Wie alle kognitiven Rahmungen, entstehen auch wissenschaftliche Theorien niemals in einem sozialen Vakuum. Die akademische Sozialisation und das theoretische Erbe der Wissenschaftler, die sie entwerfen, sowie die Spezifika der Untersuchungsgegenstände, entlang derer sie entwickelt werden, aber auch die Methodologie, die genutzt wird, um Theorie und Empirie ins Gespräch zu bringen, prägen Theorien nachhaltig. Daher sollen in einem ersten Schritt die verschiedenen Entstehungskontexte und Bezugspunkte sowohl der Bourdieu’schen als auch der Fligstein’schen Feldtheorie näher beleuchtet werden. Daran anschließend werden die resultierenden unterschiedlichen Untersuchungsinteressen nochmals entlang sechs zentraler Facetten aufgeschlüsselt: Gegenübergestellt werden die unterschiedliche Bedeutung, die Akteurshandeln, Historizität und Wandel jeweils zugewiesen wird, die Fähigkeit beider Theorien, Kooperation und Machtpositionen konzeptionell greifbar zu machen, sowie das kritische Potenzial beider Ansätze.
4.1 Entstehungskontexte: Theoretische und methodologische Bezugspunkte
Das herausragende Erklärungspotenzial der Bourdieu’schen Feldtheorie ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass das Konzept des Feldes untrennbar mit zwei weiteren Konzepten, Habitus und Kapital, verbunden ist. Dieser Dreiklang bildet den Kern von Bourdieus Perspektive und wurde im Laufe seiner über 50-jährigen wissenschaftlichen Tätigkeit an den unterschiedlichsten empirischen Gegenständen weiterentwickelt und geschärft. Den Ausgangspunkt bilden Bourdieus Studien im Algerien der 1950er Jahre. Aus der Not heraus, seinen Militärdienst in Algerien ableisten zu müssen, widmete sich Bourdieu einer ethnologischen Studie der Kabylen. Anhand dieses Stammes zeigte er den dramatischen Wandel der algerischen Gesellschaft unter dem Einfluss des kapitalistischen Kolonialismus auf. Es waren diese Jahre des Feldstudiums, die den Philosophiestudenten und Absolventen der École Normale zu einem überzeugten Soziologen werden ließen. Die Grundmotive der Bourdieu’schen Perspektive – der Fokus auf Machtkämpfe und insbesondere das Aufdecken von verborgenen Formen symbolischer Herrschaft, die Prägekraft inkorporierter Geschichte oder die Bedeutung von alltäglichen, unhinterfragten Praktiken – sind bereits in diesen Studien angelegt (Schultheis
2007, S. 10 f.). Die theoretische Systematisierung erfolgt später, z.B. in
Entwurf einer Theorie der Praxis von 1972 (
1976) oder
Sozialer Sinn von 1980 (
1987). Zeitlebens hat Bourdieu seine theoretischen Konzepte als Werkzeuge für die empirische Forschung betrachtet, die es Forschern ermöglichen, neuartige Fragen an die empirische Realität zu stellen. Trotz der bemerkenswerten Kontinuität der Bourdieu’schen Theoriearbeiten (Müller
2014, S. 21) wurden seine feldtheoretischen Konzepte daher immer wieder an verschiedenste empirische Gegenstände angepasst.
Die außergewöhnliche Vielfalt seiner Forschung und insbesondere sein Interesse an kultureller Produktion haben dazu geführt, dass Bourdieu, zum eigenen Missfallen (
1998b, S. 163), lange nicht als Wirtschaftssoziologie wahrgenommen wurde. Dabei setzt er sich auch in seinen zentralen kultursoziologischen Werken, wie z.B.
Die feinen Unterschiede (
2007) oder
Die Regeln der Kunst (
1999), mit ökonomischen Sachverhalten auseinander. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Arbeiten, die sich dezidiert wirtschaftlicher Untersuchungsgegenstände annehmen (
1990,
1994,
1998b,
2000; Bourdieu et al.
1963; Bourdieu und Boltanski
1975). Auch hier wird das grundlegende Interesse seines feldtheoretischen Zugangs an Macht, sozialer Distinktion und der Reproduktion sozialer Ungleichheiten deutlich.
Bourdieus Ansatz ist, nicht zuletzt durch seine Primärsozialisation als Philosoph und seine ethnographischen Arbeiten, von vielfältigen theoretischen Bezugspunkten geprägt und zeichnet sich durch den Versuch aus, gängige soziologische Dualismen zu überwinden (
1987, S. 49). So finden sich in seinen Konzepten einerseits Einflüsse des französischen Strukturalismus (v.a. Lévi-Strauss und Althusser), die sich etwa darin zeigen, dass objektiven sozialen Strukturen (und weniger dyadischen Interaktionen) erhebliche Prägekraft zugesprochen wird. Andererseits entwickelt Bourdieu seine Feldtheorie entlang einer phänomenologischen Denkweise, die er u.a. von Husserl, Mauss und Weber übernimmt. Das Interesse an objektiven, aber latenten Strukturen verbindet sich so mit der genauen Analyse von Alltagspraktiken, körperlichen Fähigkeiten und Phänomenen des „Nicht-Ausgesprochenen“, sowie der Art und Weise wie Menschen alledem subjektive Bedeutung verleihen.
Dieser doppelte strukturalistisch-objektivistische
und phänomenologisch-subjektivistische Zugang wird durch die methodologische Prägung Bourdieus gestärkt: Einerseits ist seine Methode der Feldanalyse von Anfang an durch ethnographisches Arbeiten geprägt, was ihm den Zugang zu Alltagswahrnehmungen erlaubte. Andererseits machte sich Bourdieu in seinen Algerienstudien und der einhergehenden Zusammenarbeit mit dem INSEE
8 mit statistischen Analysemethoden vertraut, die abstraktere gesellschaftliche Strukturen abbilden. Hervorzuheben ist hier insbesondere die von Benzécri (
1982) entwickelte „analyse des donnés“ (im Deutschen v.a. als Korrespondenzanalyse bekannt), die die Bourdieu’sche Idee des Feldkonzepts und die zugrundeliegende räumliche Vorstellung von Gesellschaft maßgeblich beeinflusst hat (Blasius und Schmitz
2013; Lebaron
2009): „Und wenn ich im allgemeinen lieber mit der Korrespondenzanalyse arbeite als zum Beispiel mit der
multiple regression, dann eben auch deshalb, weil sie eine relationale Technik der Datenanalyse darstellt, deren Philosophie genau dem entspricht, was in meinen Augen die Realität der sozialen Welt ausmacht. Es ist eine Technik, die in Relationen ‚denkt‘, genau wie ich das mit dem Begriff Feld versuche“ (Bourdieu und Wacquant
1996, S. 125 f.). Dieser empirische, theoretische und methodologische Entstehungskontext der Bourdieu’schen Perspektive bedingt eine Reihe von Eigenheiten, die sie von einer Feldtheorie Fligstein’scher Prägung abgrenzen.
Neil Fligstein entwickelte seine Feldtheorie, die er selbst als „theory of strategic action fields“ bezeichnet, in den 1980er Jahren in Zusammenarbeit mit Doug McAdam an der University of Arizona. Während McAdam sich mit sozialen Bewegungen und insbesondere der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung beschäftigte (McAdam
1990), etablierte sich Fligstein zu dieser Zeit als Wirtschafts- und Organisationssoziologe. Er arbeitete an einem seiner Hauptwerke,
The transformation of corporate control (
1990), das die historischen Strategien großer US-Konzerne und insbesondere deren aufkommende Finanzorientierung untersucht. Anhand dieser Studie entwickelte Fligstein den Begriff des „Kontrollkonzepts“, das geteilte Wahrnehmungsstrukturen umschreibt. Kontrollkonzepte stabilisieren Felder, sind aber fortwährend umkämpft. Betrachtet man die empirischen Arbeiten von sowohl McAdam als auch Fligstein, so fällt auf, dass sich beide primär für Umbrüche (von z.B. Industrien, Zivilgesellschaft) interessieren und diese über einen längeren Zeitraum verfolgen. Der charakteristische theoretische Fokus auf Wandel (s.u.) entspringt somit auch hier den empirischen Interessen der beiden Forscher.
Während beide Autoren in den 1990er Jahren ihre Karrieren in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Bereichen verfolgten, wurden lediglich einzelne Versatzstücke ihrer Theorie veröffentlicht (Fligstein
1997; Fligstein und Stone Sweet
2002; McAdam
1999). Eine wirklich systematische, gemeinsame Aufarbeitung der Theorie erfolgte erst Anfang dieses Jahrzehnts (Fligstein und McAdam
2011,
2012b). In ihrem Buch
A theory of fields (Fligstein und McAdam
2012a) bekräftigen die beiden Autoren, eine „general theory of social change and stability“, d.h. eine Großtheorie mit Allgemeingültigkeitsanspruch vorgelegt zu haben. Eben dies hatte Bourdieu, ausgehend von der festen Überzeugung, dass theoretische Konzepte erst in konkreten empirischen Kontexten ihre Bedeutung entfalten, stets für seinen umfassend(er)en theoretischen Ansatz abgelehnt. In der Tat zeigt sich, dass der Fligstein’sche Feldbegriff, trotz der postulierten Allgemeingültigkeit, stark an der wirtschaftssoziologischen Forschung seines Autors orientiert ist. Im Zentrum stehen hier ökonomische und politische Felder, in denen Wettbewerb offen und bewusst ausgetragen wird. Diesem Theorieansatz wird daher, in Abgrenzung zu Bourdieu, vorgeworfen, für verborgene Machtkämpfe und rein symbolische Herrschaft blind zu sein (Medvetz
2013). Für die wirtschaftssoziologischen Anwendungsmöglichkeiten, die hier in den Blick genommen werden sollen, ist diese konzeptionelle Engführung jedoch nicht nur von Nachteil: Anders als das Bourdieu’sche Instrumentarium ist die Fligstein’sche Feldtheorie von Haus aus auf ökonomische Sachverhalte zugeschnitten. Auch wenn Fligstein seinen Zugang keinesfalls als Rational-Choice-Ansatz missverstanden wissen möchte (Kluttz und Fligstein
2016, S. 187), ermöglicht es dieser, offenen Wettbewerb und bewusst-reflektierte Strategien problemlos konzeptionell zu fassen.
Zentrale theoretische Bezugspunkte sind, wenig überraschend, die Arbeiten Pierre Bourdieus, die McAdam und Fligstein als „closest to our perspective“ (Fligstein und McAdam
2012a, S. 8) bezeichnen. Nichtsdestotrotz integriert ihr Zugang weitere soziologische Traditionen, die ihrer feldtheoretischen Perspektive eine andere Stoßrichtung verleihen. Die disziplinären Hintergründe beider Autoren sind dabei zentral. Theoretische Konzepte, die in der Forschung zu sozialen Bewegungen verbreitet sind, wie z.B. Framing‑, Ressourcenmobilisierungs- oder Political Opportunity-Ansätze, finden sich ebenso deutlich wieder wie der in der Wirtschaftssoziologie verbreitete soziologische Neoinstitutionalismus. Wenngleich Fligstein, der selbst oft als Neoinstitutionalist verortet wird (Swedberg
2009, S. 73), seine feldtheoretische Perspektive mehrfach von neoinstitutionalistischen Ansätzen (und insbesondere neoinstitutionalistischen Feldansätzen, Powell und DiMaggio
1983) abgrenzt (Fligstein und McAdam
2012a, S. 11 f.; Kluttz und Fligstein
2016), bleibt deren Einfluss z.B. im Fokus auf (industrielle) Normen und Standards oder das Konzept der Internal Governance Units, die Kontrollkonzepte institutionalisieren (Fligstein und McAdam
2012a, S. 14), klar erkennbar. Einen weiteren starken Bezugspunkt stellen der Symbolische Interaktionismus und insbesondere die Arbeiten von George H. Mead dar. Berührungspunkte zu Bourdieu zeigen sich hier im Fokus auf Bedeutungen, Symbole und die soziale Konstruktion der Realität. Gleichwohl zeichnet die Orientierung am Symbolischen Interaktionismus (und damit mittelbar auch am amerikanischen Pragmatismus) für eine Reihe von Unterschieden verantwortlich, die Fligsteins Perspektive klar von Bourdieus abgrenzen: den Fokus auf Interaktion, Kooperation und Kommunikation; die relative Aufwertung von Akteuren gegenüber strukturellen Zwängen; den Fokus auf gegenwärtige Situationen und die relative Vernachlässigung der Vergangenheit; sowie das zentrale Interesse an Identität und Gemeinsamkeit anstelle von Distinktion und Abgrenzung. Die Feldtheorie Fligsteins’ schließt somit an eine Theorietradition an, die in zentralen Aspekten von der Bourdieu’schen Perspektive abweicht.
Weitere Unterschiede sind im methodologischen Zugang erkennbar. Zwar arbeitet auch Fligstein seit Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere explizit historisch (vgl. Fligstein
1981), die Analyse erfolgt jedoch auf einem wesentlich abstrakteren und stärker aggregierten Niveau. Dies lässt sich besonders eindrücklich an einem Untersuchungsgegenstand verdeutlichen, dem sich sowohl Fligstein als auch Bourdieu zugewandt haben: der Genese und Funktionsweise von Dispositionen im Finanzbereich (Bourdieu et al.
1963; Fligstein und Goldstein
2015). Während Bourdieu und Kollegen hier eine Feldanalyse präsentieren, die auf umfangreichen Interviews, Feldbeobachtungen und qualitativer Dokumentenanalyse basiert und damit die alltäglichen Praktiken von Banken und Bankkunden greifbar macht, stützen Fligstein und Goldstein ihre Studie auf standardisierte, stark aggregierte Umfragedaten zu finanzorientierten Einstellungen der US-amerikanischen Bevölkerung, die mittels Regressionsanalyse verschiedenen soziodemografischen Variablen im Sinne eines Hypothesentests gegenübergestellt werden. Der Gebrauch von Regressionsanalysen, der für Fligstein typisch ist, entspricht dem Denken in abhängigen und unabhängigen Variablen. Wohl auch deshalb scheint das Fligstein’sche Instrumentarium die für Bourdieu zentralen „objektiven Relationen“ weniger deutlich in den Fokus zu rücken, was z.B. hinsichtlich des Ressourcenbegriffs deutlich wird. Während Ressourcen für Bourdieu ausschließlich relativ zum Feld gefasst werden können (s.u.), stellt Fligstein stärker auf absolute Faktoren, wie z.B. Profit ab. Der Rückgriff auf abstrakte, quantitative Indikatoren verstärkt zudem eine theoretische Berücksichtigung von Faktoren, die offen zutage treten und dadurch eindeutig messbar sind. Die (im Verhältnis zur Bourdieu’schen Perspektive) Vernachlässigung verborgener Machtressourcen und Machtkämpfe ist somit ein Stück weit dem methodologischen Zugang geschuldet (Medvetz
2013).
4.2 Untersuchungsinteressen: Schwerpunkte und zentrale Konzepte
Entlang der verschiedenen Entstehungskontexte wurden bereits eine Reihe konzeptioneller Unterschiede angedeutet. Im Folgenden gilt es, diese nochmals dezidiert herauszuarbeiten. Die Darstellung orientiert sich dabei an sechs zentralen Aspekten, an denen Differenzen deutlich werden: Akteurshandeln, Historizität, Wandel, Kooperation, Machtressourcen und Kritisches Potenzial.
Akteurshandeln. Ein erster Unterschied zeigt sich am Stellenwert, den beide Theorieansätze der sozialen Struktur gegenüber intentionalem Akteurshandeln zuweisen. Bereits die von Fligstein gewählte Bezeichnung „Strategic Action Fields“ legt den Fokus klar auf strategisch agierende Akteure. Im Anschluss an den amerikanischen Pragmatismus werden strukturalistische Erklärungen abgelehnt und den Akteuren erhebliche Freiheitsgrade zugesprochen (Swartz
2014). Insbesondere betont Fligstein, dass Akteure nicht an unhinterfragbare, informelle Institutionen gebunden sind, sondern die Situationen, in denen sie sich befinden, wie auch die Regeln, nach denen Felder strukturiert sind, aktiv infrage stellen können (Fligstein und McAdam
2012a, S. 17; Kluttz und Fligstein
2016, S. 194 f.). Sie vermögen daher, tiefgreifenden Wandel anzustoßen und, indem sie Kooperationspartner finden, radikal neue Ordnungen zu etablieren. Angetrieben werden die Fligstein’schen Akteure dabei nicht ausschließlich durch den Wunsch, die eigene Position zu verbessern, sondern auch von ihrem „natürlichen“ sozialen Bedürfnis nach Zugehörigkeit, geteilter Identität und einer gemeinsamen Sicht auf die Welt (Fligstein und McAdam
2012a, S. 35 f.). Für Fligstein steht kollektiv motiviertes, jedoch intentional reflektiertes Handeln im Zentrum seiner feldtheoretischen Analyse. Das theoretische Instrumentarium fokussiert auf einen Handlungsmodus, der für ökonomische und politische Felder, in denen Wettbewerb offen ausgetragen wird, typisch scheint. Andere Handlungsmodi – insbesondere solche, die auf vorreflexiven Dispositionen basieren – geraten aus dem Blick.
Eine gewisse Ähnlichkeit zur Bourdieu’schen Perspektive besteht darin, dass auch Bourdieu einen starken Strukturalismus, der die Akteure und ihr Handlungspotenzial völlig außer Acht lässt, ablehnt. Ohne Frage schreibt Bourdieu jedoch strukturellen Einflüssen größere Prägekraft zu als Fligstein. Er interessiert sich vor allem für die verborgenen Effekte dieser Strukturen, die hinter dem Rücken der Akteure, jenseits ihrer Reflexionsfähigkeiten, wirken. Das Konzept des Habitus ist für dieses Verständnis zentral. Es umschreibt inkorporierte Denk‑, Wahrnehmungs‑, Bewertungs- und Handlungsschemata, aber – vermittelt über diese – auch komplexere Dispositionen wie Präferenzsysteme, Rationalitätslogiken oder Wirtschaftsgesinnungen. Der Habitus eines Akteurs ist wandelbar, wird jedoch maßgeblich durch dessen soziale Umgebung, d.h. dessen vergangene und aktuelle Feldposition bestimmt. Zwar betont Bourdieu immer wieder, dass sein Habituskonzept Akteure eben nicht zu Marionetten einer objektiven Struktur degradiert (Bourdieu
1998b, S. 198 f.), sondern der Habitus stattdessen wie ein Filter zwischen externen Reizen und tatsächlichen Praktiken vermittelt und so die Genese individueller Strategien, d.h. einer „geregelten Improvisation“ (Bourdieu
1976, S. 179) erlaubt. Nichtsdestotrotz ist wirklich reflexives Handeln, das an einem Kalkül orientiert ist, welches über die eigene Prägung hinausblickt, für Bourdieu eine seltene Ausnahme. Die wechselseitige Bedingtheit von Habitus und Feld lässt wenig Platz für kreative Strategien und Versuche, die Situation grundlegend zu verändern – Strategien also, die für Fligstein im Mittelpunkt des Interesses stehen. Aus Bourdieus Perspektive ist es der Habitus, der bestimmt, welche Strategien für die Akteure überhaupt denkbar sind. Seiner Feldtheorie wurde daher häufig ein mehr oder minder latenter „Determinismus“ vorgeworfen (Sewell
1992; Kluttz und Fligstein
2016, S. 192; vgl. Lebaron
2003). Die Kritik, die sich an diesem Punkt entzündet, hat nicht zuletzt die Entstehung der
économie des conventions (Diaz-Bone
2015) befördert, einer französischen Schule, die hier bewusst mit Bourdieu bricht und die reflexiven Fähigkeiten von Akteuren betont (Boltanski und Thévenot
2007, S. 203). Zwar liegt der Reiz der Bourdieu’schen Perspektive gerade darin, der Illusio ökonomischer Akteure
nicht aufzusitzen, d.h. Handeln, das diese als rational-intentional ausgeben, als Ergebnis objektiver Feldpositionen und inkorporierter Dispositionen zu entlarven. Gerade für die Analyse ökonomischer Bereiche scheint es jedoch problematisch, die Erklärung entlang intentionaler Strategien derart auszuklammern (Maurer
2006).
Historizität. In der Bourdieu’schen Semantik ist das dargestellte Habituskonzept aufs Engste mit dem Aspekt der Historizität verbunden. Auch Neil Fligstein arbeitet fast ausschließlich historisch und betrachtet Wandel und Stabilisierung von empirischen Feldern über die Zeit. Allerdings spielt die Historizität, verstanden als das „So-und-nicht-anders-geworden-sein“ (Weber
1904, S. 60) von Feldern, Regeln, Machtressourcen und Dispositionen in seiner feldtheoretischen Perspektive keine starke oder gar konzeptionelle Rolle. Es geht um das überblicksartige Erfassen von Entwicklungen und Umbrüchen und nicht um eine detaillierte sozialwissenschaftliche Genealogie. Im Sinne der pragmatischen Tradition, in der die Fligstein’sche Perspektive steht, liegt der Fokus auf der Situation: Das Handeln und Entscheiden von Akteuren wird stärker aus der gegenwärtigen Interaktion mit Kooperationspartnern und weniger aus der historischen Prägung heraus erklärt (Swartz
2014). Ökonomische Koordination erscheint aus dieser Perspektive situationsgebunden.
Für Bourdieu stellt Historizität hingegen ein fundamentales Prinzip sozialwissenschaftlichen Erklärens dar. Es findet sich nicht nur im Zuschnitt einzelner empirischer Studien, sondern auch im konzeptionellen Instrumentarium seiner Feldtheorie wieder: sowohl im Konzept des Feldes als „Ding gewordener“ als auch des Habitus als „Leib gewordener Geschichte“ (Bourdieu
1985, S. 69). Der Habitus lässt sich weniger durch die aktuelle Situation als vielmehr durch frühere Positionen, d.h. „die Spur der bisher durchlaufenen Bahn“ (Bourdieu
1998b, S. 198) erklären. Die Vergangenheit ist somit sowohl durch die erworbenen Dispositionen als auch durch die entstandenen Gelegenheitsstrukturen in der Gegenwart präsent. Mehr noch bedingt die Vergangenheit für Bourdieu selbst die Art und Weise, wie Akteure über die Zukunft denken (können) (
2000). Für die wirtschaftssoziologische Analyse impliziert dies, dass sich Koordination in ökonomischen Feldern nur verstehen lässt, wenn Geschichte explizit als erklärender Faktor mit einbezogen wird: Ökonomische Norm-Strategien, Professionen, Best Practices, Organisationsprinzipien und Kennzahlen, aber auch Wirtschaftsgesinnungen oder ökonomische Zukunftserwartungen werden erst durch die Betrachtung ihrer jeweiligen historischen Genese erklärbar.
Wandel. Ein elementarer Vorteil seiner feldtheoretischen Perspektive, so betont Fligstein, liege darin, nicht nur die Stabilität von Feldern, sondern auch deren Wandel und Entstehung theoretisch fassen zu können. In der Tat beinhaltet die Fligstein’sche Feldtheorie ein systematisches Phasenmodell, das beschreibt, unter welchen Bedingungen Wandel oder Reproduktion stattfinden (Fligstein und McAdam
2012a, S. 83 ff.). Der Entstehungsprozess von Feldern wird, ausgehend von McAdams Forschungsschwerpunkt (McAdam
1990,
1999), ähnlich der Genese sozialer Bewegungen konzeptualisiert, von Fligstein dann aber später auch auf die Genese neuer Märkte übertragen (Fligstein
2010, S. 87 ff.). Emergierende Felder sind demnach von Unsicherheit und starken Dynamiken geprägt. Erst allmählich gelingt es den Akteuren, Koalitionen und Netzwerke zu mobilisieren, um ihr präferiertes Kontrollkonzept durchzusetzen. Hierbei wird der „sozialen Kompetenz“ der Akteure (s.u.) zentrale Bedeutung beigemessen. Zur weiteren Stabilisierung von Feldern tragen dann der Staat mit seiner Fähigkeit, sanktionierbare Institutionen durchzusetzen, sowie neu etablierte Internal Governance Units, die Kontrollkonzepte sichtbar festschreiben, bei. Externe Faktoren, wie z.B. Verschiebungen und Überschneidungen im System der Felder, können die Genese neuer Felder begünstigen. Stabile Felder charakterisieren sich der Fligstein’schen Perspektive folgend durch beständige, geteilte Kontrollkonzepte, die Identität stiften. Das zunehmende Infragestellen herrschender Kontrollkonzepte sowie die schwindende Fähigkeit etablierter Akteure, ihre Position zu reproduzieren, sind demzufolge wichtige Anzeichen für eine voranschreitende Destabilisierung und Krise des Feldes. Die Reorganisation und erneute Stabilisierung des Feldes ähnelt dann den Machtkämpfen und Koalitionsbemühungen in neuen Feldern – und gipfelt in der Etablierung eines neuartigen Kontrollkonzepts (Fligstein
2010, S. 75 ff.). Diese sehr eingängige Beschreibung bietet gewissermaßen eine Theorie des Wandels, die unabhängig vom empirischen Einsatzbereich „prêt à l’emploi“ (Medvetz
2013) ein systematisches Erklärungsangebot vorhält. Indem sie die Reduktion von Unsicherheit ins Zentrum ihrer Analyse stellt, ist sie höchst anschlussfähig zur NWS und deren Einbettungsperspektive. Die Fligstein’sche Feldtheorie lenkt den Fokus dabei auf die charakteristische Dynamik ökonomischer Felder: das Entstehen und Verglühen von neuen Trends, Unternehmenstypen oder Märkten.
Im Gegensatz dazu wird dem Ansatz Bourdieus häufig (u.a. von Fligstein und McAdam
2012a, S. 25 f.) vorgeworfen, blind für Wandel und Innovation zu sein, da er lediglich Interesse an der Reproduktion einmal etablierter Strukturen zeige. Bei genauerer Lektüre trifft dies nur bedingt zu. Erstens hat Bourdieu in seinen eigenen empirischen Studien immer wieder Genese und Wandel von Feldern in den Blick genommen (z.B. Bourdieu
1998c,
1999) – auch seine bekannteste wirtschaftssoziologische Studie,
Der Einzige und sein Eigenheim (
1998b), analysiert die Genese des Marktes für Fertighäuser und zeigt nicht zuletzt auf, wie der Staat auf dieses neue Feld signifikanten Einfluss nimmt. Zweitens belegen Bourdieus Interventionen als Intellektueller seine Überzeugung, dass sozialer Wandel möglich ist (Costa
2006). Drittens finden sich entlang des Bourdieu’schen Gesamtwerks immer wieder Hinweise, dass seine theoretischen Konzepte – Feld, Habitus und Kapital – auch für die Analyse von Wandel genutzt werden können: „Was die Struktur des Feldes ausmacht, wie ich sie sehe, [ist] auch das Prinzip seiner Dynamik“ (Bourdieu
1993, S. 191). Davon unberührt liegt ein wesentliches Interesse der kritischen Perspektive Bourdieus sicher darin, die Stabilität sozialer Strukturen aufzuzeigen und zu erklären. Immer wieder zeigt Bourdieu, dass soziale Strukturen sich trotz und gerade wegen der Transformationsversuche der Dominierten hinter dem Rücken der Akteure reproduzieren. Wenngleich die Reduktion von Unsicherheit für Bourdieu eine untergeordnete Rolle spielt, eröffnet dieser Zugang neue Perspektiven für die Wirtschaftssoziologie: Er lenkt den Blick hinter die Fassade sich scheinbar unablässig wandelnder Märkte, Unternehmen oder Volkswirtschaften und deckt die Reproduktion ökonomischer Ungleichheiten, die sich unterhalb dieser dynamischen Oberflächen vollzieht, auf.
Kooperation. Am deutlichsten unterscheiden sich die beiden feldtheoretischen Ansätze im Hinblick auf die Bedeutung, die sie Kooperation beimessen. Geprägt durch die Tradition des symbolischen Interaktionismus zeigt Fligstein erhebliches Interesse an der Rolle von Kooperation, Interaktion und Kommunikation. Neben objektiven, latenten Relationen räumt die Fligstein’sche Feldtheorie damit, ähnlich wie das in der NWS verbreitete Einbettungskonzept, auch persönlichen Interaktionsbeziehungen Platz ein. Dies findet nicht zuletzt im Konzept des „social skill“, seinen Ausdruck (Fligstein
1997; Fligstein und McAdam
2012a, S. 45 ff.). Unter sozialer Kompetenz wird hier die Fähigkeit verstanden, sich in andere hineinzuversetzen, sie anzusprechen und zu mobilisieren, um so möglichst breite Koalitionen und tragfähige Kompromisse zu etablieren. Soziale Kompetenz ermöglicht kooperatives Handeln und wird aus dem menschlichen Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit, gemeinsamer Identität und gemeinsamer Weltsicht abgeleitet. Mit dieser Konzeption von menschlichen Akteuren als
homines sociologici grenzt sich Fligstein klar von ökonomischen Rational-Choice-Theorien ab. Die Fähigkeit kollektiv zu handeln und Koalitionen zu schmieden ist, wie oben gezeigt, der zentrale Faktor, der sowohl die Genese neuer Felder, als auch Transformation und Krise existierender Felder erklärt. Koordination kann jedoch auch zur Stabilität und Resilienz von Feldern beitragen. Felder können entweder durch Dominanz und Unterdrückung stabilisiert, oder durch Zusammenhalt, Kooperation und friedlichen Konsens unter den Feldakteuren gefestigt werden (Kluttz und Fligstein
2016, S. 199). Kooperation schließt aus dieser Sicht Machtkämpfe in keiner Weise aus. Die Feldkämpfe werden jedoch durch zwei entgegengesetzte menschliche Motive angetrieben: sich einerseits abzugrenzen und andere zu unterwerfen, aber andererseits ebenso den Wunsch, dazuzugehören und mit anderen zu kooperieren. Für die NWS erlaubt diese feldtheoretische Perspektive einen Fokus auf ihr Kernanliegen der ökonomischen Koordination. So müssen Joint Ventures oder Branchenverbände nicht ausschließlich aus der Sicht eines Kosten-Nutzen-Kalküls analysiert werden: Sowohl Distinktion als auch Sozialität können als Erklärungsfaktoren genutzt werden.
Bourdieu hat jede interaktionistische Sichtweise unverhohlen abgelehnt (z.B.
1998b, S. 181). Die Bourdieu’sche Feldtheorie stellt daher sehr deutlich Kampf, Dominanz und Opposition ins Zentrum der Analyse (und bedient sich hierzu z.B. der Korrespondenzanalyse, die auf der Sichtbarmachung von Oppositionen beruht, s.o.). Kooperation und den damit implizierten Interaktionsbeziehungen wird kaum Beachtung geschenkt, um den Fokus auf den „Strukturzwang des Feldes“ nicht zu vernachlässigen. Allenfalls spielt Kooperation als Machtressource im Sinne von sozialem Kapital eine Rolle (Bourdieu
1983, S. 191 ff.). Der Umfang an sozialem Kapital, das ein Akteur zur Verfügung hat, setzt sich zusammen aus der Größe des Netzwerks an Beziehungen, die er mobilisieren kann, sowie dem Umfang an allen innerhalb des Netzwerks verfügbaren Kapitalien (z.B. ökonomischer oder symbolischer Natur). Wenngleich der Bourdieu’sche Begriff des sozialen Kapitals häufig herausgegriffen und interaktionistisch gewendet wurde (Eloire
2014), erhält das Konzept erst seine Bedeutung, wenn es in Verbindung mit Bourdieus umfassendem, pluralem Kapitalkonzept gedacht wird. Soziales Kapital kann in andere Kapitalsorten transformiert werden, d.h. es kann z.B. zur Akkumulation von ökonomischem oder symbolischem Kapital beitragen. Zudem prägt es den Habitus seines Inhabers, was es diesem wiederum erlaubt, gewinnträchtige soziale Beziehungen aufzubauen – oder eben nicht. Dabei ist es für Bourdieu, anders als für Fligstein, unwichtig, ob Akteure Netzwerke aus berechnendem Kalkül oder aus affektiven Motiven bzw. einer genuinen Sozialität heraus etablieren – von Relevanz ist für die Bourdieu’sche Feldtheorie einzig der Umstand, dass sie als Ressource wirken und so zur Reproduktion von Ungleichheiten im Feld beitragen.
Machtressourcen. Die Unterscheidung und Analyse von Machtpositionen – d.h. von „objektiven Relationen“ – ist ein wichtiges feldtheoretisches Charakteristikum. Dennoch unterscheiden sich der Fligstein’sche und der Bourdieu’sche Ansatz in ihrer Konzeption von Macht erheblich. Fligstein betont, dass Macht und Konflikt sowie Kämpfe zwischen Herausforderern und Etablierten im Zentrum seiner feldtheoretischen Analyse stehen. Die Ursachen von Macht werden jedoch nicht dezidiert besprochen, stattdessen wird unspezifisch auf „unterschiedliche Ressourcenausstattung“ (Fligstein und McAdam
2012a, S. 10) verwiesen. Lediglich auf die Rolle sozialer Kompetenzen bei der Durchsetzung eigener Kontrollkonzepte wird detaillierter eingegangen. Macht erscheint als offen zutage tretendes Phänomen, das einer einfachen sozialwissenschaftlichen Messung zugänglich ist und eine problemlose Unterteilung in Etablierte und weniger Etablierte erlaubt.
Im Gegensatz hierzu stellt Pierre Bourdieu die Frage, woher Macht kommt und auf welch unterschiedliche Art sie akkumuliert und reproduziert werden kann, in den Mittelpunkt seiner Feldtheorie. Am deutlichsten wird dies am Konzept des Kapitals, das ein ausdifferenziertes, plurales und radikal relationales Verständnis von Machtressourcen offenbart. Kapital umreißt Bourdieu, der physikalischen Metapher treu bleibend, als „Energie der sozialen Physik“ (Bourdieu
1976, S. 357), die in unterschiedlichen Formen zutage tritt. Er bietet als erste Heuristik eine Unterscheidung zwischen ökonomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitalien an. Darüber hinaus betont er, dass verschiedenste Fähigkeiten, Eigenschaften oder Besitztümer zum Kapital avancieren können. Was Wert hat und als „Trumpf“ eingesetzt werden kann, wird im jeweiligen Feld – d.h. relativ dazu – definiert und umkämpft (Bourdieu und Wacquant
1996, S. 128). Während z.B. ein Doktortitel im Feld der Management-Beratung als kulturelles Kapital gelten mag, stellt derselbe Titel im Feld des Punk-Rock keine Machtressource dar. Da jedes Kapital für Bourdieu auf akkumulierter Arbeit beruht, sind die verschiedenen Kapitalien prinzipiell transformierbar. So lässt sich genannter Doktortitel beim Ausstieg aus dem wissenschaftlichen Feld etwa über ein erhöhtes Einstiegsgehalt in ökonomisches Kapital umwandeln. Inwiefern derartige Transformationen möglich sind und eine zusätzliche Akkumulation von Kapital erlauben, hängt von den jeweils gültigen Wechselkursen im Feld ab. Diese versteht Bourdieu, ebenso wie die Kapitalien selbst, als umkämpfte Machtinstrumente. Das plurale Verständnis von Machtressourcen, das der Bourdieu’schen Feldtheorie zugrunde liegt, ermöglicht es somit einerseits, dezidiert zu betrachten, welche Formen von Macht eine Rolle spielen und wie sich der Besitz verschiedener Kapitalien ggf. wechselseitig verstärkt. Darüber hinaus werden, insbesondere über den Begriff des symbolischen Kapitals, auch verborgene Machtkämpfe sichtbar. So können Akteure auch darum wetteifern, wer als am wenigsten profitorientiert oder uneigennützig gilt. Auch diese scheinbare „Interesselosigkeit“ kann als wichtige Ressource fungieren, die eine Art von Macht verleiht, die eben nicht offensichtlich ist. Der wirtschaftssoziologischen Analyse wird so ein Instrumentarium eröffnet, das neben den offenen, bewussten Wettkämpfen im ökonomischen Bereich auch verborgene, symbolische Machtkämpfe aufdeckt, die nicht minder zur Reproduktion von ökonomischen Ungleichheiten und damit zur scheinbar mühelosen Koordination in ökonomischen Feldern beitragen (Suckert
2017).
Kritisches Potenzial. Das Untersuchungsinteresse eines theoretischen Ansatzes beschränkt sich nicht nur auf die Schwerpunkte, die durch die Anordnung einzelner Konzepte in den Blick geraten. Zentral ist auch das grundlegende Anliegen, das eine soziologische Theorie verfolgt: Geht es „nur“ darum, einen Erklärungsbeitrag zur empirisch beobachtbaren sozialen Welt zu leisten, oder soll die Theorie auch die Instrumente liefern, um das, was ist, infrage zu stellen und gesellschaftskritische Anliegen zu formulieren? Die Feldtheorien Bourdieus und Fligsteins unterscheiden sich auch in diesem Punkt elementar.
Fligstein geht es mit seiner Feldtheorie in erster Linie darum, soziale Ordnung und sozialen Wandel auf der Meso-Ebene, also z.B. bezogen auf Unternehmen, Märkte oder Sektoren zu erklären. Wie gelingt Stabilität und unter welchen Umständen kann es zu Umbrüchen kommen? Fligstein bietet einen theoretischen Werkzeugkasten, der es erlaubt, in Bezug auf diese Fragen Hypothesen aufzustellen und diese empirisch zu testen. Kritisch ist dieser Zugang nur gegenüber den in den Wirtschaftswissenschaften populären Rational-Choice-Ansätzen. Deren Unzulänglichkeit soll durch bessere, da feldtheoretische Erklärungsangebote nachgewiesen werden. Die Fligstein’sche Theorie nimmt hier, ganz im Sinne der NWS, die Position des Herausforderers ein. In der stetigen Betonung staatlicher Akteure als Garanten für stabile Felder lässt sich allenfalls ein sozialdemokratischer Appell zur Beibehaltung eines starken Staates erkennen – auch dies eine Kritik an der Lehrmeinung neoklassischer Ökonomen.
Den Anspruch, selbst Gesellschaftskritik mit seiner Feldtheorie zu betreiben, erhebt Fligstein nicht. Jedoch sind die Akteure, die er konzipiert, mit einer starken Kritikfähigkeit ausgerüstet: Sie können sich eine andere Welt jenseits dessen, was ist, vorstellen. Die Fligstein’sche Feldtheorie bietet zwar nicht die Instrumente, die eine alternative Sicht auf die Welt befördern, sie gibt aber Aufschluss darüber, unter welchen Bedingungen sich eine solche Sicht durchsetzen kann und sozialer Wandel möglich wird. In diesem Sinne kann sie, im Anschluss an die Selbstbeschreibung von Luc Boltanski und der
économie des conventions (Boltanski
1990), als „Soziologie der Kritik“ aufgefasst werden. Eine kritische Soziologie im engeren Sinne ist sie jedoch nicht.
Im Gegensatz hierzu ist die Feldtheorie Bourdieus durch und durch von dem Anspruch geprägt, kritische Soziologie zu betreiben – ungeachtet der Tatsache, dass sich Bourdieu von der kritischen Theorie der Frankfurter Schule wiederholt abgegrenzt hat (Bauer et al.
2014). Seit seinen frühen Algerienstudien geht es Bourdieu im Kern darum, verborgene Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufzudecken und anzuprangern. Diese kritische Haltung ist jedem seiner theoretischen Konzepte von Anfang an eingeschrieben: Das Konzept des
Kapitals dient dazu, verborgene Ressourcen aufzudecken, ungleiche Ausgangsbedingungen zu beschreiben und aufzuzeigen, wie Privilegien aus einem Bereich Vorteile in einem anderen Bereich ermöglichen. Das Konzept des
Habitus, der in weiten Teilen unbewusst, aber inkorporiert ist und dem Akteure daher nicht entkommen können, deckt auf, warum Akteure blind an Praktiken festhalten, die objektiv unvorteilhaft für sie sind und sie schlechter stellen. Die symbolische Herrschaft, d.h. eine Unterwerfung, die sich die Unterworfenen zu Komplizen macht, wird so fassbar. Das Konzept der
Feldstruktur zeigt ungleiche Positionen auf, die den Möglichkeitsraum der Akteure beschränken und sich, zumeist hinter dem Rücken der Akteure, reproduzieren. Indem Bourdieu der Soziologie eine „klinische, ja therapeutische Funktion“ (
1992, S. 223) beimisst und ihre „befreiende Kraft“ (
1993, S. 44) beschwört, zeigt sich, wie sehr er auch seine Feldtheorie als emanzipatorisches Projekt begreift, das dazu dient, die Menschheit – ganz im Kant’schen Sinne – aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu führen. Die Bourdieu’sche Feldtheorie bietet damit, wie die Fligstein’sche auch, ein Instrumentarium, um ökonomische Koordination auf der Meso-Ebene nachzuvollziehen und zu erklären – darüber hinaus aber auch eines, um die Formen dieser Koordination kritisch zu hinterfragen.
Insgesamt zeigt sich, dass die Fligstein’sche und die Bourdieu’sche Feldtheorie trotz einiger gemeinsamer Grundlagen verschiedenen sozialwissenschaftlichen Traditionen entspringen, unterschiedliche Schwerpunkte setzen und verschiedene erklärungstheoretische Ansprüche erheben. Mit Blick auf die wirtschaftssoziologische Analyse weisen sie daher unterschiedliche Potenziale und Schwachstellen auf: Während Fligsteins Theorie, die bereits dezidiert als wirtschaftssoziologische Theorie entworfen wurde, viele Themen der NWS aufgreift und problemlos anschlussfähig scheint, bietet gerade die andersartige Bourdieu’sche Perspektive Inspiration, um die wirtschaftssoziologische Agenda über allgemeine feldtheoretische Elemente hinaus zu erweitern.