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Erschienen in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching 4/2020

Open Access 15.09.2020 | Diskurs

Künstler in Corona-Zeiten

Gespräch mit Alina Rank, freie Schauspielerin, und Jan Freese, freier Bühnenbildner, Berlin

verfasst von: Prof. Dr. Heidi Möller, Alina Rank, Jan Freese

Erschienen in: Organisationsberatung, Supervision, Coaching | Ausgabe 4/2020

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Zusammenfassung

In unserem Corona-Stream geht es in diesem Heft um die existentiell mit am härtesten getroffene Gruppe der freien Künstler/innen. Der Diskurs geht der Frage nach, wie verarbeiten Menschen, die von einem Tag auf den anderen ohne Arbeit dastehen, diese Krise? Wie sieht ihr inneres Erleben aus und welche Antworten finden sie auf die Herausforderungen der Pandemie?
Heidi Möller:
Gehen wir doch chronologisch vor: Der 13. März 2020, der Tag an dem sich das Leben vieler radikal wandelte: Wie stellte sich der plötzliche Lockdown für euch Künstler dar?
Alina Rank:
Ich saß am 14. März auf gepackten Koffern. Ich sollte für zweieinhalb Monate zu einer Produktion nach Stuttgart und war im Begriff, die Wohnung zu verlassen, als der Anruf des Intendanten erfolgte und er mir sagte, dass diese Produktion unter den jetzt geltenden Hygieneregeln nicht stattfinden kann und komplett gecancelt wird. In diesem Stück hätte gefochten, geschwitzt, geliebt werden sollen und das sei jetzt nicht möglich. Weiter könne er mir nichts sagen, er stehe genauso vor vielen Fragen wie ich.
HM:
Also nach dem Motto, liebe Alina, tut mir leid, wir können und wollen euch Spieler nicht gefährden, und mit diesen Hygieneregeln geht das, was wir wollten, nicht?
AR:
Genau, und daraufhin fragte ich folgerichtig, wie sieht es aus, bin ich angestellt, bekomme ich mein Geld? Er sagte, ich möge mich gedulden, das wisse er nicht. Der Text war gelernt – kein Satz dieses Stücks wurde je auf der Bühne gesprochen. Meine Wohnung war für die Zeit einer Kollegin vom Theater überlassen.
HM:
Das heißt, du warst auf einen Schlag auch noch obdachlos?
AR:
(lacht) Jan sagte: „Gut, du bist die Erste, mal gucken, wann bei mir die erste Produktion kippt. Wir haben jetzt eh gepackt, also komm zu mir.“ Wir sind sehr schnell zusammengerückt.
HM:
Ein richtig fetter Verlust, vermutlich eine Rolle, auf du dich sehr gefreut hast?
AR:
Ja, Beatrice aus „Diener zweier Herren“. Eine Hauptrolle, die als Hosenrolle auftritt. Diese Chance, so eine Hauptrolle zu spielen, bekommt man als freischaffende Schauspielerin nicht so häufig. Abgesehen vom künstlerischen Aspekt, sollte diese Produktion – neben zwei, drei anderen freischaffenden Aufträgen, die auch noch wegfielen – mein halbes Jahreseinkommen sichern.
HM:
Erinnerst du noch, wie deine Gefühlswelt sich darstellte?
AR:
Taub erst mal, ich musste mich setzen. Raus aus der Wohnung als kleiner Handlungsspielraum war erst mal ganz gut. Ich habe mich schnell zu Geduld ermahnt trotz aller Sorgen, die aufploppten: Krankenversicherung, Sozialversicherung, Rentenversicherung … Was passiert jetzt? Wie muss ich reagieren? Als ob ich plötzlich nicht mehr existent wäre. Ich habe darauf gehofft, dass die Zeit mir zuspielt und sich alles regeln wird. So war es auch – nach 10 Tagen. Diese 10 Tage waren extrem anstrengend von vielen Formularen geprägt, die ich, um staatliche Hilfe zu bekommen, ausgefüllt habe – der totale Aktionismus. Aber ich hatte Glück: Ich blieb angestellt und bekam 70 % meines Gehalts.
HM:
Was du beschreibst, sind Geschehnisse im Außen. Du hast die Schockstarre schnell in Handlung überführt. Gab es auch affektive Ladungen?
AR:
Es waren innere Dialoge, die ich sowohl mit dem Intendanten als auch imaginativ mit allen seinen Stellvertretern geführt habe. Dialoge, die ich auch mit der Presse innerlich geführt habe – als Versuch, mir irgendwie wenigstens über meine eigene Haltung Klarheit zu verschaffen. Das einzig Beruhigende war, dass ich das Gefühl hatte, wir sitzen alle im selben Boot. Klar: Festangestellte werden entweder ihr volles Gehalt oder Kurzarbeitergeld bekommen und sind abgesicherter als ich, aber die Gesamtsituation betrifft alle. Dieser Gedanke: „Ok, die Theater machen dicht, wir werden die Letzten sein, die aufmachen“ war niederschmetternd. Ich hatte mein Jahr so geplant, dass ich die Hälfte des Jahres spiele und mich in der verbleibenden Zeit um Akquise und mein neues Showreel kümmere. Ich habe pragmatisch reagiert: Gut dann ziehe ich Punkt 2 eben vor, auch wenn sich die Frage gestellt hat, wer wird meine Akquise jetzt überhaupt wahrnehmen – in dieser Situation? Wer hat überhaupt Lust drauf, dass eine Schauspielerin kommt und sagt: „Guten Tag, das hab ich, das kann ich, engagiere mich!“ Aber: Wenn du Gott lachen hören willst, mach Pläne!
HM:
Wie war das denn bei dir Jan? Magst du auch berichten?
Jan Freese:
Ich stand kurz vor den Proben zu Don Giovanni und mir war schnell klar, dass die Krise das Theater und den Kulturbereich überhaupt sehr hart treffen wird, dass wir im Theater kaum Chancen haben. Am Anfang hatten wir das Gefühl, nicht darüber nachdenken zu können, wie es weiter geht. Bei mir war es eher der Impuls, kurz mal wirklich runterzuschalten, auch energetisch, und mich tatsächlich aufs Private zu konzentrieren. Das fand ich wirklich in dem allerersten Moment das Wichtigste.
HM:
Wie ich dich so kenne, läufst du ja immer auf einer ziemlich hohen Drehzahl?
JF:
Genau, wie viele Selbstständige hatte ich einen Plan: Wie kann ich mit wieviel Produktionen über das Jahr ausreichend ausgelastet zu sein? Das war bei mir in diesem Jahr irre eng getaktet. Ich wäre bis Oktober nur sporadisch zu Hause gewesen: fünf Produktionen in vier Städten und drei Ländern. Peu à peu, wie ein Dominospiel, ist eine Produktion nach der anderen weggefallen.
AR:
Wobei die erste Zeit hast du noch gut gearbeitet?
JF:
Mein beruflicher Alltag ist ja geteilt sozusagen. Der künstlerisch schöpferische Teil bildet die Grundlage meiner Arbeit und findet zu Hause im Stillen statt: zu Hause, im Atelier … Ich konnte die ersten Wochen tatsächlich sehr konzentriert in einem stillen Berlin arbeiten, wie gewohnt allein für mich die Modelle bauen. Das war ganz wichtig, keine Verdrängung, sondern Projekte vorbereiten, die in einem Jahr erst stattfinden würden. Das hat mir sehr geholfen, über die Panik der ersten Tage hinwegzukommen. In meinem Metier gibt es derartig lange Vorläufe. Ich ging davon aus: Ok, diese Projekte 2021 betrifft es nicht. Das hat sich als Irrtum herausgestellt. Auch die Projekte mit einem Vorlauf von einem Jahr wurden vom Dominoprinzip ergriffen. Ich habe weiter produziert. Andererseits gab’s einen totalen Schub ins Private. Das rückte auf einmal so in den Vordergrund wie lange nicht. Die Situation hier zu Hause, das Zusammenziehen von uns beiden. Tägliche Routinen zu entwickeln, half enorm. Unser Schnittblumenkonsum stieg rapide: das bizarre Bedürfnis, Natur ins Wohnzimmer zu holen. Wie macht man es sich schön? Wie organisiert man das Leben hier? Ich habe Eltern, die schon recht alt sind. Wie geht es denen? Wie kommunizieren wir? Wie halte ich Kontakt zu meinen Kindern, die in einem anderen Haushalt wohnen? Eine Produktion nach der anderen kippte und wurde in die Zukunft verlegt. Die Theaterleitungen befanden sich in Schockstarre, es gab sehr wenig Kommunikation mit ihnen. Dann die erste Verschiebung ins Jahr 2022. Vier Produktionen folgten. 2022 wird ein wildes Jahr. (lacht).
HM:
Das heißt, da draußen wurde alles immer stiller, und ihr wart zurückgezogen, aufeinander bezogen?
JF:
Genau, wir haben versucht, so eine kleine, wendige, schlagkräftige Einheit zu bilden, uns selbst neu zu begegnen. Weiterarbeiten und jetzt zu zweit wohnen. Das hat sich als Glück herausgestellt. Wir hatten den Eindruck, zu zweit kann man ganz anders auf die Herausforderungen reagieren – auch finanziell. Durch zwei sind die Kosten eher tragbar, es ist eher machbar, die Puffer, die wir haben, zu strecken und mit den vagen Aussichten zu leben. Meine künstlerische Arbeit hat am Anfang nicht darunter gelitten. Ich habe einfach weitergemacht, egal ob es das Projekt noch geben wird oder nicht.
AR:
Zu unserem Beruf als freischaffende Künstler/in gehört es dazu, perspektivisch zu denken. Wie sieht der Rest des Jahres aus? Wie sieht das nächste Jahr aus? Die Flexibilität, die man benötigt, um freischaffend als Künstler/in arbeitsfähig zu sein, kommt einem in so einer Extremsituation zugute, in der sich die Nachrichtenlage täglich ändert. Darauf jeweils zu reagieren, sich neu darauf einzustellen, zu schauen, wo sind die Ressourcen? Was kann ich jetzt machen? Das ist ein Teil unseres Jobs – man agiert und reagiert immer im Moment. Aber das heißt nicht, dass es immer glückt. Scheitern, Frustration und Zweifel gehören genauso dazu und sind Teil des Prozesses – und genauso ist es jetzt auch. Die Tragweite ist nur größer. Es ist wirklich hilfreich, sich selbst Routinen zu schaffen, weil du auch sonst als Freischaffende nicht jeden Tag zur Probe gehst, nicht jeden Tag eine Vorstellung hast, nicht jeden Tag am Modell arbeitest. Sich zu strukturieren und zu organisieren, ist überlebenswichtig.
HM:
Ich erlaube mir mal eine intime Frage: Du hattest dich einem sehr radikalen Ernährungsumstellungs-Prozess gestellt. Würdest du sagen, das war auch eine Form der Verarbeitung? Ich sag es etwas zynisch: Ich mache mich in der Krise noch schöner und noch marktgängiger?
AR:
Ich glaube, das ist das Bedürfnis nach einer Form und nach einer Struktur. Als Schauspielerin arbeite ich nicht nur emotional und intellektuell, sondern auch extrem physisch. „Aus der Form zu fallen“ ist eine Angst. Viele Kolleg/innen bewältigen diese, indem sie jeden Tag ein Video von sich zu Hause posten. Es ist die Angst vor dem Verschwinden, dem Nicht-Vorkommen. Ich habe mich gefragt, wie kann ich mich zentrieren, wie kann ich etwas für meinen Körper tun, um auch mein Immunsystem zu stärken: Stoffwechselkur, Yoga machen, die Pflege meines Instruments haben mir geholfen, nicht von dieser Angst beherrscht zu werden und zu erstarren. Das kann man jetzt psychologisch bewerten, wie man will. Mir ging’s um meine Handlungsfähigkeit, eine Alltagsstruktur und einen Fokus schaffen. Ich bin schließlich mein Instrument – und das muss gepflegt werden.
HM:
Ja, wie ging es bei euch weiter?
JF:
Das Irre war, dass die Zeiträume, über die wir nachdachten, gar nicht klar waren. Wie lange dauert das? Es war klar, es ist eine weltweite Pandemie. Das heißt, dass die Krise viel, viel länger dauert, als wir das anfänglich annahmen. Wir haben kalkuliert, bestimmte Szenarien durchgespielt: Ja, bis dahin schaffe ich es finanziell. Danach wird es kompliziert.
HM:
Das hat ja sicher auch mit Abwehr zu tun. Ich habe bei mir verfolgen können, dass ich erstmal einen Monat geplant habe. Es hat gedauert, bis ich an mich heranlassen konnte, dass wir damit jetzt ein Jahr zu tun haben werden, oder mehr.
AR:
Es gab immer wieder Schockmomente: Erst war es eine Produktion. Dann hieß es, diese Spielzeit wird nichts mehr stattfinden. Dann gab es Stimmen aus der Presse, dass auch für den Rest des Jahres kein Theater mehr stattfindet. Ich dachte, naja, das ist eine große Herausforderung und Verantwortung für alle Häuser, erst mal mit den Auflagen umzugehen und Pläne zu machen, Entscheidungen zu treffen, aber ich fühlte mich als Künstlerin sehr außen vor – und das habe nicht nur ich so empfunden. Sprich, genau die Personen, die die Theater künstlerisch prägen: Regisseur/innen, Bühnenbildner/innen, Schauspieler/innen, Autor/innen usw. wurden in die Diskussion nicht einbezogen. Warum tauschen sich nur die Künstler/innen untereinander aus? Mir ist klar, dass auf anderer Ebene Fragen geklärt werden mussten, aber aus solchen Krisen entsteht Kunst, und solche Krisen braucht Kunst; und nicht die Möglichkeit zu haben, sich auszudrücken, war schwer auszuhalten.
HM:
Man kann sagen, dass die Künstlerinnen und Künstler zu Beginn der staatlichen Rettungsüberlegungen völlig hinten runtergefallen sind. Deutlich versetzt kam erst ein Bewusstsein für die Situation der Soloselbstständigen auf. Wie würdet ihr die Unterstützungsmöglichkeiten einschätzen, die dann bereitgestellt wurden, mit Verzögerung?
JF:
Ich habe den Antrag auf die Soforthilfe recht früh gestellt, und es war absolut erstaunlich, dass anderthalb Tage später die erste staatliche Unterstützung, die ich je in meinem Leben bekommen habe, auf mein Konto gewandert ist. Ausgerechnet in dem Monat, wo sie tatsächlich nötig war. Das fand ich ehrlich gesagt unglaublich. Eine sehr effektive Maßnahme in meinem Fall, auch um psychisch ein bisschen Platz im Kopf zu schaffen. Das war erstaunlich unbürokratisch für Berliner Verhältnisse. Dann haben sich auch die Theater nach und nach gefangen und sind aus der Schockstarre erwacht. Sie haben gemerkt, ok, man kann was tun, man kann mit der Krise umgehen. Man kann Kurzarbeitergeld beantragen. Das war für den Großteil der Belegschaften eine sehr schlagkräftige Maßnahme. Wir dürfen nicht vergessen, dass der deutsche Kulturbetrieb einer ist, der einzigartig auf der Welt ist.
HM:
Im Vergleich zum Broadway, wo die Leute keinerlei Hilfe erhielten?
JF:
Exakt, es gibt dennoch viele Unterschiede. Theater arbeiten in Deutschland in diversen Gesellschaftsformen und in unterschiedlichen Formen der Unternehmensstrukturen. Sie arbeiten mit unterschiedlichen Möglichkeiten und Spielräumen. Ich hatte den Eindruck, dass die kleineren Theater fast schlagkräftiger auf die Krise reagieren konnten als die großen Schiffe. Ich hatte nach den ersten Absagen neue Verträge von kleineren Opernhäusern auf dem Tisch und fand das einen tollen Schritt. Es sind Verträge für Produktionen erst in zwei Jahren, aber das ist doch was: neue Verträge mitten in der Krise zu machen. Das haben wir dieser einzigartigen Theaterstruktur in Deutschland zu verdanken, dass das überhaupt möglich ist.
AR:
Absolut! Trotz der immer deutlicher formulierten Auflagen, die die Theater bekommen haben: Auf wie viel Quadratmeter, wie viele Schauspieler überhaupt spielen können, wie geprobt werden kann, tat sich was. Für mich warf das aber auch neue Fragen auf: Was bedeutet das für Gastschauspieler/innen? Wie ist da der Bedarf? Muss als Folge von Corona das Ensemble für die jeweiligen Produktionen minimiert werden? Werden jetzt Solostücke, Zweipersonenstücke mit einer kleineren Belegschaft konzipiert? Und folglich: was bedeutet das für die eigene Perspektive als Freischaffende?
HM:
Diese Überlegungen sind ja quasi ein Vorgriff auf Zukunft: dass jetzt Stücke gewählt werden oder in einer Weise inszeniert werden, die Hygieneregeln standhalten. Es wird Auswirkungen haben auf das Repertoire.
AR:
Was ich höre, ist, dass man sich immer mehr darauf einstellt. In den vorzubereitenden Produktionen denkt man entsprechend den Auflagen auch konzeptionell nach. Nichts stattfinden zu lassen, ist unklug. Möglichkeiten zu schaffen, um eine Produktion doch auf die Bühne zu bringen, ist wirtschaftlich ein schwieriger Punkt. Man fragt sich, werden die Leute ins Theater gehen? Und wird es mehr kosten, den Betrieb am Laufen zu halten, als er erwirtschaftet?
HM:
Einkaufen und ins Restaurant gehen tun die Menschen anscheinend nicht besonders häufig.
JF:
Ich glaube, ein Anfang sind neue Formate, an die man noch gar nicht denkt. Präsentationsformen, bei denen man die Technik der Häuser zur Hilfe nehmen muss, die das Theater ganz anders angucken lassen, zum Beispiel Orchester, Chor und Bühne räumlich zu trennen.
AR:
Absolut, und ich möchte sehr daran glauben, dass gerade Theaterschaffende sich durchaus auseinandersetzen und gerade aus einer Krise heraus ihre Kreativität befördern können, um das Erlebnis Theater möglich zu machen.
HM:
Wir sind schon so bei euren Vorstellungen zum Thema „die neue Normalität“ nach Corona. Habt ihr da Bilder? Wie wird es sein? Wie wird es für die Oper sein, wie für das Schauspiel?
AR:
Es gibt Häuser, die Sitze in den Zuschauerräumen, die nicht besetzt werden dürfen, rausnehmen, symbolisch als sichtbares Zeichen dafür, dass es eine Lücke gibt. Es werden Notfallspielpläne geschaffen, die auf Solostücke oder Autotheater umfunktioniert werden. Es gibt digitale Projekte. Man weiß einfach nicht, wie diese von den Zuschauern angenommen werden.
HM:
Also mir ging es so, dass mir Theater zu streamen, nicht sehr viel Freude gemacht hat, um ehrlich zu sein.
JF:
Erstaunlicherweise hat das Konsumieren von digitaler bildender Kunst im Lockdown funktioniert. Dieser virtuelle Gang durchs Victoria und Albert Museum zum Beispiel, war so gut. Eine halbe Stunde konnte man sich durch die Räume bewegen, weil es eine objekthafte Darbietung ist. Was auch gut funktioniert hat, ist z.B: United We Stream, elektronische Musik aus den leeren Clubs – das hat funktioniert, weil es mit dem Medium möglich war. Theatervorstellungen auf dem Monitor zu sehen, macht mich persönlich schläfrig.
AR:
Das Ritualhafte fehlt – und das gemeinsame Erlebnis. Ich gehe jetzt ins Theater. Ich ziehe mir was Entsprechendes an. Ich hole noch schnell die Karten an der Kasse ab. Wo sitze ich denn? Es gibt die Pause, den Austausch. Jetzt kann ich mich auf mein Sofa setzen, eine Chipstüte aufmachen, drücke auf Pause, bin aber nicht in diesem Erlebnisraum, also dem, was Theater ausmacht. Theater ist mit das Unmittelbarste: Menschen gehen auf die Bühne und stellen das Produkt ihrer Arbeit unmittelbar einem Konsumenten zur Verfügung, der es direkt aufnimmt und auch genauso unmittelbar das Feedback liefert.
HM:
Es fehlen die Stimmen im Foyer, man geht langsam hinein, schaut sich um, setzt sich nieder ….
JF:
Natürlich, und zum Publikum, das zu einem Körper wird, den Kontakt aufzunehmen. Publikum ist eine wichtige Größe bei dieser Darstellungsform. Ein Publikum ist eine Mitspielerin! Andererseits wurde mein historisches Interesse durch die digitalen Angebote stimuliert. Alte Aufzeichnungen, die lange vor meinen ersten Bühnenbildern entstanden, das fand ich gut. Da habe ich kurz mal reingeguckt und fand das schon stark.
AR:
Man kann sich die Ästhetik und verschiedene Regiehandschriften anschauen. Aber das Theatererlebnis ist immer eine Momentaufnahme, die so nie wieder stattfinden wird. Der Zauber liegt im Flüchtigen.
HM:
Und wenn ich jetzt noch mal auf die Oper gucke, da stelle ich mir die neue Normalität besonders kompliziert vor: Singen, Tanzen, Chöre, Orchester …
JF:
Ja genau, das ist kompliziert. Hygiene und Kunst schließen sich bei der Oper fast aus. Wenn ich mir die Proben angucke, ist das eine ganz schwierige Sache, mit Chören umzugehen. Meine letzten Produktionen wurden gecancelt, weil der Regisseur sehr choreografielastig inszeniert. Das Schauspiel ist da schlagkräftiger. Es steht jetzt eine Produktion von mir an, da haben wir dann kurz vor Toresschluss einen bereits vorhandenen Entwurf verworfen und einen „Coronaentwurf“ für das Bühnenbild gemacht. Das wird hoffentlich funktionieren, und wir können mit den Schauspielern sicher – in Anführungszeichen – probieren. Mit Orchestern im Musiktheater – eine personalintensive Kunst – da muss man sich, was die Formen angeht, wirklich was überlegen, damit nicht nur konzertante, kleine Konzerte stattfinden. Ich glaube, das wird eine Weile dauern, weil so viele Menschen zusammenkommen, die von überall anreisen müssen. Opfer des Lockdowns waren Opernfestivals, bei denen Künstler/innen aus aller Welt nach Europa kommen. Das ist logistisch für das Theater einfach ein Albtraum, wenn die A‑, B‑, C‑, D‑Pläne gemacht werden und dann schlussendlich gesagt wird, ok, wir vertagen es.
HM:
Jetzt dient die Kultur auch dem Zweck, gesellschaftliche Ereignisse verdauen zu helfen. Wir erleben existenzielle Fragen und Dramen unseres Lebens vikariell mit. Kunst als Möglichkeitsraum, uns zu helfen, Geschehnisse zu begreifen, zu verarbeiten. Da gibt es im Fernsehen die Serie „Drinnen“ und „Liebe. Jetzt!“, die in kurzen Geschichten recht witzig die Psychodynamik der Krise aufgriffen. Sind das Möglichkeiten zur Identifikation oder aber Distanzierung für die Zuschauer/innen?
AR:
Ja, die Filmbranche war schneller mit Coronaprojekten. Das Spiel ist notwendig, um die Krise zu verarbeiten. Ein intensiver künstlerischer Umgang mit den großen Themen des Lebens kann da helfen. Es passiert sehr viel in der Welt, und natürlich beschäftigen wir uns auch hier im stillen Kämmerlein mit den Parallelthemen, wie Spargelhelfern, Flüchtlingscamps, Klimawandel oder der Ausbreitung von Armut. In der künstlerischen Auseinandersetzung kann transformiert werden. Diese Möglichkeit gibt es aktuell kaum, was meiner Meinung nach auch zur Systemrelevanz gehört. Meine Kunstform geht nur nicht rein solistisch. Ich brauche ein Gegenüber in der Auseinandersetzung, ein gemeinsames Eintauchen in Themen, sich Impulse hin- und herschieben usw. Dass dies gerade jetzt nicht möglich ist, ist eine starke Ausbremsung und schwer aushaltbar.
Deshalb gab es viele Zoommeetings mit befreundetet Kolleg/innen. Und mitten drin meldete sich Eva Maria Sommersberg (Schauspielerin und Autorin) und rief mich und Agnes Mann (Schauspielerin) zu einem Zoom Meeting und sagte: „Mädels, ich hab da ’ne Idee!“ In Kassel waren wir am Staatstheater engagiert und haben unter anderem Tschechovs „Drei Schwestern“ gespielt. Inzwischen sind wir alle freischaffend in Berlin und haben bereits letztes Jahr auf der Basis der Drei Schwestern einen Drei-Minüter gedreht. Jede hatte einen kurzen Monolog, und sonst haben wir einen halben Tag improvisiert. Das Ergebnis war toll. Diesen Gedanken wollte Eva weitertreiben und eine Serie daraus machen. Es ging Schlag auf Schlag. Wir fanden die Idee großartig! Angelehnt an die Frage: Was machen Theaterfiguren, wenn sie nicht gespielt werden? In jeder der acht Folgen wird der Geburtstag der jüngsten Schwester Irina gefeiert, und jedes Mal klingelt eine andere, verlorene Theaterfigur an der Tür. Wir haben eine Produktionsfirma gegründet: Drei Schwestern Produktionen (www.​dreischwesternpr​oduktionen.​de) und eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, um das zu realisieren. Die Krise hat uns nicht nur erfinderisch gemacht, sondern auch mutig. Wir brauchen noch Unterstützung, aber sind schon in adrenalinreicher Vorfreude.
HM:
Krisen lassen Menschen verändert zurück. Was würdet ihr sagen, ob es irgendwas Gutes den Geschehnissen rund um die Pandemie abzugewinnen gibt?
JF:
Grundsätzlich geht es immer darum, diese Phase produktiv zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen: für die Mitarbeiter, die Familie – diese Krise als großen Systemcheck zu begreifen. Also wenn man sagt, so eine Ausnahmesituation prüft Systeme auf ihre, wie sagt man?
AR:
Nachhaltigkeit.
JF:
Auf ihre Nachhaltigkeit, auf Standfestigkeit, Belastbarkeit. Dann muss man sich durchaus an seine eigene Nase fassen, das Konsumverhalten hinterfragen, Arbeitsstrukturen, Arbeitszeitmodelle hinterfragen.
AR:
Ich glaube, du hättest März, April, Mai so an die 6000 km mit dem Auto gefahren, – du warst bei wie vielen Produktionen?
JF:
Die Rechnung ist relativ simpel, es waren fünf Produktionen in sechs Städten und drei Ländern.
AR:
Sechstausend Kilometer mit dem Auto, vier Inlandsflüge, drei Auslandsflüge.
JF:
Ist das wirklich notwendig, die Meetings für eine Stunde in Werkstätten, kann man das nicht alles kürzer, knapper und effizienter gestalten?
HM:
Und hattest du schon virtuelle Präsentationen?
JF:
Ich hatte eine virtuelle Präsentation, das ging erstaunlich gut. Irgendwann gibt’s einen Punkt, da muss man dann schon Face to Face mit den Modellen in der Werkstatt stehen, das ist ein ganz handwerklicher Teil. Es gibt auch Onlineproben, das mag funktionieren. Ich will dann aber doch Schauspieler live sehen. Ich hoffe, das Gute bleibt dennoch hängen, was das Digitale angeht, die Kosten- und Zeitökonomie. Also für uns persönlich gab es schon die Frage nach dem Wesentlichen. Was ist wirklich notwendig für uns momentan, was ist in Zukunft notwendig?
AR:
Das ist erstaunlich, was für innere Prozesse stattfinden. Als Schauspielerin kreist man schon viel um sich. Muss man auch. Man investiert in Rollen, in Produktionen, Wohnungswechsel, Reisen usw., um diesen wunderschönen Beruf ausüben zu können. Das verlangt mir viel ab, und es ist ein Privileg, es ist ein Luxus. Ich darf spielen. Die Situation zwingt mich, alles in Relation zu setzen. Warum holt man sich das Grüne nach Hause? Warum kauft man sich plötzlich Küchengeräte? Dinge, die während Produktionen so wenig Raum hatten, bekommen plötzlich Bedeutung. Was koche ich heute Mittag? Wofür kaufe ich ein? Was habe ich für Kräuter auf dem Balkon? Diese Vereinfachung schafft einen neuen Gedankenraum, um sich selbst neu zu begreifen, was grundsätzliche Dinge sind, mit denen ich doch als Schauspielerin zu operieren meine.
JF:
Ich habe über so Begriffe nachgedacht wie starker Sozialstaat. Was ist das eigentlich? Solche Begriffe, waren plötzlich nicht mehr abstrakt, sondern bekamen auf einmal eine ganz praktische Bedeutung.
HM:
Es ist erstaunlich, wie gut der Staat funktioniert hat?
JF:
Ja, ich habe mit Kollegen gesprochen, die sonst wo sitzen auf der Welt, die mit ganz anderen Problemen zu kämpfen haben als wir. Dass wir in dieser Krise – wie in der Finanzkrise schon – auf der Sonnenseite der Bank sitzen, ist erstaunlich. Unser „Verdienst“ ist lediglich, hier geboren zu sein. Es lohnt sich für diese Struktur, die ein hohes Gut ist, zu kämpfen. Das bleibt bei mir hängen.
AR:
Absolut, den Gedanken kann ich komplett nachvollziehen. Und dennoch, auch wenn mit klar ist, dass ich nicht hungern muss, dass ich keine Kälte leiden muss, sondern eine Unterstützung kriegen würde, möchte ich mich nicht zu sehr mit diesem Gedanken anfreunden. Ich möchte weiterhin genau diesen tollen schönen Beruf ausüben und das, wofür sich die vielen Investitionen lohnen: der ganze Zweifel an sich selber, die Auseinandersetzung mit sich und der Welt – all das möchte ich wirklich nicht weggeben. Daher sind mir dieses Projekt und die Neugründung so wertvoll.
HM:
Vielleicht gucken ihr noch mal, ob es irgendwas gibt, was euch wichtig ist. Ansonsten finde ich, haben wir ja ziemlich vieles Wichtige angesprochen.
JF:
Zum Thema Kunst und Krise kann ich nur sagen: Mein Sohn hat mitten in der Krise tatsächlich die Aufnahmeprüfung für die Kunsthochschule Leipzig bestanden. Das war lustig; das war so ein gutes Zeichen, fand ich. Ich war sehr gerührt und habe das Gefühl gehabt, ja …
AR:
Kunst hat eine Zukunft (lacht).
JF:
Es geht irgendwie weiter, junge Menschen machen weiter und werden nicht abgeschreckt. Das finde ich toll. Kunst wirkt wie Wasser in die Lücken rein. Egal was es für eine Krise gibt, es geht eh weiter. Theater wird es weitergeben.
AR:
Und dann kann hoffentlich bald wieder gefochten, geschwitzt und geliebt werden. (lacht).
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Titel
Künstler in Corona-Zeiten
Gespräch mit Alina Rank, freie Schauspielerin, und Jan Freese, freier Bühnenbildner, Berlin
verfasst von
Prof. Dr. Heidi Möller
Alina Rank
Jan Freese
Publikationsdatum
15.09.2020
Verlag
Springer Fachmedien Wiesbaden
Erschienen in
Organisationsberatung, Supervision, Coaching / Ausgabe 4/2020
Print ISSN: 1618-808X
Elektronische ISSN: 1862-2577
DOI
https://doi.org/10.1007/s11613-020-00671-7

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