als verlorene Lebenszeit: „Zwölf Tage am Stück zu arbeiten, in drei Schichten zu arbeiten, auch Feiertage zu arbeiten“ wirke sich „negativ auf das Privatleben, auf die Familie aus“. Der vergleichsweise gute Verdienst sei „Schmerzensgeld“ (VW-Teamsprecher, KAK).
Die Situation bei Opel lässt sich ähnlich beschreiben, wenngleich die Arbeitsbedingungen deutlich restriktiver sind. Seit Inbetriebnahme des Werks entspricht die Arbeitsorganisation dem Leitbild der „schlanken Produktion“, wie es zu Beginn der 1990er-Jahre propagiert wurde (Womack et al. 1991). Die Teams haben eingesetzte Teamleiter. In der Montage liegen die Taktzeiten bei 152 Sekunden. Die Tätigkeiten und Stationen sind allerdings enger gekoppelt als im Baunataler Werk. Treten Fehler oder Qualitätsmängel auf, muss das Band angehalten werden. Sieht man von Bereichen wie der vollautomatisierten Lackiererei ab, ist die Technik teilweise nicht auf dem neuesten Stand. An manchen Stationen müssen die Montagearbeiter unter die Plattform kriechen, um ihre Tätigkeiten ausführen zu können. Noch unmittelbarer als im Komponentenwerk bestimmt das Band das Arbeitstempo, die Arbeitenden empfinden das als Kontrollverlust: „Ich habe so das Gefühl, dass die Arbeiten immer mehr werden pro Tag, dass die Geschwindigkeit immer schneller wird.“ (Opel-Arbeiter, KAK) Der belastende Arbeitstag mit dem versteckten Kampf um die Bandgeschwindigkeit wird nur von zwei neunminütigen Pausen und einer 23-minütigen Mittagspause unterbrochen. „Eine Stunde vor der Mittagspause bist du platt“, schildert ein Befragter seinen Arbeitsalltag (Opel-Arbeiter Endmontage, KAK).
Fremdbestimmung im Arbeitsprozess nährt das Empfinden, als Arbeiter:in einer abgewerteten Statusgruppe anzugehören, deren Leistungen und Interessen öffentlich kaum Beachtung finden (ähnlich Beck und Westheuser 2022). „Ich bin mein Leben lang Arbeiter […], es sind halt Begrifflichkeiten [Arbeiter, Arbeiterschaft, d. A.], wo man sich ganz schnell auch degradiert fühlen kann.“ (VW-Arbeiter, KAK) Es sei eine Tatsache, dass „Arbeiter kaum wahrgenommen [werden], definitiv!“ (Opel-Arbeiter, KAK) Ständige Appelle an Produktionsintelligenz und Nachhaltigkeitsgebote einerseits, Ausschluss von Produktionsentscheidungen, Fremdbestimmung und Abwertungsempfinden andererseits erzeugen eine Spannung, die sich in bandgetakteter Arbeit nicht auflösen lässt. Deshalb werden von oben verfügte Arbeitszwänge verinnerlicht. Hat man das Werkstor passiert, beginnt die arbeitsfreie Zeit und damit das eigentliche Leben, Die Freiheit, selbst entscheiden zu können, wie und wofür diese knapp bemessene Zeit genutzt werden soll, möchte man sich nicht nehmen lassen.
Das ist der Grund, weshalb der eingangs zitierte Opel-Arbeiter die „grüne Regierung“ und die Klimabewegungen als Hauptgegner betrachtet. Wie er nehmen viele Arbeiter:innen die Zwänge des Arbeitslebens in Kauf, um nach Arbeitsschluss „wirklich frei zu sein“ (Opel-Arbeiter, KAK). Wie sie leben, wollen sie sich unter keinen Umständen vorschreiben lassen. Und das schon gar nicht von Leuten mit privilegiertem Klassenstatus, die von „Bandarbeit nichts wissen“, sich aber moralisch überlegen fühlen. Besonders harsch fällt die Kritik an den sogenannten „Klimaklebern“ aus:
Auf die Straße kleben, das ist auch für mich so eine ungeheuerliche Frechheit eigentlich, weil wen triffst du damit? Du triffst den einfachen Mann, der einfach nur seine scheiß Termine einhalten muss, der auf Arbeit muss, der seine Kinder von der Schule nur abholen will. Der komplett da drauf angewiesen ist, dort langzufahren. Denen schadest du damit. Nicht dem, der es auslöst. Diesem Wirtschaftssystem, was nun mal zurzeit einfach darauf ausgelegt ist: „Wir brauchen mehr, immer mehr, mehr Neues, mehr, mehr, mehr, mehr, mehr.“ (Opel-Arbeiter, KAK)
Die Kritik an Klimaprotesten, die nicht das „System“, sondern den „einfachen Mann“ treffen, resultiert auch daraus, dass ziviler Ungehorsam, wie ihn die Letzte Generation praktiziert, an jenen Arrangements rüttelt, die ein fremdbestimmtes Leben einigermaßen lebenswert machen. Notgedrungen fügt man sich einem Regime des „Immer mehr und nie genug!“, das für den Klimawandel verantwortlich zeichnet. Die Klimaproteste treffen in der Wahrnehmung der Arbeiter:innen aber vor allem jene, denen die Anforderungen der Produktionsarbeit ohnehin viel abverlangen. Deshalb kann sich der Zwang zum Selbstzwang in aggressiver Ablehnung entladen. Transformationskonflikte werden zu Distinktionskämpfen, in denen um die Legitimität von Lebensstilen gerungen wird.
Dass symbolische Konflikte im Extremfall Gewaltfantasien auslösen, mag man als Trotzreaktion einer dem Untergang geweihten „Petromaskulinität“ (Daggett 2023) kritisieren. Doch derart negative Klassifizierungen greifen höchst einseitig in die Distinktionskämpfe ein, denn sie übergehen, dass die von Produktionsentscheidungen Ausgeschlossenen mit ihren lebensweltlichen Freiräumen zugleich den Sinn ihrer Arbeit, das erworbene Sozialeigentum und damit ihren sozialen Status verteidigen. In der Ablehnung der „Klimakleber“ stellt sich eine klassenüberspannende Gemeinsamkeit von Arbeiter:innen und hochrangigen Führungskräften her, die auf einem geteilten Feindbild beruht. „Kein Krieg, keine Klimakleber“ (VW-Führungskraft, HK), lautet der bezeichnende Zukunftswunsch eines befragten Managers. Konfliktstoff, der im Arbeitsprozess entsteht und im großbetrieblichen Feld stillgestellt ist, wird auf diese Weise symbolisch entsorgt. Was die Produktionswelt trennt, fügt die Gegnerschaft zum regelverletzenden Klimaprotest in imaginierter Gemeinsamkeit wieder zusammen.
4.2 Chancenhortung: Ökologie im Beherrschungsmodus
Distinktionskämpfe, die in Abgrenzung zu einem äußeren Gegner geführt werden, beeinflussen Konflikte, die innerbetrieblich um soziale Chancen geführt werden. Auf der Mesoebene entscheidet bürokratische Kontrollmacht mittels positiver oder negativer Privilegierung, welche Deutungen des ökologischen Gesellschaftskonflikts sich durchsetzen. Führungskräfte in mittleren Positionen haben selbst Vorgaben umzusetzen, sie sind aber auch in der Lage, den ihnen unterstellten Personen die eigenen Vorstellungen von ökologisch akzeptablen Arbeitsweisen als verbindlichen Standard zu präsentieren.
Etwas anderes kommt hinzu: Mittlere Führungskräfte und Beschäftigte, die der Neuen Arbeiterklasse angehören, waren und sind teilweise professionell mit Stoffströmen, Materialbeschaffung, Produkt- und Prozessplanung beschäftigt. Ihre Tätigkeit wird indirekt über Budgets gesteuert und häufig in Projektform ausgeübt. Anders als die Konventionelle Arbeiterklasse nehmen hochqualifizierte Lohnabhängige nicht nur auf Arbeits-, sondern in Grenzen auch auf Produktionsprozesse Einfluss. Grünes Wachstum voranzutreiben, kann gar zu einem Karrieresprungbrett werden. Das motiviert dazu, die sozial-ökologische Transformation eigenständig anzugehen. So ist man im Gießereibereich des VW-Werks dabei, die Produktion und Nutzung von grünem Wasserstoff vorzubereiten, um das Werk emissionsfrei zu machen. Erste Ansätze einer Kreislaufwirtschaft („Closed Loop“) werden bereits praktiziert. Man holt Aluminiumspäne, die während der mechanischen Bearbeitung anfallen, zurück, um aus dem Material Gehäuse zu fertigen. Die Verantwortlichen kaufen defekte Alufahrräder, Schilder, Schrotte und Bierfässer auf, lassen sie einschmelzen und senken so die Materialkosten. Im Opel-Werk hat ein findiger Experte dafür gesorgt, dass der Strom für das Werk ab 2025 zu 90 Prozent aus erneuerbaren Quellen stammen wird. Vieles von dem geschieht ohne Vorgaben „von oben“.
Den Produktionsarbeiter:innen hingegen sind die Zugänge zu den attraktiveren Positionen der werksinternen Mittelklasse oder der Neuen Arbeiterklasse weitgehend verschlossen. Deshalb registriert man in den Produktionsbereichen jede Art von Doppelmoral, wie man sie in privilegierten Positionen zu kennen glaubt, mit besonderer Aufmerksamkeit. Führungskräfte, so die Wahrnehmung, können sich einen ökologisch-nachhaltigen Lebensstil leisten. Man bemerkt, dass manche Vorgesetzte offen mit den Anliegen der Klimabewegungen sympathisieren. Am Hallenboden werden entsprechende Positionierungen dann kritisch bewertet, wenn sie sich im Zuge der Antriebswende mit Zielen verbinden, die administriert und im Modus bürokratischer Beherrschung durchgesetzt werden. Dabei geht es auch um die Verteilung sozialer Chancen. Vorgesetzte, die sich einerseits vorstellen könnten, in einem nächsten Leben als Ökobauern tätig zu sein, andererseits aber mehrere Autos in der Garage haben, um ihrem Hobby zu frönen, fällt die Befürwortung „grünen Wachstums“ verhältnismäßig leicht. Denjenigen, die mit Schichtarbeit, Leistungsintensivierung und Abwertung des eigenen Lebensstils einen hohen Preis für die Antriebswende zahlen, wird die Anpassung an Transformationserfordernisse deutlich schwerer gemacht.
Wettkämpfe um soziale Chancen werden in den Werken aber nur selten als kollektive Auseinandersetzungen geführt, überwiegend nehmen sie die Gestalt individualisierender Bewährungsproben an. Man muss sich beispielsweise qua Weiterbildung für neue Aufgaben und Arbeitsbereiche qualifizieren, um den erworbenen Status halten zu können. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die sozialen Selbstverortungen der Beschäftigten. Mit Symbolen zum Gesellschaftsbild (Pyramide, Sanduhr, Zwiebel) konfrontiert, wählen die Befragten beider Werke mehrheitlich die Pyramide, die Wahl der Sanduhr erfolgt mit der Betonung einer schrumpfenden sozialen Mitte und der Erwartung einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft. Daraus spricht auch die Furcht vor Wohlstandsverlusten. Gewerkschaftlich Aktive bezeichnen die soziale Ordnung teilweise als Klassengesellschaft. Sich selbst sehen die meisten Befragten indes in der sozialen Mitte. In Baunatal ordnen sich Arbeiter:inen häufig der oberen Mitte zu, in Eisenach ist das Beschäftigten mit Bürotätigkeiten (LAK, LMK) vorbehalten. Die am Hallenboden Tätigen tendieren zur unteren Mittelschicht.
Selbstverortungen von Arbeiter:innen in der sozialen Mitte sind durch zahlreiche Studien belegt (Williams 2017; Evans und Tilley 2017). Für Savage offenbart sich darin ein moralisches Bewusstsein, das Klassendünkel kritisch hinterfragt: Man wolle den Eindruck vermeiden, andere aufgrund ihrer sozialen Position zu beurteilen. Deshalb versichere man sich über die Zuordnung zur Gesellschaftsmitte einer mehrheitsfähigen „Normalität“ (Savage 2015, S. 374). Das mag zutreffen, doch in der Arbeiterschaft der untersuchten Werke entsprechen diese Selbstverortungen realen Klassenerfahrungen. Alle befragten Arbeiter:innen bewegen sich in sozialer Nähe zum Exklusionsbereich der Leiharbeit, die in beiden Werken strategisch eingesetzt wird. An den Standards der Stammbelegschaft gemessen, zeichnet sich dieser Bereich durch negative Privilegierung aus. Sind die Personalbudgets ausgeschöpft, werden Leiharbeitskräfte eingestellt, die als Sachkosten gebucht werden können. Wegen der Unsicherheit des Arbeitsverhältnisses bedeutet Leiharbeit „mehr Druck“:
Du merkst halt jetzt auch, dass du Leiharbeiter bist. Zum Beispiel, wenn du als Leiharbeiter krank bist, dann überlegst du dir zweimal, ob du zu Hause bleibst, weil erstmal hast du finanzielle Einbußen, denn du kriegst dann nur dein Grundgehalt. (Opel-Leiharbeiter, KAK)
Für die unsicher Beschäftigten wird Leiharbeit so zu einer andauernden Bewährungsprobe, sich für die Stammbelegschaft zu qualifizieren. Obwohl die Betriebsräte beider Werke für Übernahmen, zumindest aber für bessere Arbeitsbedingungen der Leiharbeitskräfte streiten, bekommen die prekär Beschäftigten in der Regel die unattraktivsten Tätigkeiten und die ungünstigsten Schichten zugeteilt. Sie verrichten ihre Arbeiten zu deutlich schlechteren Konditionen als die Stammbeschäftigten. Letztere bekommen beständig vor Augen geführt, dass man ihre Arbeitsaufgaben auch zu weitaus ungünstigeren Bedingungen erledigen kann. Dies erklärt, weshalb sich die negative Privilegierung mittels Leiharbeit in der betrieblichen Hierarchie beständig reproduziert.
Ich habe Vertrauensleute-Sitzungen gehabt und auch Betriebsversammlung, da stehen gerade frisch übernommene Leiharbeiter auf und erklären den Leiharbeitern, sie sollen sich mal nicht so anstellen, man selbst habe ja auch gebuckelt und da durchgemusst. (ehem. VW-Betriebsrat, LMK)
Leiharbeit steht für einen Exklusionsbereich in sozialer Nähe zur Konventionellen Arbeiterklasse, der, obwohl in beiden Werken zahlenmäßig überschaubar, dafür sorgt, dass sich festangestellte Arbeiter:innen in Klassenpositionen verorten, die sie gegenüber dem prekären Außen positiv privilegiert. Ausgebeutet werden nach Auffassung der Stammbeschäftigten nicht sie selbst, sondern diejenigen, die im Werk das soziale Unten verkörpern. Zwar ist das Bild einer dichotomischen, in Oben und Unten gespaltenen Gesellschaft bei vielen Arbeiter:innen noch immer präsent. Anders als in den klassischen Bewusstseinsstudien der westdeutschen Industriesoziologie (Popitz et al. 1957) ist das aber nicht mit einer kollektiven Aufstiegshoffnung verbunden. Eher scheint es, als habe der Wusch nach Singularität, den die Arbeitssoziologie der Zwischenkriegsperiode den Angestellten zuschrieb (Kracauer 1971 [1929]), Teile der Konventionellen Arbeiterklasse erfasst. Präziser formuliert: Das Streben nach individueller Besonderheit wird als auferlegte Norm erlebt, der man im Beruf nur selten zu entsprechen vermag. „Normal zu sein“ ist demgegenüber ein Bekenntnis, das die permanenten Appelle an Einzigartigkeit und Selbstvermarktungsfähigkeit aus einer vermeintlichen Mehrheitsperspektive heraus zu attackieren erlaubt. Selbstverortungen in der sozialen Mitte, die von der objektiven Klassenposition abweichen, eignen sich subjektiv, um der Abwertung durch andere zu entgehen. Sie münden in einen Wettbewerb um soziale Chancen, der individualisierend wirkt und infolge von Antriebswende und Transformation nun auf neuem Terrain ausgetragen wird.
4.3 Entscheidungsmacht: „Es geht nur mit Gewalt“
Während kulturelle Distinktion strukturelle Klassenunterschiede verdeckt und Chancenhortung mit Individualisierung und sozialer Schließung in mittleren Positionen einhergeht, werden Transformationskonflikte auf der Makroebene (exploitation, domination) von kollektiven Handlungslogiken geprägt. Das gewerkschaftliche Gegenmachtsystem (Roßmann 2023) wirkt in beiden Werken als Korrektiv, das im Lohnarbeitsbereich den Übergang von latenten, symbolisch beherrschten zu manifesten Interessengruppen leistet. Kollektive Aktionen und Interessenpolitiken sorgen für eine spürbare Aufwertung von Produktionsarbeit. Im VW-Werk ist es dem Betriebsrat möglich, den Ausschluss der Belegschaft von Produkt- und Produktionsentscheidungen partiell aufzubrechen. Ausschlaggebend sind ein gewerkschaftlicher Organisationsgrad von deutlich über 90 Prozent und ein bis zu 600 Mitglieder zählender gewerkschaftlicher Vertrauensleutekörper. Einfluss nehmen Betriebsrat und Gewerkschaft über den Kasseler Weg. Das ist das Namensschild für eine strategische Kooperation mit dem Management, die dafür gesorgt hat, dass die Weichenstellung zugunsten von E‑Antrieben zu einem Zeitpunkt erfolgte, als im Konzern davon noch keine Rede war:
2006 gab es die Entscheidung in Verbindung mit [dem] Kasseler Weg: „Wir fangen jetzt mal früh an und machen erste Prototypen von Elektromotoren.“ Was damals noch abwegig schien. Und dann gab es eine Bewerbung vom Standort zum Aufbau von Knowhow im Bereich des Elektroantriebs. Das war der Beginn dieser Fertigung. Und das hat sich mittlerweile so weit entwickelt, dass jetzt Kassel Getriebeleitwerk ist. (VW-Betriebsrat, LMK)
Im Kasseler Weg wurde dieser Ansatz de facto institutionalisiert. Das Kasseler Haus, wie der betriebspolitische Ansatz auch genannt wird, beruht auf der Inkorporation von organisierter Lohnarbeitsmacht. Es legitimiert den Anspruch von Betriebsrat, Gewerkschaft und Belegschaft, Einfluss auf die Unternehmensstrategie zu nehmen, „nämlich bei der Frage: für welche Produkte bewirbt sich jetzt das Werk“ (ebd.). Die Erfahrung, dass eine stark ausgebaute Mitbestimmung das Werk besonders innovativ macht, soll künftig auf die Transformation ausgeweitet werden. Zu wirtschaftlicher Effizienz und Beschäftigungssicherung kommen ökologische Nachhaltigkeit und mit ihr die „Arbeit der Natur“ als dritte Säule hinzu. Was genau unter Nachhaltigkeit zu verstehen ist, wird in den betrieblichen Aushandlungen zum Konfliktgegenstand. Der Kasseler Weg ist denn auch keine bloße Konsensveranstaltung. Konflikte bis hin zu Arbeitskämpfen gelten als legitim. Der ehemalige Betriebsratsvorsitzende geht noch einen Schritt weiter. Das Management lasse sich „nur mit Gewalt“ beeindrucken. Gewalt meint in diesem Zusammenhang die Mobilisierung gewerkschaftlicher Organisationsmacht und Konfliktfähigkeit in strittigen Fragen, wie der erfahrene Betriebsrat die Geschäftsgrundlage des Kasseler Wegs erläutert:
Man kann ja dem Management die Instrumente aufzeigen, die man auch hat. Wenn du einen Organisationsgrad größer 90 Prozent hast. Du hast harte Mitbestimmungsrechte, bei personellen Fragen, bei der Genehmigung von Mehrarbeit usw. Dann kann sich jeder gut überlegen: Wollen wir gut zusammenarbeiten oder wollen wir vom Hallenboden, von jeder kleinen Diskussion den Crash haben und jedes Mal in die Debatte? Jedes Mal! Und alles das, was die Vorzüge dieses Standortes sind, relativ zügige Personalumsetzung, relativ vorwärtsweisende Arbeitszeitmodelle, die Frage von einer Prüfung, aber nicht eisenharten Ablehnung von Mehrarbeit. Also das, was diesen Standort erfolgreich macht und damit auch das Management erfolgreich macht. So, wollt ihr euch das mit erhalten? Dann müsst ihr schon damit leben, dass wir die Widersprüche auch ausdiskutieren. Oder wollt ihr mit dem Kopf durch die Wand? Dann machen wir das auch. (ehem. VW-Betriebsrat, LMK)
Wissenschaftlich präziser als mit dem Gewaltbegriff lässt sich diese Form antagonistischer Kooperation als „demokratischer Klassenkampf“ beschreiben. Gewerkschaftliche Organisationsmacht erweitert sich zu institutionell verbriefter Macht. In Baunatal bewegen sich die Konfliktparteien in einer spieltheoretisch modellierbaren Konstellation, in welcher Organisationsmacht und Konfliktfähigkeit der Belegschaft stark genug sind, um ein hohes Maß an korporatistischer Ordnung zwischen Arbeit und Kapital zu erzeugen, ohne aber so stark zu sein, dass sie grundlegende kapitalistische Eigentumsrechte bedrohen (Wright 2015, S. 221). Dieses Kompromissgleichgewicht ermöglich es, Konflikte transformativ zu gestalten. Der Klassenkampf wird dabei gelegentlich zum „quasi-demokratischen Streitgespräch“ (Dahrendorf 1957, S. 257). Wichtig bleibt aber, dass Betriebsrat und Gewerkschaft ein eigenes, klar erkennbares Profil entwickeln. Während das Management an einem Geschäftsmodell festhält, das Gewinn hauptsächlich mit financial services und im Segment hochpreisiger Luxuslimousinen und SUVs macht, drängen Betriebsratsspitze und IG-Metall-Fraktion auf eine nachhaltige Mobilitätswende, die eine Verringerung des individuellen PKW-Verkehrs einschließt:
Das Argument, dass ein elektrobetriebenes Auto am Ende weniger Energie verbraucht als ein Verbrenner, das stimmt, weil der primäre Energieaufwand deutlich geringer ist, um ein Drittel. Aber wenn es darum geht, das Klima zu beeinflussen: Wie viel CO2 produziere ich, bevor es überhaupt den ersten Kilometer gefahren ist, um Strom zu sparen oder Energie zu sparen? Dann haben die 20 Tonnen CO2. Und wenn ich dann 100.000 Kilometer fahren muss, bevor es sich rechnet, dann frage ich mich, was ist das für ein Quatsch? (VW-Betriebsrat, LMK)
Betriebsräte, die so argumentieren, werden in Baunatal nicht wegen, sondern zumindest von Teilen der Belegschaft trotz ihrer Position zur Mobilitätswende mit über 90 Prozent der Stimmen aller Gewerkschaftsmitglieder gewählt. Für die Arbeiterschaft des Werks zählen vor allem Fachkompetenz und persönliche Glaubwürdigkeit. Das ist im Eisenacher Werk nicht grundsätzlich anders. Dennoch sind die Unterschiede zu VW Kassel erheblich: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt unter 70 Prozent, und das Leitbild des Managements war lange Zeit die Wertschöpfungsgemeinschaft, in der es Interessengegensätze nicht gibt. Der Betriebsrat agiert fachlich äußerst kompetent und ist in der Belegschaft anerkannt, doch es fällt schwer, aktive Unterstützung für Gremien- und Gewerkschaftsarbeit zu finden. Zudem hat die radikale Rechte als stiller Vetospieler bei Opel wohl noch erheblich größeren Einfluss als im Baunataler Werk, wenngleich die Unterschiede abnehmen.9 Deshalb warnt der Betriebsratsvorsitzende davor, die Belegschaft zu überfordern, und mahnt an, die „Leute in der Transformationsdebatte mitzunehmen“ (Opel-Betriebsratsvorsitzender, LMK). Angesichts der werksinternen Kräfteverhältnisse können Transformationskonflikte einer konservierenden Dynamik folgen.
Ein Aktionstag, mit dem gegen eine befürchtete Werksschließung protestiert wurde, deutet immerhin an, dass gewerkschaftliche Mobilisierung möglich ist. „In der Marke getrennt, in der IG Metall vereint“, lautet die Inschrift eines Banners, in der sich standortübergreifende Solidarität andeutet. Im Bewusstsein der Befragten hat sich dieser Aktionstag, an dem auch Beschäftigte aus dem Peugeot-Stammwerk im ostfranzösischen Sochaux (Beaud und Pialoux 1999) teilnahmen, tief eingeprägt. Mobilisierungen wie dieser Aktionstag sind außergewöhnlich und lassen sich nach Einschätzung gewerkschaftlich Aktiver nicht beliebig wiederholen. Die Mehrzahl der Beschäftigten tendiert demnach zu Stellvertreterpolitik. Von einem relativen Kräftegleichgewicht wie in Baunatal kann in Eisenach jedenfalls keine Rede sein. Das auch, weil es kaum Möglichkeiten gibt, die Standortentscheidungen des Peugeot-Stellantis-Managements zu beeinflussen. Angesichts von Überkapazitäten und Mobilitätswende fahre das französische Management „eine Verschleißpolitik“, die „erstmal den Gewinn nach oben treibt“: Es werde „nur das investiert, was ich unbedingt brauche, weil ich weiß, am Ende habe ich Alternativen und kann mit wenig Investition auch Produktionen woanders hin verlagern“ (Opel-Betriebsrätin, NAK).
Spieltheoretisch betrachtet befindet sich das Werk in der „liberal-demokratische[n] Falle“ (Wright 2015, S. 222 f.), die einem Gefangenendilemma ähnelt: Betriebsrat und Belegschaft können sich effektiv gegen Managementinteressen wehren, das strategiefähige Management des Konzerns vermag sich aber ebenfalls höchst effektiv gegen die organisierten Arbeitsinteressen zu stellen. Um den Konflikt aufzulösen, operiert die Unternehmensseite mit der stillen Drohung, Investitionen an andere Orte zu verlagern und so wirtschaftlichen Niedergang zu provozieren – eine Aussicht, die den Betriebsrat in die Defensive treibt. Unter solchen Umständen fällt es schwer, Transformationsthemen offensiv zu bearbeiten. Entsprechende Erfahrungen münden bei gewerkschaftlich Aktiven aber auch in Forderungen nach einer radikalen Demokratisierung unternehmerischer Entscheidungsmacht:
Ich glaube, dass in den Betrieben zu wenig Mitbestimmung da ist. In was für Produkte wird investiert? Wie wird gearbeitet? Mit wie viel Leuten wird gearbeitet? Unter welchen Bedienungen wird gearbeitet? Da haben wir einen unwahrscheinlichen Nachholbedarf. Weil auf der einen Seite die Belegschaft natürlich sagt: Betriebsrat, dafür bist du da. Auf der anderen Seite ich gar kein Instrument habe, ernsthaft mit den Arbeitgebern in die Verhandlungsposition zu kommen, die ich bräuchte, um Missstände dann auch abzuarbeiten. (Opel-Betriebsrätin, NAK)
In solchen Überlegungen blitzt ein Klassenbewusstsein auf, das mit der Forderung nach einer umfassenden Demokratisierung von Produktionsentscheidungen an Eigentumsrechten der Produktionsmittelbesitzer rüttelt. Das ist jedoch die Position einer gewerkschaftlich aktiven Minderheit, deren Einfluss zumeist an den Werks- oder Unternehmensgrenzen endet.
4.4 Regierung und Staat: „Unheimliche Wut!“
Trotz aller Kritik am Management stellen Beschäftigte betriebliche Autoritäten nur selten in Frage. Doppelte Standards, die man bei staatlich-politischen Eliten wahrnimmt, werden dafür umso heftiger attackiert. Die „grüne Regierung“ mache das Autofahren „einfach so teuer, dass es sich der normale Mensch nicht mehr leisten kann. Und dann kommen wir wieder bei der Ungerechtigkeit an. Ich darf als einfacher Arbeiter mein Hobby nicht ausleben. Und der, der die Millionen auf’m Konto hat, der kauft sich trotzdem einen Porsche“ (Opel-Arbeiter, KAK), argumentiert unser eingangs zitierter Opel-Arbeiter und benennt damit treffend die Klassendimension von Transformationskonflikten. Doch im politischen Feld ist nicht das Kapital, sondern der Staat Zielscheibe von Kritik. Statt gegen das Management richten sich Unmut und Unzufriedenheit, die sich nicht zuletzt aus Arbeitserfahrungen speisen, bevorzugt gegen die Regierenden. Die gesamte politische Klasse scheint in den Augen vieler Beschäftiger von den Problemen „normaler“ Alltagsmenschen weit entfernt. Klimapolitische Maßnahmen wie der Gesetzentwurf zur Gebäude- und Heizungssanierung gelten schlicht als wirklichkeitsfremd:
Die Leute haben eine unsägliche Wut. Die sehen ihre Häuschen davonschwimmen, weil sie sich nicht mehr finanzieren können. Die sehen die Inflation, die sehen die Miete. Die kriegen ja auch mit, dass Krieg ist, dass da Milliarden reingepumpt werden. Kein Mensch spricht darüber! Also aus der politischen Elite, aus der politischen Klasse wird überhaupt nichts in Frage gestellt, und wir müssen dafür bluten. Und der zweite Punkt ist: Mit welchem Effekt kann ich mich überhaupt wehren? Die Linke ist ausgefallen, die hat sich selbst zerlegt. Und dann sagen die Leute, AfD, da regt sich die politische Elite am meisten drüber auf, dann wähle ich doch AfD. (VW-Führungskraft, LMK)
Auflehnung gegen Klimapolitiken, die ökologische Nachhaltigkeit unter Ausblendung sozialer Gerechtigkeit praktizieren, ist ein Einfallstor für das scheinrebellische „Weiter so“ der radikalen Rechten. Kaum jemand würde es im VW-Werk oder bei Opel Eisenach wagen, sich offen zu einer rechtsradikalen Formation zu bekennen. Stimmen, die sich für eine Gleichbehandlung der Partei aussprechen, werden in den Interviews dennoch laut:
Ehrlich gesagt, die AfD ist auch eine demokratisch gewählte Partei. Aber es ist in der Politik so, dass man als der Gute angesehen wird, wenn man auf der linken Seite steht, und der Böse ist, wenn man auf der rechten Seite steht. Das überträgt sich auch ein bisschen auf die Gewerkschaften. Die müssen neutral sein, aber sind sie nicht. (Opel-Arbeiter, KAK)
Das ist in beiden Werken die Haltung einer stillen, aber einflussreichen Minderheit. Sie wirbt für eine Gleichbehandlung der AfD und die parteipolitische Neutralität der Gewerkschaften. Die Mehrheit der Belegschaften, die Betriebsräte und gewerkschaftlichen Vertrauensleute lehnen die radikale Rechte und deren Organisation entschieden ab. „Eine AfD-freie Zone“, lautet ein bezeichnender Zukunftswunsch eines befragten Vertrauensmanns bei Opel Eisenach (KAK). Für viele Gewerkschaftsaktive gehört der Antifaschismus zur politischen DNA. Dieses Selbstverständnis und die Rückendeckung durch starke Betriebsräte ermutigt einige, sich offensiv mit rechtslastigen Kolleg:innen auseinandersetzen:
Das sind viele, die halt aus Protest AfD wählen. Da mache ich immer meinen Lieblingsspruch: „Hm (fragend), du wählst AfD?“, „Ja“. „So, wie findest denn du mich? Findest du mich sch[…]? Findest du mich gut oder so?“ „Ja, ich finde dich gut. Ich mag dich.“ „Na ja, da finde ich es aber sch[…], dass du AfD wählst.“ „Warum?“ „Na ja, ich bin lesbisch, ich lebe mit einer Frau in einer Beziehung. Was möchte die AfD? Die ist gegen Homosexuelle. Die möchte, dass die Frau wieder am Herd steht und am besten zehn Kinder kriegt und ein eisernes Mutterkreuz hat. Also bist du gegen mich. Also magst du mich doch nicht so. Also findest du mich überhaupt nicht cool.“ Und da denken die Leute dann auch mal drüber nach, gell? Also ein paar habe ich da schon überzeugen können, dass die halt dann Die Partei gewählt haben (lacht). (Opel-Beschäftigte, NAK)
Bezeichnenderweise erfolgt die Auseinandersetzung auf der persönlichen Ebene. Die Protagonistin vermeidet Zahlen, Daten, Fakten und unterlässt es, das Weltbild ihrer rechtslastigen Kontrahent:innen in Gänze in Frage zu stellen. Damit ist sie offenbar erfolgreich. Couragiertes Auftreten im Betrieb vermag aber nicht aufzufangen, was in Gesellschaft und Politik an Konfliktpotential eskaliert. Der „demokratische Klassenkampf“ beschränkt sich weitgehend auf das Feld des Unternehmens. Jenseits davon wirken andere Kräfte. Je stärker die Konfrontation zwischen „grünen“ Formationen und Bewegungen einerseits und der Scheinrebellion einer radikalen Rechten andererseits das politische Feld prägt, desto wahrscheinlicher wird, dass diese Polarisierung auf Transformationskonflikte in Betrieben und Unternehmen zurückwirkt.
5 Der Transformationskorporatismus und seine Grenzen
Damit sind wir beim Gravitationszentrum arbeitsweltlicher Transformationskonflikte angelangt. Während das eingangs erwähnte Beispiel des Tesla-jagenden Opel-Arbeiters bei Präsentationen regelmäßig Befremden, ja Empörung auslöst, werden unsere Verweise auf den wichtigsten Treiber des Klimawandels häufig mit einem Achselzucken quittiert. Entscheidungen über die Geschäftsmodelle, die sich durch strukturelle „Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn 2018) auszeichnen, treffen – wie im Falle der Autokonzerne – allein die Eigentümer und das strategiefähige Management. Befragte Spitzenmanager betrachten es als große Leistung deutscher Automobilhersteller, im Luxussegment eine Führungsposition zu behaupten, denn das „sichere Einkommen und Arbeitsplätze“ (Expertin, Führungskraft Stab, HK). Selbst wenn unser Opel-Arbeiter es wollte, könnte er daran kurzfristig nicht das Geringste ändern. Wie die Angehörigen beherrschter Klassen insgesamt ist er von Produktionsentscheidungen und deren stofflichen Implikationen ausgeschlossen. Aus dem Ausschluss der Arbeitenden ziehen diejenigen, die Geschäftsmodelle verantworten, Vorteile. Soziologische Expertise, die solche Zusammenhänge ignoriert, greift mit ihren Klassifikationen – und sei es ungewollt – auf höchst problematische Weise in Transformationskonflikte ein.
Latour und Schultz, die Autoren des Memorandums für eine „ökologische Klasse“ (2022), bieten in dieser Hinsicht Anschauungsunterricht. Ihre Argumentation verstärkt ungewollt, was den finanzialisierten, markt- und kundenzentrierten Kapitalismus lange auszeichnete – das Unsichtbarmachen von Produktion und Produktionsarbeit. Die „ökologische Klasse“ will, so das Postulat, „die Stellung der Produktionsverhältnisse vermindern“, während „die anderen sie verstärken wollen“ (ebd., S. 18; Hervorh. im Orig.). Diese vermeintliche Alternative schließt aus, was ökologisch sensible Gewerkschaftsaktive gemeinsam mit externen Vetospielern aus den Klimabewegungen fordern, nämlich eine radikale Demokratisierung eigentumsbasierter Entscheidungsmacht in großen Unternehmen. Aus der Tabuisierung von Eigentumsrechten und der Bagatellisierung von Verteilungskämpfen ergibt sich ein unlösbares Problem ökologischer Klassenbildung. Die Adressaten des Memorandums, zu denen die Autoren in erster Linie Wissenschaftler:innen, sodann „Aktivistinnen, Protestler“, aber auch „Industrielle, Investoren“ oder schlicht alle „Menschen guten Willens“ zählen (ebd., S. 55), sind sozial derart heterogen, dass eine Klassenformierung in Gegnerschaft zur Produktion mehr als unwahrscheinlich erscheint. Guter Wille mag den VW-Manager, der für grünes Wachstum plädiert, mit Klimabewegten, die für Produktkonversion kämpfen, verbinden, doch für die Zugehörigkeit zu einer noch dazu systemüberwindenden ökologischen Klasse reichen solche Gemeinsamkeiten nicht aus. Auch die stille Erwartung, der Katastrophendruck werde zusammenfügen, was Eigentumsrechte und Produktionsverhältnisse trennen, dürfte sich als trügerisch erweisen. Opfer von Naturkatastrophen und Seuchen kämpfen ums Überleben, eine handlungsfähige Klasse bilden sie nicht. Ein Beispiel bieten die sechs Millionen Klimaflüchtigen, die es in den USA bereits gibt. Ihre Flucht verstärkt bereits vorhandene soziale Spaltungen. Die Reichen zieht es in angenehmere Klimanischen, während die Ärmsten keinerlei Aussichten haben, ein neues Leben in Würde zu beginnen (Bittle 2023). Gelänge eine ökologische Klassenbildung trotz solcher Widrigkeiten, verfügten ihre Protagonisten nicht über die Entscheidungsmacht, die zwingend nötig ist, um die Produktion an gesellschaftliche Ziele rückzubinden. Zudem verschließt sich radikaler Antiproduktivismus der Möglichkeit, die Produktionsintelligenz beherrschter Klassen für den sozial-ökologischen Umbau zu mobilisieren.
Dergleichen vor Augen, halten wir Interpretationen, die an Eigentumsrechten und Produktionsverhältnissen ansetzen, für realitätstauglicher. Ein „class war“, wie ihn Huber (2022, S. 1) vor allem mit Blick auf die USA erwartet, wird sich in den organisierten Arbeitsbeziehungen kontinentaleuropäischer Gesellschaften aber kaum einstellen. Die „fossile fuel-powered industrialization“ hat hierzulande jedenfalls keine „proletarian ecology“ (ebd., S. 285) hervorgebracht. Stattdessen legt sie einen Transformationskorporatismus nahe, der ökologische Nachhaltigkeitsziele als neues Konfliktfeld integriert. In Branchen und Unternehmen, in denen Lohnarbeitsmacht noch vergleichsweise groß ist, werden Transformationskonflikte nach demokratischen Regeln ausgetragen. Der institutionalisierte Klassenkampf kann, wie am Beispiel des Kasseler Wegs gezeigt, Akteure mit antagonistischen Interessen verbinden. Bedingung ist jedoch ein annäherndes Kräftegleichgewicht zwischen den Konfliktparteien. Nur in solchen Konstellationen ist die „sozialdemokratische Utopie“ (Wright 2015, S. 221 f.) eines gerechten Interessenausgleichs für die Kapitalseite attraktiv. Und nur dann besteht die Chance, weitreichende Transformationsziele erfolgreich zum Gegenstand innerbetrieblicher Aushandlungen zu machen.
Allerdings, so muss hinzugefügt werden, sind die untersuchten Werke nur noch Inseln inmitten einer desorganisierten Arbeitswelt. In Deutschland ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad auf etwa zehn Prozent der abhängig Erwerbstätigen gesunken, die Tarifbindung ist rückläufig. Trotz heftiger Arbeitskämpfe reicht die Gewerkschaftsmacht nicht für Tarifabschlüsse aus, die eine inflationsbedingte Teuerung ausgleichen. Der empirisch vorfindbare, betriebs- und unternehmenszentrierte Transformationskorporatismus stößt daher an Grenzen. In den untersuchten Werken können vergleichsweise starke Betriebsräte keine völlige Gleichstellung der intern ausgegrenzten Leiharbeitenden durchsetzen. Noch problematischer ist die Lage der kleinen und mittleren Zulieferer ohne strategische Kompetenzen und mit vergleichsweise ohnmächtigen Interessenvertretungen. In diesem Sektor ist der Arbeitsplatzabbau bereits in vollem Gange: Das Beschäftigungsniveau im Zulieferbereich ist auf das „niedrigste Niveau seit 1997“ gefallen (Statistisches Bundesamt 2023). Der Niedergang industrieller Strukturen vollzieht sich weitgehend im Verborgenen (Sittel et al. 2022). Naheliegender als ein offener Klassenkrieg ist auch hier die erfolgreiche Umdeutung von Oben-Unten-Auseinandersetzungen in Innen-Außen-Konflikte. In Bereichen, in denen Klassengegensätzen nur schwach ausgeprägt sind, gehen Erfahrungen, die über kulturelle Unterschiede und Geschlechtergrenzen hinweg verbinden, verloren. Abwertungsempfinden sucht dann nach einem anderen Ventil. Damit wird wahrscheinlicher, dass verschwörungstheoretische Deutungen von Transformationskonflikten ihre Adressaten finden. Vetospieler, die den Kampf gegen den Klimawandel als Herrschaftsprojekt globalistischer Eliten brandmarken und ein Ende des „Klimagedöns“ (Höcke zit. n. Klaus 2023) fordern, gewinnen an Einfluss. Anfänglicher Protest kann sich zu inhaltlichen Überzeugungen verfestigen, die dann aus dem politischen Feld auf unternehmensinterne Transformationskonflikte zurückwirken.
Dieser Wirkmechanismus lässt kulturelle Spaltung vermuten, die Klassengegensätze überlagern. In einer populärwissenschaftlichen Deutungsvariante stehen sich die Minderheit der Anywheres (alternativ: Kosmopoliten) und die Mehrheit der Somewheres (alternativ: Kommunitarier) feindlich gegenüber. Während die einen, gut gebildet, globalisierungsaffin, weltläufig und ökologisch interessiert, auf einen raschen Ausstieg aus der Verbrennung fossiler Energieträger drängen, leiden die anderen, lokal gebunden, mit allenfalls mittlerer Bildung, globalisierungs- und migrationskritisch, unter der Vorherrschaft einer kosmopolitischen Minderheit (Goodhart 2017; weit differenzierter: de Wilde et al. 2019). Gegen kulturalistische Interpretationen von Transformationskonflikten spricht allerdings, dass ökologisches Bewusstsein in allen Klassen und auch am Hallenboden stark ausgeprägt ist. Von den Befragten bei Opel Eisenach und VW Baunatal, die den standardisierten Fragebogen ausgefüllt haben, stimmen 77 Prozent der Aussage „Der Klimawandel ist die größte Herausforderung unserer Zeit“ voll und ganz oder eher zu, nur gut zwölf Prozent lehnen sie ab. Die Aussage „Für einen nachhaltigen Lebensstil bin ich gerne bereit, mehr Geld auszugeben“ findet bei gut 58 Prozent der Befragten Zustimmung. Zur kritischen Sicht auf Gesellschaft passt, dass 64 Prozent der Befragten beider Werke der Einschätzung „Die heutige Wirtschaftsweise ist auf Dauer nicht überlebensfähig“ eher oder voll und ganz zustimmen, nur zwei Prozent lehnen sie ab. Sicher sind gewerkschaftlich Aktive in unserem Sample überrepräsentiert, man muss mit der sozialen Erwünschtheit von Antworten rechnen. Gleichwohl zeugen die erhobenen Einstellungen doch von einem kritischen Umwelt- und Gesellschaftsbewusstsein, wie es ähnlich auch durch repräsentative Umfragen belegt wird (z. B. Decker et al. 2022).
Die Daten deuten an, dass es sich bei den Belegschaften der untersuchten Autohersteller keineswegs um Gemeinschaften handelt, die primär ein kultureller cleavage spaltet. Gleichstellung der Geschlechter und kulturelle Diversität sind in beiden Werken integraler Bestandteil betrieblicher Interessenpolitik. In Baunatal verbindet der „demokratische Klassenkampf“ Beschäftigte mit mehr als 40 Migrationshintergründen. Bei Opel treibt die Leiharbeit die Internationalisierung der Belegschaft voran – von 270 neu eingestellten Leiharbeitskräften sind weit mehr als 200 Migrant:innen. Das gewerkschaftliche Gegenmachtsystem der Werke ist multinational. Sensibilität für soziale Ungerechtigkeit und Diskriminierung, aber auch für den ökologischen Gesellschaftskonflikt ist bei Befragten, die wir der Neuen Arbeitsklasse zuordnen, besonders stark ausgeprägt. Wie Angehörige der Lohnabhängigen Mittelklasse neigen sie jedoch dazu, die großen gesellschaftlichen Probleme als über den Klassen schwebend zu deuten. Mit Blick auf die untersuchten Werke lässt sich dennoch stärker akzentuieren, was wir in früheren Studien bereits angemerkt haben: Gewerkschaften und Betriebsräte sind diejenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die eine in Abwertungskämpfen verstrickte Arbeiterschaft überhaupt noch erreichen (Dörre et al. 2018). Offenkundig hängt es in erheblichem Maße von der Haltung der Betriebsräte und der gewerkschaftlich Aktiven ab, ob sich in den Belegschaften Konfliktwahrnehmungsmuster durchsetzen, die zusätzlich Wasser auf die Mühlen rechtsradikaler Organisationen leiten, oder ob das Gegenteil der Fall ist (Kiess et al. 2022, S. 318).
Ungeachtet aller kulturellen Unterschiede bleibt der Ausschluss von Produktionsentscheidungen eine wichtige Gemeinsamkeit, die verschiedene Interessengruppen in den Belegschaften miteinander verbindet. Die darum gruppierten Konflikte werden im politischen System demobilisierter Klassengesellschaften nicht repräsentiert. Eigentumsfragen sind in diesem Feld weitgehend tabu, nur die Verteilung des Sozialeigentums wird zum Gegenstand öffentlicher Kontroversen. Auch deshalb ist das Bild einer fragmentierten sozialen Ordnung, in denen verschiedene Konfliktarenen relativ unverbunden nebeneinander existieren (Mau et al. 2023), realitätsnäher als die Vorstellung einer kulturell polarisierten Gesellschaft. Die Mikro-Makro-Dynamiken von Transformationskonflikten erweisen sich freilich als unberechenbar.10 Klassenspezifische Auseinandersetzungen um Mitbestimmungsrechte, Arbeitserträge und Arbeitsbedingungen ändern nichts daran, dass unterhalb dieser Ebene harte Distinktionskämpfe geführt werden. Was sich als „Triggerpunkt“ (ebd., S. 244 f.) für emotionale Aufladung und politische Polarisierung eignet, hängt von Gelegenheitsstrukturen und situativen Gegebenheiten ab.
6 Fazit
Im Ergebnis belegen unsere Fallstudien, dass Konflikte um Beschäftigung, Löhne und Arbeitsbedingungen, die traditionell auf der Klassenachse angesiedelt sind, im Zuge von Antriebswende und Dekarbonisierung unmittelbar und in neuer Weise mit der ökologischen Konfliktachse verbunden werden. Der alte industrielle Klassenkonflikt wird zu einer Auseinandersetzung um die sozial-ökologische Transformation. Ohne Berücksichtigung des ökologischen Gesellschaftskonflikts lässt sich die soziale (Klassen‑)Frage nicht mehr angemessen thematisieren und vice versa. Dieser Befund besitzt, wie unsere Tiefenbohrungen außerhalb der Autoindustrie belegen, Gültigkeit auch für andere Branchen (Dörre et al. 2022a, 2022b). Während die Auseinandersetzungen im Braunkohlerevier der Lausitz (Köster et al. 2022) erkennbar einer konservierenden Dynamik folgen und die Konflikte im ÖPNV (Liebig und Lucht 2022) die Transformation tendenziell vorantreiben, handelt es sich beim Klimakorporatismus in der Autoindustrie um hybride Konstellationen mit relativ offenem Ausgang.
Fallübergreifend zeigt sich, dass der Kampf um eigentumsbasierte Entscheidungsmacht das Zentrum dieser Konflikte bildet. Apokalypsenblindheit, wie sie sich in konservierenden Konfliktdynamiken äußert, ist im expansiven kapitalistischen Besitz begründet und wird in alltäglichen Arbeitsprozessen eingeübt. Belegschaften, die von Produktionsentscheidungen ausgeschlossen sind, können Verantwortung für das, was hergestellt wird, kaum übernehmen. Wer das ändern will, muss sich mit Klassen(fraktionen) anlegen, die vom Ausschluss großer Mehrheiten profitieren. Anzugehen wäre, was kritische Betriebsräte, Gewerkschaftsaktive und Teile der Klimabewegungen einklagen – die radikale Demokratisierung eigentumsbasierter Entscheidungsmacht. Transformative Konfliktdynamiken müssten sich indes auf die potenzielle Weigerung der Arbeitenden gründen, Produkte, die unverantwortbare Effekte nach sich ziehen, überhaupt erst herzustellen (Anders 1982, S. 383). Belegschaftseigentum und Kontrolle durch die Beschäftigten, wie sie der slowenische Arbeitsmister Luka Mesec (2023) für die EU vorschlägt, würden solche Entscheidungen begünstigen.11
In den untersuchten Werken stoßen derart weitreichende Vorschläge einstweilen nur bei kleinen Minderheiten auf Zustimmung. Mobilisierungsfähige Schnittstellen von Klassenachse und ökologischem Gesellschaftskonflikt sind dennoch vorhanden. Sie finden sich in Plädoyers für eine sinnvolle, demokratisch verfasste Arbeit und eine nachhaltig produzierende Industrie (Urban 2023). „Demokratiezeit“ (Benner und Engelhardt 2023), jede Woche eine Stunde für die Diskussion relevanter Transformationsthemen während der Arbeitszeit, wäre ein erster wichtiger Schritt zu kollektiver Verantwortungsübernahme. Ein ökologischer Sozialstaat, der einklagt, dass diejenigen, die den größten Klimafußabdruck verantworten, ihren Anteilen an der Emissionslast entsprechend für die Transformationskosten aufkommen müssen, könnte sich als politisch mehrheitsfähiges Projekt erweisen. Die Zeiten eines ungehemmten Marktradikalismus sind jedenfalls auch für die von uns befragten Manager vorbei. Fast unisono verlangen sie nach einem interventionsfähigen Staat, der sich nicht auf das Reparieren von Märkten beschränkt, sondern Sicherheit in der Transformation bietet. Hier finden sich Schnittmengen mit Stimmen aus Betriebsräten und Gewerkschaftsgliederungen, die eine vorausschauende Industriepolitik, deren Finanzierung mittels demokratischer Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums sowie eine rasche Abkehr von Instrumenten wie der Schuldenbremse einklagen (Büchling et al. 2023). In unkonventionellen Allianzen könnten solche Anliegen Interessengruppen politisch verbinden, deren Vereinigung in einer gemeinsamen ökologischen Klasse realiter unmöglich ist.
Um dergleichen zumindest diskutierbar zu machen, ist die ökologische Aufklärung gut beraten, wenn sie ihre Klassifikationssysteme ändert. Unserem rasenden Opel-Arbeiter muss sie mit Kenntnis und Wertschätzung begegnen, um produktiven Streit überhaupt zu ermöglichen. Sie hat sich einzugestehen, dass ökologische Nachhaltigkeit ohne soziale Gerechtigkeit nicht zu haben ist. Unabhängig von der Realitätstauglichkeit unserer Überlegungen gilt: Wirklich frei können wir nur sein, wenn wir Verantwortung „auch für das übernehmen, was wir erzeugen“ (Anders 1982, S. 369). Erst wenn niemand Vorteile aus Produktionsentscheidungen zu ziehen vermag, von denen Mehrheiten ausgeschlossen sind, kann die „Arbeit der Natur“ jenen gesellschaftlichen Stellenwert erhalten, der ihrem Gebrauchswert entspricht.
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Das Berliner Journal für Soziologie veröffentlicht Beiträge zu allgemeinen Themen und Forschungsbereichen der Soziologie sowie Schwerpunkthefte zu Klassikern der Soziologie und zu aktuellen Problemfeldern des soziologischen Diskurses.
Von Ausbeutung kann nach Wrights (2015, S. 84) spieltheoretischem Konzept gesprochen werden, sofern drei Kriterien erfüllt sind: (a) Das materielle Wohl der Ausbeuter hängt kausal von der Verringerung des materiellen Wohls der Ausgebeuteten ab (inverse interdependent welfare principle); (b) das Wohl von Ausbeutern und Ausgebeuteten beruht auf dem Ausschluss Letzterer von produktiven Ressourcen (exclusion principle); (c) dieser Ausschluss verhilft den Ausbeutern zu einem materiellen Vorteil, weil er ihnen ermöglicht, sich die Arbeitsleistung der Ausgebeuteten anzueignen (appropriation principle).
Sozialeigentum ist eine Eigentumsform, die Lohnabhängigen über berufliche Fähigkeiten, soziale Rechte, tarifliche Normen und Mitbestimmungsmöglichkeiten etwas ermöglicht, was zuvor ausschließlich an privaten Besitz gekoppelt war: die Chance zu einer längerfristigen Lebensplanung (Castel 2005, S. 41; vgl. auch Dörre 2023a).
Wir nutzen eine repräsentative telefonische Erwerbstätigenbefragung, die das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) alle sechs Jahre durchführen. Befragt wurden (zuletzt 2018) etwa 20.000 Personen ab dem 16. Lebensjahr, die einem Erwerb mit einer regelmäßigen Arbeitszeit von mindestens 10 Wochenstunden nachgehen. Themen sind u. a. die Beschäftigungssituation, Einschätzungen zum Arbeitsplatz, die berufliche Qualifikation und die Gesundheit (siehe https://www.bibb.de/de/2815.php). Um die Untere Klasse modellieren und die Erwerbstätigen möglichst vollständig erfassen zu können, haben wir dem ursprünglichen Datensatz die „armen Arbeitslosen“ und die „ausschließlich geringfügig Beschäftigten“ mit weniger als 10 Wochenarbeitsstunden hinzugefügt. Da der Datensatz ursprünglich nicht auf unser Klassenmodell zugeschnitten war, mussten wir bei den Zuordnungskriterien auf Berufe rekurrieren. Unterschiede zu früheren Modellierungen (Dörre 2023b) resultieren aus veränderten Zuordnungskriterien (siehe Tabelle 1 im Online-Anhang). An der Modellierung waren die wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen Oskar Butting und Nora Fülöp beteiligt.
„Klassen können mit Schichten übereinstimmen, mehrere Schichten in sich vereinigen oder auch quer durch die Schichtungshierarchie verlaufen.“ (Dahrendorf 1957, S. 144)
Die Erhebungen erfolgten im Rahmen des DFG-Projekts „Eigentum, Ungleichheit und Klassenbildung in sozial-ökologischen Transformationskonflikten“ des SFB 294 „Strukturwandel des Eigentums“. Die Untersuchung bei Opel wurden vom BMBF-Projekt BeaT sowie von einer studentischen Lehrforschung unterstützt. Der qualitative Datensatz des noch laufenden SFB-Teilprojekts umfasst inzwischen weit mehr als 300 Befragte. Untersucht wurden Transformationskonflikte im Braunkohlerevier der Lausitz, beim Logistikkonzern Deutsche Post/DHL, im Öffentlichen Personennahverkehr, am Beispiel von Tafel-Nutzer:innen im Bereich der Unteren Klasse sowie in der Auto- und Zulieferindustrie. Die Forschungen in Baunatal wurden von Nicole Gonzalez (Syracuse University) unterstützt.
Wir nutzen den Begriff Vetospieler anders als in den Politikwissenschaften üblich. Gemeint sind Akteure, die die Transformationsdynamiken in Betrieb und Unternehmen konservierend oder transformierend beeinflussen, obwohl sie außerhalb dieser sozialen Felder agieren.
Wir bezeichnen diese Machtform als metabolische Macht, die aus der Stellung von Interessengruppen im Lebensnetz hervorgeht und sich auf die besondere Positionierung von Interessengruppen in der Reproduktion von Naturverhältnissen gründet. Strukturelle metabolische Macht ergibt sich beispielsweise aus der Fähigkeit, wirtschaftliche Eingriffe in Naturverhältnisse über symbolische Aktionen und zivilen Ungehorsam zu skandalisieren. Organisierte metabolische Macht entsteht aus der Fähigkeit, sich zu sozialen Bewegungen (Fridays for Future, Ende Gelände), Interessenverbänden (BUND, NABU) oder Nichtregierungsorganisationen (Greenpeace) zusammenzuschließen, die auf der Achse des ökologischen Gesellschaftskonflikts agieren. Grüne Parteien verkörpern ebenfalls eine Variante organisierter metabolischer Macht. Politisch-institutioneller Machtmetabolismus konstituiert sich auf der Naturachse aus gesetzlichen Regelungen ebenso wie aus staatlichen Formalisierungen naturbasierter Interessen (Umweltbundesamt, Umweltdezernate). Wie Kapital und Arbeit benötigen auch die Träger metabolischer Macht Zugang zu Öffentlichkeiten, um diskursiv wirken zu können. Die gesellschaftlich reproduzierte „Arbeit der Natur“ konstituiert Lagen und Interessen, die ohne öffentliche Stimme im politischen Raum unbeachtet bleiben.
Im Rahmen der hessischen Landtagswahlen im Oktober 2023 legte die AfD bei wirtschaftlich Unzufriedenen und Arbeitern überdurchschnittlich zu: In den Wahlkreisen Kassel Land I und II lag ihr Ergebnis oberhalb des Gesamtergebnisses von 18,4 Prozent.
Viele unserer Befragten halten die Gesellschaft aus unterschiedlichen Gründen durchaus für polarisiert. Zur Polarisierungsthese instruktiv: Herold et al. 2023.
Mesec bezieht sich positiv auf den Employee Stock Ownership Plan (ESOP) in den USA. Dort existieren bereits 7.000 Betriebe mit etwa 30 Millionen Beschäftigten, in denen die Belegschaften die Kontrolle übernommen haben. In der EU finden jährlich bis zu 600.000 Betriebe keine Nachfolger, auch hier könnte ein solches Modell greifen.