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1998 | Buch | 2. Auflage

Parteienwettbewerb im Bundesstaat

Regelsysteme und Spannungslagen im Institutionengefüge der Bundesrepublik Deutschland

verfasst von: Gerhard Lehmbruch

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung: „Reformblockaden“ oder institutionelle Verwerfungen?
Zusammenfassung
Thema dieser Untersuchung sind die Krisen, in welche die bundesstaatlichen Institutionen erstmals mit Beginn der siebziger Jahre und dann wieder in den neunziger Jahren geraten sind. Ihr Ursprung liegt darin, daß sich der Parteienkonflikt seit der Bildung der sozialliberalen Koalition verschärft hat und auch auf das Verhältnis von Bund und Ländern durchschlägt. Es soll im folgenden gezeigt werden, daß hier ein Strukturbruch im politischen System der Bundesrepublik Deutschland zutage tritt, der durch eigentümliche entwicklungsgeschichtliche Verwerfungen bedingt ist: Das Parteiensystem einerseits, das föderative erstem andererseits sind von tendenziell gegenläufigen Handlungslogiken und Entscheidungsregeln bestimmt und können sich unter bestimmten Bedingungen wechselseitig lahmlegen. Schon das Festlaufen zahlreicher Reformvorhaben der sozialliberalen Regierungskoalition in den bundesstaatlichen Institutionen war ein Ausdruck dieser strukturellen Spannungen. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre haben die selben institutionellen Verwerfungen aber auch dazu geführt, daß man im Unternehmerlager und in konservativen Sektoren der Öffentlichkeit von einem „Reformstau“ sprach, der die Anpassungsfähigkeit der deutschen Politik an die Herausforderungen einer gewandelten internationalen Umwelt dramatisch gefährde.
Gerhard Lehmbruch
1. Konkurrenzdemokratie und Verhandlungsdemokratie
Zusammenfassung
Die „Verwerfung“ innerhalb des politischen Systems, von der hier die Rede ist, ergibt sich daraus, daß sich die eigentümlichen Handlungslogiken auseinander entwickelt haben, die im Parteiensystem einerseits, im bundesstaatlichen Beziehungsgeflecht andererseits vorherrschen und sich zu „Spielregeln“ verfestigt haben. In früheren Entwicklungsabschnitten des deutschen Nationalstaates (seit es Parteienkonkurrenz und Föderalismus überhaupt gab) waren die Handlungslogiken des Parteiensystems und des Bundesstaates einander bemerkenswert ähnlich geworden und stützten sich daher auch in starkem Maße gegenseitig ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber werden sie zunehmend gegenläufig, so daß in bestimmten Konstellationen die institutionalisierten Funktionsabläufe des politischen Systems blockiert werden können.
Gerhard Lehmbruch
2. Das Parteiensystem auf dem Wege zum bipolaren Wettbewerb
Zusammenfassung
Wenn hier die Behauptung aufgestellt wird, daß sich im bismarckisch-wilhelminischen Deutschland zunehmend Prozesse des Aushandelns („bargaining“) als das dominante Regelsystem durchgesetzt haben, so widerspricht das — jedenfalls auf den ersten Blick — verbreiteten Vorstellungen von der Eigenart der politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Kaiserreiches als „Obrigkeitsstaat“: Ein deutscher „Sonderweg“ der Entwicklung — so diese Vorstellung — habe damals den Modernisierungsprozeß Deutschlands gehemmt. Das Bürgertum dankte politisch ab, indem es die Entscheidungspositionen einer autoritären Machtelite „feudaler“ Herkunft und ihrer „allmächtigen Bürokratie“ (Arthur Rosenberg) überließ und sich mit „rechtsstaatlicher“ Sicherung seiner (unpolitischen) Privatautonomie begnügte, das heißt, in erster Linie mit der Freiheit erwerbswirtschaftlicher Betätigung. Darüber hinaus übernahm es auch noch die politisch-gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen jener vorindustriellen Machtelite — ein als „Feudalisierung“ des Bürgertums bezeichneter, in der sozialen Funktion des Reserveoffiziers symbolisierter Vorgang (Eckart Kehr). Die Figur des „Untertanen“ (Heinrich Mann) beherrschte die bürgerliche Szenerie. Oppositionelle Gruppen, insbesondere die Arbeiterschaft und ihre Organisationen, seien — nach dem Fehlschlag repressiver Methoden — durch „negative Integration“ (Guenther Roth 1963), also durch Tolerierung ihres organisatorischen Eigenlebens bei Ausschließung von der politischen Mitsprache im Staat, politisch neutralisiert worden. Auch der politische Katholizismus sei aus dem „Ghetto“ oder, mit einem anderen Bilde, aus dem „Turm“ nicht herausgekommen.
Gerhard Lehmbruch
3. Der deutsche Bundesstaat als Verhandlungssystem
Zusammenfassung
Wie schon weiter oben ausgeführt, waren in den Anfangen der „alten“ Bundesrepublik die Vorstellungen über Parteiregierung stark am Westminster-Modell orientiert. Dieses Modell setzt aber voraus, daß die Steuerungsimpulse aus dem Parteiensystem effektiv weitergeleitet werden. Die Theorie der Parteiregierung bedachte das insoweit, als sie sich das Postulat der instrumentellen Ausrichtung des Verwaltungsapparates zu eigen machte: Die Bürokratie sollte entweder insgesamt, wie in der englischen Verwaltungstradition, politisch neutralisiert werden oder doch wenigstens so weit, daß — wie dies älterer französischer oder deutscher Praxis entsprach — die Auswechslung von „politischen“ Beamten in verhältnismäßig wenigen Schlüsselpositionen genügte, um die reibungslose Transmission durch den bürokratischen Apparat sicherzustellen (so schon Schumpeter 1947). Man muß aber beachten, daß diese Konzeption zunächst auf den Einheitsstaat mit zentralistischem Verwaltungsaufbau zugeschnitten war. Es wird allzu häufig übersehen, daß die am englischen Modell orientierte Theorie der Parteiregierung eben auch die hochgradig unitarische Struktur des englischen Staatsaufbaus voraussetzt.
Gerhard Lehmbruch
4. Unitarisierung und Politikverflechtung
Zusammenfassung
Die institutionell bedingte Interdependenz von Parteiensystem und Bundesstaat gab es, wie oben gezeigt wurde, seit der Parlamentarisierung der Länderregierungen nach dem Sturz der Monarchien. Nur war sie für den Föderalismus und insbesondere für die Arbeit des Reichsrates eben deshalb noch nicht sehr folgenreich, weil die weitgehende Überlappung der Regierungskoalitionen das politische Konfliktniveau niedrig hielt und dazu beitrug, die gouvernemental-administrative Orientierung auf „sachliche Arbeit“ zu konservieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg ergab sich indes, wie wir im einzelnen sehen werden, ein zunehmendes Spannungsverhältnis von Föderalismus und Parteienwettbewerb. Dazu trugen nicht nur gewandelte gesellschaftliche Rahmenbedingungen bei besondere die Konzentrationsbewegung im Parteiensystem. Auf der anderen Seite traten auch charakteristische Merkmale der bismarckischen Bundesstaatskonstruktion stärker hervor als in der Vergangenheit, so daß schon von daher die I z der beiden Funktionszusammenhänge größer werden mußte.
Gerhard Lehmbruch
5. Im Spannungsfeld von Parteienwettbewerb und Föderalismus
Zusammenfassung
Die strukturelle Gegenläufigkeit von Parteienwettbewerb und Föderalismus trat in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik noch nicht deutlich zutage. Doch waren Tendenzen einer parteipolitischen Polarisierung auch im bundesstaatlichen Verhältnis schon frühzeitig zu beobachten. Die Befürworter der Bundesratskonstruktion, die darin ein Widerlager zur Parteipolitik sehen wollten, hatten die Interdependenz von Bundesratskompetenzen und Parteienwettbewerb nicht einkalkuliert und daher die letztlich zentralisierenden Konsequenzen dieser Wechselbeziehung nicht vorhergesehen. Wie wir gesehen haben, war der Bundesrat im Vergleich zum Weimarer Reichsrat insgesamt gestärkt worden, und seine Zuständigkeiten wuchsen infolge der extensiven Auslegung des Zustimmungserfordernisses nach Art. 84 Abs. 1 GG noch an. Darüber hinaus stellte er wegen des Fehlens einer Hegemonialmacht und der relativen Gleichgewichtigkeit der Länder ein potentielles Gegengewicht zur Bundesregierung dar. Das warf das Problem der politischen Homogenität von Bund und Ländern in viel schärferer Weise auf, als es je in der Vergangenheit der Fall gewesen war. Ihre Machtkalküle ließen die politischen Akteure in Bund und Ländern die Interdependenz zwischen dem konkurrenzdemokratischen Parteienwettbewerb und einem traditionell verhandlungsorientierten Föderalismus entdecken, die sich aus der veränderten Bundesstaatskonstruktion ergab. Zwischen beiden Arenen und Regelsystemen baute sich damit ein Spannungsverhältnis auf, in dem jene Akteure erst allmählich lernten, welche Chancen die veränderten institutionellen Rahmenbedingungen ihnen jeweils boten.
Gerhard Lehmbruch
6. Entflechtungsstrategien und ihre Chancen
Zusammenfassung
Wir haben in der Entwicklung der zweiten deutschen Republik eigentümliche Engpässe im Verhältnis von Bundesstaat und Parteienparlamentarismus beobachtet. Die Behauptung der konservativen Staatsrechtslehre im Bismarckreich, Föderalismus und parlamentarische Regierungsweise seien grundsätzlich unvereinbar, ist freilich längst widerlegt. Die Erfahrung der Weimarer Republik hat gezeigt, daß eine bundesstaatliche Ordnung auch bei einem parlamentarischen Regierungssystem mit Parteienwettbewerb funktionieren kann. Erst infolge der Verbindung von bipolarem Parteienwettbewerb und Verbundföderalismus, das lehrt die Längsschnittperspektivc, sind jene Engpässe im Entscheidungsprozeß aufgetreten, wie sie dann in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre zu einer erneuten kontroversen Diskussion über bundesstaatliche „Entscheidungsblockaden“ führten.
Gerhard Lehmbruch
Backmatter
Metadaten
Titel
Parteienwettbewerb im Bundesstaat
verfasst von
Gerhard Lehmbruch
Copyright-Jahr
1998
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-322-97084-8
Print ISBN
978-3-531-13126-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-322-97084-8