Die Lerneinheit, die als didaktische Intervention für die vorliegende Studie entwickelt wurde, verfolgt das Ziel, politische Urteilsbildung angesichts komplexer Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung zu fördern. Sie wurde für Schulklassen des 11. Jahrgangs der gymnasialen Oberstufe konzipiert und erstreckt sich über einen Zeitraum von sieben Wochen. Die Konzeption basiert auf Ansatzpunkten einer politischen Nachhaltigkeitsbildung.
Die Lerneinheit, die als didaktische Intervention für die vorliegende Studie entwickelt wurde, verfolgt das Ziel, politische Urteilsbildung angesichts komplexer Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung zu fördern. Sie wurde für Schulklassen des 11. Jahrgangs der gymnasialen Oberstufe konzipiert und erstreckt sich über einen Zeitraum von sieben Wochen. Die Konzeption basiert auf Ansatzpunkten einer politischen Nachhaltigkeitsbildung (siehe Abschn. 2.5.2; Öhman & Östman, 2019; Van Poeck & Östman, 2020; Sund & Öhman, 2013). Dabei wird ein problem- und konfliktorientierter Unterrichtsansatz mit einem erfahrungsorientierten Zugang durch außerschulische Begegnungen kombiniert (siehe Abschn. 2.6; 3.3.3; 4.3).
Als Thema für die Lerneinheit wurden die Konflikt- und Transformationsfelder „Landwirtschaft und Ernährung“ ausgewählt, da es sich um eine komplexe gegenwarts- und zukunftsbedeutsame Thematik handelt, die die Schüler*innen in ihrer Lebenswirklichkeit betrifft. Unter dem Titel „Globale Transformation im Spiegel der Region: Wie soll die Landwirtschaft der Zukunft aussehen?“ geht es in der Lerneinheit um die Ernährungswirtschaft im Spannungsfeld zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Anforderungen am Beispiel der Milchwirtschaft. Der gesellschaftliche Prozess in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung ist geprägt von Ziel- und Deutungskonflikten, wobei strittig ist, welche Entwicklungen als zukunftsfähig« gelten können. In der Lerneinheit sollen Perspektivität und Kontroversität regional erfahrbar gemacht werden, indem Jugendlichen ein Austausch mit regionalen Akteur*innen verschiedener involvierter Interessengruppen ermöglicht wird. Auf diese Weise sollen die Bedingungen gesellschaftlichen Wandels und individuellen Handelns erörtert werden. Die Lerngruppen besuchen einerseits einen konventionellen Milchviehbetrieb und treffen auf Erzeuger*innen; andererseits diskutieren die Schüler*innen mit Umweltschutzaktivist*innen einer Lokalgruppe einer Nichtregierungsorganisation (NGO).
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Im Folgenden werden zunächst die fachlichen Hintergründe zu den Herausforderungen einer zukunftsfähigen Landwirtschaft in Zeiten der Klimakrise erläutert (Abschn. 5.1). Daraufhin werden die Gestaltungsprinzipien der Lerneinheit präsentiert, die in den vorangegangenen Kapiteln theoretisch und auf Basis empirischer Befunde abgeleitet wurden (Abschn. 5.2). Abschließend werden die Konzeption hinsichtlich der übergeordneten Bildungsziele und des Aufbaus der Lerneinheit erläutert sowie die einzelnen Unterrichtsstunden hinsichtlich ihrer Lernziele und Vorgehensweisen skizziert (Abschn. 5.3).
5.1 Landwirtschaft und Ernährung als komplexe Problemstellung einer nachhaltigen Entwicklung
Landwirtschaft und Ernährung sind zentrale gesellschaftliche Transformations- und Konfliktfelder einer nachhaltigen Entwicklung (Grunwald & Kopfmüller, 2022; WBGU, 2020). Die zeitgenössische Landwirtschaft und das Ernährungssystem sind mit einem Konglomerat an Herausforderungen konfrontiert, in dem sich ökologische, ökonomische, soziale, kulturelle und politische Interdependenzen sowie die Notwendigkeit neuer, nachhaltiger Perspektiven zeigen. Die langfristig größte Herausforderung in den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung besteht darin, die ökologischen und sozialen Kosten der Lebensmittelproduktion zu minimieren (bzw. in den planetaren Grenzen zu halten1) und zugleich die Ernährungssicherheit einer wachsenden Weltbevölkerung2 unter veränderten klimatischen Bedingungen zu gewährleisten (Laschewski, 20173; Mooney & Hunt, 2009). Die Lebensmittelproduktion rückt damit zunehmend in das Zentrum von Diskursen über gesellschaftliche und individuelle Verantwortung. Hieraus ergeben sich Zielkonflikte, die die Themenstellung besonders fruchtbar für den Politikunterricht machen.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Landwirtschaft zu einem hochgradig technisierten, spezialisierten und global agierenden Wirtschaftssektor. Dieser Strukturwandel wurde durch technische Innovationen wie etwa dem Haber-Bosch-Verfahren, das die Herstellung synthetischen Düngers ermöglichte, sowie eine breite Technisierung im Ackerbau und in der Viehhaltung angestoßen (Mahlerwein, 2016; 2020). Das gesellschaftliche Ziel, günstige Lebensmittel zu produzieren, wurde in den westlichen Industrienationen erreicht. Darüber hinaus wurden durch Leistungssteigerungen Arbeitskräfte, die ehemals in der Landwirtschaft arbeiteten, als Produktivkräfte für andere Wirtschaftssektoren freigesetzt, was einen weitreichenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozess ermöglichte (Laschewski, 2017, S. 270; Mahlerwein, 2020). Die Anzahl landwirtschaftlicher Betriebe ging bei gleichzeitig steigender Betriebsgröße zurück; die Zahl an Beschäftigten sank in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich (Statista, 2019). Im Jahre 1900 ernährte ein*e Landwirt*in vier Menschen; 1959 waren es zehn (Hemmerling & Pascher, 2017, S. 17). Gegenwärtig kann ein*e Landwirt*in im Durchschnitt 139 Menschen versorgen (Bundesinformationszentrum Landwirtschaft, 2022).
Für das 21. Jahrhundert sind wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten über eine zukunftsfähige Landwirtschaft und das Einläuten einer Agrarwende zentral, denn die intensivierte und teilweise industriell orientierte Landwirtschaft hat ökologische, ökonomische, soziale und politische Folgen, wie z. B. „Artensterben, Boden- und Wasserbelastung, Klimaextreme, Tierhaltungsskandale“ einerseits und „hohe Betriebskosten, niedrige Erzeugerpreise und Höfesterben“ andererseits (Limmer et al., 2019, S. 8). Im globalen Zusammenhang sind Ressourcenverknappung und die Veränderung klimatischer Gegebenheiten sowie eine wachsende Weltbevölkerung und steigender Wohlstand und damit einhergehende ressourcenintensive (Konsum-)Bedürfnisse einer globalen Mittelschicht zu verzeichnen (Kharas, 2010). Darüber hinaus litten im Jahr 2021 um die 800 Millionen Menschen an Hunger und fast 3,1 Milliarden Menschen konnten sich im Jahr 2020 keine gesunde Ernährung leisten (Food and Agriculture Organization of the United Nations [FAO] et al., 2022).
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Mit der Agenda 2030 formulierten die Vereinten Nationen 17 Sustainable Development Goals [SDGs], die u. a. auch das Ziel beinhalten, bis 2030 eine klimagerechte und sozialverträgliche Landwirtschaft zu realisieren. Die Tabelle 5.1 zeigt die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung (UN, 2015, S. 15).
Tabelle 5.1
Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (2015) in den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung
Ziel 2
Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern
Ziel 12
Nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sicherstellen
Ziel 15
Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung bekämpfen, Bodendegradation beenden und umkehren und dem Verlust der biologischen Vielfalt ein Ende setzen
Die Herausforderungen verlangen nach umfassenden Antworten einer aktiven politischen Gestaltung (Gottwald, 2019; Rudloff & Wieck, 2023). Notwendig ist nicht nur eine ressourcenschonende, sondern auch eine effiziente und hochproduktive Landwirtschaft. Damit bestehen nicht nur mehrere konfligierende Ziele (Polytelie), sondern auch dynamische Wirkungsbeziehungen mit der steten Gefahr unerwünschter Nebenfolgen (siehe Abschn. 2.4.1; Dörner & Funke, 2017):
Eine reine Optimierung der Produktivität wird kurzfristig die Ernährungssicherheit verbessern können. Wenn dies jedoch auf Kosten der Umwelt und somit der Ressourcengrundlage geschieht, ist die Ernährungssicherheit für die Zukunft gemindert. Auch können Effizienzsteigerungen in der Landwirtschaft und Senkung der Lebensmittelpreise dazu führen, dass viele Menschen, welche in der Landwirtschaft tätig sind, ihre Existenzgrundlage verlieren. Dies ist umso bedeutender, als ca. zwei Milliarden Menschen ihr Einkommen im Ernährungssystem generieren, davon 1,3 Milliarden in der Landwirtschaft. (Jaisli & Schmitt, 2019, S. 221)
Bezüglich einer sozial-ökologischen Transformation stellen sich für den Bereich Landwirtschaft und Ernährung beispielsweise folgende Fragen: Wie kann die Landwirtschaft nachhaltig gestaltet und die Ernährungssicherheit der Weltbevölkerung gewährleistet werden? Welche Anforderungen und Verantwortlichkeiten ergeben sich hieraus für Bürger*innen, Landwirt*innen und weitere Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette?
Landwirtschaft und Klimawandel
Der Einfluss des Menschen auf die globale Erderwärmung ist laut UN-Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change [IPCC]) eindeutig und „(d)as Ausmaß der jüngsten Veränderungen im gesamten Klimasystem (…) seit vielen Jahrhunderten bis Jahrtausenden beispiellos“ (IPCC, 2023, S. 7). Laut sechstem IPCC-Sachstandsbericht sind Wetter- und Klimaextreme (z. B. Hitzewellen, Starkniederschläge, Dürren, Wirbelstürme) seit den 1950er-Jahren häufiger und intensiver; es sei davon auszugehen, dass sich die Eintrittswahrscheinlichkeit solcher Extremereignisse durch den Einfluss des Menschen erhöht habe (ebd., S. 7 f.). „Eine globale Erwärmung von 1,5 °C und 2 °C wird im Laufe des 21. Jahrhunderts überschritten werden, es sei denn, es erfolgen in den kommenden Jahrzehnten drastische Reduktionen der CO2- und anderer Treibhausgasemissionen“ (ebd., S. 14).
Die Landwirtschaft ist heute und wird zukünftig vom Klimawandel betroffen sein. Zugleich gilt sie als eine der Ursachen und damit als relevanter Ansatzpunkt für Problemlösungen (Böttcher, 2019). Der Anteil der Landwirtschaft am anthropogenen Klimawandel wird als hoch eingeschätzt, da in der Produktion klimawirksame Gase wie CO2, Methan und Lachgas freigesetzt werden (ebd., S. 83 f.). Wie auch in den Sektoren Industrie, Energieversorgung und Verkehr haben die Treibhausgasemissionen seit 2010 weiter zugenommen (IPCC, 2023; UBA, 2018). Ein Viertel der in Form von CO2-Äquivalenten angegebenen anthropogenen Emissionen wird der Landwirtschaft zugeordnet (Böttcher, 2019, S. 83; IPCC, 2019).
Angesichts des Klimawandels und des Einflusses der Nahrungsmittelproduktion auf die globale Erderwärmung scheint eine Agrarwende unausweichlich (UN, 2015). Die Problematik ist in Deutschland bekannt. Sowohl die Deutsche Landwirtschaftsgesellschaft (DLG) als auch der Deutsche Bauernverband (DBV) haben Zielsetzungen im Rahmen eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses in Richtung Nachhaltigkeit formuliert (DBV, 2019; DLG, 2017). Der Bauernverband hält fest, die deutsche Land- und Forstwirtschaft strebe u. a. an, „sich an Wetterextreme und Klimaveränderungen erfolgreich anzupassen“ und „die Klimaeffizienz ihrer Erzeugung zu steigern und damit die Klimaeffekte landwirtschaftlicher Produkte zu senken“ (ebd., S. 5). Bis 2030 sollen die Treibhausgasemissionen der deutschen Landwirtschaft um 30 % reduziert werden (DBV, 2019, S. 5). Der Ausbau der ökologischen Landwirtschaft stellt in diesem Zusammenhang eine wichtige Herangehensweise dar, um die Biodiversität sowie die Boden- und Wasserqualität zu fördern und die Ressourcenintensität der Lebensmittelproduktion zu minimieren (Niggli, 2018). Jedoch ist nicht nur eine ressourcenschonende, sondern auch eine effiziente und hochproduktive Landwirtschaft erforderlich (Gottwald, 2019).
Anforderungen an ein nachhaltiges Ernährungssystemund Herausforderungen in der Umsetzung
Um ein nachhaltiges Ernährungssystem zu etablieren, sind weitreichende Transformationen erforderlich, die zur Erreichung multipler Nachhaltigkeitsziele beitragen würden (FAO, 2018; siehe SDG 2, 3, 8, 12, 13 & 15 – UN, 2015). Das High Level Panel of Experts on Food Security and Nutrition (HLPE) des UN-Komitees für Welternährungssicherung (CFS) definiert ein nachhaltiges Ernährungssystem folgendermaßen: „A sustainable food system (SFS) is a food system that delivers food security and nutrition for all in such a way that the economic, social and environmental bases to generate food security and nutrition for future generations are not compromised“ (HLPE, 2014, S. 12). Gladek et al. (2017) formulieren neben der Hauptfunktion, Ernährungssicherheit herzustellen, drei weitere zentrale Anforderungen an ein nachhaltiges Ernährungssystem, die Jaisli und Schmitt (2019, S. 222) wie folgt zusammenfassen (siehe Abb. 5.1):
1)
„Das System muss anpassungsfähig und resilient gegenüber sich verändernden Umweltbedingungen sein“, es ist „[d]er Erhalt der genetischen und strukturellen Vielfalt in der Landwirtschaft“ geboten.
2)
„Das System muss innerhalb der planetaren Grenzen funktionieren, um die Ressourcengrundlage und Ernährungssicherheit auch für zukünftige Generationen zu gewährleisten. […] Vor allem durch eine Umstellung der Ernährung auf weniger ressourcenintensive Lebensmittel (u. a. Reduktion tierischer Lebensmittel) können die Umweltauswirkungen entscheidend reduziert werden.“
3)
„Lebensgrundlagen und Wohlergehen der Menschen, die im System tätig sind, müssen sichergestellt werden. Dies beinhaltet neben fairen Löhnen und Einkommen auch allgemein faire und sichere Arbeitsbedingungen sowie Aspekte des Kulturerbes und der sozialen Gerechtigkeit.“
×
Um eine sozial-ökologische Transformation des Ernährungssystems umzusetzen, werden sowohl neue Konsumstile als auch eine aktive Gestaltung der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen benötigt (Gottwald, 2019; Hudson, 2018; WBGU, 2020). Die Frage, inwiefern die Konsument*innen maßgeblich für einen Wandel zur Verantwortung zu ziehen sind oder ob es doch vor allem politische Institutionen sind, die entsprechende Weichen für die Unternehmen stellen und Bedingungen für nachhaltige kollektive Praxen schaffen müssen, wird gesellschaftlich kontrovers diskutiert. Einseitige Zuschreibungen der Verantwortung an die Verbraucher*innen stellen nach Hudson (2018) eine wesentliche Vereinfachung dar, denn „[d]er Einfluss individueller Konsumentenentscheidungen ist wichtig, aber begrenzt“ (ebd., S. 2). Es besteht weitestgehend Konsens darüber, dass Top-down- und Bottom-up-Prozesse in einem Ergänzungsverhältnis stehen müssen, um Veränderungen in einer demokratischen Weise anzustoßen (Lange et al., 2013; Meadowcroft, 2007): D. h. es braucht sowohl staatliches Handeln, etwa in Form von wirtschaftspolitische Anreizen und Regulierungen, als auch neue Konsumstile sowie lokale, sozial-ökologische Innovationen. Veränderungen im Ernährungsverhalten zeichnen sich bereits ab: Einer repräsentativen Umfrage zufolge ernähren sich in der Kohorte der 15- bis 29-Jährigen in Deutschland 10,4 % vegetarisch und 2,3 % vegan; 25 % beschreiben sich als Flexitarier*innen (Spiller et al., 2021, S. 34 f.). Dieser Trend hin zu einer klimabewussten Ernährung wird begleitet durch hohe Zustimmungswerte zu einem engagierten Staat, der eine klimafreundliche Ernährung und eine umweltgerechte Lebensmittelproduktion unterstützt (ebd.).
Landwirtschaft und Globalisierung
Die Transformation hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem geht gegenwärtig und zukünftig mit Ziel- und Interessenkonflikten einher (Jäggi, 2018). Die Land- und Ernährungswirtschaft stellt mit Abstand den größten Wirtschaftszweig der Europäischen Union (EU) dar; in Deutschland liegt sie auf dem dritten Platz (DLG, 2017, S. 15). Produziert wird dabei in einem beträchtlichen Umfang für den Export – laut Welthandelsorganisation WTO hat Deutschland im Jahr 2019 im Wert von 66,5 Mrd. Euro exportiert; 80 % der Warenwerte verbleiben in der EU (Leopold, 2021). Die Importe übersteigen dabei die Exporte: Deutschland importiert im Jahre 2020 Agrar- und Ernährungsgüter im Wert von 84,8 Mrd. Euro (Statista, 2023).
Zugleich stellt Regionalität ein zentrales Prinzip einer nachhaltigen Ernährungsweise dar. Gottwald (2019) zufolge gilt es, verstärkt regionale Wertschöpfungsketten globalen Wertschöpfungsformen vorzuziehen. Interessengruppen der Agrar- und Ernährungsbranche insistieren hingegen darauf, den Wirtschaftszweig wettbewerbsfähig zu halten. Die – aufgrund der vergleichsweisen hohen Löhne sowie der Umwelt- und Tierschutzauflagen – relativ kostenintensive deutsche Landwirtschaft stehen unter internationalem Preisdruck. Weitere Regulierungen laufen aus Perspektive der Interessengruppen Gefahr, dem Wirtschaftsstandort zu schaden, was zunächst den Import von Rohware und längerfristig die Abwanderung der verarbeitenden Industrie zur Folge hätte (DLG, 2017, S. 15). Diese Entwicklung zu vermeiden, ist auch im Sinne einer Nachhaltigkeitsstrategie. Politisch wird zwischen den verschiedenen Interessengruppen kontrovers diskutiert, welche Handlungsstrategien als zukunftsfähig und welche als hinderlich mit Blick auf die ökonomische Wertschöpfung, ökologische Verträglichkeit und soziale Gerechtigkeit zu beurteilen sind (siehe Abb. 5.1).
Die komplexen Herausforderungen, vor denen Landwirt*innen stehen, zeigen sich am Beispiel der Milchwirtschaft. Die Wirtschaftsbranche ist von den Auswirkungen des Strukturwandels, dem Wettbewerbsdruck angesichts internationaler Märkte sowie einem wachsenden Einfluss internationaler Konzernstrukturen in besonderer Weise geprägt. Durch die Liberalisierung des Milchmarktes und dem Wegfall der sogenannten „Milchquote“4 in der Europäischen Union durften Erzeuger*innen ab dem 1. April 2015 ohne Mengenbegrenzung produzieren. Das hatte einen enormen Preisverfall zur Folge; es kam zur sogenannten „Milchkrise“.5 Viele Betriebe standen vor der Entscheidung, ihren Betrieb entweder zu vergrößern, um dem Wettbewerb standzuhalten, oder ihren Betrieb aufzugeben. Insbesondere für kleinere bis mittelgroße landwirtschaftliche Betriebe ist es angesichts des hohen globalen Konkurrenzdrucks sehr schwierig, nachhaltig und günstig zu produzieren (Laschewski, 2017). Die EU-Kommission (2020) prognostiziert bis 2030 ein stetiges Wachstum der Milchproduktion, auch durch die Erschließung asiatischer und afrikanischer Absatzmärkte. Die globale Nachfrage nach hochwertigen Milchprodukten steigt (ebd.). Dennoch wird aufgrund steigender Produktionskosten erwartet, dass der Milchmarkt volatil bleibt, sodass krisensichere Zeiten für die Erzeuger*innen nicht prognostiziert werden (ebd., S. 33).6
Die exportorientierte Agrarpolitik der Europäischen Union wird aufgrund ihrer ökologischen und sozialen Folgen seit Jahren von zivilgesellschaftlichen Organisationen kritisiert (Reichert, 2019; Thomsen, 2016). Die wachsende Produktion von Fleisch und Milch kollidiert laut Chemnitz (2018) „mit der Bekämpfung von Hunger und Armut“ und „erschwert Klima- und Artenschutz“ (ebd., S. 10).
Es kommt zudem nicht nur auf die Mengen, sondern auch die Art der Produktion an. […] [D]ie schnelle Industrialisierung der Tierhaltung mit ihren Preisvorteilen gegenüber der lokalen Produktion und der globale Handel […] zerstören die Lebensgrundlage kleinbäuerlicher Produzenten und Produzentinnen in vielen Ländern, besonders in Afrika. Damit rücken dann auch die sozialen Ziele der Agenda 2030, die Bekämpfung von Hunger, Armut und Geschlechtergerechtigkeit, in weite Ferne. (Ebd., S. 11)
Unter den Erzeuger*innen werden diese Nebenfolgen eines landwirtschaftlichen Strukturwandels hin zur intensivierten Produktion ebenfalls kritisch diskutiert. Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL, 2015) betrachtete etwa den Wegfall der Milchquote kritisch, da sie das Mengenwachstum der Milch und wachsende Betriebe befördere sowie die Flächenkonkurrenz und Beanspruchung der Böden (bspw. durch Stickstoffüberschüsse) weiter verschärfe. Der internationale Handel mit Milch übe auf die Erzeuger*innen und Produktionsstrukturen im Globalen Süden einen Preis- und Qualitätsdruck aus (ebd.). Ilchmann (2016), der selbst als Landwirt arbeitet, stellt im „Kritischen Agrarbericht“ die Frage, ob „eine von Dumping geprägte Wertschöpfungskette überhaupt zukunftsfähig“ sei (ebd., S. 40). Auch im Jahr 2020 ziehen einige Erzeuger*innen die Bilanz, dass ein funktionierender, d. h. aus Erzeugerperspektive im vertretbaren Maße volatiler Milchmarkt, weiterhin nicht existiere (Ilchmann & Lenz, 2020).
Die Erzeuger*innen sind vor diesem Hintergrund mit verschiedenen Anforderungen und Ansprüchen konfrontiert. Im Zuge verschiedener Modernisierungsprozesse befinden sie sich in einer Situation, die Van der Poeg (2006) als „Double Squeeze“ bezeichnet: Die landwirtschaftlichen Betriebe sind „von einem Wettbewerb des Betriebsgrößenwachstums [getrieben]“ und zugleich „in eine Warenkette [integriert], an der ihr Anteil an der Wertschöpfung immer weiter zurückgeht“ (Laschewski, 2017, S. 269). Die ökonomischen und nachhaltigkeitsbezogenen Anforderungen an die Erzeuger*innen stehen damit häufig in einem ambivalenten Verhältnis zueinander.
Wie kann ein transformativer Wandel hin zu einem nachhaltigen Ernährungssystem gefördert werden, in dem „Klimaschutz, Biodiversitätserhaltung und Ernährungssicherung“ gewährleistet sind (WBGU, 2020, S. 13)? Welche Akteur*innen müssen in diesem Prozess „aktiviert und beteiligt werden“ (ebd.)? Wird das Ernährungssystem der Zukunft ein „Food from nowhere“-Regime (McMichael, 2009) darstellen, in welchem bäuerliche Strukturen den neoliberalen Marktlogiken mit den entsprechenden ökologischen Kosten erliegen? Oder verfängt der Beitrag der globalen Umwelt- und Klimaschutzbewegungen und kann sich ein „Food from somewhere“-Regime etablieren, in welchem ökologischen Erfordernisse konsequent berücksichtigt werden (Campbell, 2009; Friedmann, 2005)?
Das Transformationsfeld Landwirtschaft und Ernährung ist von verschiedenen politischen Konfliktlinien und offenen Fragestellungen gekennzeichnet. Zum einen stellt sich die Frage, welche Art der Landwirtschaft gesellschaftlich gewollt, ökonomisch nachgefragt und mit politischen Anreizen gefördert wird: Ist es eher das Konzept einer konventionellen oder einer ökologischen Produktionsweise? Sollen kleinere oder größere landwirtschaftliche Betriebe und damit eine eher bäuerliche oder industrielle Betriebsstruktur gefördert werden? Sind die Menschen bereit, ihre Ernährungsgewohnheiten und Konsumstile anzupassen sowie für eine ökologische Produktion mehr zu bezahlen? Welche Art der Wirtschaftspolitik ist gefragt und welche Art des Wirtschaftswachstums soll damit gefördert werden? Wie können mit Blick auf das Ziel der Ernährungssouveränität regionale und globale Versorgungs- und Wertschöpfungssysteme in einem nachhaltigen Ergänzungsverhältnis stehen (Gottwald, 2019, S. 27)? Die Diskussion darüber, wie langfristig Ernährungssicherheit hergestellt werden kann, wird in Zukunft von äußerster Kontroversität gekennzeichnet sein (Mooney & Hunt, 2009).7
Die Beurteilung von Entwicklungsperspektiven stellt eine gesellschaftliche und politische Aufgabe dar, die die Menschen in ihrer Rolle als Bürger*innen, Konsument*innen und gegebenenfalls Produzent*innen herausfordert. Der Umgang mit komplexen Problemstellungen erweist sich vor diesem Hintergrund als Bildungsaufgabe. Im nachfolgenden Abschnitt werden die Gestaltungsprinzipien der didaktischen Intervention ausführlich dargelegt.
5.2 Gestaltungsprinzipien der didaktischen Intervention: problem- und konfliktorientiertes und außerschulisches Lernen
Die didaktische Intervention hat das Ziel, die politische Urteilsbildung angesichts einer komplexen Problemstellung einer nachhaltigen Entwicklung zu fördern. Unter politischer Urteilsfähigkeit wird die Fähigkeit verstanden, „[p]olitische Ereignisse, Probleme und Kontroversen sowie Fragen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung unter Sachaspekten und Wertaspekten analysieren und reflektiert beurteilen zu können“ (GPJE, 2004, S. 13). Das lernende Subjekt ist dabei immer schon gesellschaftlich geprägt und bereits durch die gesellschaftliche Eingebundenheit als politisch vorgebildet zu betrachten:
Schülerinnen und Schüler werden zu den Lerngegenständen der politischen Bildung in aller Regel schon politische Urteile mitbringen, die häufig noch wenig differenziert sind. Im Unterricht geht es darum, solche Urteile durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven (z.B. von verschiedenen Akteuren und von Politik Betroffenen), durch die Konfrontation mit anderen Sichtweisen aus der Öffentlichkeit sowie mit Ergebnissen und Perspektiven der Sozialwissenschaften zu erweitern, zu differenzieren und einen Komplexitätszuwachs in der Begründung des Urteils zu ermöglichen. (GPJE, 2004, S. 15 f.)
Ziel politischer Bildung ist nicht die Vermittlung bestimmter Meinungen (siehe Abschn. 2.3, „Normativität und das demokratische Paradoxon“), sondern die Förderung einer elaborierteren politischen Urteilsbildung (siehe Abschn. 3.6).
Die didaktische Konzeption basiert auf Ansatzpunkten einer politischen Nachhaltigkeitsbildung, wie sie in Abschnitt 2.5.2 herausgearbeitet wurden. Die komplexen Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung stellen wissensbezogene, ethische und politische Herausforderungen dar (Block et al., 2019; siehe Abschn. 2.6). Sie sind an konkreten und exemplarischen Lerngegenständen als konflikthafte, in ihrer Lösung potenziell ungeklärte public issues zu vermitteln (Van Poeck & Vandenabeele, 2012). Vor diesem Hintergrund bietet sich die Gestaltung von themen- und problemorientierten Lehr- und Lernmethoden an, um die Urteilsbildung zu fördern:
Rather than in abstract discussions about sustainable development in general, interesting opportunities to learn about uncertain facts, disputed values, high stakes and urgently needed decisions emerge when students are exposed to concrete sustainability problems. […] Such inquiry […] can lead to well-informed judgement based on careful observation, a wide range of information and acquaintance with a plurality of experiences, skills, knowledge and perspectives (…). (Block et al., 2019, S. 36)
Am Konflikt- und Transformationsfeld „Landwirtschaft und Ernährung“, wie es in Abschnitt 5.1 skizziert wurde, lassen sich die Charakteristika nachhaltigkeitsbezogener komplexer Problemstellungen vermitteln. Darüber hinaus kann politische Urteilsfähigkeit in besonderer Weise durch die Konfrontation mit unterschiedlichen Sichtweisen unterstützt werden (Perret-Clermont et al., 2004; siehe Abschn. 3.3.3). Gerade die genuine Mehrperspektivität der außerschulischen Erfahrung vermag es, die politische Urteilsfähigkeit zu fördern (Ciupke, 2022; Juchler, 2022; siehe Abschn. 4.3).
Im Folgenden wird die didaktische Ausrichtung des Unterrichtsansatzes theoretisch hergeleitet: die Problem- und Konfliktorientierung und die Erfahrungsorientierung durch die Integration der kontroversen außerschulischen Begegnungen. In Abschnitt 2.5.2 wurden die Prinzipien der Problem-, Konflikt- und Erfahrungsorientierung in ihrer Bedeutung für eine politische Nachhaltigkeitsbildung hergeleitet. Nachfolgend werden sie als Gestaltungsprinzipien der konzipierten Lerneinheit in ihrer potenziellen Lernwirksamkeit und Anwendung vorgestellt.
Problem- und Konfliktorientierung
Gesellschaftliche Themenstellungen didaktisch aufzubereiten und zu Lerngegenständen zu transformieren, bedeutet in der Regel Komplexität zu reduzieren. Zugleich ist die Komplexität mit zunehmendem Alter der Lernenden sukzessive zu vergrößern (Besand, 2019, S. 272). Kontroversität und Perspektivität zu erfassen und dabei individuelle und kollektive Handlungs- und Möglichkeitsräume des Politischen zu eröffnen sowie einen Umgang mit Komplexität und Ungewissheit einzuüben, sind zentrale Anliegen politischer Bildungsprozesse und insbesondere im Kontext eines politikdidaktischen Beitrags zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung von Bedeutung. Didaktische Prinzipien wie die Problem- und Konfliktorientierung strukturieren die fachliche Erschließung, indem sie die Komplexität sowohl aufzeigen als auch mit Blick auf den exemplarischen und normativen Bildungsgehalt reduzieren – so verweist die politikdidaktische Heuristik des Konflikts auf die konstitutive Funktion von Konflikten und Streitkultur in pluralistischen Gesellschaften (Giesecke, 1974).
Die Lerneinheit nimmt eine authentische gesellschaftliche Problemstellung zum Ausgangspunkt, die sich auf eine individuell und gesamtgesellschaftlich relevante Herausforderung und eine gesellschaftliche Entscheidungssituation bezieht. Problemorientierte Zugänge können das „Bearbeiten und Lösen öffentlicher, d. h. politischer Probleme“ als Kern von Politik begreifbar machen (Detjen, 2013b, S. 329), Sorgen aufgreifen und Interesse erzeugen sowie eine Stellungnahme gewissermaßen provozieren (Reinhardt, 2022, S. 109). Sie fördern die politische Urteilsbildung der Schüler*innen, sofern die Komplexität nicht durch die Präsentation eindeutiger Lösungen reduziert und fachlich verkürzt wird (Goll, 2022, S. 233) oder „aus ihrem jeweiligen Kontext heraus[ge]lös[t]“ wird (Gräsel, 2009, S. 253). Die Komplexität im Unterricht darzustellen, ist auch mit Blick auf das politische Handeln zentral, um Politikverdrossenheit vorzubeugen und einen differenzierten Blick auf verschiedene Handlungsebenen zu ermöglichen. Weber (2019) zufolge setzen politikdidaktische problemorientierte
Lehr-Lern-Methoden sowohl an individuellen als auch an gesellschaftsökonomisch relevanten Herausforderungen an und ermöglichen, Gefährdungen sowie strukturelle Behinderungen von Verwirklichungschancen zu reflektieren und abzuwägen. Dies erfordert authentische Problemstellungen und Herausforderungen in komplexen Lehr-Lernarrangements statt vereinfachender, idealisierter, modellorientierter und unterkomplexer Aufgaben. (Weber, 2019, S. 93 f.)
Reinmann und Mandl (2006) definieren problemorientiertes Lernen als ein Lernen an authentischen Problemstellungen unter Einbezug multipler Perspektiven und Kontexte. Im Unterschied zur politikdidaktischen Perspektive muss es sich in pädagogisch-psychologischer Perspektive nicht notwendigerweise um ein politisches Problem handeln. Vielmehr steht die Gestaltung einer Lernumgebung, die eine Problem- oder Entscheidungssituation zum Ausgangspunkt nimmt, im Mittelpunkt. Um eine möglichst intrinsische Motivation zu evozieren, sollten die Problemstellungen von den Schüler*innen als bedeutungsvoll und interessant erlebt werden (Schiefele & Schaffner, 2020). Auf diese Weise kann ein situiertes Lernen ermöglicht werden: In Theorien situierten Lernens wird Lernen als konstruktive Aktivität betrachtet, welche in die Lebenswirklichkeit der Lernenden eingebunden ist (Gruber, 2009, S. 250). Für die Gestaltung von situierten Lernumgebungen sind folgende Prinzipien (in Anlehnung an die Lehr-Lern-Modelle der Anchored Instruction sowie auch des Cognitive Apprenticeship) relevant (ebd.):
„(1) Komplexes Ausgangsproblem (motiviert; bildet Anwendungskontext)
(4) Artikulation und Reflexion (fördert tiefe Verarbeitung)
(5) Lernen im sozialen Austausch (erhöht kritische Analyse)“
Empirische Studien geben Hinweise darauf, dass sich problemorientierte Lehr-Lern-Arrangements im Hinblick auf den kooperativen Wissensaufbau als wirksam erweisen, wenn Lernumgebungen authentische Problemstellungen aufgreifen, multiple Kontexte einbeziehen sowie soziale Eingebundenheit ermöglichen (Reinmann & Mandl, 2006; Cognition and Technology Group at Vanderbilt, 1997; Greeno & MMAP, 1998).
Im vorliegenden Kontext ergeben sich Komplexität und Mehrperspektivität aus den ökologischen, sozialen, ökonomischen und politischen Dimensionen von Nachhaltigkeitsfragen und diesbezüglich vorliegenden Konfliktlinien. Eine politikdidaktisch versierte Nachhaltigkeitsbildung appelliert darum nicht nur an die Verantwortung der Verbraucher*innen, sondern thematisiert u. a. auch „globale soziale und ökonomische Strukturkonflikte“ (Eis, 2022, S. 195). Ein problemorientierter Ansatz, der auch vorhandene Konfliktlinien aufzeigt, wird daher für die hier vorgestellte Unterrichtseinheit als sinnvoll angesehen.
Bei der fachlichen Erschließung der Problemstellung, der Erörterung der Ursachen, der involvierten Interessen und der möglichen Handlungsoptionen werden die konfligierenden Perspektiven der verschiedenen Akteur*innen- und Interessengruppen im Sinne einer konfliktorientierten Ausrichtung berücksichtigt. Die Fragen danach, worin das Problem besteht und welche Lösungen anzustreben sind, sind politische Fragen und werden je nach Interessenlage und gesellschaftspolitischem Standpunkt unterschiedlich und politisch, d. h. mit der Absicht der Durchsetzung von Interessen, beantwortet. Die Lerneinheit richtet den fachlichen Schwerpunkt damit auf die strukturellen Bedingungen eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses in Richtung Nachhaltigkeit. Auf diese Weise soll eine „Einordnung in eine komplexe Gesamtsituation“ gelingen, systemisches Verstehen angeregt und die „Basis für eine umfassende Urteils- und Handlungskompetenz“ geschaffen werden (Weber, 2019, S. 102).
Komplexität zu inszenieren, ohne sie zu stark zu reduzieren, stellt dabei eine didaktische Herausforderung dar: Ein hoher Grad an Komplexität kann den Zugang der Lernenden zur Thematik blockieren (Goll, 2022, S. 228). Um die Zugänglichkeit zu einem Thema herzustellen, kann die Spannung zwischen subjektiver Betroffenheit und gesellschaftlicher Bedeutsamkeit für unterschiedene Lernzugänge genutzt werden (Henkenborg, 2000; siehe ursprünglich Gagel, 1986, S. 107 ff.). Im Rahmen der vorliegenden Lerneinheit wird dies umgesetzt, indem der problem- und konfliktorientierte mit einem erfahrungsorientierten Zugang kombiniert wird.
Erfahrungsorientierung: Außerschulische Begegnungen mit regionalen Akteur*innen
Die Integration außerschulischer Begegnungen mit regionalen Akteur*innen, die jeweils konfligierende Perspektiven repräsentieren, vermag in besonderer Weise die Ansprüche an eine problemorientierte Lernumgebung umzusetzen (Reinmann & Mandl, 2006, S. 640 f.). Durch die außerschulischen Erfahrungen wird ein situiertes Lernen an einer authentischen gesellschaftlichen Problemstellung mit authentischen Interessenvertreter*innen ermöglicht (Brovelli et al., 2012). Die Integration außerschulischer Lernorte wird in besonderer Weise im Kontext der Nachhaltigkeitsbildung als lernförderlich erachtet. Wie in Abschnitt 4.4 ausgeführt, kommt der Region als Natur- und Sozialraum sowie der Kommune als politischer Erfahrungs- und Handlungsraum in einem gesellschaftlichen Transformationsprozess eine zentrale Bedeutung zu (Nationale Plattform Bildung für nachhaltige Entwicklung, 2017; 2020; UN, 1992). Für einen pluralistischen und politischen Bildungsansatz, wie er in der vorliegenden Arbeit umgesetzt wird, sind außerschulische Begegnungen daher von besonderem Interesse (Van Poeck & Östman, 2020).
Ausgewählt wurden zwei für die Themenstellung exemplarische Gruppen, die unterschiedlich betroffen und involviert sind: Umweltaktivist*innen einer Nichtregierungsorganisation und wirtschaftliche Akteur*innen, nämlich landwirtschaftliche Erzeuger*innen. Hierfür wurden Kooperationen mit regional aktiven Vertreter*innen dieser beiden Gruppen eingegangen. Landwirtschaftliche Betriebe, die als Lernorte fungieren, finden sich in vielen Regionen8. Lokalgruppen von Umweltschutzorganisationen können für ein Treffen angefragt werden und bieten häufig auch Workshops für den Schulunterricht an. Kooperationen dieser Art werden sowohl im Kontext der Nachhaltigkeitsbildung als auch der Demokratiebildung explizit gefordert (Eis, 2022; KMK, 2017; 2018). Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die außerschulischen Akteur*innen interessenbezogene Bildungsabsichten haben und jeweils von ihrem gesellschaftspolitischen Standpunkt aus beanspruchen, Aufklärungsarbeit zu leisten. Die Interessengebundenheit der Vertreter*innen ist transparent zu machen und fachlich einzuordnen, um möglichen Abwehrreflexen sowie einem reaktanten Verhalten der Jugendlichen vorzubeugen (Dickenberger et al., 1993).
In der Gestaltung der Lerneinheit wurde das problem- und konfliktorientierte mit dem außerschulischen Lernen kombiniert, da die Annahme vertreten wird, dass politische Urteilsbildung angesichts komplexer Problemstellungen auf diese Weise besonders unterstützt werden kann. Zunächst einmal können die außerschulischen Begegnungen die Perspektivenübernahme anregen und die schulische Vermittlungsarbeit mit der regionalen Lebenswirklichkeit verknüpfen (Juchler, 2022): Es finden Begegnungen mit Personen statt, die auf unterschiedliche Weisen von dem Problem und der Politik betroffen sind. Durch die Einbeziehung zweier in gewisser Hinsicht in Konflikt stehenden Interessenlagen soll dem pluralistischen Anspruch Rechnung getragen werden. Den Schüler*innen wird so ermöglicht, ein Verständnis für die Perspektiven der jeweiligen Akteur*innengruppen zu entwickeln sowie deren Argumente kritisch zu prüfen.
Die Lerneinheit mit ihren außerschulischen Begegnungen ist so gestaltet, dass ein forschender Zugang zur gesellschaftspolitischen Wirklichkeit eingenommen wird. Es wird angenommen, dass außerschulische Lernorte die „Spirale von Erleben, Auslegen und Verstehen“ anstoßen und dass bei entsprechender Begleitung in der Vor- und Nachbereitung tiefgreifende Reflexionsprozesse über die eigene Urteilsbildung angeregt werden können (Faulstich, 2009, S. 26). Das außerschulische Lernen bietet das Potenzial, die „Gegenstände auch in der Vielschichtigkeit der Welt zu erfassen und zu erschließen“ (Baar & Schönknecht, 2018, S. 11), dies konnten Forschungsarbeiten aus der Geographiedidaktik etwa im Hinblick auf das vernetzte Denken zeigen (Bähr et al., 2007; Diersen & Flath, 2017; Duda, 2014; Schockemöhle, 2009). Einerseits kann Komplexität durch außerschulisches Lernen erfahren werden, andererseits wird eine Verengung auf rein kognitive Lernprozesse verhindert: „Aufgrund der sinnlich-emotionalen Erfahrungen, die mit dem Erkenntnisprozess verknüpft sind, verspricht dieser Erfahrungszuwachs nachhaltiger zu sein als nur rezeptiv im schulischen Politikunterricht gewonnene Erkenntnisse“ zu liefern (Juchler, 2022, S. 517). Mit Blick auf den Lernerfolg und der Etablierung einer Haltung der Schüler*innen ist die Einbettung der außerschulischen Begegnungen in einen unterrichtlichen Gesamtzusammenhang jedoch entscheidend (Asmussen, 2010; Brandt et al., 2008; Drygalla, 2007; siehe auch Abschn. 4.5.3). Empirische Befunde zum politikdidaktischen Potenzial außerschulischer Begegnungen sind kaum vorhanden und werden im Rahmen der nachfolgenden Studien generiert.
5.3 Konzeption der Lerneinheit
Die Lerneinheit „Globale Transformation im Spiegel der Region: Wie soll die Landwirtschaft der Zukunft aussehen?“ wurde für den Politikunterricht in der Sekundarstufe II für einen Zeitraum von sieben Unterrichtsstunden entwickelt, eignet sich jedoch auch für einen fächerübergreifenden Unterricht9. Die Konzeption der Lerneinheit basiert auf den theoretisch hergeleiteten Gestaltungsprinzipien, wie sie im vorangegangenen Kapitel dargelegt wurden. Das Vorgehen in der Unterrichtseinheit orientiert sich am Ablauf einer Problemstudie (Reinhardt, 2022, S. 101–109, siehe Abb. 5.2). Die Bearbeitung der Problemstellung startet mit der Problemdefinition (Worin besteht das Problem?), nachfolgend wird sich der geschichtlichen Entstehung des Problems gewidmet (Wie ist es entstanden?). Daraufhin erfolgt eine Auseinandersetzung mit den involvierten Interessengruppen, die in diesem Lehr-Lern-Arrangement durch die Integration außerschulischer Begegnungen realisiert wurde (Welche Interessen sind betroffen?). Die Lerneinheit schließt mit der Identifikation von Stellschrauben und der Diskussion von Lösungen für das Problem sowie der Bedeutung möglicher Lösungsansätze für verschiedene Akteur*innengruppen (Welche Lösungen mit welchen Konsequenzen sind denkbar?). Hierbei stehen die Stellungnahmen der Schüler*innen im Vordergrund.
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5.3.1 Bildungsziele
In der Auseinandersetzung mit einer komplexen Problemstellung einer nachhaltigen Entwicklung werden ökologische, ökonomische, soziale und politische Herausforderungen analysiert und mit Blick auf ihre Zukunftsbedeutung beurteilt. Dabei werden Wechselbeziehungen und Zielkonflikte zwischen den Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung erörtert und bewertet. Gefördert werden soll die politische Urteilsbildung der Schüler*innen und damit das Denken in Zusammenhängen (vernetztes Denken), die Perspektivenübernahme sowie der Umgang mit Komplexität und Ungewissheit (siehe Abschn. 3.6). Das Ziel der Lerneinheit ist es, eigene themenspezifische Vorstellungen und Positionierungen „durch die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Perspektiven (z. B. von verschiedenen Akteuren und von Politik Betroffenen)“ sowie „durch die Konfrontation mit anderen Sichtweisen aus der Öffentlichkeit […] zu erweitern, zu differenzieren und einen Komplexitätszuwachs in der Begründung des Urteils zu ermöglichen“ (GPJE, 2004, S. 15 f.).
Für die Lerneinheit wurden die folgenden prozessbezogenen Ziele formuliert:
Die Schüler*innen…
analysieren den Einfluss der Landwirtschaft und unserer Ernährung auf den Klimawandel und die globale Erderwärmung.
analysieren die Entwicklung der Landwirtschaft der letzten Jahrzehnte und den stattgefundenen Strukturwandel mit seinen positiven und negativen Folgen.
untersuchen ökonomische Herausforderungen angesichts globalisierter Märkte in ihrer marktwirtschaftlichen Logik und regionalen Bedeutung am Beispiel des Milchmarktes.
erkunden einen lokalen Milchviehbetrieb und führen mit den Landwirt*innen ein Expertengespräch, in dem ihre Fragen beantwortet werden.
diskutieren das Für und Wider einer exportorientierten Milchwirtschaft im globalen Maßstab.
lernen Umweltaktivist*innen der Lokalgruppe einer Nichtregierungsorganisation kennen, erfahren von ihren Positionen und Kampagnen in Hinblick auf Landwirtschaft und Ernährung und führen ein Expertengespräch, in dem ihre Fragen beantwortet werden.
beurteilen Stellschrauben eines Wandels in den Bereichen Landwirtschaft und Ernährung in Richtung nachhaltige Entwicklung und reflektieren Folgen für verschiedenen Personengruppen.
nehmen Stellung zur Frage, wie die Landwirtschaft der Zukunft aussehen soll.
Mit Blick auf das Ziel, Prozesse der Urteilsbildung sowie den Umgang mit Komplexität, Multiperspektivität und Kontroversität zu fördern, wurden folgende ergebnisbezogene Ziele entlang der einzelnen Unterrichtsstunden abgeleitet, die im Rahmen der Interventionsstudie betrachtet werden (siehe Abschn. 7.1.1).
Die Schüler*innen…
können darlegen, wie sich die Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat und welche Folgen und Konflikte sich daraus ergeben.
können ein begründetes politisches Urteil zur modernen Landwirtschaft formulieren.
können zu einer konkreten politischen Maßnahme unter abwägendem Einbezug verschiedener Perspektiven, Interessen und Handlungsfolgen Stellung nehmen.
entwickeln ein günstiges themenspezifisches Selbstkonzept im Umgang mit Komplexität sowie ein günstiges themenspezifisches Interesse.
Eine Politisierung der Thematik – im Sinne eines zunehmenden Verständnisses der politischen Dimensionen – wird in zweifacher Hinsicht angestrebt: Durch die Differenzierung von Handlungsebenen und Akteur*innen- bzw. Interessengruppen sowie ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten soll die Problemstellung zum einen in ihrer Mehrperspektivität und Kontroversität analysiert und zum anderen als eine öffentliche, kontroverse und gesellschaftspolitisch gestaltbare Aufgabe erkannt werden.
5.3.2 Aufbau der Lerneinheit
Im Folgenden werden die einzelnen Unterrichtsstunden hinsichtlich ihrer Ziele und Vorgehensweisen skizziert.
1.
Stunde (45 Min.): Worin besteht das Problem?
Ziel. Problemanalyse und Identifikation von Herausforderungen und Zielkonflikten in der globalen Nahrungsmittelproduktion
Vorgehen. Als Problemaufriss und zur kognitiven Aktivierung werden verschiedene Satellitenbilder10 der NASA präsentiert, die den Einfluss der Nahrungsmittelproduktion auf die Umwelt veranschaulichen (Gewächshäuser in Spanien, NASA, 2011, sowie Fischzuchtanlagen im Nildelta, NASA, 2015). Die Schüler*innen erhalten zunächst den Auftrag, Hypothesen darüber zu bilden, was auf den Bildern zu sehen ist, und formulieren in einem nächsten Schritt in Partnerarbeit eine passende Bildunterschrift zu den zwei Bildern, die das Verhältnis zwischen Menschen und Umwelt reflektieren soll. Ausgehend von der Information, dass ein Viertel der Treibhausgasemissionen durch die menschliche Ernährung verursacht wird, werden die Fragen diskutiert, wie dies zustande kommt und welche Herausforderungen und Zielkonflikte sich für die Weltgesellschaft ergeben. Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge wird das Problem definiert: Landwirtschaft und Ernährung haben einen großen Einfluss auf den Klimawandel. Eine wachsende Weltbevölkerung hat einen steigenden Lebensmittelbedarf zur Folge. Um kurz-, mittel- und längerfristig Ernährungssicherheit zu gewährleisten, braucht es eine zukunftsfähige Landwirtschaft. Die Einführung führt zur erkenntnisleitenden Frage der Unterrichtseinheit: Wie sollte die Landwirtschaft der Zukunft aussehen?
2.
Stunde (90 min): Wie ist das Problem entstanden und wie wird es aus verschiedenen Perspektiven beurteilt? Entwicklungen und Konflikte in der Landwirtschaft
Ziel. Analyse von Indikatoren des landwirtschaftlichen Strukturwandels, Beurteilung der ökologischen Folgen und Diskussion aus verschiedenen interessengebundenen Perspektiven
Vorgehen. Die Schüler*innen analysieren die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in der Landwirtschaft in Deutschland anhand bestimmter Indikatoren (Datenmaterial zu Betriebsgröße, Ernteerträge, Artenvielfalt, Nitrat- und Stickstoffbelastung etc.) arbeitsteilig in Kleingruppen.11 Die jeweiligen zunehmenden oder abnehmenden Entwicklungslinien werden kooperativ in ein Schaubild an der Tafel überführt, auf dessen Basis ein Strukturwandel mit positiven und negativen Folgen erkennbar wird. Im zweiten Teil wird eine Talkshow als Kontroversverfahren (Massing, 2020) eingesetzt, in der die Entwicklung und Zukunft der Landwirtschaft aus der Perspektive verschiedener Akteur*innen- und Interessengruppen diskutiert wird. Die Schüler*innen diskutieren das Problem aus verschiedenen Perspektiven und bewerten die Entwicklungen interessengebunden – Erfolgsgeschichte (Effizienz, Technisierung etc.) oder Verfallsgeschichte (Stichwort Agrarindustrie). Die Rollen werden in vier Gruppen (vier Akteur*innen- bzw. Interessengruppen, davon zwei Pro und zwei Contra) materialbasiert vorbereitet. Jeweils ein*e Gesandte*r einer Gruppe argumentiert und diskutiert rollen- bzw. perspektivgebunden im Rahmen einer Talkshow mit dem Titel „Wir haben es satt!? – Wie sieht eine zukunftsfähige Landwirtschaft aus?“. In der Nachbereitung des Kontroversverfahrens wird auf das Konzept des Gemeinwohls und die Partikularinteressen eingegangen.
3.
Stunde (90 Min.): Welche Interessen sind betroffen? Politik der Milch – Landwirtschaft und globalisierte Märkte
Ziel. Analyse der Herausforderungen am Beispiel der Milchkrise 2015/2016, Nachvollziehen marktwirtschaftlicher Mechanismen und Vorbereitung der außerschulischen Begegnung mit den Landwirt*innen
Vorgehen. Die Schüler*innen untersuchen ökonomische Entwicklungen am Beispiel der Milchwirtschaft und diskutieren ökonomische und nachhaltigkeitsbezogene Anforderungen an die Landwirtschaft und damit verbundene Zielkonflikte. Die Liberalisierung des Milchmarktes und die daraus folgende Milchkrise 2015/16 dient als Ausgangspunkt zur Analyse marktstruktureller Veränderungen. Auf Grundlage eines Zeitungsartikels und eines Nachrichtenmitschnitts entwickeln die Schüler*innen in Partnerarbeit ein Wirkungsdiagramm zum Preisverfall nach Auslauf der Milchquote. Die Schüler*innen diskutieren auf dieser Basis aktuelle, teils widerstreitende Anforderungen an die landwirtschaftlichen Erzeuger*innen zwischen dem Leitbild der Nachhaltigkeit (ökologische Vertretbarkeit) und des Weltmarktes (Konkurrenz des Betriebsgrößenwachstums). In Vorbereitung auf die außerschulische Begegnung formulieren die Schüler*innen Interviewfragen an die Landwirt*innen.
4.
Stunde (90 Min.): Außerschulische Begegnung mit Landwirt*innen
Ziel. Kennenlernen von Sichtweisen und der Situation konventioneller Landwirt*innen in der Milchwirtschaft; Führen eines Expertengesprächs Vorgehen. Ausgewählt wurde ein konventioneller Milchviehbetrieb mit 120 Kühen, der den regionalen Durchschnitt hinsichtlich der Betriebsgröße und -struktur repräsentiert. Die außerschulische Begegnung setzt sich aus einer Erkundung des Hofes unter der Leitung der Landwirt*innen und einer Gesprächsrunde zusammen, in der die Schüler*innen die Gelegenheit haben, die vorbereiteten Interviewfragen zu stellen.
5.
Stunde (90 Min.): Welche Interessen sind betroffen? Das Für und Wider einer exportorientierten Milchwirtschaft
Ziel. Nachbereitung der außerschulischen Begegnung und globale Einordnung mit Blick auf die Vor- und Nachteile einer exportorientierten Milchwirtschaft
Vorgehen. In der nachbereitenden Diskussion tauschen sich die Schüler*innen zunächst zu ihren Eindrücken aus und stellen Verknüpfungen zwischen den Schulstunden und der außerschulischen Erfahrung her. Die Einbettung der betriebs- in eine volkswirtschaftliche Perspektive wird durch die Auseinandersetzung mit der Exportorientierung vorgenommen. Mittels eines Imagevideos einer Molkerei und anhand von Datenmaterial wird die Bedeutung des Exports für die deutsche und europäische Milchwirtschaft veranschaulicht. Dieser Aspekt wird mit einer Perspektive aus dem Globalen Süden verschränkt: Auf Basis eines Reportagenausschnittes werden die Folgen des internationalen Handels mit Milchprodukten auf die afrikanischen Inlandsmärkte thematisiert. Auf dieser Grundlage werden Chancen und Risiken des internationalen Handels für die Milchwirtschaft behandelt und von den Schüler*innen im Rahmen einer Pro-Contra-Debatte diskutiert. Die kontroverse Frage ist hierbei, inwiefern der globale Handel mit landwirtschaftlichen Gütern des täglichen Bedarfs wünschenswert ist. In Vorbereitung auf die außerschulische Begegnung formulieren die Schüler*innen abschließend Interviewfragen an die Umweltaktivist*innen.
6.
Stunde (90 Min.): Außerschulische Begegnung mit Umweltaktivist*innen
Ziel. Kennenlernen von Sichtweisen und Positionen von Aktivist*innen einer Umweltschutzorganisation; Führen eines Expertengesprächs
Vorgehen. Die außerschulische Begegnung setzt sich aus einem Workshopteil und einem Expertengespräch zusammen. Nach einem Aktivierungsspiel (Positionsbarometer) stellen die Vertreter*innen der NGO ihre Arbeit vor: Was macht die NGO und wofür steht sie? Nachdem die Schüler*innen ihren persönlichen ökologischen Fußabdruck berechnen und dabei der Einfluss des Ernährungsstils thematisiert wird, erläutern die Vertreter*innen die politischen Forderungen der NGO hinsichtlich Ernährung und Landwirtschaft. Im zweiten Teil der Stunde wird eine konkrete Kampagne der NGO in Gruppen analysiert und die Schüler*innen untersuchen die Intention, Strategie und Adressat*innen der Kampagne. Die Schüler*innen nehmen abschließend Stellung zur Frage nach der politischen Einflussnahme: „Ist ein mentaler und struktureller Wandel durch Kampagnen solcher Art anzustoßen?“. Abschließend berichten die Aktivist*innen von der realen Wirkung der Kampagne.
7.
Stunde (45 Min.): Welche Lösungen sind denkbar? Wie kann die Landwirtschaft nachhaltig gestaltet und die Ernährungssicherheit der Weltbevölkerung gewährleistet werden?
Ziel. Einschätzung möglicher Lösungsansätze und Konsequenzen für verschiedene Akteur*innen- bzw. Interessengruppen; individuelle Stellungnahme und Reflexion der eigenen Urteilsbildung
Vorgehen. Nach einer Zusammenfassung der einzelnen Bestandteile der Lerneinheit wird die Frage diskutiert, wie ein Wandel der Landwirtschaft und Ernährung hin zu einer nachhaltigen Entwicklung gestaltet werden kann. Die Schüler*innen identifizieren und erörtern in Kleingruppen Stellenschrauben und Hemmnisse und reflektieren die Folgen für verschiedenen Akteur*innen- und Interessengruppen und sie selbst. Hierzu wird gemeinsam ein Schaubild entwickelt, um die Handlungs- und Einflussmöglichkeiten auf unterschiedlichen Ebenen zu analysieren (Individuum als Konsument und als Bürger, Zivilgesellschaft, Unternehmen, Politik). Die Schüler*innen nehmen abschließend persönlich Stellung, indem sie zentrale Einsichten formulieren, die sie im Laufe des Unterrichtsprojektes gewonnen haben.
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Im interdisziplinären akademischen Nachhaltigkeitsdiskurs stellt das Konzept der planetaren Belastungsgrenzen nach Steffen et al. (2015) einen prominenten Bezugspunkt dar. Vor diesem Hintergrund lautet das Ziel nicht, „möglichst wenig“, sondern „höchstens so viel“. Aufgrund der Zielkonflikte, die zwischen ökologischen und sozialen Ansprüchen entstehen, ist diese Annahme eine relevante Konkretisierung.
Laut einer im Jahr 2019 aktualisierten Vorhersage der Vereinten Nationen wird bis 2030 eine Weltbevölkerung von 8,5 Milliarden (10 % Anstieg) prognostiziert, bis 2050 ein weiterer Anstieg auf 9,7 Milliarden (26 % Anstieg) und bis 2100 auf 10,9 Milliarden (42 % Anstieg) erwartet (Department of Economic and Social Affairs Population Division, 2019).
„Die ökologische Transformation des Ernährungssystems ist eng mit der globalen Frage der Ernährungssicherheit verbunden. Es gilt, die Ressourcenansprüche einer wachsenden, überwiegend urbanen und zunehmend zu großen Teilen auch wohlhabenderen Weltbevölkerung zu befriedigen und zugleich negative ökologische Nebenfolgen zu reduzieren.“ (Laschewski, 2017, S. 267).
Die Milchquote wurde im Jahr 1984 von der damaligen Europäischen Gemeinschaft (EG, heute EU) eingeführt, um das strukturelle Überangebot abzubauen, das dadurch entstanden war, dass die EG die Produkte zu einem Garantiepreis von den Erzeuger*innen kaufte (Europäische Kommission, 2015). Jede*r Erzeuger*in durfte nur eine bestimmte Menge produzieren – wurde die Quote überschritten, mussten Strafen gezahlt werden. Der Vorteil bestand im Schutz des europäischen Binnenmarktes; ein Nachteil lag darin, dass die europäischen Erzeuger*innen nicht von der gestiegenen globalen Nachfrage profitieren konnten (Europäische Kommission, 2015). Die Reformen der „Gemeinsamen Agrarpolitik“ (GAP) der EU zielten auf eine zunehmende Heranführung an den Weltmarkt ab. Da in diesem Zusammenhang verschiedene Marktinterventionsmaßnahmen wegfielen, sahen sich die milchproduzierenden und -verarbeitenden Unternehmen mit Preisschwankungen konfrontiert.
Im November 2016 lag der Preis des Deutschen Milchkontors (DMK), eines der größten deutschen Molkereiunternehmen zur Weiterverarbeitung der Milch, bei 25 Cent pro Kilogramm Milch.
Die Europäische Kommission (2020) prognostiziert bis 2030 ein stetiges Wachstum der Milchproduktion bei gleichzeitiger Segmentierung – so wird sich etwa der Anteil der Bio-Milchproduktion voraussichtlich auf 10 % erhöhen (3,5 % in 2018) und regionale Systeme, Direktvermarktung sowie weidebasierte-, heubasierte- oder gentechnikfreie Fütterung werden eine größere Rolle spielen. Aufgrund dieser stärkeren Segmentierung wird davon ausgegangen, dass sich die europäischen Milchkuhbestände lediglich um 7 % minimieren (ebd., S. 30). Die exportorientierte Ausrichtung wird sich vermutlich weiter festigen, da weltweit eine wachsende Importnachfrage nach hochwertigen Produkten sowie Einkommenszuwächse zu erwarten sind. Der Anstieg des EU-Rohmilchpreises wird bis zum Jahre 2030 auf 38 €/t geschätzt (ebd., S. 33). Die Produktionskosten werden jedoch voraussichtlich steigen und der Milchmarkt wird vermutlich volatil bleiben, sodass krisensichere Zeiten für die Erzeuger*innen nicht prognostiziert werden können. Die EU-Kommission erwartet dennoch, dass die EU trotz steigender Energie- und Futtermittelpreise auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig bleiben wird (ebd.).
Mooney und Hunt (2009) analysieren die Kontroversen hinter dem weitestgehend konsensuellen Konzept der Ernährungssicherheit, indem idealtypisch dominante und kritische Perspektiven gegenübergestellt werden. So steht der dominanten (u. a. von der WTO, Weltbank, OECD, transnationale Unternehmen getragene) Perspektive, Hunger und Armut „durch Produktionssteigerung in der Landwirtschaft auf Basis von modernen Technologien und globalem Handel“ zu bekämpfen, einer kritischen (von Umweltbewegungen, UN, Entwicklungsorganisationen, Kleinbauer*innen getragene) Perspektive gegenüber, die das „Recht auf Nahrung“ sowie die „Subsistenz vor Marktproduktion“ betont und eine „Begrenzung des globalen Agrarhandels“ fordert, um die kleinbäuerliche Landwirtschaft vor allem in Entwicklungsländern zu erhalten (zit. nach Laschewski, 2017, S. 282). In dominanter Perspektive geht es um einen Marktzugang für lokale Gemeinschaften und der Subventionierung alternativer Produktionsweisen mit dem Ziel der „Abmilderung sozialer und ökologischer Folgen“ sowie zur Akzeptanzsicherung, während in kritischer Perspektive vor allem auf Direktvermarktung, „Relokalisierung der Ernährungsproduktion“ sowie „Stadt-Land-Bündnisse“ und die Transformationspraxen entwickelter Länder gesetzt wird (ebd., S. 283).
Problemstellungen einer nachhaltigen Entwicklung bieten sich z. B. für einen fächerübergreifenden Unterricht mit den Fächern Geographie, Biologie und Philosophie an.