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Erschienen in:

Open Access 2025 | OriginalPaper | Buchkapitel

8. Klassifikationen

verfasst von : Konstantin Rink

Erschienen in: Digitale Werkstätten

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Der Beitrag beleuchtet die zentrale Rolle von Klassifikationen in Cyberinfrastrukturen und deren normative Wertvorstellungen. Es wird untersucht, wie digitale Grenzobjekte in Praktiken des Klassifizierens eingebunden sind und welche machtanalytischen Fragen dabei eine Rolle spielen. Der Text analysiert zwei zentrale digitale Artefakte: die Fähigkeitenbeschreibung und das Entgeltinstrument. Dabei wird gezeigt, wie diese Artefakte in den Arbeitsabläufen von Werkstätten für behinderte Menschen verwendet werden und welche Konsequenzen sie für die Adressat:innen haben. Die Fähigkeitenbeschreibung dient der Diagnose und Klassifikation von Fähigkeiten, während das Entgeltinstrument die Leistungsbewertung und Entgelteinstufung der Adressat:innen regelt. Beide Artefakte tragen zur Segmentierung und Kontrolle der Adressat:innen bei, indem sie deren Fähigkeiten und Leistungen in hierarchische Kategorien einordnen. Die Analyse zeigt, dass diese Klassifikationen nicht nur administrative Funktionen erfüllen, sondern auch tiefgreifende soziale und politische Implikationen haben. Sie schaffen Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten, die die Adressat:innen in bestimmte Rollen und Positionen zwingen. Die Untersuchung hebt die performative Wirkung von Klassifikationen hervor, die die Welt in räumlicher, zeitlicher und raum-zeitlicher Hinsicht ordnen. Dabei wird deutlich, dass Klassifikationen nicht nur unterdrückend wirken, sondern auch bestimmte Positionen hervorbringen, die sich selbst beobachten und bewerten. Der Beitrag schließt mit der Feststellung, dass digitale Grenzobjekte in Cyberinfrastrukturen eine zentrale Rolle bei der Gestaltung von Klassifikationspraktiken spielen und dass deren Analyse essenziell ist, um die sozialen und politischen Dimensionen dieser Praktiken zu verstehen.
Cyberinfrastrukturen unterstützen nicht allein bestimmte Arbeitsabläufe in einer Organisation. Sie bringen auch normative Wertvorstellungen in Form von Klassifikationen mit sich. „Working infrastructures contain multiple classification systems that are both invisible, in the senses above, and ubiquitous“ (Bowker/Star 1999: 323). Klassifikationen bilden sozusagen das „Grundgerüst von Informationsinfrastrukturen“ (Klausner 2012: 278). Im Sinne der Eigenschaften von Cyberinfrastrukturen sollten „Klassifikationen aus Grenzobjekten heraus entstehen, aber zugleich konfrontierten alle Ordnungssysteme die von ihnen sortierten Objekte und Personen mit einem potenziell starren Raster“ (Gießmann/Taha 2017: 42). Insofern ist hier die „Grenze der Grenzobjekte“ (ebd.) erreicht, denn die Objekte müssen Kategorien operationalisieren, was ihnen einen gewissen Grad an Stabilität verleiht. Grenzobjekte können so auch – in Relationierung zu menschlichen und weiteren nicht-menschlichen Partizipanten – eingebunden werden, um Objekte, Dinge, Tiere oder Menschen in Klassen einzuordnen.
Damit verbinden sich dann auch machtanalytische Fragestellungen. Was in die Klassifikation mit aufgenommen wird, was nicht und was residuale Kategorien sind, bleibt eine politische Entscheidung (Star 2004 [1993]; Gießmann/Taha 2017). Klassifikationen besitzen eine materielle Kraft und zeigen „Rückkopplungseffekte“ (Klausner 2012). Damit ist nicht gleichgesetzt, dass Klassifikationen grundsätzlich negative Konsequenzen nach sich ziehen müssen. „For any individual, group or situation, classifications and standards give advantage or they give suffering“ (Bowker/Star 1999: 5). Gleichzeitig bleiben Klassifikationen immer auch vieldeutig, verhandelbar und sind lokalen Anpassungen unterworfen (Klausner 2012: 295). Praktiken des Klassifizierens beinhalten Momente des Widerstandes und der Subversion, weil „any given classification provides surfaces of resistances (where the real resists its definition), blocks against certain agendas, and smooth roads for others“ (Bowker/Star 1999: 324).
In Erweiterung zu den zuvor analysierten Inskriptionen möchte ich nachfolgend untersuchen, wie einige der digitalen Grenzobjekte der Cyberinfrastruktur in Praktiken des Klassifizierens eingebunden sind. Machtanalytische Fragen sollen bei der Analyse von Praktiken des Klassifizierens Berücksichtigung finden. Wie schon zuvor sollen im ersten Schritt die digitalen Artefakte analysiert werden. Im zweiten Schritt möchte ich dem ‚Wie‘ nachgehen, das heißt der Frage, wie die menschlichen im Zusammenspiel mit den nicht-menschlichen Partizipanten klassifizieren. Die folgenden Unterkapitel gliedern sich entlang zweier Artefakte. Zunächst soll in der Unterkategorie Zu Un/Fähigen machen die namensgebende Fähigkeitenbeschreibung analysiert werden (Abschn. 8.1.1). Anschließend sollen die Praktiken beleuchtet werden, in die das Artefakt eingebunden ist (Abschn. 8.1.2). Diese Vorgehensweise wiederholt sich in der Unterkategorie als Entgeltberechtigt klassifizieren (Abschn. 8.2.1 und 8.2.2). Am Ende des Kapitels steht ein Zwischenfazit (Abschn. 8.3).

8.1 Fähigkeiten klassifizieren

Bevor auf die konkrete Praxis des Fähig-/Unfähigmachens eingegangen wird, soll das Artefakt genauer analysiert werden. Es strukturiert die später dargestellte Praxis maßgeblich mit und soll daher mithilfe der Artefaktanalyse beleuchtet werden (Abschn. 8.1.1). Im Anschluss werden die Praktiken, in die das Artefakt – neben weiteren nicht-menschlichen und menschlichen Partizipanten – eingebunden ist (Abschn. 8.1.2), diskutiert. Die Rekonstruktion und Analyse erfolgt entlang der Feldnotizen.

8.1.1 Fähigkeitenbeschreibung (Artefaktanalyse)

Abbildung 8.1
Digitales Interface der Fähigkeitenbeschreibung.
(Quelle: Feldprotokolle, Eigene Darstellung)
Materialität und Struktur der Oberfläche: Bei dem vorliegenden digitalen Artefakt (Abb. 8.1) handelt es sich um eine sogenannte Fähigkeitenbeschreibung. Das Artefakt kann in zwei Komplexe untergliedert werden.
Den ersten großen Komplex bildet ein dunkelblau hinterlegter Kasten im oberen Drittel des Artefakts. In diesem Komplex befinden sich, wie schon bei den anderen Artefakten, persönliche Informationen zu den Adressat:innen. Im Vergleich zu anderen in dieser Arbeit analysierten Artefakten sind nur vier Informationen aufgelistet: >Name<, >Gruppe<, >Geburtsdatum<, >Wohnort>. Neben den persönlichen Informationen befindet sich abgetrennt durch einen schmalen, schwarzen vertikalen Strich eine Überschrift mit dem Titel >Zu beachten<. Unter dieser Unterschrift steht folgender Text in roter Schriftfarbe: >Unter Beteiligung der Adressat:in. Kann die/der Adressat:in ihre/seine Bedürfnisse nicht äußern: Beschreibung durch Beobachtung/Beratung und stellvertretende Formulierung<.
Der zweite Komplex ist das eigentliche Herzstück des Artefakts. Zu sehen ist ein zwei Drittel des Artefakts einnehmender, pastellblauer Kasten in Rechteckformat. Die Schriftfarbe ist schwarz. Im obersten Teil des rechteckigen Kastens befindet sich der Name desjenigen Mitarbeiters, der sich eingeloggt hat. Neben dem Namen befinden sich drei rechteckige, schmale Buttons, die von den Nutzenden angeklickt werden können. Die Buttons heben sich vom pastellblauen Hintergrund durch einen dünnen, schwarzen Rand ab und sind in der Farbe Weiß gestaltet. Im ersten Button steht das in etwas kleinerer Schrift geschriebene Wort >Netzdiagramm erzeugen<. Im zweiten Button steht >fixiert<. In dem dritten Button steht >Überprüfen<. Unter den drei Buttons befinden sich wie an einer Perlenkette aufgereiht neun rechteckige Buttons. Es handelt sich dabei um Kategorien der Fähigkeitenbeschreibung. Folgende Kategorien sind zu lesen:
  • Konzentration
  • Selbstständigkeit
  • Flexibilität
  • Kontaktfähigkeit
  • Arbeitsmotivation
  • Durchhaltevermögen
  • Selbsteinschätzung
  • Eig. Bedürfnisse äußern
  • Auffassungsvermögen
Sobald die Buttons angeklickt wurden, verändern sie ihre Farbe in Hellgelb. Durch das Anklicken verändert sich auch der Text, der unter der Perlenkette auftaucht. Unter dem Erläuterungstext werden fünf anwählbare Antwortmöglichkeiten aufgelistet. Bei der verwendeten ordinalen Skala wird die unterste Kategorie mit dem besten Wert und die oberste mit dem schlechtesten Wert assoziiert. Die Kategorien sind durch einen Satz erläutert. Um die Antwortmöglichkeiten auszuwählen, klickt der Nutzende auf einen kleinen, weißen Kreis, der sich dann fast vollständig Schwarz einfärbt. Unter den Antwortmöglichkeiten erstreckt sich ein schmaler, weißer, rechteckiger Kasten mit der Überschrift >Bemerkungen<. Der Nutzende kann in den Kasten klicken und Sätze hineinschreiben.
Grenzziehungen: Das digitale Artefakt befindet sich im Bereich der Rehabilitation. Mit dem Artefakt können Fähigkeiten diagnostiziert werden, was es von Artefakten der Inskriptionen unterscheidet. Im Sinne einer Diagnose zielt das Artefakt auf die Feststellung oder Bestimmung eines Zustandes. Diagnosen unterscheiden sich von anderen Formen der Analysen durch ihre Zielsetzung: „Sie sind per definitionem immer auf Entscheidungen in der Praxis bezogen und werden zu deren Begründung und Steuerung erstellt“ (Heiner 2018: 244). Diagnosen sind „Problemdeutung[en]“ (Kunstreich et al. 2004), die als „formale Begründungsrationalitäten“ (ebd.) den Handelnden dienen können. Im Sinne von Heiner können Diagnosen nicht allein nach „Kriterien der Richtigkeit und Zuverlässigkeit“ (Heiner 2018: 244) bewertet werden, sondern vor allem nach ihrer „Nützlichkeit und Praktikabilität“ (ebd.).
Allgemeine Bedeutung: Fähigkeitenbeschreibungen als diagnostische Instrumente können bei den Leistungserbringern wie den Werkstätten eingesetzt werden, um die Teilhabeplanung zu bewerkstelligen. Die Leistungserbringer sichern durchgehend das Verfahren (§ 19 SGB IX). Vergleichend zur Gesamtplanung kann „eine eigenständige detailliertere, vertiefte und v. a. prozessual entlang des Unterstützungsprozesses angelegte Auseinandersetzung mit den Bedarfen der leistungsberechtigten Person erfolgen“ (Röh/Spindler 2020: 90). Gleichzeitig legt die Diagnose, eine Grundlage fest, um Maßnahmen zu planen, die die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit erhalten, entwickeln, erhöhen oder wiedergewinnen sollen (§ 219 Abs. 1 SGB IX). Als Teil der Leistungen für die Adressat:innen sind im Arbeitsbereich arbeitsbegleitende Maßnahmen „zur Erhaltung und Verbesserung der im Berufsbildungsbereich erworbenen Leistungsfähigkeit und zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit“ (§ 58 Abs. 2 Nr. 2 SGB IX) vorgesehen. Die Bedeutung des digitalen Artefakts liegt allgemein in seiner Einbindung in ein Netzwerk aus weiteren Artefakten, die der Planung von Zielen sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Fähigkeiten und der Persönlichkeit dienen. Als Leistung sollen WfbM individuelle Teilhabepläne erstellen, in denen die Ziele gemeinsam mit den Personen auf Grundlage des Gesamtplans (§ 121 SGB IX) erstellt, überprüft und weiter fortgeschrieben werden. Der Gesetzgeber gibt nicht vor, was den Einsatz oder die Kategorien von Fähigkeitenbeschreibungen regeln würde. Das obliegt den jeweiligen Kostenträgern, beispielsweise den Landschaftsverbänden in NRW oder den Bezirken in Bayern.
Funktionen und allgemeine Bedeutung: In dem Artefakt versammeln sich überwiegend Ankreuzbereiche mit entsprechenden Antworten, die von den Nutzenden ausgewählt werden können. Im oberen Komplex füllen sich die persönlichen Informationen wie Geburtsdatum etc. automatisch. Im pastelblauen Komplex, dem eigentlichen Zentrum des Artefakts, befinden sich fünf Antwortmöglichkeiten, aus denen die Nutzenden die passende Kategorie auswählen. Hinter den Antwortmöglichkeiten stehen Punkte1. Niedrigster Wert ist die 1, der höchste zu erzielende Wert die 5. Auf dieser Ordinalskala bedeutet ein niedriger Wert eine schwache Ausprägung in der Kategorie.
Um die Transportierbarkeit zu gewährleisten, haben die Nutzenden die Option, mittels des Buttons >Netzdiagramm erzeugen< die Erstellung der beiden PDF-Dokumente zu veranlassen. In der Folge werden automatisch zwei verschiedene PDF-Dokumente generiert, die anschließend ausgedruckt werden können. Auf den beiden Seiten lassen sich zwei Visualisierungen erkennen: Zum einen eine Tabellenform, in der alle Kategorien untereinander aufgelistet werden. In den Spalten werden die erreichbaren Punktzahlen angezeigt. Zum anderen lässt sich die Fähigkeitenbeschreibung in ein Netzdiagramm umwandeln. In dieser Spinnennetzgrafik sind alle Kategorien am Rand angeordnet und die ordinalen Ausprägungen erheben sich im Spinnennetz.
Reflexion zum Artefakt und Rückbezug zur Forschungsfrage2: Diagnostische Artefakte wie das Vorliegende sind ein zentraler Bestandteil personenbezogener sozialer Dienstleistungen. Gerade in in der Eingliederungshilfe geraten die Fachkräfte zunehmend unter Druck (Kapitel 11.), die in den Werkstätten anfallenden Entscheidungen gut zu begründenInden. Zu beantworten ist dabei, welche Kriterien relevant sind und welche Konstellationen in welcher Gewichtung zur Bewertung führen. In dem Artefakt sind es die Fähigkeiten, die als bedeutsam materialisiert wurden.
In den Disability Studies hat sich seit den 1990er Jahren zunehmend der sogenannte Culture Turn durchgesetzt (Buchner 2018). Dabei geht es darum, „die Konstruktionsprozesse, in denen bestimmte Körper unter Rückgriff auf kulturelle Wissensbestände als beeinträchtigt bzw. behindert gelabelled werden, in den Blick zu nehmen und zu dekonstruieren“ (ebd.: 54). Im Rahmen dieses Turns erfährt die Auseinandersetzung mit Fähigkeiten eine substantielle Aufwertung. Unter dem Begriff Ableism verhandeln Campbell (2008) und Wolbring (2008) die Bedeutung von Körperlichkeit und Fähigkeiten.
„Ableism is a set of beliefs, processes, and practices that produce, based on one’s abilities, a particular kind of understanding of one’s self, one’s body, and one’s relationship with others of one’s species, other species, and one’s environment, and includes one being judged by others“ (Wolbring 2008: 252).
Fähigkeiten fungieren als Bezugspunkte für die „Konstitution von Differenzlinien“ (Buchner 2018: 55), wobei Wolbring (2008) darauf verweist, dass in kapitalistisch verfassten Gesellschaften sogenannte „essential abilities“ (ebd.: 253) existieren. In diesen Gesellschaften sind diejenigen Fähigkeitstypen von Relevanz, „die als unabdingbar für Autonomie betrachtet werden (Rationalität, Selbstständigkeit)“ (Buchner 2018: 55). Die in dem Artefakt benannten Fähigkeiten, wie beispielsweise Selbständigkeit, Flexibilität und Durchhaltevermögen, können als essential abilities gedeutet werden. Sie sind eine wesentliche Bedingung für die erfolgreiche Teilnahme am Kapitalismus, das durch eine auf Produktivität ausgerichtete Subjektivierung gekennzeichnet ist. „Ableistische, also fähigkeitsindividualistische Praktiken […] bestehen in diesem Verständnis darin, ganz bestimmte Bedeutungen von Fähigkeit, Fähig-Sein, fähigen Menschen zu konstruieren, zu reproduzieren und zu legitimieren“ (Buchner et al. 2015: o.S.).
Das vorliegende Artefakt adressiert Individuen als Fähige/Unfähige und fokussiert auf deren körperlichen Fähigkeiten. Differenziert nach einzelnen Fähigkeiten adressiert das Artefakt eine spezifische – selbstständige, flexible, durchhaltungsfähig etc. – Körperlichkeit. Nach Star und Bowker (2017) verknüpfen solche Klassifikationen das „Individuum mit größeren Prozessen und Strukturen“ (Star/Bowker 2017: 199). Die Einbindung in die umfassende Cyberinfrastruktur stellt dabei lediglich einen Aspekt dar, während die Einbindung in den Teilhabeplanungsprozess, in dessen Rahmen die Fähigkeitenbeschreibung als Grundlage zur Planung von Zielen und Maßnahmen dient, ein anderer ist.
Die vorliegende Forschungsarbeit konnte in Bezug auf das Artefakt nur bruchstückhaft rekonstruieren, welche institutionellen Vorgaben der Kostenträger in Bezug auf die Fähigkeitenbeschreibung macht. Eine Analyse des Artefakts offenbart keine Informationen über die Herkunft des Klassifikationssystems. Wer hat die Fähigkeiten festgeschrieben? Woher kommen sie? Wieso gibt es in jeder Kategorie eine Skala von 1 bis 5? Von den Kostenträgern selbst besteht keine rechtliche Verbindlichkeit, die die Fähigkeitenbeschreibung reglementieren würde. Demzufolge handelt es sich um eine verbandsspezifische Lösung.
Im Weiteren soll betrachtet werden, wie das digitale Artefakt eingebunden ist. In diesem Zusammenhang soll eine lokale Klassifikationspraktik mit dem Artefakt näher analysiert werden.

8.1.2 Zu (Un)Fähigen machen

Im Alltag der Werkstätten tauchen regelmäßig Praktiken auf, in denen die Gruppenmitarbeiter:innen das digitale Artefakt der Fähigkeitenbeschreibung in ihre Arbeit integrieren. Hierzu verwenden sie das oben analysierte Artefakt ausschließlich in digitaler Form. Die Praktiken in den Werkstätten laufen nach einem ähnlichen Rhythmus ab, wodurch es für die vorliegende Arbeit ausreichend ist, zwei kontrastrierende Klassifikationspraktiken näher zu beleuchten. Um das Artefakt bearbeiten zu können, müssen sich die Mitarbeitenden zunächst Zugriff verschaffen. Bearbeitet wird das Artefakt an den Computern, die in allen begleiteten Werkstätten in den Mitarbeiterbüros (Abb. 7.​2) stehen. Die folgenden Praktiken sind in einem Mitarbeiterbüro situiert, in dem durch die Sichtbarkeit des Bildschirms, die Ausrichtung des Schreibtisches und die Zugänglichkeit für die Adressat:innen eine räumliche Ordnung produziert wird.

                  Es ist vormittags an einem warmen Sommertag, als ich in einen der Gruppenräume der Werkstatt eintrete. Nahezu alle Adressat:innen sind anwesend. Einige bewegen sich durch den Gruppenraum, viele andere sitzen an ihren Plätzen und sind auf ihre Arbeit konzentriert. Ich setze mich neben Philipp, der im Büro am PC sitzt. Er klickt sich gerade durch eine grüne Tabelle. „Gut, dass du da bist“ meint er zu mir. „Ich sitze gerade an einer Fähigkeitenbeschreibung für die Adressatin Z.“ setzt er nach. Ich bekunde meine Neugier und blicke ihm über die Schulter. „Eine Person muss ich noch machen, du kannst gerne zuschauen“ meint er zu mir. Er klickt einzeln auf die Reiter. In jeder Kategorie befinden sich weitere Unterfragen bzw. Erläuterungsfragen. Gemeinsam gehen wir alle Felder durch. Dabei werden die Felder von Philipp nebenbei ausgefüllt. Zwischendurch murmelt er etwas von „schlechter geworden“ oder einmal auch „etwas besser“. Das ganze Prozedere ist in wenigen Minuten beendet. Als wir bei dem letzten Reiter angelangt sind, zeigt er mir grinsend, wie die Datei gespeichert oder im Fachjargon des Programms „fixiert“ werden kann. Dazu muss er die Datei kurz schließen und sofort wieder auf die entsprechende Person gehen. Neben dem Button „Netzdiagramm anzeigen“, wo bis zur Schließung nichts zu sehen ist, ploppt nun das Feld „Fixieren“ auf. Er klickt auf den Fixieren-Button und schließt die Tabelle. Plötzlich meint er, dass er mir das Netzdiagramm vergessen hat zu zeigen. Er öffnete die Tabelle erneut und klickte auf den Button „Netzdiagramm“. Es öffnet sich ein Netz, ganz im Stil von Excel, mit den ordinalskalierten Ausprägungen. Bei der Person, die er gerade bearbeitet hat, zeigen sich lediglich zwei niedrige Erhebungen. Alle anderen Felder sind am schlechtesten bewertet worden, wodurch in dem Diagramm nichts zu sehen ist. „Spaßeshalber“, wie er sagt, druckte mir Philipp die Fähigkeitenbeschreibung aus(Beobachtung_11082021, Pos. 14)
                
Zuerst soll die räumliche Anordnung in der Beobachtungssequenz in Erinnerung gerufen werden. Vor dem Bildschirm sitzt Philipp, während im übrigen Gruppenraum die Adressat:innen an den Tischen arbeiten oder im Raum umhergehen. Philipp befindet sich abseits des Gruppenraumes in dem Büro, von dem aus er den gesamten Gruppenraum überblicken kann. Dies ermöglicht es ihm, das digitale Artefakt zu bedienen und gleichzeitig die Arbeit der Adressat:innen nebenbei zu beobachten.
Als der Forscher das Büro betritt, ist Philipp gerade dabei, eine Fähigkeitenbeschreibung zu starten. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich keine weitere Person im Büro, die sein dialogisches Gegenüber hätte sein können. Stattdessen führt er die Klassifikation im Modus des Individuellen durch. Entgegen dem im Artefakt vermerkten Hinweis (siehe Abschn. 8.1.1) führt er die Beschreibung nicht mit den Adressat:innen durch. Zudem speichert und schließt er die Ergebnisse seiner Tätigkeit, ohne sie – der Adressatin Z. zu präsentieren. Die vorliegende Analyse zeigt auf, dass durch die Anordnung von räumlichem Arrangement und der Beschreibung von Fähigkeiten ein Unterschied zwischen einer passiven Adressatin der Klassifikation, der als Objekt der Klassifikation dient, und einem aktiven Mitarbeitenden, der klassifiziert, hergestellt wird. Die Praktik weicht damit deutlich von der Erläuterung ab, die in dem Artefakt vermerkt ist. In diesem Sinne wird die Materialität des Erläuterungstextes nicht als Affordanz in der Praxis erzeugt.
Was Philipp in der Auseinandersetzung mit dem digitalen Artefakt in situ produziert, ist dessen strukturierender Charakter: Er geht jede einzelne Kategorie durch und weist jeweils einen entsprechenden Punktewert zu. Er folgt der Anordnung des Artefakts akribisch, weder springt er in seiner Bewertung hin und her, noch korrigiert er nachträglich Werte. Vor diesem Hintergrund kann seine Handlung als ein Sicheinlassen und Folgen der Artefaktanordnung gedeutet werden. Sein Umgang mit dem Artefakt zeugt zudem von einem Know-how. Er bewegt sich mit einer gewissen Souveränität durch die Kategorien und benötigt lediglich wenige Sekunden, um eine Kategorie auszuwählen. Sein leises „Murmeln“ zeigt an, dass er primär damit befasst ist, den ‚adäquaten‘ Wert in das Artefakt einzutragen. Das Ergebnis, bei dem nur zwei Ausprägungen überhaupt einen besseren Wert als 1 haben, materialisiert sich dann in dem Netzdiagramm. Mit der Präsentation des Speichervorgangs am Ende der Szene zieht er die Materialisierung des digitalen Artefaktes in Form des Netzdiagrammes ins Lächerliche, was vor allem durch seine Bewertung als „spaßeshalber“ zum Ausdruck kommt.
Auch in der folgenden analysierten Beobachtungssequenz werden die Differenzsetzung in der Positionierung der Partizipanten und die in der Praxis sich materialisierenden Affordanzen des Artefakts sichtbar. Allerdings zeigt sich in dieser Fähigkeitenbeschreibung ein anderer Modus der Bearbeitung, der mit der vorangestellten Sequenz kontrastriert werden soll. Die Sequenz spielt sich erneut in einem der Büroräumlichkeiten ab.

                  Wolfgang und Philipp sitzen gemeinsam vor dem Bildschirm nebeneinander, wobei Wolfgang von der Seite auf den Bildschirm blickt und Philipp sich davor an der Tastatur/Maus befindet. Beide gehen die Namen durch, die in der To-Do-Liste stehen. Philipp entscheidet sich, Adressatin M. heute noch zu machen. Er öffnet ihren Namen aus der Liste. Mit einem kurzen Klick hat er den Fähigkeitenbericht vom letzten Jahr geöffnet und druckt ihn aus. Wie er mir erklärt, wurde dieser von Sophia erstellt. Er legt das Blatt mit der letztjährigen Auswertung vor sich hin, geklemmt unter das Keyboard und diskutiert gemeinsam mit Wolfgang über mögliche Veränderungen. Bei der ersten Kategorie gibt es keine Veränderung, meinen die beiden einstimmig. Bei der Kategorie Selbstständigkeit bemerkt Philipp, dass sie sich verschlechtert hat. Wolfgang stimmt ihm zu. Dann vermerkt Philipp etwas in der Beschreibungsspalte. Er schreibt bei Selbstständigkeit „Braucht 1 zu 1 Betreuung". Kurze Stille, beide blicken in den Gruppenraum zur Adressatin M. Diese sitzt vor einem Paket Schrauben und sortiert sie in eine durchsichtige Tüte. Nächste Kategorie. Wolfgang und Philipp blicken erst auf den alten Bericht und kommen dann schnell zu dem Ergebnis, dass sich auch hier nichts verändert hat, und nächste Kategorie. Das geht so weiter bis zur letzten Kategorie. Dort diskutieren beide kurz über eine mögliche Verschlechterung. Auch hier sind sie sich sofort einig: Adressatin M. hat sich verschlechtert. Es dauert keine 5 Minuten, da sind beide mit der Beschreibung durch. Und am Ende wieder raus, rein und fixieren. „Ich druck mal das Netzdiagramm aus“ sagt Philipp sichtlich erheitert über das Diagramm. Er gibt mir den Zettel in die Hand, doch vorher malt er noch ein übergroßer Smiley über das Diagramm. Wolfgang muss auch lachen, merkt aber umgehend an, dass Philipp doch bitte die Namen schwärzen soll (Beobachtung_11082021, Pos. 4-15)
                
Beide Mitarbeiter, Philipp und Wolfgang, sitzen nebeneinander vor dem Bildschirm. Hinter dem Bildschirm erstreckt sich die Fensterfront, durch die der Gruppenraum und die Adressat:innen bei ihrer Arbeit beobachtet werden können. Philipps Körper ist direkt vor dem Bildschirm positioniert. Vor ihm liegen die Tastatur und die Maus. Er navigiert durch das digitale Artefakt und füllt es aus, während Wolfgang neben ihm sitzt und von der Seite auf den Bildschirm blickt. Bis auf eine kurze Unterbrechung fokussieren sich Wolfgang und Philipp auf den Bildschirm. Das räumlich-materielle Arrangement umfasst neben dem Computer, den Sitzplätzen und der Fensterfront auch den ausgedruckten Bericht.
Mit dem Begriff „Ausdrucken“ ist laut Benner (2018: 53) jegliche Form der Veräußerung und Materialisierung gemeint. Obwohl viele Büros heutzutage mit einer Vielzahl an technischen Geräten ausgestattet sind, beweist die Materialisierung des Drucks eine gewisse Langlebigkeit. In einer der wenigen Studien zum Thema Drucken haben Sellen und Harper (2004) nach mehreren Monaten Feldaufenthalt beim Internationalen Währungsfonds festgestellt, dass Papierausdrucke trotz der ubiquitären digitalen Technologie weiterhin relevant sind. An Ausdrucken wird „reflektiert, geplant, kreativ gearbeitet und Wissen generiert“ (Benner 2018: 59). In der Sequenz hat der Druck des Vorjahresberichts – neben dem digitalen Artefakt – eine strukturierende Wirkung auf den Aushandlungsprozess der beiden Mitarbeiter.
Der Vorjahresbericht bildete einen entscheidenden Bezugs- und Reflexionspunkt für die Klassifikationspraktik. Philipp und Wolfgang ziehen ihn als Referenzgröße heran und vergleichen die aktuellen Fähigkeiten sowie die erzielten Punkte mit denen aus dem Vorjahr. Anstatt die Adressatin M. mit in die Aushandlung einzubeziehen, kommt der Vorjahresbericht als ko-konstitutiver, nicht-menschlicher Partizipant in der Praxis zur Anwendung. Im Zusammenspiel mit dem Vorjahresbericht gibt es eine ständige Bewertung, ob die Ergebnisse besser, schlechter oder gleich im Vergleich zum Vorjahr sind.
Die Ermittlung von Differenzen erfordert die Anwendung eines Vergleichskriteriums sowie eines Verfahrens zur Durchführung dieses Vergleichs. Bei der Klassifikation dienen die einzelnen Kategorien wie Selbstständigkeit etc. (Abschn. 8.1.1) als Kriterien. Wie Heintz (2016: 307) betont, sind Vergleiche nicht nur eine Unterscheidungstechnik, sondern auch ein Instrument zur Relationierung. Durch die Einbeziehung des Vorjahresberichts in die Beurteilung wird ein Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart performativ hergestellt. Obwohl die Praktik der Klassifikation als überdeterminiert zu erachten ist und nicht allein auf die Relationierung zum Vorjahresbericht zurückzuführen ist, findet das Vergangene Anwendung im Aktuellen und manifestiert sich als Strukturmoment der jeweiligen Punktewerte. Insofern bildet der Vorjahresbericht einen zentralen nicht-menschlichen Partizipanten in dem Bündel aus Praxis und räumlich-materiellem Arrangement. Unter der Tastatur eingeklemmt erhält er Aufmerksamkeit von den beiden Mitarbeitern. Gemäß Schroer (2014) kann der Bericht als ein „Aufmerksamkeitsapparat“ (ebd.: 202) charakterisiert werden. Er veranlasst Wolfgang und Philipp zum Vergleich, bündelt ihre Aufmerksamkeit und erzeugt, sofern er als solcher adressiert wird, eine gewisse Zuwendung (ebd.).
In der vorliegenden Sequenz sitzt die Adressatin M. allein an ihrem Arbeitstisch und sortiert eine Handvoll Schrauben in kleine Tüten. Grevin und Scheibner (2014) beschreiben die typischen Arbeiten in Werkstätten für behinderte Menschen als inhaltsleer, anspruchslos, haltungsschädigend und stupide (ebd.: 45). Während sie über ihren Tüten gebeugt ist, erinnert ihre Tätigkeit stark an frühe fordistische Arbeitsabläufe. Die beiden Mitarbeiter sitzen abgeschnitten davon vor ihrem Bildschirm und klassifizieren die Adressatin nach ihren Fähigkeiten. Die beiden Arrangements unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Tätigkeiten und die in ihnen verwendeten Materialien. Auf der einen Seite steht die digitale, klassifizierende und dialogische Arbeit von Wolfgang und Philipp, auf der anderen Seite die fordistische, produktionsorientierte und vereinzelte Arbeit der Adressatin.
Was sich jedoch von der vorangegangenen Klassifikationspraktik unterscheidet, ist der Modus Operandi. In der vorliegenden Beobachtungssequenz findet die Praktik im Modus der Verhandlung statt. Im gemeinsamen Dialog verhandeln Wolfgang und Philipp die Punktewerte, wobei sich keine Unstimmigkeiten in der Praktik materialisieren. Philipp ist derjenige, der die Kontrolle übernimmt, während Wolfgang als Sparringspartner kommentierend agiert. Die Fähigkeiten, die sie der Adressatin zuschreiben, beruhen nicht auf vermeintlichen ontologischen Unterscheidungen. Sie müssen qua Praxis hergestellt werden.
Im Zusammenspiel mit dem digitalen Artefakt entsteht so das Beobachtungsobjekt. Das Objekt verweist nicht auf den Menschen als Ganzes oder in seiner Relationalität zu anderen, sondern auf einen spezifischen Aspekt der körperlichen Leistungsfähigkeit. Um die Zuordnungen, die trotz vorgegebener Erklärungen als unsicher und kontingent zu bewerten sind, durchzuführen, ist es erforderlich, dass Wolfgang und Philipp über dasselbe Know-how und dieselben Interpretationsschemata verfügen. Das heißt, Philipp und Wolfgang teilen eine normative Ordnung (Ortmann et al. 2000), auf deren Basis sie die Adressatin M. klassifizieren. Sie teilen sich ein Verständnis davon, was es heißt selbstständig, flexibel etc. zu sein. Das digitale Artefakt trägt wesentlich dazu bei, da es eine spezifische normative Ordnung als Möglichkeitsraum aufruft. Das Artefakt expliziert in seiner Materialität sehr genau, was sich hinter den ordinalen Ausprägungen verbirgt. So heißt es bei Konzentration beispielsweise „Kann sich 5 Minuten lang auf eine Aufgabe konzentrieren“. In diesem Sinne ist die normative Ordnung in der Materialität des Artefaktes inhärent, was jedoch nicht automatisch die situativen Deutungen von Wolfgang und Philipp determiniert. Die Ordnung muss in der Praxis rekursiv hervorgebracht werden (Giddens 1997). Wolfgang und Philipp zeigen keine Widerstände oder Unsicherheiten gegenüber diesen Erklärungen, stattdessen reproduzieren sie die Regeln der Signifikation (Interpretationsschemata).
Die Ergebnisse aus der aktuellen Klassifikation dienen als Vergleichsmaßstab für zukünftige Klassifikationen. Alle Werkstätten des Wohlfahrtsverbandes nutzen das Artefakt und führen die Praktik zu unterschiedlichen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten durch. Von daher handelt es sich um ein Grenzobjekt, welches aber im Kontrast zu dem digitalen Artefakt ‚Verlaufsdokumentation‘ stärker strukturierend in der Praxis aufgerufen wurde. Dies gilt auch für das nachfolgende Grenzobjekt, jedoch wird in der Analyse im Gegensatz zur Fähigkeitenbeschreibung die weitreichende Vernetzung mit anderen Praktiker:innengemeinschaften stärker hervorgehoben. Die folgende Analyse illustriert, dass eine Klassifizierung auch nachhaltige (wirtschaftliche) Konsequenzen haben kann und mit weit entfernten Praktiken verbunden ist. Gemein haben die beiden Artefakte, dass sie weniger flexibel in ihrer situativen Anpassung sind.

8.2 Als Entgeltberechtigt klassifizieren

Nachdem zwei unterschiedliche Klassifikationspraktiken im Zusammenhang mit der Fähigkeitenbeschreibung analysiert worden sind, soll eine weitere Unterkategorie von Klassifikationen fokussiert werden. Die Unterkategorie entspinnt sich um das Artefakt ‚Entgeltinstrument‘. Bevor ich die Einbindung in Praktiken und das räumlich-materielle Arrangement erläutere, möchte ich erneut das Artefakt in seiner Materialität aufschlüsseln. Zunächst wird das ‚Entgeltinstrument‘ im Sinne einer Artefaktanalyse betrachtet, die nicht an den Daten ausgefüllter Artefakte, als vielmehr an Gestalt und Materialität des Instruments als solchem interessiert ist. Die Annahme dabei ist, dass die Materialität des Instruments seinen praktischen Gebrauch mit konstituiert, ohne ihn zu determinieren.

8.2.1 Entgeltinstrument (Artefaktanalyse)

Abbildung 8.2
Digitales Interface des Entgeltinstrument.
(Quelle: Feldprotokolle, Eigene Darstellung)
Materialität und Struktur der Oberfläche: In dem digitalen Artefakt (Abb. 8.2) können mehrere Bereiche angeklickt werden. Dabei ist das Artefakt in vier Komplexe eingeteilt, wobei jeder Komplex mit einer spezifischen Farbe hinterlegt ist.
In dem oberen Komplex, der mit einem Pastellrot hinterlegt ist und sich rechteckig über die gesamte Breite des Artefakts erstreckt, befinden sich zunächst mehrere weiße Drop-down-Menüs und ausfüllbare Felder. Durch das Weiß heben sich die Menüs und Felder von dem Pastellrot deutlich ab. Vor den Menüs und den Feldern sind in Schwarz gehaltene Wörter notiert, die als Zuordnungen dienen. Die Wörter zeigen an, was in dem jeweiligen Drop-down-Menü oder Feld zu finden ist. Wenn der Name einer:eines Adressat:in in dem Drop-down-Menü ausgewählt wurde, füllt das Artefakt >die Gruppe<, >Geburtsdatum<, >Wohnort<, >Beschäftigungsdauer<, >Stellenanteil< und >aktuelles Entgelt< automatisch für die Adressat:in ein. Am rechten Rand des pastellroten Komplexes befindet sich eine Wochenauflistung mit den jeweiligen Tagesarbeitszeiten (in Stunden mit zwei Kommastellen). Am untersten Rand des pastellroten Komplexes befinden sich zwei weitere weiße Drop-down-Menüs, bei denen der User einen Monat bzw. ein Jahr auswählen kann. Darüber ist die schwarze Überschrift notiert >Genehmigt ab<. Neben diesen beiden Drop-down-Menüs wurden drei weiße Buttons positioniert. Auf ihnen stehen – von links nach rechts – >Probe<, >Verwenden< und >Neu erstellen<.
Unter dem oberen Komplex befindet sich ein pastellblauer Komplex. In dem schmalen Komplex befinden sich zwei weiße Drop-down-Menüs. Überschriften zu diesen Menüs sind: >1. Beurteilung< und >2. Beurteilung<. In den Menüs können Namen der Gruppenmitarbeiter:innen ausgewählt werden.
Der untere Komplex, der in einem hellen Gelbton eingefärbt ist, erscheint aufgrund der Vielzahl von Drop-down-Menüs und Überschriften auf den ersten Blick unübersichtlich. Das Herzstück dieses Komplexes bilden die >Details der Entgelteinstufung<. Mit >Details< verweist die Überschrift auf die darunter aufgelisteten acht Drop-down-Menüs, die mit verschiedenen Überschriften bezeichnet wurden. Bei den Kategorien handelt es sich um:
  • Aufgabenschwierigkeit
  • Menge
  • Fehlerfrei
  • Selbstständigkeit
  • Wechselnde Tätigkeit
  • Prüfarbeiten
  • Pünktlichkeit
  • Alterszulage
Hinter diesen Bezeichnungen können die jeweiligen Einstufungen vorgenommen werden. Dabei können semantisch verfasste Kategorien ausgewählt werden. Im Hintergrund davon befindet sich eine Ordinalskala. Die erste Kategorie im Drop-down-Menü repräsentiert den schlechtesten Wert in der Rangfolge, während die letzte Kategorie den besten zu erzielenden Wert darstellt. Bei der Kategorie >Alterszulage< öffnen sich drei wählbare Werte: >Zwischen 40 und 50 Jahre<, >Zwischen 50 und 60 Jahre< und >Über 60 Jahre<.
Neben den >Details der Entgelteinstufung< befinden sich zwei Drop-down-Menüs, in denen der Name der Abteilungsleitung und der Bereichsleitung ausgewählt werden kann. Wenn die Namen ausgewählt wurden und die User auf den Button >Verwenden< im oberen Komplex gehen, dann sendet das digitale Artefakt den ausgewählten Personen die Einstufung zur Genehmigung zu. Unter den Drop-down-Menüs ist eine mathematische Formel zu erkennen. Es existieren zwei Ist-Gleich-Zeichen, Additionen und Multiplikationen, und am Ende steht ein errechnetes Entgelt. Die automatische Vervollständigung der einzelnen Summanden und Multplikatoren erfolgt unter Berücksichtigung der erhaltenen Punktzahl oder der im oberen Komplex angegebenen Arbeitszeit. Am untersten Rand des Komplexes wiederholt sich das Gesamtergebnis aus der Gleichung. Mit Hilfe eines weißen, rechteckigen Kastens hebt sich das Ergebnis von dem Hellgelb ab.
Das letzte Element in dem digitalen Artefakt ist eine Tabelle mit dem Titel >Gespeichertes<. Die Tabelle hat zwei Spalten und mehrere Zeilen, je nachdem, wie viele gespeicherte Einstufungen es gibt. Die Einstufungen werden jährlich gemacht, sodass es vorkommen kann, dass mehr als 10 Zeilen in der Tabelle auftauchen. Unter der linken Spalte lässt sich das Datum, unter der rechten Spalte die jeweilige Punkteanzahl erkennen.
Grenzziehungen: Das Artefakt ist dem Bereich Rehabilitation zugeordnet. Wie auch bei anderen digitalen Artefakten befinden sich im oberen Komplex allgemeine Informationen über die Adressat:innen. Es gibt einen Abschnitt mit allgemeinen Informationen, gefolgt von einem Zwischeneinschub mit Namen und einer Tabelle am rechten Rand. Die Tabelle enthält archivierte Werte und gibt dem Nutzenden Auskunft über potenzielle Entwicklungen des:der Adressat:in. Einzelne Elemente des oberen Komplexes werden in den >Details< wieder aufgegriffen. Die >Details< bilden das Kernstück der Einstufung und des digitalen Artefaktes. Die Verwendung der digitalen Artefakte ist vornehmlich für den diagnostischen Einsatz vorgesehen.
Allgemeine Bedeutung: Im Rahmen des allgemeinen Aufbaus ordnet sich das Artefakt in den Rehabilitationsprozess ein. Leistungen, die von Werkstätten im Sinne des SGB IX erbracht werden müssen, sollen die Leistungs- oder Erwerbsfähigkeit der Menschen mit Behinderungen erhalten, entwickeln, verbessern oder wiederherstellen (§ 56 SGB IX). Entgelteinstufungen können als kontinuierliche diagnostische Instrumente verstanden werden, mit deren Hilfe sich weitere Leistungen zu Entwicklung, Erhalt, Verbesserung etc. der Leistungsfähigkeit messen lassen. Darauf aufbauend können Ziele und Maßnahmen vereinbart werden, wobei sich etwaige Verbindungen zu Zielen oder Maßnahmen nicht in den materiellen Eigenschaften des Artefaktes zeigen.
Die allgemeine Bedeutung des Artefaktes lässt sich aufschlüsseln, wenn die Differenz von WfbM gegenüber anderen Einrichtungen der Eingliederungshilfe herausgestellt ist. Karim (2021) fasst es in ihrer Studie zu Sujektivierungen in WfbM so zusammen:
„Im Wesentlichen zeichnen sie sich durch eine Doppelstruktur aus: Auf der einen Seite sind sie ‚Einrichtung[en] zur Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben‘ (§ 219 SGB IX) und sollen den sozialen Auftrag der Rehabilitation erfüllen. Auf der anderen Seite verpflichtet § 12 WVO die einzelnen Betriebsstätten gleichzeitig zur wirtschaftlichen Führung unter Einhaltung betriebswirtschaftlicher Grundsätze. Aus dem wirtschaftlichen Arbeitsergebnis werden letztlich die Entgelte der Beschäftigten bezahlt (§ 221[2] SGB IX)“ (ebd.: 126).
Im § 12 WVO heißt es diesbezüglich, dass die Werkstätten wirtschaftliche Arbeitsergebnisse anstreben müssen, um an die im Arbeitsbereich beschäftigten, ‚behinderten‘ Menschen ein ihrer Leistung angemessenes Arbeitsentgelt zahlen zu können. Hieran knüpft die Entgelteinstufung an. Allgemein liegt ihre Bedeutung darin, Menschen mit sogenannter Behinderung nach ihren Leistungen zu klassifizieren und sie entsprechend dieser Klassifikation zu bezahlen. In der Werkstattverordnung findet sich kein Passus darüber, wie die Leistungen gemessen werden sollen, in welchen Intervallen oder mit welchen Instrumenten. Es obliegt den jeweiligen Werkstätten, wie stark sie die wirtschaftliche Logik integrieren. Sicherlich ist davon auszugehen, dass größere Werkstätten an industrienahen Standorten eine stärkere Fokussierung auf die Erzeugung von Eigenprodukten haben als kleine Werkstätten mit beispielsweise anthroposophischer Ausrichtung (Schachler 2021).
Mit der Entgelteinstufung errechnet sich der leistungsangemessene Steigerungsbetrag nach § 221 Abs. 2 SGB IX, der ein Bestandteil des Entgelts der Adressat:innen in Werkstätten ist. Neben dem pauschalen Grundbetrag und dem Arbeitsförderungsgeld stellt der Steigerungsbetrag einen vergleichsweise geringen Anteil dar. In den untersuchten Werkstätten kann der Steigerungsbetrag jedoch deutlich variieren. Zwischen dem Minimum und dem Maximum des Entgelts liegt die Differenz bei rund 250 Euro. Die Bemessung und Ermittlung des Betrags sind in § 221 SGB IX nicht geregelt und werden auch in der Rechtskommentierung weitgehend unbeachtet gelassen (Schachler 2021). In § 221 Abs. 2 SGB IX heißt es lediglich, dass die Arbeitsleistung unter Berücksichtigung von Arbeitsmenge und Arbeitsgüte zu bemessen ist. Während die Arbeitsmenge in dem Artefakt auftaucht, fehlt die Berücksichtigung der Arbeitgüte. Die Bewertung der Leistungen erfolgt nicht mehr allein in Form von Fehlerfreiheit, Menge oder Schwierigkeit, sondern es wird auch ein bestimmtes Verhalten mit in die Klassifikation einbezogen. In dem Artefakt gehören Pünktlichkeit und Selbstständigkeit zu solchen Verhaltenskategorien.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass allein die individuelle Leistung der Adressat:innen zählt, wobei deren spezifische Beeinträchtigung, abgesehen von der wöchentlichen Arbeitszeit, ausgeblendet bleibt. Wie Hirschauer feststellt, tritt die individuelle Leistungsbemessung ganz anders „als die anderen Kategorisierungen auf, als sie wie ein großer sozialer Gleichmacher dazu auffordert, von allen Unterschieden askriptiver und kategorialer Art abzusehen“ (Hirschauer 2014: 171). Das Artefakt weist acht Kategorien auf, die als Ordinalskalen konzipiert sind. Die Gesamtpunktzahl hingegen ist metrisch. Gemäß dem Leistungsprinzip erfolgt eine Bewertung aller Beteiligten nach standardisierten Maßstäben. Abgesehen von einer Altersklassifikation werden zu diesem Klassifikationsprozess keine weiteren Differenzierungen vorgenommen.
Funktionen: Das Artefakt besteht hauptsächlich aus Dropdown-Menüs. Im oberen Bereich werden die persönlichen Informationen wie Geburtsdatum etc. nach Auswahl des Namens aus dem Drop-down-Menü automatisch ausgefüllt. Im hellgelben Bereich, dem eigentlichen Zentrum des Artefakts, befinden sich ebenfalls acht Drop-Down-Menüs, aus denen die Kategorien ausgewählt werden können.
Eine besondere Funktion stellt zum einen die Formel am rechten Rand des hellgelben Bereichs dar. Das Artefakt berechnet aus den zuvor ausgewählten Kategorien automatisch die Punktzahl. Dabei werden Unterkategorien unterschiedlich gewichtet, was auf der Oberfläche des Artefakts unsichtbar bleibt. Vor allem die Arbeitsschwierigkeit macht einen Großteil der Punkte aus, wie ein Gruppenmitarbeiter in einem informellen Gespräch berichtete. Alle Unterkategorien summieren sich zu einer Gesamtpunktzahl, die dann in die Formel eingeht. Die durchschnittliche monatliche Arbeitszeit, ein weiterer Faktor in der Formel, ergibt sich automatisch aus den Arbeitszeiten im oberen Bereich. Alles zusammen ergibt ein Gehalt, das auf zwei Dezimalstellen genau ist.
Zum anderen gibt es die automatische Weiterleitung als Funktion. Klickt der:die Nutzer:in auf den Button >Benutzen<, leitet das Artefakt den errechneten Gesamtbetrag an die Führungskraft weiter, die ihn wiederum digital signieren und an die Bereichsleitung schicken kann. Auf der rechten Seite des Artefaktes befindet sich schließlich eine Tabelle mit allen in der institutionellen Historie ermittelten Punktzahlen.
Komparative Analyse: Um die Tragfähigkeit der bisherigen Analyse zu überprüfen, soll eine komparative Analyse durchgeführt werden. Zu diesem Zweck greife ich auf ein Artefakt zurück, das aus einer Studie zu Entgelt und Entgelteinordnungen stammt (Brendel/Richter 2015). Das Artefakt (Abb. 8.3) erfüllt insofern denselben Zweck wie das vorliegende Artefakt (Abb. 8.2).
Beim Vergleich des Entgeltinstruments mit dem in Abbildung 8.3 dargestellten Artefakt fällt auf, dass beide überwiegend in Textform gestaltet sind. Beide enthalten keine bildlichen oder symbolischen Darstellungen, was darauf schließen lässt, dass Personen mit spezifischen Kompetenzen adressiert werden. Im Fall des Entgeltinstruments ist darüber hinaus ein digitaler Zugang erforderlich. Das in Abbildung 8.3 dargestellte Artefakt scheint im Anschluss an Brendel und Richter (2015) analog vorzuliegen3.
Die Digitalität des untersuchten Artefakts (Abb. 8.2) geht mit einer spezifischen Oberflächengestaltung und spezifischen Funktionalitäten einher. Während das in Abbildung 8.3 dargestellte Artefakt einfarbig ist und alle Unterkategorien untereinander auflistet und die Punkte am Rand darstellt, verwendet das im Rahmen der Cyberinfrastruktur untersuchte Artefakt Drop-Down-Menüs und berechnet automatisch die Gesamtpunktzahl sowie den auszuzahlenden Betrag. Zusätzlich enthält das untersuchte Artefakt (Abb. 8.2) am rechten Rand eine Tabelle mit allen bisher erreichten Punkten. Es handelt sich also gleichzeitig um eine Archivierung bisheriger Leistungsbewertungen und deren Darstellung. Die Digitalität ermöglicht es zudem, die Bewertung in Sekundenbruchteilen als Information an Führungskräfte oder die Verwaltung weiterzuleiten. In dem von mir untersuchten Artefakt wird auf eine Unterschrift verzichtet, da die Nutzenden durch ihr Login automatisch erkannt werden. Im Vergleichsartefakt ist die Unterschrift obligatorisch.
Beide Artefakte differenzieren Leistungen nach verschiedenen Subkategorien. Die einzelnen subkategorien unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Bezeichnung, allerdings klassifizieren beide Artefakte die Leistungen nach Arbeitsgüte und nach Verhalten. Am Ende beider Artefakte wird ein Gesamtpunktwert ermittelt, der wiederum in einen spezifischen Steigerungsbetrag umgerechnet wird, wobei die Unterkategorien unterschiedlich gewichtet sind. Bei dem in Abbildung 8.3 dargestellten Artefakt können die meisten Punkte in der ersten Unterkategorie, der Zuordnung zu einem Tätigkeitsfeld, erzielt werden. Obwohl dies in dem digitalen Artefakt (Abb. 8.2) nicht ersichtlich ist, wird auf der Ebene des Subface eine Gewichtung festgestellt, die der Schwierigkeit der Arbeit eine besondere Bedeutung beimisst.
Abbildung 8.3
Ausfüllbare Oberfläche eines Artefaktes zur Ermittlung des Steigerungsbedarfs.
(Quelle: Brendel/Richter 2015: 56)
Vergleichbar ist zudem, dass bei der Einstufung der Leistungsfähigkeit von allen weiteren Differenzierungen, wie z. B. dem Grad der Beeinträchtigung, abgesehen wird. Während das digitale Artefakt in Abbildung 8.2 eine Altersklassifikation aufweist, die eine gewisse Abnahme der Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter impliziert, verzichtet das Vergleichsartefakt auf jegliche Differenzierung nach Alter, Grad der Beeinträchtigung, Geschlecht etc.
Reflexion zum Artefakt und Rückbezug zur Forschungsfrage: Besonderheit des digitalen Artefakts sind die unmittelbaren ökonomischen Folgen, die sich der Anwendung ergeben können. Zu diesem Zweck installiert das Artefakt eine Reihe von Subkategorien mit entsprechenden Punktzahlen, die die Adressat:innen auf abstrakte Werte, unabhängig von ihren Einschränkungen, reduziert und am Ende alle Werte zu einer einzelnen Zahl – die Gesamtpunktzahl – zusammenrechnet. Aus der Gesamtpunktzahl ergibt sich die Höhe des individuellen, leistungsbezogenen Steigerungsbetrags, welcher am Ende des jeweiligen Monats an die Adressat:innen ausgezahlt wird. Als konkrete Umsetzung des SGB IX materialisiert sich in dem Artefakt die Verknüpfung von Leistung und Vergütung. „Die Möglichkeit, durch eigene Leistung den Lohn zu steigern, reflektiert die anerkannte meritokratische Norm“ (Karim 2021: 130). In dem Artefakt schlägt sich so ein Leistungsparadigma nieder, das graduelle Differenzierungen zwischen unterschiedlich leistungsfähigen Personen vornimmt (ebd.). Mit Schreiner und Wansing (2016) ließe sich festhalten, dass Werkstätten eine Paradoxie bergen: „Einerseits setzt der Zugang zur Werkstatt das Scheitern an den üblichen (sprich leistungs- und wettbewerbsorientierten) Bedingungen des Arbeitsmarktes voraus. Andererseits werden diese ökonomischen Selektionskriterien jedoch innerhalb der Werkstatt reproduziert“ (ebd.: 74).
Was mit dem digitalen Artefakt entstehen kann, ist eine Vergleichbarkeit unter den Adressat:innen, die sich auch in der Bezahlung niederschlägt. „A major purpose of a classification system is to provide good comparability across sites, to ensure that there is a regularity in semantics and objects from one to the other, thus enhancing communication“ (Timmermans et al. 1998: 204). Adressat:innen können sich durch die Beträge untereinander vergleichen, wodurch wiederum Rückschlüsse auf die Bewertung gezogen werden können. In diesem Sinne kann die Entgelteinstufung Differenzen zwischen ‚fitten‘ und ‚nicht fitten‘ Adressat:innen anhand des Entgelts und der damit verbundenen Punktzahl mit produzieren. Die Zuschreibungen, die in Form hierarchisch angeordneter Kategorien zu Verfügung gestellt werden, dienen dabei der Einschätzung der spezifischen Arbeitsleistung am Arbeitsplatz. Wie genau die Klassifikationspraktiken im Zusammenhang mit dem Artefakt verlaufen, soll im Weiteren rekonstruiert und analysiert werden.

8.2.2 Eine Entgeltklassifizierung vornehmen

Ausgehend von der technografischen Anlage der Studie soll die konstitutive Rolle des Artefakts in Praktiken des Organisierens rekonstruiert werden. An die Artefaktanalyse schließt sich nun eine Exploration der Artefakteinbindung in der Praxis an. Für die Rekonstruktion der Praktiken greife ich auf die Feldprotokolle zurück. Das Artefakt, das oben beschrieben wurde, erhielt in der nachfolgend dargestellten Beobachtungssequenz ein leicht verändertes Aussehen, da es zunächst ausgedruckt wurde. Hierbei handelt es sich primär um den oberen Komplex mit den persönlichen Daten und den unteren Komplex mit den Details zur Entgelteinstufung. Da es sich bei dem Ausdruck um ein A4-Format handelt, reihen sich die Komplexe aneinander und sind deutlich größer dargestellt als im Computerformat. Im Laufe der Sequenz werden die Ergebnisse aus dem Druck wieder in das digitale Format rückübertragen.
Bei der nachfolgenden Beobachtungssequenz handelt es sich um einen komplexen Zyklus aus mehreren Episoden. Sie gehören alle zusammen, sollen allerdings im weiteren Verlauf zerstückelt werden, um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten. Ausgangspunkt ist ein Büro in einer der beobachteten Werkstätten für behinderte Menschen.

                  Durch die Tür sehe ich Richard im Büroabteil vor dem Computer sitzen. Ich gehe hinein und begrüße ihn herzlich. Sofort nehme ich mir einen Stuhl und setze mich neben ihn. Wir unterhalten uns über alles Mögliche. Nach ein paar Minuten wechselt Richard das Thema und lenkt unser Gespräch auf eine anstehende Einstufung. „Schau mal hier“, sagt er zu mir. Er zieht zwei Zettel hervor. „Diese beiden Zettel nehme ich immer mit in die Gespräche“, sagt er zu mir und zeigt auf die Zettel. Der eine Zettel ist eine unausgefüllte Vorlage. „Du wirst es kaum glauben, aber die Vorlagen sind schon über 20 Jahre alt. Seit ich hier arbeite, benutzen wir sie. Irre, oder?“, sagt er zu mir, zeigt auf die Zettel und schaut mich zwischendurch immer wieder an. Der andere Zettel ist die Einstufung vom letzten Jahr. „Ich habe sie ausgedruckt. Um ganz ehrlich zu sein, ich hasse diese Einstufung“, flüstert mir Richard zu. Dann sieht er mich erwartungsvoll an und ich stimme ihm zu, dass ich es auch fragwürdig finde. Seiner Meinung nach müssten die Adressaten viel „mehr Geld bekommen“. Während wir über die Ungerechtigkeit reden, schauen wir auf die beiden Zettel, die vor uns liegen. „Na dann mal los“, sagt Richard zu mir. „Ich habe zwar keinen Raum gebucht, aber vielleicht ist ja noch einer frei. Wenn nicht, gehen wir einfach raus. Es ist warm genug“, fügt er hinzu. Er packt die beiden Zettel ein und wir verlassen das Büro. Er holte Max aus dem Gruppenraum. Dann gehen wir zu den Besprechungsräumen und Richard sucht sich einen freien Raum (Beobachtung _27062023, Pos. 1).
                
Ausgangspunkt der Beobachtungssequenz ist erneut ein Büro. Die räumliche Anordnung ist jedoch für den weiteren Verlauf unerheblich, da Richard einen anderen Raum wählt und sich auf die Suche nach einem geeigneten Besprechungsraum begibt. Es ist eine relevante Beobachtung, dass das Büro nicht als adäquater Raum für die anstehende Entgelteinstufung betrachtet wurde. Von Seiten der Mitarbeitenden wurde in den informellen Gesprächen der Wunsch geäußert, Besprechungen in einem offiziellen Besprechungsraum abzuhalten, um der Entgelteinstufung einen formelleren Anstrich zu verleihen. Anstatt also die Klassifikation direkt am digitalen Artefakt vorzunehmen, wählt Richard den Umweg, die Vorlage auszudrucken und einen formellen Besprechungsraum zu suchen.
Vor Beginn der Einstufung äußert Richard seine Ablehnung gegenüber dem Artefakt sowie gegenüber der Klassifikation selbst. Es ist erkennbar, dass seine Meinung ein Geheimnis ist, was durch das „Flüstern“ angezeigt ist. Richard äußert sich dahingehend, dass die Adressat:innen für ihre Arbeit deutlich mehr Geld erhalten sollten, womit er sich auf Seiten der Adressat:innen positioniert. Allerdings enthält sein Narrativ einen offensichtlichen Widerspruch, denn im nächsten Moment klassifiziert er Max (Adressat) und trägt dementsprechend dazu bei, dass dieser einen leistungsbezogenen Lohn erhält. Nach Brunson (1989) könnte dieser Sachverhalt als Widerspruch zwischen der verbalen Äußerung (talk) und der praktischen Handlung (action) interpretiert werden. „Während sich die Organisationsmitglieder veränderungsbereit und reformwillig präsentieren“ (Schaefers 2009: 315), dominiert auf der Handlungsebene „business as usual“ (ebd.). Routinen und tradierte Verhaltensmuster haben weiterhin Gültigkeit. Entgegen der Einschätzung Schaefers (2009) oder auch Brunsons (1989) liegt der Grund des Widerspruchs von Talk und Action weniger in den individuellen Verhaltensmustern als in den formalisierten Anforderungen an die Organisationsmitglieder. Diese Lesart wird im Laufe der weiteren Analyse weiter gestützt.
Ein vergleichbarer Widerspruch zeigt sich auch in der ablehnenden Positionierung gegenüber dem digitalen Artefakt. Richard richtet die Aufmerksamkeit auf das Artefakt, stellt es als veraltet dar und weist auf die Absurdität seines Gebrauchs hin. Nichtsdestotrotz nutzt er es als Vorbereitung auf das Gespräch und auch zu dessen Durchführung. Interessant ist zudem, dass der Vorjahresbericht in die Einstufung mit einbezogen wird. Während die archivierten Punktzahlen im digitalen Artefakt am rechten Rand erscheinen, entfällt diese Funktion im Druck, da es sich bei der Druckversion um eine reduzierte Version handelt, bei der die Tabelle wegfällt. Durch die Einbeziehung des Vorjahresberichts wird die in der digitalen Version vorhandene Archivfunktion wieder in die Klassifikation integriert. Der Vorjahresbericht kann als ständiger Vergleichshorizont dienen, an dem Max gemessen wird. Vergangenes und Aktuelles können sich so miteinander verweben. Es entsteht eine objektive temporality im Sinne Schatzkis (2010), denn die Archivierung und der rekursive Rückgriff darauf produzieren eine gemeinsame und geteilte Organisationsvergangenheit. Während die temporäre Verschränkung im digitalen Artefakt vorhanden ist, muss sie im Druck erst wiederhergestellt werden Abbildung 8.2.

                  Ein kleiner Besprechungsraum ist frei. Wir gehen gemeinsam hinein. Sofort befällt mich ein beißender Geruch. Es sticht in der Nase. Der Geruch ist nicht modrig oder verfault, vielmehr ein chemisch-beißender. Sofort sprinten wir nach hinten zu den Fenstern und reißen sie auf. Nun habe ich Zeit einen kurzen Blick durch den Raum schweifen zu lassen. Er wirkt verlassen und leergeräumt. Ein verstaubter PC auf einem verstaubten Schreibtisch neben einem verstaubten halbhohen Regal. Richard platziert zwei Stühle nebeneinander an den zentral gesetzten quadratischen Tisch, der aus zwei kleineren, rechteckigen Tischen besteht. Beide setzen sich an die gut 30 cm von der Tischkante entfernten und leicht diagonal zueinanderstehenden Stühle, so dass sie sich einfach anschauen konnten, ohne ihren Körper oder ihren Kopf stark drehen zu müssen. Ich setze mich neben die beiden, aber um die Ecke. Richard breitet beide Zettel vor sich aus und legt sie in die Mitte zwischen beiden. Beide blicken darauf. Richard nimmt aus seiner kurzen Hose, die über große Seitentaschen verfügt seine schwarze Lesebrille heraus, setzt sie auf und leitet das Gespräch damit ein, dass „wir heute ja die Entgelteinstufung machen müssen. Die letzte ist zwar noch nicht ganz ein Jahr her“, bei diesen Worten blickt Richard auf das linke Blatt. „Ja genau, das letzte Gespräch war im Oktober, also vor fast einem Jahr. Außerdem soll heute noch Konstantin mit dabei sein“ meint Richard. Bei diesen Worten stieg ich mit ein und bedanke mich bei Max für die Möglichkeit an dem Gespräch teilnehmen zu dürfen. „Du weißt ja, ich bin kein Freund von der Einstufung, aber wir müssen es machen. Ich erkläre dir kurz die einzelnen Punkte und dann kannst du was aus deiner Sicht dazu sagen“ meint Richard, während er auf den Vorjahresbericht blickt Beobachtung _27062023, Pos 2-3).
                
Abbildung 8.4
Räumliches Arrangement des Entgelteinstufungs-Gespräches zwischen Adressat und Gruppenmitarbeiter.
(Quelle: Feldprotokoll, Eigene Darstellung)
Der olfaktorische Eindruck reiht sich ein in eine Kette weiterer unwirtlicher Komponenten: Die räumliche Anordnung wirkt verlassen und ungenutzt, aufgrund der verstaubten Regale und der spärlichen Ausstattung. Der Computer und das Regal stehen unverbunden nebeneinander und wirken wie eine Ansammlung von Artefakten, die nicht in die Praxis integriert sind. Richard konzentriert sich vielmehr auf die beiden Drucke, die er prominent in der Mitte des Tisches platziert. Richard und Max richten ihre Aufmerksamkeit auf die Ausdrucke auf dem Tisch. Die Anordnung der Sitzplätze in diagonaler Position zu den auf dem Tisch ausgebreiteten Drucken erzeugt eine Konstellation, in der weder Max noch Richard über eine exponierte Sitzposition verfügen. Beide haben die Möglichkeit, die Drucke ungehindert zu betrachten, zu berühren oder zu beschreiben. Diese Symmetrie in der Positionierung der Körper und der Artefakte ist bemerkenswert, da in nahezu allen anderen Klassifikationspraktiken (Abschn. 8.1) ein Ungleichgewicht in der Sichtbarkeit bestand.
Nachdem Richard das räumliche Setting eingerichtet hat, holt er eine Lesebrille aus seiner Hosentasche. Diese Handlung unterstreicht die herausragende Stellung der beiden zentral positionierten Drucke. Bei der Bewertung der nun folgenden Praktik greift Richard auf das „müssen“ in der Sequenz zurück, womit er auf eine formale Bestimmtheit verweist. Hier taucht etwas auf, dass Marcus als „simultaneously elsewhere [Hervorh. im Original]“ (Marcus 1997: 96) bezeichnet. Das heißt, es existiert eine – nicht weiter konkretisierte – organisationale, normative Ordnung (Ortmann et al. 2000), auf die Richard hier rekuriert und die er mit der Praktik reproduziert. Er markiert diese normative Ordnung mit den Worten „es muss gemacht werden“. Die Einstufung im jährlichen Tonus muss stattfinden („noch nicht ganz ein Jahr her“), jedoch bleibt unklar, woher diese „ruling relation“ (Smith 2005) kommt. Weder in der konkreten Praxis noch im Artefakt wird dies ersichtlich, jedoch betont Richard die Notwendigkeit gleich zweimal durch die Verwendung des Wortes „müssen“. Was die Benennung der normativen Ordnung mit sich bringt, ist, dass er sich sprachlich mit Max fraternisiert, indem er sich von der Entgelteinstufung distanziert. Diese Fraternisierung bleibt aber eine Momentaufnahme, wie die nachfolgende Episode der Beobachtungssequenz verdeutlicht.

                  Richard: „Als Erstes ist die Aufgabenschwierigkeit. Das ist im Vergleich mit Gesamt-[Name der Organisation]. Letztes Jahr warst du hier Mittel. Das heißt, die Aufgaben, die du gemacht hast, waren mittelschwer. Was meinst du, wie siehst du dich“
                  Max: „Hoch“
                  Beide blicken gebeugt über den leeren Zettel mit dem Balken darauf. Dann blicken sie sich gegenseitig an. Es herrscht ein winziger Augenblick Stille.
                  Richard: „Naja, also da sehe ich keine Veränderung gegenüber dem letzten Jahr. Eher noch schlechter“
                  Max: „Ich sehe mich da hoch“
                  Richard: „Aber schau mal, es gibt da ganz andere Werkstätten, wie [Name Werkstatt], die machen ganz andere Sachen als wir hier“
                  Max: „Ich sehe mich da aber hoch“
                  Richard: „Max, wir müssen zusammen auf ein Ergebnis kommen. Ich kann auch gerne einen Vermerk machen, wenn du willst. Dann muss aber Manfred oder Annette nochmal das Gespräch mit dir machen. Das dauert dann wieder. Es gibt schon schwierigere Aufgaben, oder? Die Aufgaben bei uns sind Mittel, oder was meinst du?
                  Max: „Na gut, das ist wohl Fakt. Dann Mittel“ (Beobachtung _27062023, Pos. 3-8).
                
In der vorliegenden Episode wird durch Richard ein Bezug zum Vorjahresbericht hergestellt, in dem ein Wert in der Kategorie ‚Aufgabenschwierigkeit‘ angeführt wird. Richard stellt Max die offene Frage, wie er sich selbst aktuell kategorisieren würde. Bemerkenswert ist, dass Richard das Vergleichskriterium der ersten Kategorie sofort anspricht: Vergleichskriterium zur Ermittlung der Aufgabenschwierigkeit sind die gesamten Werkstätten des Wohlfahrtsverbandes. Dies ist ein abstrakter Wert, da mehrere Werkstätten zu dem Verband gehören und somit mehrere Hundert Adressat:innen in den Einrichtungen beschäftigt sind. Im Artefakt existiert keine Standardisierung dafür, was als Aufgabenschwierigkeit zu verstehen ist und wie die durchschnittliche Schwierigkeit aussehen könnte. Letztendlich bleibt dieses Vergleichskriterium im Artefakt offen und muss in der situativen Anwendung konkretisiert werden.
Hierdurch wird die Plastizität des Artefakts aufgerufen. Einerseits disponiert das Artefakt in Relationierung zum räumlichen Arrangement und zu den beiden menschlichen Partizipanten die Praxis, indem es als leitende Struktur erzeugt wird. Die Kategorien werden von Richard und Max systematisch, das heißt von oben nach unten, bearbeitet. Außerdem versuchen beide einen geeigneten Wert aus der Bewertungsskala zu ermitteln. Andererseits lässt das Artefakt genügend Spielraum für lokale und situative Anpassungen. Obwohl das Artefakt in seiner materialen Gestalt so viele Aspekte quasi selbsterklärend mit sich bringt, klärt es nicht darüber auf, welcher Vergleichsmaßstab angebracht ist. Klassifikation „leaves some amount of discretionary space to the user, be it as small as in the most Taylorist factory or prison, or as large as the most privileged artists’ retreat“ (Timmermans et al. 1998: 204). Der Ermessensspielraum, den das Artefakt lässt, ist keine Strukturlosigkeit, sondern eine Form von Plastizität. Die vorliegende Plastizität begünstigt die Koexistenz heterogener Lesarten und Beurteilungspraktiken, ohne dabei die Validität der Klassifikation selbst oder die daraus resultierende Vergleichbarkeit zu kompromittieren. Um diesen Spielraum nutzen zu können, müssen die menschlichen Partizipanten über ein spezifisches Know-how verfügen. Konkret bedeutet dies, dass Richard ein Wissen über Klassifikation, Vergleichsmaßstab und Kategorien benötigt, um die Verhandlung im Zusammenspiel mit dem Klassifikationsartefakt gestalten zu können. Hierzu greift Richard auf spezifische Interpretationsschemata im Hinblick auf das Artefakt zurück, um die Verhandlung vorzubereiten, zu leiten und durzuführen. Er bringt eine normative Ordnung rekursiv hervor, indem er in der Praxis sein organisationales Wissen um die Klassifikation nutzt, was die Verhandlung präfiguriert. Was hier zudem performativ hervorgebracht wird, ist eine Beschäftigten-Fachkraft-Differenz: Richard verfügt über das Können, um mit der Plastizität des Artefakts umzugehen, um es sinnvoll einzusetzen, während Max auf die Erläuterungen von Richard wartet.
Gleichzeitig eröffnet Richard einen Diskussionsraum, um gemeinsam mit Max zu eruieren, wie er sich selbst in Bezug auf den abstrakten Vergleichsmaßstab einschätzt. Die Bezugnahme auf den Vorjahreswert stellt ein Hindernis für eine offene Diskussion dar. Durch die Relationierung der beiden menschlichen Partizipanten, ihrer Körperhaltungen und Blickrichtungen, der Tisch-Stuhl-Anordnung und des zentral positionierten Artefakts wird eine offene Diskussion über mögliche Aufgabenstellungen oder deren Schwierigkeiten eingeschränkt. Dies wird auch durch ihre minimalen Körperbewegungen und ihren fixierten Blick verdeutlicht. Das Artefakt erhält permanente Aufmerksamkeit, wodurch keine Interaktion außerhalb der Bewertungspraxis zwischen den beiden stattfindet. Statt einer offenen Verhandlung über den angemessenen Wert findet die Praxis in einem Modus des ungleichen Meinungsstreits statt. Max hält seinen Wert für hoch, während Richard ihm in mehreren Versuchen widerspricht und versucht, ihn von einem mittleren Wert zu überzeugen. Da es kein konkretes Vergleichskriterium und kein Verfahren gibt, ist offen, wie der Wert am Ende aussieht. Sichtbar wird allerdings, dass eine ungleiche Verteilung von Wissen vorliegt, denn Richard kennt die Kategorien, die Vergleichskriterien und hat ein Wissen um den Vorjahreswert, was zu einer Differenz zwischen den beiden führt.
Zunächst können sie sich nicht einigen und es kommt zu einem Patt. Aus der Episode wird deutlich, dass zunächst Aussage gegen Aussage steht. Richard versucht, das Vergleichskriterium zu konkretisieren, indem er eine Werkstatt nennt, die Max bekannt ist. Max bleibt anschließend bei seiner Selbsteinstufung. Das Zurückweisen der Klassifikation ist, wie Grimmer in ihrer Studie „Folgsamkeit herstellen“ (2018) herausarbeitet, kommunikativ anspruchsvoller als dessen Bestätigung (ebd.: 159). „Die Folgeleistung muss nicht begründet werden, ein Widerspruch dagegen schon“ (ebd.). Max nimmt die Anrufung durch Richard nicht an, widerspricht ihr und weist sie von sich. Gleichzeitig begründet Max seine eigene Selbstklassifikation nicht, sondern wiederholt sie einfach mehrmals.
Richard greift, nachdem er argumentativ nicht weiterkommt und mit der erneuten Zurückweisung konfrontiert ist, auf das Mittel Drohungen zurück. In Anlehnung an Böhringer et al. (2012) könnte von einer „Fiktion der Freiwilligkeit“ gesprochen werden. Das bedeutet, dass die Sitzordnung, der unverstellte Blick beider auf das Artefakt und der offene Stimulus eine symmetrische Verhandlung zwischen beiden möglicht macht, aber Richard die Verhandlung so führt, dass er Folgsamkeit herstellt. An „die Möglichkeit des Zwangs und die Sanktionsmacht werden die Adressaten nur dann erinnert, wenn sie den Forderungen“ (Grimmer 2018: 181) nicht folgen und Widerstand leisten. Im Laufe des Hin und Her verdeutlicht sich, dass Richard im Zusammenspiel mit dem Vorjahresbericht als Einspruchsinstanz eine Deutungshoheit beansprucht. Um seine Autorität herzustellen, baut er eine Drohkulisse auf und nennt seine Klassifikation einen „Fakt“. Nachdem die Folgsamkeit hergestellt (Grimmer 2018) und der Widerstand gebrochen ist, schreitet die Klassifikation zügig voran, wie die nachfolgende Episode verdeutlicht.

                  Richard umkreist auf dem leeren Blatt mit den Balken darauf die Mitte mit einem Kugelschreiber ein. Nun blickt er auf die nächste Kategorie. Dort steht „Menge des Fertiggestellten“. Richard erläutert wieder die Kategorie.
                  Richard: „Menge. Dieses Mal im Vergleich zu uns. Also wenn du hier ganz rechts, da sind wir. Also Manfred und ich, und ganz links“, bei diesen Worten deutete er mit seinem rechten Zeigefinger erst nach rechts auf dem Balken, dann nach links, „da ist [Name Klientin]. Also fast gar keine Menge. Wo würdest du dich da sehen“
                  Max: „Naja, so viel wie ihr schaffe ich nicht. Dann eher so in der Mitte“.
                  Richard: „Ja genau, das würde ich auch so sehen. Mal sehen, was wir letztes Jahr hier gesagt haben“. Richard blickte auf den linken Zettel. „Ach ja, auch in der Mitte“.
                  Erneut umkreist Richard den mittleren Punkt auf den Balken. Dasselbe Prozedere wiederholt sich bei der nächsten Kategorie. Richard erläutert zunächst, was sich dahinter verbirgt und erläutert dann, welcher Vergleichsrahmen gilt. In diesem Fall handelt es sich um Fehlerfreiheit. Der Vergleichspunkt ist erneut die Fachkräfte. Max bemerkt, dass er wenig Fehler macht. „Stimmt“ pflichtet ihm Richard bei. „Da machen wir mal wenig bis selten. Schau mal, da hast du dich ein bisschen gegenüber letztem Jahr verbessert“. Richard zeigt mit seinem Kugelschreiber auf die alte Einstufung und den dort abgedruckten Wert. Dann geht er die weiteren drei Kategorien durch. Diskussion entsteht keine. Richard beschließt die Einstufung, indem er auf den alten Bericht blickt und bemerkt: „Ja, eine Verbesserung gibt es. Das heißt, es gibt es bisschen mehr Geld“. „Aber das nimmt mir die Steuer weg“ meint Max. „Nein, das habe ich dir doch schon oft erklärt, es bleibt auch nach der Steuer noch mehr Geld übrig“. Danach stehen wir gemeinsam auf und gehen hinunter zur Gruppe. (Beobachtung _27062023, Pos. 8–16)
                
Die Episode der Beobachtungssequenz beginnt mit einem vergleichbaren Stimulus wie zuvor. Richard erläutert das für den Vergleich relevante Kriterium und konkretisiert dieses, indem er zwei für Max bekannte Personen nennt. Anstelle eines Mittelwertes wird ein Ideal gesetzt, an dem Max und sein Arbeitsaufwand gemessen werden. Darüber hinaus impliziert das Vergleichskriterium, dass es keine bessere Leistung als die der Fachkräfte im Hinblick auf die Arbeitsmenge geben kann.
„Für die Herstellung einer Normalitätsmatrix ist ein konstitutives Außen vonnöten, eine Negativschablone, die von Einzelnen als Unterscheidungskriterium in ‚normal‘ und ‚nicht normal‘ herangezogen werden kann“ (Büchner/Pfahl 2015: o.S.). Auf der anderen Seite des Kontinuums – in der Kategorie ‚Arbeitsmenge‘ – befindet sich eine Adressatin, die keine Menge produziert und von Richard in Erinnerung gerufen wird. Ihre Leistung stellt den personalisierten Nullpunkt des Vergleichskontinuums dar. Die Klassifizierung der Adressat:innen spannt nicht nur einen Raum auf, „eine Topographie des Sozialen“ (Barlösius 2005: 96), sondern führt eine hierarchische Unterscheidung ein. Max selbst ordnet sich in diesem Kontinuum in der Mitte ein. Erst nachdem Richard die Selbsteinschätzung von Max bestätigt und mit dem Vorjahresbericht verglichen hat, erhält sie Legitimität. Max kann seine Wünsche bezüglich der Bewertung äußern, doch seine Einschätzungen müssen erst durch Richard im Zusammenspiel mit dem Vorjahresbericht übersetzt werden.
Im weiteren Verlauf der Klassifikation wiederholt sich das Prozedere aus Selbsteinschätzung, Vergleich mit den von Richard vorgegebenen Vorstellungen und dem Vorjahresbericht. Bei der Einstufung „Fehlerfreiheit“ übernimmt Richard sogar die erste Einstufung, Max merkt lediglich an, dass er „wenig Fehler macht“. Diese Szene verdeutlicht, dass die leistungsbezogenen Fremdzuschreibungen zu Selbstzuschreibungen von Max geworden sind. Campbell beschreibt in einer Abhandlung dieses Phänomen als „internalised ableism“ (Campbell 2009: 18). Möglich ist, dass Max in dieser Episode die Klassifikation strategisch übernimmt.
„Sometimes disabled people adopt the labels of disablement ‚strategically‘ to gain access to social benefits. This adoption of a disability category or classification does not mean that an individual with disability holds to a belief that ‚they are disabled‘ […] Rather without a classification or diagnosis it is very difficult to have certain needs arising out of bodily or mental differences recognised“ (Campbell 2009: 26 f.).
Selbst wenn Max jedoch seine Klassifikation in strategischer Absicht übernimmt, was letztlich nicht empirisch rekonstruiert werden kann, enden diese Strategien in dem „becoming complicit, reproducing the constitutional ontologies essential to the continued power of ableism“ (ebd.: 28). Auch die subversive Unterwanderung kann nicht ohne die Inkorporierung des Ableismus erfolgen. Das heißt, Max kommt mit seiner Selbstbewertung nicht aus der Reproduktion einer körperlichen, leistungsbezogenen Fremdzuschreibung heraus.
Nachdem wir den Raum verlassen haben, begeben sich Richard und ich erneut in das Büro der Werkstattgruppe.

                  Als wir wieder zurück im Büro sind, setzen Richard und ich uns an den Schreibtisch. Er öffnet die Maske mit den Werten und beginnt, die Werte einzutragen. Nebenbei unterhalten wir uns über die Entgelteinstufung. Stolz berichtet er mir, dass er „seit knapp 7 Jahren niemanden heruntergestuft habe“. Er findet das System „schrecklich, aber bald soll irgendwas Neues kommen. Alles ist besser als die jetzige Einstufung“ beschwert er sich. Nebenbei tippt er weiter die Werte ein. Unter der Tastatur ist die Vorlage mit den Balken geklemmt, wo die einzelnen Zahlen umkreist sind. „Es gibt auch Kollegen“, erzählt er beiläufig, „die machen das anders. Die stufen auch herunter. Dabei sollen doch alle dasselbe Geld bekommen“. Wir sprechen über das Leistungsprinzip, dass hinter der Bewertung steht. Nachdem er alle 7 Zahlen kurz eingegeben hat, klickt er auf „Verwenden“. „Jetzt geht das automatisch an die Leitung, die muss es absegnen, dann an die Bereichsleitung und am Ende an die Personalabteilung. Die müssen nur ihr Kreuz in dem Tool machen und dann geht das an die nächste Person“. Mit diesen Worten schließt sich die Maske und wir wenden uns vom PC ab. (Beobachtung _27062023, Pos. 18-19)
                
In der dargestellten Episode überträgt Richard die zuvor aus dem Gespräch gesammelten Informationen in das digitale Artefakt. Er führt es in die Form zurück, die das Artefakt vorschreibt, um die Daten weiter zu prozessieren.
In seiner ursprünglichen Bedeutung verweist Übertragung „auf ‚Kluft‘, ‚Spaltung‘ oder ‚Differenz‘, auf ein Gefälle, das ein Übertragungsgeschehen auslöst“ (Laube 2018: 463). Eine Kluft besteht zwischen der vormals praktizierten Klassifikationspraxis, bei der die Werte manuell mit einem Stift eingetragen wurden, und der digitalen Artefakt-Eintragung. Die Differenz zeigt sich in der medialen Form der Informationen. Die umkreisten Wortfetzen (mittel, hoch, wenig etc.) erfahren eine Transformation zu diskreten Werten im Sinne von Daten. Hierin liegt eines der Spezifika der Analog/Digital-Differenz: Analoge Veränderungen verlaufen sanft und stetig, ohne Lücken, während digitale Zustände diskret sind (Haugeland 2004: 42). Haugeland beschreibt Schreib- und Lesevorgänge sowie das Zeichnen und Markieren von Artefakten als „Näherungsverfahren“ (ebd.), die in einem zweiten Schritt digitalisiert werden können. Ein Kreis kann beispielsweise in ein regelmäßiges Punktraster überführt werden. Die Transformation der Übertragung von Richard resultiert in einer Modifikation der Form, da die Nachbildung eines Kreises im digitalen Artefakt nicht erfolgt. Richard wählt festgelegte Antwortmöglichkeiten aus, die mit spezifischen Punktwerten verknüpft sind. Hier bedeutet Übertragung eine mediale Neuschöpfung. Die Punktzahlen sind im Ausdruck nicht enthalten, wodurch eine endgültige Berechnung des Entgeltsatzes erst digital durchgeführt werden kann. Die digitale Materialität umfasst diese Subface-Ebene, auf der Daten prozessiert und transportiert werden.
Während der Eintragung in das Artefakt stellt sich Richard als jemand dar, der eine ‚realistische‘ Entgelteinstufung subversiv unterwandert, indem er niemanden schlechter bewertet als in den Jahren zuvor. Die Regelabweichung dient nicht seinem eigenen Vorteil, er selbst trägt keinen Nutzen daraus, die Einstufung nicht ‚realistisch‘ auszuführen. In Richards Selbstdeutung lässt sich die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Umweltanforderungen erkennen, die an die Werkstätten herangetragen werden. In Werkstätten verbinden sich ökonomische Rationalität und Verwertungslogik mit dem Gedanken eines Schonraumes. Werksätten reproduzieren ökonomische Selektionskriterien, sind jedoch auch dazu verpflichtet, auf die Bedarfe der Personen einzugehen, die nicht in der Lage sind, „unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich“ (§ 43 SGB VI) zu arbeiten. Bezogen auf Max und andere Adressat:innen ergibt sich dadurch eine wiedersprüchliche Situation aus meritokratischer Norm – durch den»leistungsangemessenen Steigerungsbetrag« (§ 221 SGB IX) – und Exklusion vom Arbeitsmarkt.
Richards Selbstdeutung spiegelt diese Ambivalenz wider, indem er versucht, beiden Anforderungen gleichzeitig gerecht zu werden. Einerseits erfolgt eine Klassifikation von Max nach seinen tatsächlichen Leistungen. Andererseits wird von ihm eine Untergrenze zugrunde gelegt, um sicherzustellen, dass die Adressat:innen nicht unter ein bestimmtes Mindestmaß fallen. Dieses definierte Mindestmaß orientiert sich am Ergebnis des Vorjahres. Letztendlich können sich die Adressat:innen – zumindest im Sinne von Richards Klassifikationspraxis – nur verbessern, nicht verschlechtern.
Das Artefakt eröffnet einen Möglichkeitsraum, der plastisch und flexibel genug ist, um situative Interpretationen und Anwendungen zuzulassen. Die Vergleichskriterien sind abstrakt formuliert und müssen daher situativ ausgelegt werden. Gleichzeitig limitiert das digitale Artefakt durch die Vorgabe von Kategorien und einer Skala die Freiheit der Bewertung. Aufgrund seiner Flexibilität kann es von heterogenen menschlichen Partizipanten über Raum und Zeit genutzt werden. Boltanski und Thevenot (2007) weisen darauf hin, dass eine „zahlenmäßige Zunahme sich gegenseitig verstärkender hybrider Objekte und ihre Identifikation mit einer gemeinsamen Form“ (ebd.: 370) dazu beitragen kann, offene Praktiken wie die Klassifikationspraktik zu stabilisieren. Durch die Verknüpfung des Vorjahresberichts wird die offene Klassifizierungspraktik eingehegt. Dennoch bleibt genügend Spielraum, den Richard mit Hilfe seines praktischen Wissens um das Artefakt und um die normative Ordnung nutzen kann. Seine Regelabweichungen führen nicht zu Sanktionen, zumindest thematisiert er nichts dergleichen. Mit seinem Wissen kann er zusammen mit Max die Einstufung durchführen und ein positives oder zumindest gleichbleibendes Ergebnis erzielen. Allerdings hängt Max’ Klassifizierung vom Wissen und der situativen Anwendung der Mitarbeitenden ab. Je nach Mitarbeiter:in kann sich eine andere Art der Klassifizierung ergeben. Max’ Rolle ist auf eine passive Mitwirkung beschränkt. Obwohl sich der Modus der Klassifikation von dem der Fähigkeitenbeschreibung unterscheidet, zeichnet sich auch hier ein deutliches Ungleichgewicht zwischen Mitarbeiter und Adressat ab. Die in der Fähigkeitenbeschreibung dargestellte Ungleichheit manifestiert sich nicht in der Verräumlichungspraxis, da beide Seiten in gleichberechtigter Position angeordnet sind. Vielmehr ist sie im Kontext der Verfügung über das organisationale Know-how zu verorten. Richard obliegt es, die Eintragungen vorzunehmen, den Vergleichsmaßstab situativ anzupassen und die Werte schließlich in das digitale Artefakt zu übertragen. Zudem verfügt er über ein Wissen, inwieweit er von der normativen Ordnung abweichen kann, ohne Sanktionen befürchten zu müssen.
Das Artefakt trägt maßgeblich zur Praktik des Klassifizierens bei und ermöglicht zudem die Weiterleitung von Informationen an die nächsthöhere Hierarchieebene. Eine Besonderheit des digitalen Artefakts besteht darin, dass es nicht nur zur Klassifikation und Sammlung von Informationen dient, sondern auch zu deren Mobilisierung. Die Daten können unverzüglich prozessiert und übertragen werden, was aufgrund der digitalen Materialität beider Prozesse quasi zeitgleich möglich ist. Die Übertragung der Informationen in das digitale Artefakt initiiert den weiteren Prozess der Datenübertragung. Die Daten werden an die Leitungskräfte weitergeleitet, um die Bewertung zu unterzeichnen. Im Anschluss werden die Daten an die Personalabteilung und das Controlling weitergeleitet, um gegebenenfalls Anpassungen am Entgelt vorzunehmen. Über das digitale Artefakt findet eine Vernetzung von Gruppendienst, Leitungskräften, Controlling und Personalabteilung statt. Mit dem Artefakt zirkulieren Informationen in Sekundenbruchteilen über größere Entfernungen hinweg. Am Ende bleibt ein abstrakter Entgeltbetrag übrig, den die Personalabteilung an Max auszahlt. Die Operationskette endet mit der Auszahlung und beginnt im nächsten Jahr von vorne.

8.3 Zwischenfazit zu Klassifikationen

In einem in den STS einflussreich gewordenen Artikel fragt Suchman: „Do Categories have politics“ (1993). Sie lenkt dabei den Fokus auf die Frage der Kontrolle. „[C]ategorization devices are devices of social control involving contests between others’ claims to the territories inhabited by persons or activities and their own, internally administrered forms of organization“ (ebd.: 188). Es sind die umfangreichen Konsequenzen von Klassifikationen, die ihnen eine politische Dimension verleihen. „A ‚classification system‘ is a set of boxes (metaphorical or literal) into which things can be put to then do some kind of work-bureaucratic or knowledge-production“ (Bowker/Star 1999: 5). Klassifikationen schaffen Vergleichbarkeit zwischen Menschen, Gegenständen oder Phänomenen in Bezug auf bestimmte Eigenschaften (Timmermans et al. 1998). Sachverhalte können nur dann miteinander verglichen werden, wenn sie der gleichen Klasse angehören. Klassifikationen schaffen Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten. Unter den Blicken der Mitarbeitenden im Zusammenspiel mit den Grenzobjekten können die Adressat:innen als fähig oder unfähig erscheinen und damit in einzelne Merkmale zergliedert werden. Mit anderen Worten: Die Klassifikationspraktiken produzieren ihre Klassifikationsobjekte. Klassifikationen haben eine performative Wirkung, da sie etwas vergleichbar, sichtbar und kontrollierbar machen. Sie ordnen die Welt in räumlicher, zeitlicher und raum-zeitlicher Hinsicht und können als Segmentierung im Sinne von Bowker und Star verstanden werden (Bowker/Star 1999: 5). Timmermans et al. (1998) stellen fest, dass alles, was sichtbar ist, Gegenstand von Kontrolle und Überwachung sein kann. In Bezug auf die vorliegende Forschung können die Entgeltklassifikationen und die damit verbundenen Punkte als Mittel zur regelmäßigen Überwachung der Ergebnisse fungieren. Insgesamt konzentriert sich die vorliegende Forschung – wie von Bowker und Star vorgeschlagen – weniger auf ontologische Fragen – im Sinne eines ‚richtigen‘ Klassifizierens – als auf (politische) Implikationen.
Bei den untersuchten digitalen Artefakten zeigen sich ordinale Klassifikationen als vorherrschend. „Ordinale Klassifikationen bringen Sachverhalte entlang eines bestimmten Merkmals in eine Rangfolge“ (Barnard/Fourcade 2021: 118). Ordinale Klassifikationen ermöglichen einerseits eine Bewertung der qualitativen Eigenschaften eines Objekts. Andererseits setzen sie eine gemeinsame Metrik, das heißt eine Hierarchisierung der Klassifikationen voraus. „Im Gegensatz zur Nominalität (die Zuordnung zu einer Kategorie voraussetzt) und zur Kardinalität (die auf der Macht der Zahl beruht) bezieht Ordinalität ihre Legitimation aus ihrer demokratischen Semantik. Rankings versprechen Bewegung und Durchlässigkeit, die nominalen Klassifizierungssystemen abgehen“ (ebd.: 119). Rangfolgen implizieren, dass Menschen sich in einem fairen Wettbewerb befinden, indem sie mittels Anstrengung von einem Wert zum nächstbesseren wechseln können. Die untersuchten Artefakte generieren ebenfalls eine meritokratische Ordnung, die mit ihrer vermeintlichen Durchlässigkeit einhergeht. Die Skalen sind so ausgerichtet, dass sich Fähigkeiten oder Eigenschaften von einem Jahr zum nächsten ändern können.
Wie sich in der Praxis gezeigt hat, existierte die Durchlässigkeit nur in einer vermittelten Form. In der Fähigkeitenbeschreibung waren die klassifizierten Personen nicht anwesend, sodass ihnen keine Gelegenheit zur Äußerung gegeben wurde. Bei der Entgeltberechtigung zeigten sich Ungleichheiten in Form von organisationalem Know-how. Über alle Klassifikationspraktiken hinweg zeigt sich deutlich eine performative Differenz zwischen einem klassifizierenden und einem klassifizierten Partizipanten. Die klassifizierenden Partizipanten besitzen eine privilegierte Position, da sie über das spezifische Know-how mit und den Zugang zu den digitalen Artefakten verfügen. Diese Ressourcen ermöglichen es Ihnen, eine Klassifizierung der Personen vorzunehmen.
Neben der Ungleichheit und den Hierarchien in den Klassifikationspraktiken beinhalten solche Verfahren eine Reaktivität bei den Klassifizierten. Die Klassifizierten haben ihre Adressierung internalisiert und sich zum Teil selbst anhand von Leistungskategorien bewertet. „Measurement intervenes in the social worlds it depicts. Measures are reactive; they cause people to think and act differently“ (Espeland/Stevens 2008: 412). Klassifikationen sind insofern nicht einfach unterdrückend, sie bringen bestimmte Positionen hervor, die sich unter diesen ordinalen Klassifikationen selbst beobachten und bewerten. Ordinale Klassifikationen „can exert discipline on those they depict“ (ebd.: 414). Der in dieser Adressierung stattfindende Widerstand kann sich am Ende der Unterwerfung unter die ordinale Skala der Bewertung nicht entziehen. Das klassifizierte Individuum verhandelt eine bessere Einstufung auf Basis der Leistungskategorien. Dabei wird zum einen die Anrufung als leistungsfähig nicht verlassen und zum anderen muss diese jeweilige Einstufung erst durch das Nadelöhr aus Mitarbeiter:in und Artefakt hindurchgehen. Die Momente der Subversion, die sich in Abschnitt 8.2.2 gezeigt haben, scheiterten am Ende gegen die ungleiche Verteilung von organisationalem Know-how. Wie Bowker und Star (1999) es formulieren, beinhalten Klassifikationen „surfaces of resistances (where the real resists its definition), blocks against certain agendas, and smooth roads for others“ (ebd.: 324).
Die eingebundenen digitalen Grenzobjekte – Fähigkeitenbeschreibung und Entgelteinstufung – disponierten mit ihren Kategorien die Praktiken mit. Ihre Kategorien und entsprechenden Skalen brachten materielle Eigenschaften mit sich, aus denen in Relation zu den räumlichen Arrangements und den weiteren menschlichen wie nicht-menschlichen Partizipanten Affordanzen emergierten. Zu nennen sind hier strukturierende und kategorisierende Affordanzen, die in den Praktiken sichtbar wurden.
Doch jede Diagnose, die mit den analysierten Grenzobjekten durchgeführt werden können, haben interpretative-rekonstruktive und klassifikatorische Anteile. Die digitalen Artefakte zeigen sich in den Praktiken als flexibel, plastisch und je nach lokalem Setting siutativ anpassbar. Hintergrund ist, dass
„[n]o classification system, any more than any representation, may specify completely the wildness and complexity of what is represented. Therefore any prescription leaves some amount of discretionary space to the user, be it as small as in the most Taylorist factory or prison, or as large as the most privileged artists’ retreat“ (Timmermans et al. 1998: 204).
In dem Spannungsverhältnis aus Plastizität und Verfestigung liegt der besondere Charakter von digitalen Grenzobjekten und mit ihnen von Cyberinfrastrukturen. „Auch für eine Grenzinfrastruktur gilt die praxistheoretische Einsicht, dass die Nutzung darüber entscheidet, wann ein soziotechnisches Ensemble ‚boundary‘ wird“ (Gießmann/Taha 2017: 43). Die Fähigkeitenbeschreibung ist ein relativ stabiles Objekt, bei dem es weder residuale Kategorien noch Ermessungsspielräume bei der ordinalen Skala gibt. Während die Kategorien in der Fähigkeitenbeschreibung eindeutig formuliert sind, bleiben sie im Entgeltinstrument abstrakt. Zusätzlich bleiben die Vergleichskriterien abstrakt. Die Eingebundenheit in weitere Praktiken sowie die Konsequenzen unterscheiden sich bei beiden Grenzobjekten deutlich. Die Fähigkeitenbeschreibung spielt lediglich eine untergeordnete Rolle bei der Teilhabeplanung. Im Gegensatz dazu hat die Entgelteinstufung mit ihrem aggregierten Punktewert materielle Auswirkungen auf die Adressat:innen.
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Fußnoten
1
Diese Informationen teilten mir diverse Mitarbeitenden auf informelle Nachfrage während meiner Beobachtungen mit.
 
2
Auf die komparative Analyse soll dieser Stelle verzichtet werden, da selbst nach umfangreicher Recherche keine vergleichbaren Beschreibungen im Rahmen von WfbM gefunden werden konnte. Es gibt zwar andere nicht-behinderungsspezifische Fähigkeitenbeschreibungen, sie taugen jedoch nicht dazu, die Tragfähigkeit der Interpretationen zu überprüfen.
 
3
Dafür sprechen die Punkte am Rand der einzelnen Subkategorien. Ein digitales Artefakt würde auf die Punkte verzichten und sie automatisch zusammenrechnen. Allerdings lässt sich nicht abschließend sagen, dass das Vergleichsartefakt digital vorliegt oder sogar eine Einbindung in eine digitale Infrastruktur ist und dadurch ein Zugang und die spezifische Kompetenz im Umgang mit dem Artefakt vorhanden sein muss.
 
Metadaten
Titel
Klassifikationen
verfasst von
Konstantin Rink
Copyright-Jahr
2025
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-47994-7_8

    Marktübersichten

    Die im Laufe eines Jahres in der „adhäsion“ veröffentlichten Marktübersichten helfen Anwendern verschiedenster Branchen, sich einen gezielten Überblick über Lieferantenangebote zu verschaffen.