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2016 | Buch

Lifelogging

Digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung zwischen disruptiver Technologie und kulturellem Wandel

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Über dieses Buch

Der vorliegende Band liefert fundierte Analysen zur theoretischen Einordnung eines aktuellen gesellschaftlichen Phänomens zwischen innovativen, wertverändernden und zugleich disruptiven Technologien sowie dem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel.

Lifelogging, die digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung des Menschen, findet sich als gesellschaftlich relevantes Thema heutzutage nicht nur in Forschung und Wissenschaft sondern auch in der Literatur, dem Feuilleton oder im Theater wieder. Das Spektrum von Lifelogging reicht vom Sleep- und Mood- über Sex- und Work- bis hin zu Thing- und Deathlogging. Dabei tauchen zahlreiche Fragen auf: Wie lebt es sich in der Gesellschaft von Daten? Ist der vermessene Mensch automatisch auch der verbesserte Mensch? Und wenn ja, welchen Preis zahlt er dafür? Entstehen durch Lifelogging neue Wirklichkeitskategorien oder ein neues Ordnungsprinzip des Sozialen? Wie verändert sich der „soziale Blick“? Die AutorInnen des Sammelbandes geben detaillierte Antworten auf diese drängenden Fragen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung
Lifelogging zwischen disruptiver Technologie und kulturellem Wandel
Zusammenfassung
Der vorliegende Sammelband dient der Einordnung und Analyse eines aktuellen gesellschaftlichen Phänomens zwischen innovativen Technologien und kulturellem Wandel. Unter Lifelogging werden dabei unterschiedliche Formen digitaler Selbstvermessung und Lebensprotokollierung verstanden. Selbstvermessungsund Protokollierungsformen reichen von Anwendungen in Forschungskontexten über Experimente in Szenen bis hin zu popularisierten Alltagspraxen.
Stefan Selke

Einordnungen und Grundlagen

Frontmatter
Lifelogging und vitaler Normalismus
Kultursoziologische Betrachtungen zur Neukonfiguration von Körper und Selbst
Zusammenfassung
Im Lifelogging besitzt die Datenerfassung zunehmend Livequalität und wird rekursiv: Zahlen und Daten werden im Moment des Erschaffens protokolliert und vernetzt und gleichsam zur Orientierung im Handlungsvollzug herangezogen. Der Text nimmt diese Beobachtung als Ausgangspunkt, um zu zeigen, inwiefern Lifelogging als eine Technik der Konstitution des Selbsts mit einem gesellschaftlichen Steuerungsmodell des vitalen Normalismus’ in Zusammenhang steht. Mit diesem Begriff schlagen wir eine Erweiterung des Normalismuskonzepts von Jürgen Link vor. Sie soll die aktuelle Verschmelzung eines flexibel-normalistischen Vergesellschaftungstypus’ mit einer Kultur des Lebens in den Blick nehmen und zeigen, inwiefern sich Lifelogging als Ausdruck und Proliferant dieses vitalen Normalismus’ verstehen lässt.
Lars Gertenbach, Sarah Mönkeberg
Lifelogging - Projekt der Befreiung oder Quelle der Verdinglichung?
Zusammenfassung
Der Beitrag bestimmt das Verhältnis von Entfremdung und Lifelogging-Praktiken. Um aufzuweisen, dass die Interpretation von Lifelogging als Selbstentfremdung bzw. Selbstverdinglichung verkürzt ist, wird die Diagnose der Verdinglichung bei Lukács, Adorno, Habermas und Honneth rekonstruiert, um im kritischen Bezug auf sie die Ausdehnung der Verdinglichung von der Lohnarbeit auf Freizeitpraktiken zu verstehen. Gegen die These der Kolonialisierung der Lebenswelt wird die Form der Trennung der Sphären in der kapitalistischen Moderne selbst hierfür zum Ausgangspunkt genommen. Auf dieser Grundlage werden Lifelogging-Praktiken als Versuch der Bewältigung heteronomer Verdinglichung und somit als Versuch, Autonomie über das eigene Leben zurückzugewinnen, verstanden, der selbst in entfremdeter Form verläuft.
Peter Schulz
Datensätze der Selbstbeobachtung – Daten verkörpern und Leib vergessen!?
Zusammenfassung
Die derzeit von Medien und Sozialwissenschaften abermalig beschlagnahmte Quantified-Self-Bewegung (QS) wirkt wie ein Echo auf diese Äußerung der Hauptfigur Walter Faber in Max Frischs Roman Homo Faber. In der 2007 gegründeten QS-Bewegung kulminiert der „Wille“, Erfahrungen sowie alltägliche Körperreaktionen und Verhaltensweisen auf der Basis von digitalen Sensoren im wahrsten Sinne des Wortes zu entziffern. Im Beitrag werden zentrale Diagnosen Michel Foucaults sowie der an sein Werk anknüpfenden medizinisch interessierten gouvernementality studies vorgestellt und die Praktik der Selbst(ver)messung in diese Denkstruktur kritisch eingefasst. Ist der Datenkörper der Bevölkerung Teil einer historisch vertrauten, präventiven Politik des Risikomanagements, so repräsentiert sich hier ein personalisierter Datenkörper als Ort mikroskopischen Selbstmanagements. Im Anschluss wird eine empirische Erweiterung dieser Perspektive vorgeschlagen, die aufzeigen soll, inwiefern derart numerische Praktiken bis in die Tiefe der phänomenologischen Leib-Körper-Dualität reichen. In der Diskussion dieser These werden Bezüge zu tradierten Praktiken der Selbstvermessung hergestellt, wie dem Messen des Blutzuckers, um im Anschluss gegenwärtige Verhandlungen um einen Datenkörper aufzugreifen.
Lisa Wiedemann

Anwendungsfelder und Fallstudien

Frontmatter
Die Statistik des Selbst - Zur Gouvernementalität der (Selbst)Verdatung
Zusammenfassung
Anhand einer Systematisierung verschiedener Selbstvermessungs-Szenarien diskutiert der vorliegende Artikel das gegenwärtige Umsichgreifen von Self-Tracking-Technologien als Teil eines breiten Transformationsprozesses sozialer Steuerungspotentiale. Selbstvermessung wird dabei weniger als emergentes Phänomen der letzten Jahre, sondern viel mehr als vorläufiger Höhepunkt der weltweiten Karriere statistischer Wissensproduktion betrachtet, deren gesellschaftliche Bedeutung sich seit dem Aufkommen der ersten öffentlich zugänglichen Bevölkerungsstatistiken stetig vergrößert hat. In Anlehnung an die Gouvernementalitäts- und Normalismusforschung wird dabei davon ausgegangen, dass die Konstituierung des modernen Selbstes seit jeher in starkem Maße mit numerischen Messwerten und öffentlichen Statistiken koinzidiert.
Thorben Mämecke
Mood Tracking:Zur digitalen Selbstvermessung der Gefühle
Zusammenfassung
Im vorliegenden Beitrag wird herausgearbeitet, inwiefern Self-Tracking – v.a. mit einem Fokus auf Gefühlsphänomene – als spezifische Form selbstthematisierender Praxis begriffen werden kann. Es erfolgt eine analytische Rekonstruktion von aktuellen Programmen der Gefühlsvermessung, deren implizite Emotionskonzepte zu emotionssoziologischen Gegenwartsdiagnosen in Bezug gesetzt werden. Die digitale Selbstvermessung der Gefühle – so die These – reiht sich in die lange Reihe zeitgenössischer Programme und Praktiken des Emotionsmanagements (z.B. Emotionale Intelligenz) ein, die dazu beitragen, ein neues Verständnis von Emotionen hervorzubringen, das Gefühle unter dem Vorzeichen von Selbsterkenntnis, Selbstverwirklichung und Erfolg als willentlich wähl-, form- und optimierbar erscheinen lässt.
Sarah Miriam Pritz
Die Vermessung des Unternehmers seiner selbst
Vergeschlechtlichte Quantifizierung im Diskurs des Self-Tracking
Zusammenfassung
Anhand von verschiedenen Beispielen wird gezeigt, dass es sich bei den Praktiken des Self-Tracking wesentlich um eine Rationalisierung von Selbstoptimierung handelt. Als solche lassen sie sich mit dem Foucaultschen Theorem des Unternehmers seiner selbst prägnant in den Blick nehmen. Dabei können die Quantifizierungstechniken des Self-Tracking verstanden werden als buchhalterische Praktiken, die eine ökonomisierte Selbstverwirklichung erlauben. Gleichzeitig ist die Selbstvermessung eingebunden in Prozesse des Genderings und Degenderings, die hier anhand der Männlichkeitskonstruktion im Self-Tracking-Diskurs untersucht werden. Diese kann aufgrund ihrer gleichzeitigen Betonung von Selbstverwirklichung und ökonomischer Rationalität als unternehmerische Männlichkeit bezeichnet werden.
Simon Schaupp
Kalorienzäen oder tracken?
Wie Quantified Self feminisierte Körperpraxen zu Männlichkeitsperformanzen transformiert
Zusammenfassung
In diesem Beitrag wird die Überzahl männlicher Partizipanten an der Quantified-Self-Bewegung eines kritischen Blicks unterzogen. Die aktuelle digitale Selbstvermessung wird über die antike Diätetik und die Bürgerliche Hygienebewegung mit dem Diäthalten von Frauen und dem Führen eines Menstruationskalenders verknüpft. Es wird gezeigt, wie QS die Möglichkeit schafft, weiblich konnotierte Praxen in männliche Subjektivierung und Gender-Performanz einzubauen ohne mit Gayle Rubins Gleichheits-Tabu zu brechen. Doch wird dazu aufgerufen Geschlecht nicht als monolithischen Faktor zu sehen, sondern stets in Interdependenz mit anderen gesellschaftlichen Strukturgebern, hier vor allem mit der ökonomisch-sozialen Position der Subjekte um die Bedeutung der besprochenen Praktiken einordnen zu können.
Corinna Schmechel
Virtuelle Identitäten im „Worklogging“
Impulse zur sozialen Gestaltung der Arbeitswelt in der „Industrie 4.0“
Zusammenfassung
Wenn von digitaler Selbstvermessung und alltäglicher Handlungsprotokollierung geschrieben oder gesprochen wird, wendet sich der Blick vor allem dem privaten Freizeit- und Lebensbereich zu. Die Phänomene, die sich unter dem Begriff „Lifelogging“ zusammenfassen lassen, rekurrieren nicht selten auf den individuellen Gesundheits- und Körperbezug, auf privates Social Media, auf „Follower“ und „Likes“, auf Selbstreferenzielles wie das Motto „yolo“ (you only live once) oder persönliche Netzwerk-Kulturen. Der Bezug zur Arbeitswelt erscheinteher dann, wenn innerlich Junggebliebene ihre berufliche Fitness im Kontext eines verkürzten Employability-Verständnisses pflegen. Sei es begründet in medizinischer Vorsorge oder in modischer Anpassung an gängige Trends. Schwenkt der Blick hinüber in die derzeitigen Arbeitswelten tauchen zusätzlich Begriffe wie „Prävention“ oder „Burn-out-Vermeidung“ auf.
Welf Schröter

Quantifizierte Wissensformen und gesellschaftliche Folgen

Frontmatter
Selbstoptimierung durch Quantified Self?
Selbstvermessung als Möglichkeit von Selbststeigerung, Selbsteffektivierung und Selbstbegrenzung
Zusammenfassung
Der Fokus des Beitrags liegt auf der „Urszene“ von Quantified Self, dass jemand freiwillig, mit möglichst eigenen Mitteln eine Selbstvermessung praktiziert. Konkret fragt der Text nach den sich verändernden Selbstverhältnissen durch eine Selbstvermessung.
Im ersten Teil wird der sowohl im Feuilleton als auch in der beginnenden wissenschaftlichen Debatte aufscheinende Reflex, der Selbstvermessung mit Selbstoptimierung gleichsetzt, kurz umrissen, um danach zwei begriffliche Klärungen vorzunehmen. Erstens wird gefragt, was mit Optimierung und Selbstoptimierung überhaupt gemeint sein könnte. Zweitens wird geklärt, welche Folgen das Erheben quantitativer Daten über sich hat. Von diesen beiden Aspekten ausgehend wird im letzten Teil die Gleichsetzung von Quantified Self und Selbstoptimierung problematisiert.
Stefan Meißner
Selbstvermessung als Wissensproduktion
Quantified Self zwischen Prosumtion und Bürgerforschung
Zusammenfassung
„Self knowledge through numbers“ lautet der Slogan der international verbreiteten Quantified-Self-Bewegung. Der Beitrag geht der Frage nach, welche Art von Wissen hier eigentlich gewonnen wird und wie diese Wissensproduktion zu charakterisieren ist. Dabei zeigt sich, dass sich die Wissensproduktion der digitalen Selbstvermessung in einem Spannungsfeld von Prosumtion und Citizen Science verorten lässt. Es wird eine Typologie von Self-Tracking-Aktivitäten vorgestellt, von denen insbesondere die mit forschungsähnlichem Charakter im Mittelpunkt stehen. Diese Forschungsaktivitäten der Selbstvermesser werden als Personal Science bezeichnet, da sie versuchen, gesichertes Wissen mit wissenschaftlichen Methoden und nach wissenschaftlichen Kriterien zu produzieren, dabei aber den Forscher selbst zum Gegenstand haben und auf handlungspraktisch relevantes Wissen für den Eigenbedarf zielen.
Nils B. Heyen
Das digitale Selbst - Data Doubles der Selbstvermessung
Zusammenfassung
Wird dem Selbstbild gemeinhin Reflexion des Selbsterlebens und sozialer Rückmeldungen zugrunde gelegt, so geht die Verdatung zudem mit einem in den digitalen Vermessungstechnologien begründeten Selbstkonzept einher. Dieses basiert auf der Datenausgabe an der Schnittstelle zwischen der Digitaltechnologie und dem physischen Körper als Datenquelle. Im Gegensatz zum Leib scheint der Mensch über seinen verdateten Körper instrumentell zu verfügen, ebenso wie ihn manipulativen Eingriffen unterziehen zu können, um die Vorstellung vom „Ich“ sichtbar werden zu lassen. Indem der menschliche Körper Teil des technischen Dispositivs wird, ist er zugleich mit der Vorstellung technischer Evolution und technologischer Entwicklungsdynamik der Steigerung konfrontiert.
Petra Missomelius
Der neoliberale Zeitgeist als Nährboden für die digitale Selbstvermessung
Selbstevaluation – allumfassend, 86.400 Sekunden am Tag, 365 Tage im Jahr
Zusammenfassung
Thema dieses Textes sind die Auswirkungen des neoliberalen Zeitgeists auf das Verhältnis von Menschen zu ihrem eigenen Körper. Konkret geht es darum aufzuzeigen, wie Vorreiter der sogenannten Quantified-Self-Bewegung argumentieren, welches Welt- und Menschenbild ihren Aussagen zu Grunde liegt und welcher konkreter Methoden sie sich bedienen, um Leistungssteigerungen im Alltag umzusetzen. Zudem wird dargestellt, wie die recht neue Entwicklung unverzüglich kommerzialisiert wird.
Wie tiefgreifend die Veränderung durch die Selbstvermessungsmethoden sind, soll anhand einiger prägnanter Beispiele dargelegt – und durch Textpassagen aus Literatur und Popkultur untermalt werden. Die Thematik ist schließlich bereits frühzeitig kritisch und ironisch von verschiedenen Seiten kommentiert worden.
Christopher Stark
Ausweitung der Kampfzone
Rationale Diskriminierung durch Lifelogging und die neue Taxonomie des Sozialen
Zusammenfassung
Trotz euphorischer Einschätzungen und Nutzenversprechungen durch Entwickler, Pioniere und Unternehmen sind mit dem Boom digitaler Selbstvermessung zahlreiche Risiken verbunden. Lifelogging – die Summe aller Technologien und Anwendungen zur digitalen Selbstvermessung und Lebensprotokollierung – verändert als Set ‚disruptiver’ Technologien unsere ‚kulturelle Matrix’, also die Regeln des Zusammenlebens. Die Vermessung des Menschen und dessen Reduktion auf ein numerisches Objekt und einen Datenkörper erzeugen ein negatives Organisationsprinzip des Sozialen. Die hieraus resultierende rationale Diskriminierung wird als Pathologie der Quantifizierung zwischen statistischer und sozialer Diskriminierung verortet sowie in seinen Folgen analysiert. Als Folge der Selbstvermessung stellt sich übergreifend die Frage, wer in Zukunft eigentlich noch entscheidet. Der Beitrag gibt vor diesem Hintergrund einen Ausblick auf die neuen ‚Entscheidungsmaschinen“, die sich als Folge der Ausweitung der digitalen Vermessungsformen etablieren.
Stefan Selke
Backmatter
Metadaten
Titel
Lifelogging
herausgegeben von
Stefan Selke
Copyright-Jahr
2016
Electronic ISBN
978-3-658-10416-0
Print ISBN
978-3-658-10415-3
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-10416-0