Die Erfindung des universellen Komputers hat für die Naturwissenschaft insgesamt eine völlig neue Welt eröffnet, in der eine neue Naturwissenschaft entstanden ist, die vor allem von der Künstlichen Intelligenz (KI) als Disziplin repräsentiert wird. In dieser Arbeit wird sie inhaltlich genauer als Theoriebildung über repräsentierende Objekte (ROBs) charakterisiert, welche sich umfassend nur mit Komputern experimentell überprüfen läßt. Dies wird an unterschiedlichsten Beispielen illustriert, herausragende Aspekte ihrer historischen Entwicklung in den letzten hundert Jahren werden aufgezeigt und ihr aktueller Status wird problematisiert.
Hinweise
Der Autor verwendet konsequent auch Regeln aus der vorangegangenen deutschen Rechtschreibung und hat die Redaktion um Tolerierung dieser schriftstellerischen Einstellung gebeten. Er teilt die Überzeugung, beispielsweise des inzwischen verstorbenen Bundespräsidenten Roman Herzog dahingehend, dass die – seinerzeit gegen erhebliche inhaltliche Vorbehalte durchgesetzte – „Reform“ bzgl. dieser Regeln sprach- und kognitionswissenschaftlich als Fehlentscheidung zu beurteilen ist.
Hinweis des Verlags
Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Einleitung
Die Informationstechnologie (IT) prägt die Entwicklung der Weltgesellschaft in einem vergleichsweise noch nie erfahrenen Ausmaß und dies seit Jahrzehnten. Einen stark wachsenden Anteil an dieser Entwicklung hat die KI-Technologie (KIT), die aus den Erkenntnissen der naturwissenschaftlichen Disziplin der Künstlichen Intelligenz (KID) hervorgeht.1 Im Gefolge wächst in weiten Teilen der Gesellschaft das Bedürfnis nach einem breiteren und tieferen Verständnis dieser Disziplin und der aus ihr hervorgehenden Technologie.
Jede Naturwissenschaft baut auf dem in ihr über lange Zeiträume erarbeiteten und angesammelten Wissen auf. Ein tieferes Verständnis ihrer längerfristigen Entwicklung erfordert daher neben dem Studium ihrer Inhalte auch einen ausreichenden Überblick über ihre historische Entwicklung. Zu einem solchen wissenschaftshistorischen Überblick über die Geschichte der KID möchte der vorliegende Text beitragen.
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Geschichtsschreibung mit entsprechendem Anspruch ist ein extrem schwieriges Unterfangen. Denn sie versucht, das von Personen und deren Vorstellungen geprägte Geschehen zu einem Zeitpunkt nachzuvollziehen, an dem diese Personen selbst nicht mehr zu Rate gezogen werden können. Man ist infolgedessen dabei auf tradierte Dokumente, Erinnerungen etc. angewiesen, um daraus auf ein gewisses Verständnis des vergangenen Geschehens schließen zu können. Bis heute steht für ein solches Unterfangen kein naturwissenschaftlich fundiertes Verfahren zur Verfügung. Geschichtsschreibung ist daher zu einem beachtlichen Teil spekulative Interpretation geblieben, die unvermeidbar von den Vorstellungen des Schreibers gefärbt ist.
Unter diesem Vorbehalt soll in dieser Arbeit die Geschichte der KID unter bestimmten Aspekten skizziert werden. Der Blick wird dabei auf die letzten 100 Jahre dieser Entwicklung gerichtet, wobei dieser Zeitraum nur zur Orientierung in 4 Zeitabschnitte grob unterteilt wird, denen dann die 4 nachfolgenden Abschnitte der Arbeit entsprechen: 1920–1930, 1930–1950, 1950–1970 und 1970 bis heute. Der Autor hat den letzten dieser Zeitabschnitte hautnah miterleben dürfen. Er hatte in dieser Zeit aber auch – teilweise engeren – Kontakt zu Personen, die die beiden vorangehenden Abschnitte mitgeprägt hatten, und von diesen auch das eine oder andere über den erstgenannten Abschnitt mitgeteilt bekommen. Überdies gründen meine Einschätzungen auf der angegebenen Literatur.
Einer der spezifischen Aspekte dieser Arbeit besteht in der zentralen Rolle, die die Erfindung des universellen Komputers für das Aufkeimen einer neuen Naturwissenschaft gespielt hat, innerhalb derer die KID eine führende Rolle spielt. Umfang und Strukturen dieser Wissenschaft sind bis heute aber nur inhaltlich sichtbar. Auch wurde sie bis heute nicht mit einem angemessenen Namen bedacht. In diesem Kontext wird dann im Abschnitt „Vorahnungen der neuen Naturwissenschaft“ auch erklärt, was – ausführlicher formuliert – der Titel der Arbeit zum Ausdruck bringen will.
Die Ausgangslage
In diesem Abschnitt skizzieren wir den einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand des dritten Jahrzehnts im vorigen Jahrhundert (1920–1930) vor allem auch mit dem Ziel, die aus heutiger Sicht damals noch bestehende gravierende naturwissenschaftliche Erkenntnislücke klar vor Augen zu führen.
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Zu jener Zeit erfreute sich die Physik einer besonderen Blüte und galt allgemein als beispielhaft und vorbildlich für alle damaligen Naturwissenschaften (die jeweils bereits auf eine lange, hier aber nicht weiter berücksichtigte Geschichte zurückblicken konnten). Auf der Grundlage des von Niels Bohr entworfenen Atommodells [12] entwickelte beispielsweise Werner Heisenberg die Quantenmechanik2 [20] und, unabhängig davon aber mit gleicher Zielsetzung, Erwin Schrödinger die im Vergleich völlig andersartige Wellenmechanik [31], um die auf der Ebene von Atomen beobachteten Phänomene naturwissenschaftlich zu erklären.3
Gemessen an dem weit fortgeschrittenen Stand der Physik waren in der Biologie grundlegende Fragen damals noch völlig unbeantwortet. So waren beispielsweise zwar die Mendelschen Vererbungsregeln ebenso wie die Zelltheorie bereits etabliert; genauere Vorstellungen von den Zellen (Struktur, Zellteilung, Vererbung usw.) mußten aber noch auf spätere Entdeckungen warten [44]. Auch bei vielen anderen natürlichen Phänomenen mußte man sich auf äußere Beobachtungen, daraus resultierende Klassifikationen und dgl. beschränken.
Vor allem fehlte damals jegliches tiefere Verständnis für alle natürlichen Phänomene, die sich der Beobachtung mit unseren Sinnen völlig entziehen. Wählen wir aus der unermeßlichen Fülle solcher Phänomene zur ersten Illustration ein Beispiel der Kommunikation. Wie vom Nobelpreisträger für Physiologie Karl Ritter von Frisch ab 1920 erforscht, teilen Bienen ihren Stockgenossinnen Informationen über Richtung, Entfernung und Ergiebigkeit einer Futterquelle in Form eines Schwänzeltanzes mit [36]. Zwar können wir mit unseren Sinnen die Tanzbewegungen sehen und Lautsignale hören, die damit überbrachten Informationen, also der eigentlich intendierte Gegenstand der Beobachtung, sind mit keinem unserer Sinnesorgane erkennbar: Informationen kann man nicht sehen, hören, riechen, schmecken oder tasten.
Was hier beispielhaft für Informationen illustriert wurde, gilt genauso für Sprachen allgemein, für Gefühle, Erinnerungen, Vorstellungen, für alle geistigen Leistungen wie Planen, Verhandeln, Wirtschaften, Denken, Erkennen, Schließen, Mathematik, naturwissenschaftliche Theorien und unzähliges Weiteres mehr. Die Objekte der Beobachtung in all diesen Bereichen sind sinnlich nicht erfaßbar. Im Gefolge war am Beginn des letzten Jahrhunderts keiner dieser Bereiche einer naturwissenschaftlichen Erforschung zugänglich.
Was genau versteht man generell unter einer Naturwissenschaft? Sie fokussiert auf bestimmte Objekte der Beobachtung (OBs), wie der Materie und Energie samt deren Ausprägungen im physikalischen Weltenraum im Falle der Physik. Bezüglich deren Eigenschaften, Verhalten etc. postuliert sie formal präzise Theorien, beispielsweise in Form mathematischer Gleichungen. Solche Theorien werden experimentell verifiziert. Der Dreiklang OBs, Theorien und Experimente in dem beschriebenen Sinne charakterisiert jede Naturwissenschaft (und grenzt sie von anderen Disziplinen, wie etwa den traditionellen Geisteswissenschaften, ab).
Nehmen wir zur Illustration von einer bestimmten Pflanze an, sie weise bei allen beobachteten Instanzen 3 Blütenblätter auf. Dann postuliert die Naturwissenschaft der Botanik (oder allgemeiner der Biologie) die Theorie, daß die Anzahl der Blütenblätter dieser Pflanze immer 3 ist; formal etwa #(Bb,P) = 3. Diese Gleichung ist dann Teil der Theorie der Botanik. Sie läßt sich experimentell von jedermann verifizieren und hat solange Bestand, bis solche Experimente sie ggf. als unzutreffend widerlegen.
Eine solche Gleichung verknüpft abstrahierte Repräsentanten von beobachtbaren Objekten in dieser Welt, beobachtbar mit unseren Sinnen. Auch die Zahl 3 ist ein solches repräsentierendes Objekt, denn es repräsentiert eine bestimmte Eigenschaft jedes Objekts aus der Menge aller aus drei Teilobjekten bestehenden Mengen (beispielsweise der Menge bestehend aus Daumen, Zeige- und Mittelfinger meiner rechten Hand). Während eine gegebene derartige Dreiermenge (etwa von Fingern) beobachtbar ist, kann man die 3 als solche – wie alles in der Mathematik – mit unseren Sinnen nicht beobachten. Jedoch können wir auch ein solches Objekt zum Gegenstand der Untersuchung machen. Um eine Bezeichnung dafür zu haben, will ich hier von einem repräsentierenden Objekt, kurz einem ROB sprechen.4
Die Theorie einer Naturwissenschaft besteht demnach aus derartigen ROBs (#(Bb,P) = 3 im Falle der obigen Gleichung), die nach mathematisch präzisen Regeln mit definierten Bedeutungen aus ROBs (im Beispiel aus den konstitutiven Elementen #(_,_), Bb, P, _ = _, 3)5 gebildet sind. Sie beziehen sich auf bestimmte Aspekte der beobachtbaren Welt und diese ROB/Welt-Beziehung ist wiederum präzise festgelegt, wie es die Gleichung illustriert. Solche ROBs repräsentieren, idealisieren, modellieren, symbolisieren, wie immer man es auch bezeichnen möchte. Mit dem Begriff von ROBs versuchen wir hier also eine riesige Klasse von Phänomenen in unserer Welt zu umreißen, die sich der naturwissenschaftlichen Behandlung durch die bisherigen Naturwissenschaften entzogen haben, eben weil sie mit unseren Sinnen unmittelbar nicht wahrnehmbar, gleichwohl unzweifelhaft existent sind.6
Der Schwänzeltanz der Bienen bildet selbst ein solches ROB,7 steht also auf der gleichen epistemologischen Ebene wie diese Gleichung. Das Gleiche gilt für alle oben gelisteten weiteren Phänomene dieser Art. Für ROBs gab es in den 1920er-Jahren keine umfassende naturwissenschaftliche Methodik der beschriebenen Art, weil sich ROBs jeglichen Experimenten entzogen. Auf diese riesige Lücke in den damals möglichen naturwissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten sollten diese Ausführungen nachdrücklich aufmerksam machen, wird sie doch im nächsten Abschnitt eine entscheidende Rolle spielen.
Die theoretischen Grundlagen für das Schließen dieser Erkenntnislücke waren damals jedoch bereits weit vorangeschritten. Angesichts des formalen Charakters von ROBs ist es wenig verwunderlich, daß diese Grundlagen in der Mathematik sowie in der Logik erarbeitet wurden. Der Logik – ihrer Natur nach eine Meta-Mathematik8 – kommt in diesem Zusammenhang eine herausragende Bedeutung zu. Denn Theorien über (und Experimente auf) ROBs lassen sich naturgemäß nur auf einer Ebene oberhalb der ROBs, also oberhalb der Mathematik, d. h. in der Meta-Mathematik, sprich der Logik gestalten (wo dann Meta-ROBs eine Rolle spielen werden). Glücklicherweise hatte die Logik im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts einen wahrhaft fulminanten Aufschwung genommen und so entscheidend den Boden für die revolutionären Entwicklungen der nächsten 2 Jahrzehnte bereitet, die Gegenstand des folgenden Abschnitts sind.
Die Erfindung des universellen Komputers
Wir richten den Blick in diesem Abschnitt nun auf das dritte und vierte Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts. In dieser Zeitspanne konnten wahrhaft revolutionäre wissenschaftliche Fortschritte erzielt werden, allen voran die Erfindung des universellen Komputers.
Die Geschichte dieser Erfindung ist in der Literatur inzwischen bestens dokumentiert [13]. Gleichwohl hält sich (vor allem in den angelsächsischen Ländern) hartnäckig eine historisch unzutreffende Vorstellung der tatsächlichen Beiträge. Denn die Priorität des ersten funktionsfähigen Komputers gebührt eindeutig Konrad Zuse, der seine Z3 am 12.05.1941 in Berlin vorführte. Parallel dazu reichte er am 16.07.1941 unter dem Aktenzeichen Z 26476 eine Patentschrift „Rechenvorrichtung“ ein, die dann erst nach dem Krieg unter dem Aktenzeichen Z 391 vom Patentamt bekanntgemacht und nach insgesamt 26 Jahren „mangels Erfindungshöhe“ (!) schließlich abschlägig entschieden wurde.
Es ist hier wie auch bei anderen Erfindungen tatsächlich so, daß an verschiedenen Orten und von verschiedenen Personen am Bau von Komputern gearbeitet wurde, die mit Ausnahme der Z3 dann aber erst nach 1941 fertiggestellt wurden. Erwähnt seien als Beispiele die Colossus Mark 1 von Tommy Flowers am General Post Office in England (1943), die Mark I von Howard Aiken an der Harvard University (1944), die ENIAC von J. Presper Eckert und John W. Mauchly an der Moore School der University of Philadelphia (1945), die Pilot ACE von Alan Turing und James H. Wilkinson am National Physical Laboratory in England (1950) und die IAS Maschine von John von Neumann am Institute for Advanced Studies in Princeton (1952).
Da es Rechenmaschinen natürlich schon vor 1941 gab, stellt sich die Frage, was die genannten Maschinen im Vergleich mit ihren Vorgängern besonders auszeichnete. Frühere Rechenmaschinen, wie beispielsweise diejenigen von Wilhelm Schickard oder Gottfried Wilhelm Leibniz aus dem 17. Jahrhundert beherrschten in der Regel die 4 arithmetischen Grundrechenarten; mit anderen Worten, sie konnten genau 4 Funktionen berechnen. Tatsächlich gilt für alle Rechenmaschinen vor 1940 eine solche Beschränkung auf die Berechnung weniger, in jedem Fall endlich vieler Funktionen. Genau in dieser Beschränkung liegt der entscheidende Unterschied: universelle Rechenmaschinen bzw. Komputer können grundsätzlich alle überhaupt berechenbaren Funktionen berechnen und das sind unendlich viele. Das ist ein wahrhaftig revolutionärer Sprung von einem in der Wissenschaftsgeschichte extrem seltenen Ausmaß und mit unvorstellbaren Auswirkungen. Wie ist er in derart kurzer Zeit möglich geworden?
Wie bereits am Ende des letzten Abschnitts angedeutet, wurden die entscheidenden Voraussetzungen für diesen Sprung durch die Logik bereitgestellt. Vor allem in ihr wurden die 3 grundlegenden Ingredienzien Formalisierung (ROBs), Kalkülisierung (Berechnung) und Universalität in Richtung auf die Komputerentwicklung erarbeitet. Formalisierung ist seit Jahrtausenden in der Mathematik beheimatet und erreichte ihren Höhepunkt in der Logik mit Freges Begriffsschrift [18]. Auch das Rechnen, vor allem das arithmetische Rechnen hat eine Jahrtausende lange Tradition in der Mathematik. In dieser arithmetischen Ausprägung war es seit Leibniz Vorbild auch für die Logik; so findet sich in Freges Buchtitel ausdrücklich „… eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache“. Die Logik zielte aber letztlich und von Anfang an auf einen viel umfassenderen, eben auf einen quasi universellen Kalkül. Diese Zielsetzung wurde mit den prädikatenlogischen Kalkülvarianten dann auch erreicht, die beispielsweise in [22] dargelegt sind. Details zu dieser historischen Entwicklung sind in [10] erörtert, weshalb wir hier nicht nochmals weiter darauf eingehen wollen. Hier interessiert vor allem, in welchem Sinne die Prädikatenlogik (PL) als universell bezeichnet werden kann.
Schon oben haben wir festgestellt, daß Komputer grundsätzlich alle berechenbaren Funktionen berechnen können und in diesem Sinne universell genannt werden. In Lehrbüchern der Logik wie dem soeben erwähnten Klassiker wird dargestellt, daß jede Funktion im Formalismus der PL dargestellt werden kann. Auch kann die Berechnung einer solchen Funktion als Ableitung im Kalkül der PL modelliert werden. Also ist die PL universell in genau diesem Sinne der Modellierung. Am Beginn des dritten Jahrzehnts des letzten Jahrhunderts stand also bereits ein universeller Kalkül beispielhaft zur Verfügung.
Genau in diesem von der Logik bereitgestellten Kontext wies Gödel dann 1930 nach, daß es grundsätzliche Grenzen der Beweisbarkeit und damit auch der Berechenbarkeit gibt [19]. Zudem führte er in dieser Arbeit die formale Technik der Gödelisierung ein; danach konnten auch nichtnumerische Formalismen mit Zahlen repräsentiert werden, was in der Komputertechnik und vor allem auch in der KI umfangreiche Anwendungen fand. Im gleichen Kontext haben Alonzo Church die sogenannte Churchsche These aufgestellt [15] und Alan Turing seine Turing-Maschine samt einer universellen Turing-Maschine erfunden [37].
Aber auch Zuse machte sich um das Jahr 1936 mit diesem Kontext vertraut: „Also studierte ich Hilbert-Ackermann, Frege, Schröder und andere bekannte Logiker“ [46, S. 69, 94]. Für die anderen oben in diesem Abschnitt genannten Komputerentwickler galt diese Vertrautheit mit dieser logischen Basis in gleicher Weise. Kurz, es bestätigt sich nicht nur inhaltlich, sondern auch wissenschaftshistorisch, daß die Erfindung des Komputers entscheidend durch die vorausgegangenen Ergebnisse in der Logik ausgelöst wurde [17].
Am Beginn der in diesem Abschnitt fokussierten Zeitperiode war das Zentrum dieses Entwicklungshöhepunkts Göttingen: „By 1920, there was no mathematics department in the world to rival that of Göttingen“ [1, S. 20]. Persönlichkeiten, die in dieser Periode herausragende Beiträge zu der hier dargestellten Entwicklung leisteten, waren in der einen oder anderen Weise mit diesem Ort und dort vor allem mit Hilbert, „the most influential mathematician of the early twentieth century“ [1, S. 19], verbunden. Darunter sind Kurt Gödel, Alan Turing, John von Neumann, Norbert Wiener und viele andere. Die Hilbert-Schule hat darüber hinaus indirekt viele weitere beeinflußt, nicht zuletzt die vielen weiteren Personen, die an der Geburt des neuen Komputerzeitalters aktiv mitgewirkt haben.
Beiläufig sei die folgende historisch bedeutsame Begebenheit erwähnt. Die Nationalsozialisten haben nach ihrer Machtübernahme bekanntlich viele Hochschullehrer vertrieben, wofür der damalige Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, verantwortlich zeichnete. 1934 nahm dieser an einem Bankett in Göttingen teil, bei dem er Hilbert fragte, ob es wahr sei, daß die Mathematik unter der Entfernung der Juden gelitten habe. „Gelitten?“ antwortete Hilbert. „Nein, sie hat nicht gelitten, Herr Minister. Sie existiert einfach nicht mehr“ [1, S. 64]. Hilberts Feststellung ist deshalb bedeutsam, weil sie zu einem Gutteil erklärt, warum sich – ungeachtet der großartigen Zuseschen Beiträge – die dominierende Entwicklung der Komputertechnik und der KI in dieser und der nächsten Periode weitestgehend nicht in Deutschland abgespielt hat.
Vorahnungen der neuen Naturwissenschaft
Am Beispiel des Schwänzeltanzes der Bienen haben wir im vorausgehenden Abschnitt festgestellt, daß es in den 1920er-Jahren keine umfassende naturwissenschaftliche Methodik zur Erforschung dieses und unzähliger anderer Phänomene in der Welt gegeben hat, weil es sich dabei um repräsentierende Objekte der Beobachtung (ROBs) und nicht um mit unseren Sinnesorganen beobachtbare Objekte (OBs) selbst handelt. Theorien über ROBs können, wie dort ausgeführt, experimentell nur in Form einer Modellierung durch Meta-ROBs überprüft werden. Da ROBs beliebig komplizierte Funktionen darstellen, ist hierzu ein Modellierungsgerät erforderlich, das solche Funktionen darstellen kann. Im ersten Teil dieses Abschnitts haben wir nun gesehen, daß der um 1940 herum neuerfundene universelle Komputer genau auch hierzu in der Lage ist und mit seiner Erfindung die dort beschriebene Lücke geschlossen werden kann. In diesem Sinne ist auch der Titel dieser Arbeit zu verstehen: Durch die Erfindung des Komputers wird die bislang fehlende und entscheidende Voraussetzung für eine neue Naturwissenschaft geschaffen, die die beschriebene große Lücke schließt.
Alle großen Geister, die bei der Erfindung des Komputers involviert waren, wie Zuse, von Neumann, Turing usw., waren sich dieser seiner Bedeutung voll bewußt. Sie alle haben sich daher sofort konkretere Gedanken darüber gemacht, was nun alles mit diesem neuen Instrument untersucht und modelliert werden kann.
Allen voran hat sich von Neumann, der – von Hilbert gefördert – ja an den Entwicklungen der Logik und deren universellen Kalkülen hautnah beteiligt war und daher diese Erfindung vorausahnen konnte, schon in den 1920er-Jahren Gedanken über diejenigen ROBs gemacht, die wir als Gesellschaftsspiele (Dame, Schach usw.) bezeichnen. In seiner Arbeit [40] finden sich die ersten theoretischen Grundlagen der Spieltheorie, wie beispielsweise das MiniMax-Verfahren, das von einem Komputer bei der Modellierung eines solchen Spiels angewandt werden kann [30].9
Spiele sind ROBs, können aber als sehr vereinfachte Modelle des menschlichen Wirtschaftens und Handelns, das ja selbst ein ROB darstellt, auch als Meta-ROBs verstanden werden. Deshalb waren nach der Erfindung der Komputer, also der zum Experimentieren auf der Meta-ROB-Ebene allein verfügbaren Geräte, Spiele ein besonders beliebtes Feld solchen Experimentierens in der neuen Naturwissenschaft. Zuse war mit von Neumanns Arbeit zumindest oberflächlich vertraut und hat sich 1945 intensiv mit der symbolischen Programmierung von Schach auseinandergesetzt [46, S. 116–126], auch wenn aufgrund der Umstände der unmittelbaren Nachkriegszeit ihm das Experimentieren selbst nicht möglich war. Leider hat er darüber – über Archivalien im Zuse-Archiv hinaus – damals nichts veröffentlicht.10 So stammt die erste Publikation zur Schachprogrammierung dann von Claude Shannon [33].
Die großen Komputerpioniere haben von Anfang an auch erkannt, daß mit ihrer Erfindung offensichtlich eine Analogie zum Gehirn geschaffen war, denn beide ermöglichen die Verarbeitung von ROBs auf der Meta-ROB-Ebene. So publizierten Warren McCulloch und Walter Pitts schon 1943 ein den Logikkalkülen nachempfundenes Modell – also ein ROB – für Neuronen im Gehirn [28]. Am klarsten ist die Analogie in von Neumanns Buch [42] herausgearbeitet worden, dessen grundlegende Ideen bereits in Vorträgen der 1940er-Jahre von ihm präsentiert wurden, wie z. B. auf dem Hixon Symposium on Cerebral Mechanisms in Behavior vom September 1948 am Caltech in Pasadena [41]. Auf diesem Symposium hielt auch der Psychologe Karl Lashley (1890–1958) einen Vortrag, der als grundlegend für die heutigen Kognitionswissenschaften gilt [29, S. 55], die sich der naturwissenschaftlichen Methodik in dem hier beschriebenen Sinne verpflichtet haben und daher Teil der neuen Naturwissenschaft sind. Beiläufig sei erwähnt, dass es von Zuse Tagebuchnotizen gibt, in denen auch er sich Gedanken über die Analogie Gehirn/Komputer macht, beispielsweise eine bereits vom 20.06.1937 [46, S. 66ff].
Alle Wissenschaften sind Gebilde des menschlichen Geistes. Deshalb ist es aufgrund dieser Analogie nicht verwunderlich, daß die neue Naturwissenschaft für Probleme aus allen anderen Wissenschaften mit ihren Methoden Lösungen verspricht, wann immer diese ROBs beinhalten. Im Falle der Biologie haben wir das bereits mit dem Bienentanz illustriert. Ein Verständnis der Zellteilung und Vererbung sind weitere biologische Problemstellungen, für die damals bislang kein Lösungsansatz gefunden werden konnte, weil ROBs dabei entscheidend beteiligt sind. Schon 1948 „… von Neumann had laid out the theoretical underpinnings of molecular biology by identifying the essential steps required for an entity to make a copy of itself“ [1, S. 230]. Das war also 5 Jahre vor (!) der Entdeckung der DNA durch James Watson und Francis Crick, die durch von Neumanns Arbeit, veröffentlicht später in [14], stark beeinflußt war: Durch die neue Naturwissenschaft werden also bislang ungelöste Probleme lösbar. Wiederum beiläufig erwähnt sei, daß auch Zuse um die gleiche Zeit über selbst reproduzierende Systeme spekulierte [46, S. 140–143].
So schießen am Ende der 1940er-Jahre die Ansätze zu – aber auch Spekulationen über – all diese neuen Möglichkeiten ins Kraut. Neben den bereits genannten seien noch erwähnt die automatische Übersetzung von Sprachen, das Lernen, die neue Theorie über analoge Rückkopplungen, die unter der Bezeichnung „Kybernetik“ weltweit Anklang fand [43], Operations Research [1, S. 188], Linear Programming [1, S. 191] und nicht zuletzt Turings Charakterisierung von maschineller Intelligenz [38].
Zuse hat sich in jener Zeit als wohl weltweit erster auch mit dem Automatischen Beweisen (ATP) beschäftigt, Programme im Plankalkül dazu formuliert (die aus den genannten Gründen nie implementiert wurden), darüber auch publiziert [45] und die Ergebnisse in Patenten eingearbeitet [11, S. 731]. Mathematische Theoreme sind ROBs und die Tätigkeit des Beweisens erfolgt daher auf der Meta-ROB-Ebene, also wieder ein naheliegendes Experimentierfeld für die einzigen hierfür verfügbaren Geräte, d. h. für Komputer.
Die Begründung der Künstlichen Intelligenz als Disziplin
„The emergence of artificial intelligence as a full-fledged field of research coincided with (and was launched by) three important meetings – one in 1955, one in 1956, and one in 1958“ [29, S. 55]. Es war vor allem das Summer Research Project on Artificial Intelligence, das 1956 am Dartmouth College, New Hampshire, stattfand und als das eigentliche Gründungsereignis der AI bzw. KID angesehen wird. Sein Hauptinitiator war John McCarthy (1927–2011), der schon die Federführung bei der Antragstellung innehatte. Neben ihm fungierten Marvin L. Minsky, Nathaniel Rochester und Claude E. Shannon als Ko-Antragsteller.
McCarthy hatte am Caltech, Pasadena, 1948 seinen Bachelor in Mathematik vollendet, nahm am Hixon Symposium teil (siehe vorherigen Abschnitt) und hörte dort vor allem den von Neumannschen Vortrag, der ihn entscheidend in Richtung „denkende Maschinen“ beeinflußte. Unter diesem Einfluß ging er nach seinem Master-Abschluß am Caltech dann zur Promotion auch nach Princeton, wo er sich mit den Vorstellungen der neuen Naturwissenschaft vertraut machen konnte.
Wie McCarthy dem Autor in einem persönlichen Gespräch mitteilte, war von ihm das „Artificial Intelligence“ (AI) im Projekttitel damals als Gegenstand der Projektforschung und nicht als Name für eine entstehende Disziplin gedacht.11 Ein vorausgegangener, aber enttäuschender Versuch mit dem Begriff „Automat“ [34] führte ihn schließlich zur Verwendung von AI im Titel. Die an dem Projekt Beteiligten trugen ihre gemeinsame Begeisterung für die neue Disziplin im Anschluß in ihre Universitäten, wo im Gefolge AI Institute gegründet wurden (z. B. MIT, CMU, Stanford, SRI, Edinburgh). Sie wählten kurzerhand AI als deren Bezeichnung, sodaß sich so AI auch als Name für die Disziplin dauerhaft bis heute etablierte.12
Die Geschichte dieser Etablierung in den in diesem Abschnitt fokussierten Jahrzehnten 1950–1970 in den angelsächsischen Ländern ist vor allem in dem zitierten Buch von Nilsson ausführlich dargelegt. Der Abschn. 4 in [6] enthält dazu aus europäischer Sicht und der Abschn. 2 in [4] sowie die Arbeit [10] aus deutscher Sicht eine Reihe von Ergänzungen. Auf Einzelheiten wollen wir daher hier – mit Ausnahme der folgenden allgemeinen Feststellung – nicht weiter eingehen.
Die KID ist somit in den angelsächsischen Ländern begründet und bis etwa 1970 so gut wie ausschließlich dort als Disziplin vorangetrieben worden. Die verstreut aktiven KI-Forscher in Deutschland haben in diesem Zeitraum nicht zueinander gefunden und jeweils ein Inseldasein geführt.13 In dieser zersplitterten Form hat die KID in Deutschland daher auch keinerlei Unterstützung und Widerhall erfahren können. „Die Sache verpuffte jedoch völlig“ beschrieb Zuse die Situation zutreffend und mit spürbarer Enttäuschung [46, S. 164f]. Der einzelne auf sich allein gestellte Forscher bleibt immer ein Rufer in der Wüste; nur im Verein und im Austausch mit einer kritischen Masse an Gleichgesinnten – wie den Teilnehmern in Dartmouth – findet das Neue seinen Weg in die Welt.
Zum Status der neuen Naturwissenschaft
Die Etablierung der KID in Deutschland wurde von einem Treffen am 18.02.1975 in Bonn ausgelöst, bei dem sich eine Gruppe Gleichgesinnter in ausreichender Anzahl zusammenfand. Alle Beteiligten waren in ihrer vorausgegangenen wissenschaftlichen Arbeit entscheidend von den Ergebnissen beeinflußt, die ihnen aus den angelsächsischen Ländern bekannt geworden waren, während an KID-relevante Vorarbeiten aus dem deutschsprachigen Raum so gut wie nicht angeknüpft wurde.
Seither hat sich die KI sowohl als Disziplin wie auch als Technologie hierzulande bestens entwickelt, dabei aber immer die weiterhin führende Entwicklung in den USA nacheifernd mit im Auge behalten. Die Details hierzu sind in den Abschn. 3 und 4 in [4] sowie in [10] ausführlich dargelegt, sodaß dem in diesem Kontext aus historischer Sicht nichts mehr weiter hinzuzufügen ist. Überdies ist Einschlägiges in den jeweiligen Abschnitten sowohl meiner Memoiren [7] als auch der Beschreibung meines Weltbildes [3] zu finden. Die Geschichte des automatischen Beweisens (ATP) als Teilgebiet der KI ist für den Autor von besonderem Interesse, weil es sich dabei um sein engeres Forschungsgebiet handelt. Da auch hierfür bereits einschlägige Arbeiten unter [5] – bzw. für neueste Entwicklungen im Abschn. 3 in [11] – vorliegen, erübrigt sich auch hierzu eine weitere Erörterung.
Weltweit – und im Gefolge auch in Deutschland – ist die KI-Technologie (KIT) seit einer Reihe von Jahren als führende und gesellschaftsprägende Technologie nun voll und ganz anerkannt, allerorten viel diskutiert und wird finanziell massiv unterstützt; sie wird hierzulande vor allem auch wegen ihrer Bedeutung als Wirtschaftsfaktor geschätzt. KI als Naturwissenschaft wird im öffentlichen Diskurs dabei völlig ausgeblendet. Das ist analog gesehen so, als ob man unter der Physik nur deren technologische Anwendungen, wie beispielsweise in Form von Atomkraftwerken, verstehen würde. Diese schiefe Betrachtungsweise hat dann zur Folge, daß Menschen Unbehagen für „die KI“ empfinden, obwohl sie damit vage ja nur an einzelne KI-Systeme und deren als beängstigend eingeschätzte Anwendungsmöglichkeiten denken. Wiederum analog gesehen, müßten die gleichen Personen auch Unbehagen für „die Physik“ empfinden, auch wenn sie vage dabei nur an Möglichkeiten wie der eines Atombombeneinsatzes denken. Die KID-Forscher verdienen jedoch genauso unbehagen-freien Respekt und Anerkennung wie die – beispielsweise in CERN tätigen – Physiker.
Vor diesem Hintergrund ist der nachdrückliche Hinweis in der vorliegenden Arbeit auf KI als Disziplin und als wesentlicher Teil einer neuen Naturwissenschaft zu verstehen. Zu ihr und ihrem aktuellen Status sei hier noch eine abschließende Einschätzung gegeben, die an den Inhalt der Arbeiten [8, 9] anschließt und diesen ergänzt.
Wie im zweiten Abschnitt einführend am Beispiel des Bienentanzes erläutert, sind ROBs die Gegenstände der Beobachtung dieser Naturwissenschaft. Auf der Grundlage von gezielt arrangierten Beobachtungen und mit seinen geistigen Fähigkeiten zum induktiven Schließen konnte von Frisch die Bedeutung einzelner Aspekte der Bienenbewegungen bedingt zwar auch ohne Komputer erschließen. Experimentell gesicherte Aussagen sind jedoch, wie mehrfach erläutert, auch hier erst mittels Simulationen auf dem Komputer möglich, wie beispielsweise in der Arbeit [26] geschehen.
Nun stellt sich die Frage, in welcher Disziplin solche Simulationen dann beheimatet sind: in der Biologie oder in der KID? Angesichts des Fokus und der zu solchen Simulationen erforderlichen anspruchsvollen Methoden und Kenntnisse kann die Antwort nur „KID“ lauten, auch wenn Bienen als Studienobjekte natürlicherweise der Biologie zuzuordnen sind. Nach der Repräsentation als ROB sind zur Lösungsfindung Kenntnisse aus der problemstellenden Disziplin so gut wie nicht mehr benötigt. Jüngst wurde, um ein weiteres Beispiel zu erwähnen, sogar eine – zumindest partielle – Lösung für eine 50 Jahre erforschte Problemstellung ebenfalls aus der Biologie, nämlich dem Proteinfaltungsproblem, mit dem KI-System AlphaFold gefunden [32], worüber die Medien ausführlich berichteten; klar ist auch dies ein Erfolg eindeutig in KID. Als drittes derartiges Beispiel aus der Biologie sei das neue Buch [21] eines Professors am Institut für Biologie der FUB erwähnt, das auf dem Flyer mit folgendem Satz charakterisiert wird: „What neurobiology and artificial intelligence tell us about how the brain builds itself.“
KID löst also Fragen aus anderen Disziplinen, nicht nur solche aus der Biologie, sondern im Prinzip auch aus allen anderen Disziplinen; denn in allen stehen ROBs im Zentrum ihrer Forschungen. Wir könnten hier, wenn es den Rahmen nicht völlig sprengen würde, wie bislang im Text nur beispielhaft besonders für den Fall der Biologie illustriert, viele Beispiele aus anderen Disziplinen dazu listen, aus Medizin, Psychologie, Chemie,14 Bio-Chemie, Pharmakologie, Mathematik,15 Informatik, Wirtschaftswissenschaften, Jurisprudenz, Politik,16 Philosophie17 etc. Die KID, oder allgemeiner die die KID umfassende neue Naturwissenschaft, hat sich inzwischen zu einer universellen Disziplin entwickelt. Gleichwohl trägt sie bis heute keinen Namen, noch ist sie im akademischen Organisationsgefüge als naturwissenschaftliche Disziplin in angemessener Weise überhaupt anerkannt geschweige denn etabliert.
Inwiefern sollte dieser Umstand problematisch sein? Geeignete Organisationsstrukturen fördern bekanntlich günstige Entwicklungen, fehlende behindern sie. Ein Biologe, der in seinem Studium nie etwas von KID auch nur gehört hat, wie es bis heute von der Schule bis zum Ende des Studiums eher die Regel ist, dem bleibt das tiefere Verständnis für ganze Problembereiche aus der Welt der Biologie (wie beispielsweise für den Bienentanz) für immer verschlossen. Die besten Studenten der Biologie, die das zugrundeliegende Manko durchschaut haben und deshalb auch KID studieren wollen, wird ein entsprechendes Studium nach meiner Einschätzung organisatorisch extrem schwer gemacht, wie ich an Beispielen von Studienverläufen exzellenter Studenten der Biologie beobachten konnte. Analoges gilt für alle anderen Disziplinen. Dadurch wird mangels möglicher Synergie wissenschaftlicher ebenso wie – im Gefolge – technologischer oder gesellschaftlicher Fortschritt behindert.18 Die bislang gebrauchte Krücke, für all die genannten Disziplinen X die Kombination X‑Informatik, wie beispielsweise Bio-Informatik, einzuführen, ist unpraktikabel und auf Dauer völlig unzureichend. Deshalb sollte die neue Naturwissenschaft endlich auch einen Namen bekommen, wie andere Naturwissenschaften auch gegliedert, ausgefächert und organisatorisch im akademischen Gefüge angemessen eingebunden werden.
Leider stehen diesem erstrebenswerten Anliegen erhebliche Widerstände aus den etablierten Disziplinen im Wege, wie die folgenden Beispiele andeuten. Selbst die inzwischen sehr erfolgreiche Kognitionswissenschaft wird innerhalb der Psychologie nur bedingt als zugehöriger Teil angesehen, in jedem Fall dort sehr stiefmütterlich behandelt. Die Mathematik in Deutschland hat als Disziplin beispielsweise das automatische Beweisen bislang nahezu völlig ignoriert, obwohl dieses bereits zu großen Bereicherungen der Mathematik beigetragen hat (vgl. die diesbezügliche Fußnote 15). Die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften haben bis heute die neue Naturwissenschaft überhaupt nicht als etwas für sie inhaltlich Relevantes wahrnehmen wollen.19 Von einer vergleichbar ablehnenden Haltung der Physik berichtet das Buch [1, S. 251ff].20 Ja, selbst etliche KI-Wissenschaftler, vor allem solche fokussiert auf KIT, „sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht“ und vertreten im Gefolge ihr Fach KID oft in unverständlicher Weise.
Auch wenn die historische Erfahrung lehrt, daß revolutionäre Neuerungen immer eine gewisse Zeit für ihre allgemeinere Akzeptanz in der Gesellschaft erfordern, wäre es nach so vielen Jahrzehnten inzwischen längst an der Zeit, im Falle der in dieser Arbeit besprochenen neuen Naturwissenschaft dieser den ihr gebührenden Platz endlich angemessen einzuräumen.
Schlußbemerkung
Auf der Grundlage der seit Jahrhunderten allgemein anerkannten Charakterisierung einer jeglichen Naturwissenschaft durch ihre Gegenstände, formale Begriffs- und Theoriebildungen und deren experimenteller Überprüfung ist in der vorliegenden Arbeit die historische Entwicklung einer neuen Naturwissenschaft dargestellt worden. Danach ist die KI als naturwissenschaftliche Disziplin (KID) ein zentraler Teil in ihr. Ihre Gegenstände sind repräsentierende Objekte (ROBs) und Experimente zu Theorien über ROBs sind mit dem (universellen) Komputer durchführbar.
ROBs waren schon immer Gegenstand der Mathematik und sind es in der Informatik ebenso wie in der KID. Aber nur in der KID sind sie zum Gegenstand von Experimenten in dem in der Arbeit beschriebenen Sinne geworden, was diese neue Disziplin von allen anderen unterscheidet. Dies führte zu deren Zielsetzung u. a. eines „understanding human and machine intelligence through the design, creation, and study of computational artifacts that exhibit high-level cognition“.21
Die historische Darstellung in dieser Arbeit führte von den Grundlagen für diese Entwicklung in den 1920er-Jahren vor allem zu der alles entscheidenden Erfindung des Komputers um 1940 auf der Grundlage der bis dahin von der Logik bereitgestellten Erkenntnisse. Mit dieser Erfindung war eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Entwicklung der KID geschaffen. Ihre Begründung als wissenschaftliche Disziplin erfolgte dann in den 1950er-Jahren in den USA und wurde in den 1970er-Jahren in Deutschland und Kontinentaleuropa nachvollzogen. Der Text hat eine Reihe von Aspekten dieser Entwicklung nachgezeichnet.
Im abschließenden Abschnitt wurde die aktuelle Situation dieser neuen Naturwissenschaft beleuchtet, die trotz der zentralen Bedeutung der KI als Technologie (KIT) vor allem in Kontinentaleuropa noch als sehr unangemessen erscheint. Es wurde die These erläutert, daß ohne adäquate strukturelle Anpassungen disziplinärer Art dem weiteren wissenschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt unnötige Behinderungen im Wege stehen.
Danksagung
Für hilfreiche und wichtige Hinweise, die zur Verbesserung der Darstellung beigetragen haben, bin ich Christoph Benzmüller, Ulrich Furbach, Ute Schmid, Leo van Hemmen und Christoph Wernhard sehr dankbar.
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Hauptaufgabe dieser Zeitschrift ist die Publikation aktueller, praktisch verwertbarer Informationen über technische und wissenschaftliche Fortschritte aus allen Bereichen der Informatik und ihrer Anwendungen in Form von Übersichtsartikeln und einführenden Darstellungen sowie Berichten über Projekte und Fallstudien, die zukünftige Trends aufzeigen.
Stephen Muggleton, London, trifft die gleiche Unterscheidung innerhalb AI mit den spezifizierenden Bezeichnungen „engineering“ (KIT) und „science“ (KID) (persönliche Mitteilung von Ute Schmid, 26.11.2021).
Im Hinblick auf die im dritten Abschnitt beschriebene Rolle Hilberts ist es erwähnenswert, dass dessen mathematische Erfindung der „Hilbert-Räume“ das entscheidende formale Werkzeug für Heisenbergs Erfolg darstellte.
Eine überzeugende und allgemein geteilte Interpretation der Diskrepanz dieser 2 theoretischen Modelle, die beide experimentell voll bestätigt wurden und als solche daher keinem Zweifel unterliegen, ist in Bezug auf die Konsequenzen in den Details bis heute nicht völlig gelungen (worauf wir im fünften Abschnitt nochmals zu sprechen kommen werden).
Es handelt sich in diesem Kontext natürlicherweise um immaterielle, abstrakte, formale oder digitale Objekte, wie immer man sie auch bezeichnen möchte. Es gibt im Gegensatz dazu ja auch konkrete repräsentierende Objekte; beispielsweise repräsentiert die berühmte Skulptur Le Penseur von Auguste Rodin einen denkenden Menschen.
Ausführlicher erläutert ist # ein Name für die spezifische zweistellige – deshalb die zwei mittels _ markierten Stellen in (_,_) – Funktion, die zu einer beliebigen Pflanze, hier speziell zu P, die Anzahl ihrer Blütenblätter Bb angibt, was mathematisch mittels der wiederum zweistelligen – deshalb wieder die Stellenbezeichnung _ vorher und nachher – Gleichheitsrelation = erfolgt; im Beispiel ist als Ergebnis 3 angenommen.
Es könnte eingewendet werden, daß der Begriff „Natur“ in Naturwissenschaft nicht im Einklang mit der Einbeziehung von ROBs gesehen werden könnte; auf diesen Bezeichnungsaspekt sei an dieser Stelle nicht weiter eingegangen; denn bei der Verwendung des Begriffs Naturwissenschaft kommt es uns in diesem Kontext vor allem auf deren grundlegende Methodik an.
Es handelt sich unbezweifelbar um ein Phänomen in dieser Welt, ist also existent, drückt aber etwas aus, was mit unseren Sinnen nicht greifbar ist und deshalb nur über repräsentierende Objekte, also ROBs zugänglich ist.
Ihren weiter unten erwähnten Aufschwung hat die Logik nicht zuletzt dem Bemühen zu verdanken, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik nachzuweisen, was nur auf der Ebene oberhalb der Mathematik, also in Form einer Meta-Mathematik möglich ist.
Ähnlich wie der Autor hier hat auch Herbert Simon den naturwissenschaftlichen Charakter von KID beschrieben und dabei den Begriff „artificial“ anstelle von ROBs verwendet [35], wohl auch um die Nähe zur AI in der Bezeichnung sichtbar zu machen.
Die bislang auch von mir oberflächlicherweise übernommene Bezeichnung eines „invisible college“ für diese damaligen an KI-Themen arbeitenden Personen trifft daher ganz und gar nicht das Wesentliche, weil ein „college“ bekanntlich von seiner Zusammengehörigkeit lebt, die in diesem Fall absolut nicht gegeben war. Der Begriff sollte daher für die damalige Situation in Deutschland also möglichst nicht mehr verwendet werden.
Die heutigen Systeme im ATP finden in Laufzeiten von jeweils höchstens Minuten automatisch die Beweise für inzwischen Zig-Tausende von mathematischen Theoremen, was jeden menschlichen Mathematiker eigentlich tief beeindrucken sollte. Weil wir Menschen – und damit eben auch wir Wissenschaftler – uns aber weniger von solchen nüchternen Zahlen, sondern leider erst im Gefolge von sensationellen Nachrichten beeindrucken lassen, sei zudem auf die in der Publikation [16] beschriebenen Lösungen mathematischer Probleme aus der Knotentheorie sowie aus der Gruppentheorie hingewiesen, die von Systemen aus der KID entdeckt und erstmals bewiesen wurden.
Die Behinderung ergibt sich auch in Form von redundanter, weil in getrennten Disziplinen unabhängig voneinander durchgeführter Forschungsarbeit; Beispiele dazu sind in Fußnote 20 erwähnt.
Im Ankündigungstext des Buches [27] wird dagegen zu Recht postuliert und festgestellt: „Additives Wissen und Ausbildung in getrennten Disziplinen der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik reichen aber nicht aus. In der Künstlichen Intelligenz wachsen diese Disziplinen mit den Human- und Sozialwissenschaften zusammen.“.
Im zweiten Abschnitt wird in der entsprechenden Fußnote die bis heute fehlende einheitliche Interpretation der Diskrepanz in der Quantenwelt erwähnt. Der Nobelpreisträger für Physik Steven Weinberg äußerte sich 2017 dazu wie folgt: „It is a bad sign that those physicists today who are most comfortable with quantum mechanics do not agree with one another about what it all means“ (zitiert in [1, S. 42]). Wie in dem hier zitierten Buch diskutiert, ist eine solche Übereinstimmung in der Interpretation möglicherweise nur unter Einbeziehung von Erkenntnissen aus der KID zu erzielen.
Es ist zumindest sehr befremdlich, daß die Physik sich schon mehrfach bei genuinen KID-Themen direkt oder indirekt für zuständig erklärt hat und in diesem Sinne die Existenz von KID ignoriert. Es sei dazu nur beispielhaft erwähnt, daß das fachgerecht im Deutschen Forschungszentrum für KI entwickelte autonome Unterwasserfahrzeug Cuttlefish (https://robotik.dfki-bremen.de/de/forschung/robotersysteme/auv-cuttlefish/, Zugriff 26.12.2021) in Konkurrenz zu dem in einem Physikdepartment, nämlich dem der TU München, entwickelten Unterwasserroboter Snookie (https://www.scinexx.de/diaschauen/tauchroboter-snookie/, Zugriff 26.12.2021) steht. Genauso fragwürdig erscheint, um ein weiteres Beispiel zu nennen, die fachliche Zugehörigkeit zur Physik der im Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen betriebenen Forschungen, die sich ausschließlich auf ROBs beziehen.