Skip to main content

18.12.2024 | Lieferkettenmanagement | Interview | Online-Artikel

"Hersteller werden weitere Produktionsverlagerungen vornehmen"

verfasst von: Christiane Köllner

6 Min. Lesedauer

Aktivieren Sie unsere intelligente Suche, um passende Fachinhalte oder Patente zu finden.

search-config
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN
loading …

Die Transformation in der Lieferkette hat an Schwung verloren, wie eine McKinsey-Umfrage unter Supply-Chain-Führungskräften zeigt. Im Interview erklären die Studienautoren Knut Alicke und Vera Trautwein die Hintergründe. 

springerprofessional.de: Wie schätzen Sie die aktuelle Situation der Lieferketten in der Automobilindustrie ein?

Alicke: Die Autokonzerne schauen kurz vor dem Wechsel der Administration vor allem in die USA. Erste Entscheidungen zu Importzöllen für Mexiko und China hat diese bereits angekündigt. Die dortigen Standorte der deutschen Hersteller werden betroffen sein. Auf einem anderen Blatt steht, dass die OEMs eigene Werke in den USA betreiben und von dort aus Fahrzeuge in alle Welt verschicken können. Insgesamt werden die Unternehmen ihr Netzwerk flexibilisieren müssen, um sich je Region an neue Rahmenbedingungen anzupassen und die Widerstandsfähigkeit für Krisenfälle auszubauen. Unserer Befragung von Supply-Chain-Managern zufolge steht zu erwarten, dass Hersteller weitere Produktionsverlagerungen vornehmen werden. Gut ist, dass die Industrie im Branchenvergleich ihre End-to-End-Transparenz stärker als geplant erhöht hat.

Welche Fortschritte machen die Unternehmen in der Lieferkette?

Alicke: Viele Unternehmen ernten jetzt die Früchte ihrer Resilienzprojekte der letzten drei Jahre. 73 % der Befragten in unserer Studie berichten über Fortschritte bei Dual-Sourcing-Strategien. 60 % sind dabei, ihre Lieferketten zu regionalisieren. Der Anteil der Befragten, die einen umfassenden Überblick über ihre Tier-One-Zulieferer haben, erreichte 60 %, womit dieser Wert das zweite Jahr in Folge um 10 Prozentpunkte gestiegen ist. 

Trautwein: Zwei Drittel machen zudem bei der Einführung von APS-Systemen – also den Tools für Advanced Planning and Scheduling – Fortschritte. Diese Systeme sind eine Schlüsselkomponente der Digitalisierung – Unternehmen können genauer planen, schneller auf Störungen reagieren und unterschiedliche Szenarien bewerten.

Die aktuelle Umfrage von McKinsey unter Supply-Chain-Führungskräften deutet auch darauf hin, dass "die Revolution in der Lieferkette an Schwung verliert", wie es heißt. Der Prozentsatz der Befragten, die Dual-Sourcing-, Regionalisierungs- oder Nearshoring-Strategien verfolgen würden, sei in den letzten zwei Jahren gleichgeblieben. Woran liegt das?

Trautwein: Darauf gibt es in der Tat einige Hinweise. Mit Covid-19 war die Lieferkette ganz oben auf die Tagesordnung gerückt. Viele Unternehmen ergriffen Maßnahmen, um ihre Geschäfte unter schwierigen Bedingungen am Laufen zu halten. Derzeit sind Dual-Sourcing, Regionalisierung und Nearshoring etwas aus dem Blick geraten, wir sehen keine bedeutenden Fortschritte mehr. Die Digitalinvestitionen flachen ab. Der Anteil der Befragten, die einen guten Einblick in die tieferen Ebenen der Lieferkette haben, sank um 7 Prozentpunkte. Dies sollte ein Grund zur Besorgnis sein, da größere Unterbrechungen meist genau dort beginnen. Dann brauchen Unternehmen zu lange, um eine Reaktion zu planen und auszuführen – im Durchschnitt zwei Wochen. Es gibt also immer noch bedeutende Baustellen bei der Verbesserung der Widerstandsfähigkeit. Das sind Chancen, die Unternehmen nicht liegenlassen sollten.

Aus der Umfrage geht auch hervor, dass der Anteil derer, die sich mit dem Aufbau von Lagerbeständen gegen Störungen wappnen, stark rückläufig ist. Warum hat sich die Herangehensweise an das Bestandsmanagement geändert?

Alicke: Die Zahl der Unternehmen, die sich gegen Störungen auf größere Lagerbestände verlassen, ist von 59 Prozent auf 34 % gefallen. Nach dem Ausbruch von Covid-19 war der Ausbau der Lagerbestände weltweit das Mittel der Wahl. So konnten Unternehmen Unregelmäßigkeiten in der Nachfrage und der Belieferung austarieren. Um 15 bis 20 % erhöhten sie ihre Bestandspuffer. Doch jetzt stehen der Kosten- und Kapitaldruck in den Planungsabteilungen wieder höher im Kurs, die Bestände werden reduziert. Als sicher darf angesichts des Komplexitätssprungs in den Lieferketten gelten, dass es künftig keine ausreichende Antwort mehr sein wird, permanent die Lagerhäuser bis unters Dach mit Vorräten zu füllen. Unternehmen können Strategien entwickeln, die nicht nur in einer akuten Krisensituation, sondern nachhaltig die Resilienz steigern.

Größere Unterbrechungen starten oft tief in der Lieferkette. Jedoch haben immer weniger Befragte laut Umfrage einen guten Einblick in die tieferen Ebenen ihrer Lieferanten. Braucht es bessere Frühwarnsysteme?

Alicke: Mit einem Frühwarnsystem können Unternehmen die Welt kontinuierlich auf Erschütterungen hin beobachten. Es deckt Schwachstellen auf und liefert Daten, mit denen APS-Systeme mehrdimensionale Szenarien und Prognosen zu möglichen Auswirkungen von Entscheidungen erstellen. Sollten Lieferketten verlagert werden? Welche Produktionsstandorte müssen flexibler werden? Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es im Falle von Störungen? Ein systematischer Prozess reduziert die Unsicherheit und erhöht die Entscheidungsqualität.

Trautwein: Viele Betriebe befinden sich hier bereits auf dem richtigen Weg und ergänzen das intern vorhandene Erfahrungswissen durch neue Tools. Damit können sie die Lieferkette "End-to-End" über alle Ebenen transparent machen. Und auch Silos im eigenen Hause beseitigen.

Die Richtlinie der Europäischen Union über die Sorgfaltspflicht im Bereich der Nachhaltigkeit ist für einige Unternehmen bereits in Kraft. Wie weit ist die Umsetzung?

Trautwein: Mit den neuen Gesetzen der Europäischen Union wächst der Druck auf die Betriebe, ihre Transparenz in der tiefen Lieferkette zu steigern. Sie müssen sicherstellen, über alle Ebenen hinweg unter Einhaltung der Umwelt- und Menschenrechtsstandards zu produzieren. Doch gerade einmal 9 % der Umfrageteilnehmer gaben an, dass ihre Lieferketten derzeit die neuen Vorschriften einhalten. 29 % sind bei ihren Bemühungen mehr oder weniger im Rückstand. Am ungünstigsten fällt das Ergebnis in der Automobilindustrie aus. Nur 7 % der Unternehmen des Sektors sehen sich als gut vorbereitet. 57 % der Befragten geben an, einen Rückstand aufholen zu müssen. Sektoren wie zum Beispiel Infrastruktur und Rohstoffe schließen deutlich besser ab.

Die Investitionen in die Digitalisierung sind der Studie zufolge abgeflacht. Inwiefern liegt das am Mangel an digitalen Talenten?

Trautwein: In den letzten drei Jahren hat sich die Herangehensweise der Unternehmen bei der Gewinnung von IT-Fachkräften dramatisch verändert. 2021 hatten die meisten Befragten einen Ansatz bevorzugt, der den Schwerpunkt auf die Mobilisierung der internen Ressourcen legte. 2023 dann versuchten sie, ihre Talentlücken durch die Rekrutierung zu schließen. Angesichts des akuten Mangels im Markt überarbeiten die Personal- und Fachabteilungen inzwischen ihre internen Schulungs- und Talententwicklungskapazitäten. Langfristig dürfte dies der effektivste Weg sein, um ein nachhaltiges Angebot an Fachkräften zu sichern. Unternehmen können die Kompetenzen ihrer Führungskräfte und Teams mit passgenauen Qualifizierungsprogrammen weiterentwickeln. Investitionen in die Digitalisierung der Lieferkette sind ein entscheidender Faktor für die Wettbewerbsfähigkeit.

Wie kann eine Resilienz in der Lieferkette durch KI-Investitionen geschaffen werden?

Alicke: GenAI wird die Art und Weise, wie Supply Chains konzipiert und gemanagt werden, grundlegend verändern. Die Technologie für die nächste Entwicklungsstufe steht bereit: AI und GenAI können die Planungsabteilungen wie ein neues "Teammitglied" unterstützen. Sie beschleunigen Prozesse, erkennen Inkonsistenzen und verbessern die Entscheidungsqualität. Dokumentation und Anleitungen werden Zug um Zug automatisiert. Kopiloten können heute schon aus einer Datenbank mit Millionen von Adressen schnell und präzise eine Auswahlliste von Lieferanten filtern, die genau zu den Vorgaben und Zielen passen. Dashboards werden scheinbar unlösbare Aufgabenstellungen lösen. Es gibt jetzt schon eine Vielzahl von Anwendungsbeispielen, viele weitere befinden sich in der Entwicklung. Wichtig für Investitionen mit längerem Planungshorizont ist dabei auch, dass die Führungskräfte ihren Platz am Tisch bekommen und den Vorstand beraten können.

print
DRUCKEN

Weiterführende Themen

Die Hintergründe zu diesem Inhalt

Das könnte Sie auch interessieren

22.11.2024 | Automobilwirtschaft | Kompakt erklärt | Online-Artikel

Was ist Catena-X?