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2019 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Einleitung: Das Ghetto des Sozialen

verfasst von : Barbara Kuchler

Erschienen in: Die soziale Seite an Wirtschaft und Wissenschaft

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Ausgangspunkt dieses Buches war eine Irritation. Als jemand, der in der soziologischen Theorie beheimatet ist, fühlte sich die Autorin zutiefst irritiert angesichts dessen, wie der Begriff „sozial“ in Spezialsoziologien wie der Wissenschaftssoziologie und der Wirtschaftssoziologie verwendet wird. „Sozial“ fungiert dort als Gegenbegriff zum sachlichen Kern des jeweils interessierenden Gegenstandsbereichs.

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Fußnoten
1
An der Universität Bielefeld, wo die Autorin lehrt, ist dies buchstäblich Inhalt der ersten Sitzung des ersten Semesters (Kieserling 2014), und die Autorin hat dies unzähligen Soziologieanfängern beizubringen versucht.
 
2
Die Formulierung „Science, Technology and Society“ taucht gelegentlich in der Wissenschaftssoziologie auf und wird sogar als aktualisierte Dechiffrierung des Kürzels STS vorgeschlagen, anstelle des traditionellen „Science and Technology Studies“ (Hess 1997; Sismondo 2008; Lynch 2012). – Soziologische Klassiker verwenden gerne den unsauber gebildeten Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“ (Weber 1921; Parsons/Smelser 1956). Bei Weber dürfte dies darauf zurückgehen, dass er den Gesellschaftsbegriff soziologisch generell ablehnt und mithin nicht kontrolliert verwenden kann. „Bei Parsons und Smelser ist der Titel eher“ auf die Absicht eines Dialogs zwischen Soziologie und Ökonomik bezogen als auf die Bezeichnung eines Sachproblems, wie der Untertitel deutlich macht: „A Study in the Integration of Economic and Social Theory“. Im Text lassen die Autoren keinen Zweifel daran, dass sie die Wirtschaft als ein Subsystem der Gesellschaft betrachten.
 
3
Den Ausdruck „Mülleimerbegriff“ verwendet Steven Shapin (2012: 172), wenn auch mit Blick nicht auf den Sozialitätsbegriff, sondern auf den Subjektivitätsbegriff, als die zweite, vernachlässigte Seite des Duals Objektivität/Subjektivität.
 
4
Ähnlich sagt für einen anderen Fall auch Adorno (1972) in seinem Vortrag auf dem Soziologentag 1968: Es gehe keineswegs um einen bloßen „Nomenklaturstreit“ über die „eitle Sorge“, ob die Gesellschaft nun „Spätkapitalismus“ oder „Industriegesellschaft“ heißen solle. Dass die Fähigkeit zu hinreichend abstraktem Negieren eine Voraussetzung für wissenschaftlichen Fortschritt ist, wird in der Wissenschaftssoziologie etwa im Kontrast zur Amateurwissenschaft des 18. Jahrhunderts festgestellt, die sich durch die bloße Aneinanderreihung einer Vielzahl von Beobachtungen ohne systematische Problemexposition und ohne strategisch relevante Richtungsentscheidungen auszeichnete (Stichweh 1984: 64).
 
5
Granovetters erklärte Absicht in dem Urtext der Neuen Wirtschaftssoziologie etwa ist „to demonstrate […] that there is a place for sociologists in the study of economic life“ (Granovetter 1985: 507). Wem muss man das demonstrieren? Wohl kaum den Soziologen, sondern den Ökonomen, hier: den Institutionenökonomen. Und noch Jahrzehnte später macht es Sinn, als Ergebnis einer langen Studie festzustellen, dass „economic valuation […] does not stand outside of society“ (Fourcade 2011) – wie wenn man Soziologen davon erst überzeugen müsste.
 
6
Dieses Desiderat formulieren in der Wissenschaftssoziologie auch die Autoren der „Dritten Welle“: „By emphasizing the ways in which scientific knowledge is like other forms of knowledge, sociologists have become uncertain about how to speak about what makes it different“ (Collins/Evans 2002: 239). Ähnlich wünscht sich Richard Swedberg (2005b: 233) in der Wirtschaftssoziologie mehr Analysen, die an wirtschaftsspezifischen Begriffen wie Ressource oder Profit ansetzen, statt nur an „sozialen“ Strukturen (Vgl. dazu auch unten Abschn. 3.​5).
 
7
Dies richtet sich insbesondere auch an die Autorin selbst. Die Autorin arbeitet an einer Studie zur Autonomisierung von Finanzmärkten, die im systemtheoretischen Konzept der Autonomie gegründet ist und die Entwicklung von Finanzmärkten im letzten halben Jahrhundert – Stichworte Disintermediation und Verbriefung, Aufstieg von Derivatemärkten – autonomietheoretisch zu rekonstruieren versucht (s. für eine erste Darstellung Kuchler 2018). Die Beschreibung des Wirtschaftssystems ist bei Luhmann vergleichsweise dünn geblieben und von der Tiefe und Haltbarkeit der Einsichten her nicht zu vergleichen mit seinen Analysen etwa des Politik- oder des Rechtssystems. Hier haben Systemtheoretiker noch viel Nachholarbeit zu leisten. Dies ist nur anhand einer sorgfältigen Aneignung des Forschungsstandes der Finanzsoziologie zu leisten, was dann aber auch eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit deren theoretischen Prämissen rechtfertigt. – Die Frage nach der Autonomisierung von Finanzmärkten ist in gewisser Weise das Opfer der wirtschaftssoziologischen Präferenz für die Einbettungsperspektive. Autonomie ist das Gegenteil von Einbettung, nämlich Entbettung. Beide Fragestellungen sind deshalb auf fundamentale Weise imkompatibel – ein Problem, das in der wirtschaftssoziologischen Diskussion bisher kaum bemerkt worden ist (s. aber Langenohl 2008a, 2008b, 2015).
 
8
Die Soziologie der Klassikerzeit beantwortete die Frage nach ihrem Verhältnis zu älteren sozial- oder geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit Verweis auf ihre Wissenschaftlichkeit, während ihr jene anderen Disziplinen als unwissenschaftlich, mythisierend und idealisierend galten (Kieserling 2004). Und auch heute noch können Epistemologie und Wirtschaftswissenschaften routinemäßig als „weltfremd“, „präskriptiv“ oder „normativ“ bezeichnet werden (Woolgar 1981; Hirsch/Michaels/Friedman 1987; Fuller 1993; Hess 1997; Frankfurter/McGoun 1999; Cabantous/Gond 2011; McCloskey 2015). In der Systemtheorie wird gelegentlich festgestellt, die Reflexionstheorien seien eigentlich gar keine Wissenschaft, sondern vorrangig Teil „ihres“ jeweiligen Funktionssystems, also die Ökonomik Teil der Wirtschaft, die Politologie Teil der Politik, die Pädagogik Teil der Erziehung usw. (Luhmann 1984: 623 f.; Kieserling 2004: 46 ff.).
 
9
Wirtschaftssoziologisch versierte Leser werden hier schon Granovetters (1985) Kritik am wahlweise „untersozialisierten“ oder „übersozialisierten“ Akteur erkennen, die dieser den Wirtschaftswissenschaften vorhält – obwohl diese Diskussion sich ja auf eine andere Spezialsoziologie und eine andere Fachdisziplin bezieht.
 
10
Ausnahme ist die Sozialepistemologie, die teils schon in Auseinandersetzung mit der Wissenschaftssoziologie entstanden ist und sich der sozialen Dimension von wissenschaftlicher Erkenntnis zuwendet. Letztlich scheint aber auch diese den epistemologischen Zugriff zentral zu setzen und soziale Fragen ihm unterzuordnen bzw. so beizuordnen, dass ersterer nicht dementiert wird. Mehr dazu mehr im Fazit am Ende dieses Buches.
 
11
Auch hier gibt es mit der Institutionenökonomik Forschungen im Grenzbereich zur Soziologie, die sich etwa für Kontroll- und Vertrauensprobleme zwischen Akteuren interessieren und insofern Probleme in der Sozialdimension stark machen. Aber auch institutionenökonomische Ansätze kommen von der Grundfrage nach Effizienz nicht weg: von der Frage nach mehr oder weniger effizienten Arrangements und welche unter bestimmten Bedingungen zu bevorzugen sind. Hierfür sei abermals auf das Fazit verwiesen.
 
12
Bei Luhmann beispielsweise finden sich Formulierungen, die in eine ganz ähnliche Richtung gehen. Mit Blick auf das Problem von Wissen oder Wahrheit sagt Luhmann, es gehe nicht um das „Erscheinen des Seins“ (Luhmann 1970: 233), sondern um die Übertragung von Selektionen von einem Teilnehmer auf den anderen; die erkenntnistheoretische Grundunterscheidung Erkenntnis/Gegenstand müsse abgeschafft und durch das Konzept der Beobachtung von Beobachtern ersetzt werden (Luhmann 1990b: 92). Was Märkte angeht, so läuft es wohl auf dasselbe Umdenken von Optimierungsproblemen auf Ordnungsprobleme hinaus, wenn Luhmann formuliert: „Es ist klar, daß nicht beide Vergleichsmöglichkeiten [von Sachen mit anderen Sachen und Personen mit anderen Personen, die Sachen zu bestimmten Bedingungen haben oder abgeben möchten] simultan ausgeschöpft werden können […]. Statt dessen kommt es zu nur noch individuell motivierten und zurechenbaren Reduktionen dieser unendlichen Komplexität, gegen die der Markt als System strukturell neutral gehalten werden muß, um ihre Kombinierbarkeit vermitteln zu können.“ (Luhmann 1970f: 209).
 
13
Dass es sich um eine Haltung des Abqualifizierens, englisch: „debunking“, handelt, wird von Wissenschaftssoziologen immer wieder bestritten (Barnes/Shapin 1979; Shapin 1995; Bloor 1997; Latour 2010), wird aber von einer wütenden Phalanx von Wissenschaftsphilosophen nicht ohne Grund so wahrgenommen (Laudan 1981; Brown 1984; Nola 1991; Fuller 1993; Kim 1994; Goldman 2006), und seit Sokal (1996) auch von einer Phalanx von Naturwissenschaftlern, die sich in den „science wars“ engagieren. Zwischen Wirtschaftssoziologen und Ökonomen ist ein solcher Schlagabtausch nicht zu beobachten, aber nicht deswegen, weil der Charakter des „debunking“ hier nicht vorhanden wäre, sondern nur deswegen, weil die Wirtschaftssoziologie durch die Ökonomik routinemäßig ignoriert wird.
 
14
So meint auch Thomas Kuhn, die konstruktivistische Wissenschaftssoziologie verwechsle das Problem mit der Lösung, wenn sie sich mit dem bloßen Zelebrieren des Umstands zufriedengebe, dass die Wissenschaft auch keine objektiven Wahrheiten zu bieten habe: „The question […] arose, how a process so nearly circular and so largely dependent on individual contingencies can be said to result in either true or probable conclusions about the nature of reality? I take that to be a serious question and think that inability to answer it is a grave loss in our understanding of the nature of scientific knowledge. But the question emerged during the 1960’s, when distrust of all sorts of authority was widespread, and it was then a small step to regard that loss as gain.“ (Kuhn 1992: 8).
 
15
Stephan Lessenich (2015: 23) fühlt sich hier an eine Passage aus dem Film „Das Leben des Brian“ erinnert, in der ein kritischer Beobachter zur widerstrebenden Anerkennung der Leistung des Römischen Reiches genötigt wird: „Was haben die Römer je für uns getan? – […] – Also gut, mal abgesehen von sanitären Einrichtungen, der Medizin, dem Schulwesen, Wein, der öffentlichen Ordnung, der Bewässerung, Straßen, der Wasseraufbereitung und den allgemeinen Krankenkassen – was, frage ich Euch, haben die Römer je für uns getan?“ Im selben Sinn habe eben die moderne Marktwirtschaft nicht zustande gebracht außer Wohlstand, Optionenvielfalt, Ende von Hungersnöten usw.
 
16
Der real existierende Sozialismus hat immerhin das Gute, dass er beweist, dass diese Explosion von Möglichkeiten nicht allein technologisch bedingt ist, sondern wesentlich in der sozialen Ordnung des Wirtschaftens begründet liegt. Denn technologisch waren die realsozialistischen Länder jedenfalls nicht allzu weit hinter den westlichen Ländern zurück, vielmehr lag ja im Nachholen der technischen Entwicklung und mindestens Aufholen, wenn nicht Überholen in Sachen militärischer Technologie und Produktionstechnologie ein hauptsächliches Zwischenziel der sozialistischen Mächte. Im wirtschaftlichen Output und in der Möglichkeitserschließung lagen sie aber um Klassen zurück.
 
17
Ebenso fragt Alex Preda (2005a: 542): „[If] uncertainties are processed by […] networks, we cannot explain how and why markets emerge from networks. Indeed, there would be no reason for […] markets to emerge at all: apparently, networks can solve these problems much better than them.“
 
18
Luhmann schreibt in aller Klarheit: „Wahrheit ist demnach keine Eigenschaft von irgendwelchen Objekten oder von Sätzen oder von Kognitionen […], sondern der Begriff bezeichnet ein Medium der Emergenz unwahrscheinlicher Kommunikation“ (Luhmann 1990b: 173).
 
19
Auch dies im Wortlaut: „Sofern nur Erwartungen bestimmt sind, kann man unbestimmt lassen, ob sie im Einzelfalle bestätigt oder enttäuscht werden. […] [So] sind […] die theoretisch fixierten Hypothesen von einer Bestimmtheit, die es ermöglicht, Erfüllung oder Enttäuschung auszuprobieren, weil der theoretische Kontext es ermöglicht, aus beiden Erfahrungen die Konsequenzen in Bezug auf wahr bzw. unwahr zu ziehen.“ (Luhmann 1990b: 136 f.).
 
20
Geld ermöglicht es einerseits, Probleme von der Gegenwart in die Zukunft zu verschieben, nämlich die „Entscheidung über die Befriedigung von Bedürfnissen zu vertagen [und] die Befriedigung trotzdem gegenwärtig schon sicherzustellen“ (Luhmann 1970f: 206 „Herv. weggelassen“), und umgekehrt Probleme von der Zukunft in die Gegenwart zu verschieben, nämlich „die Befriedigung künftiger Bedürfnisse als gegenwärtiges Problem“ zu behandeln (ebd: 207) und jetzt schon dafür Sorge zu tragen.
 
21
Luhmann betont oft die Negativinterdependenz, anders gesagt den Gedanken, dass die Lösung des Zeitproblems Zukunftssicherung Kosten in der Sozialdimension erzeugt: „Wer gegenwärtig schon sicher sein will, etwa künftig auftretende Bedürfnisse befriedigen zu können, muss Mittel blockieren, die andere gegenwärtig zur Deckung gegenwärtiger Bedürfnisse verwenden möchten.“ (Luhmann 1981b: 394). Gleichzeitig muss, gerade wenn Geld im Spiel ist, diese Negativinterdependenz nicht unbedingt gegeben sein. Sie gilt vorrangig auf der Ebene einfacher Ressourcen: Wenn jemand sich einen Sack Reis für seine künftige Ernährung sichert, kann kein Anderer den Reis jetzt essen. Bei Geld ist das aber gerade nicht so. Abgesehen von dem Fall, dass jemand sein Geld unter der Matratze versteckt und damit dem Geldkreislauf entzieht, ist die Zukunftssicherung des einen hier gerade damit verbunden, dass das Geld Anderen zur Verfügung gestellt wird: Die Bank leiht deponiertes Geld an Andere aus – und zwar qua Geldschöpfung sogar an mehrere Andere –, und ebenso wird bei Geldanlage auf Kapitalmärkten, etwa Aktienmärkten, die mehr oder weniger große Liquidität des Anlegers mit Kapitalbereitstellung für Andere kombiniert (Luhmann 1989: 65; Paul 2002: 255).
 
22
Bourdieu beschreibt dies explizit als Freisetzung eines vorher unterdrückten Potenzials: „In a kind of confession to itself, capitalist society stops ‘deluding itself with dreams of disinterestedness and generosity’: registering an awareness, as it were, that it has an economy, it constitutes the acts of production, exchange or exploitation as ‘economic’, recognizing explicitly as such the economic ends by which these things have always been guided. The ethical revolution that enabled the economy eventually to be constituted as such, in the objectivity of a separate universe, governed by its own laws (the laws of self-interested calculation and unfettered competition for profit), finds its expression in ‘pure’ economic theory, which registers the social dissociation and practical abstraction that give rise to the economic cosmos by inscribing them tacitly at the heart of its construction of its object.“ (Bourdieu 2005: 6 f.).
 
23
Das Feld der Politik und des Staates wiederum steht zwischen diesen beiden Polen: Es lebt von der Spannung zwischen universalistischer und partikularistischer Ausrichtung, zwischen dem Appell ans Gemeinwohl und der Artikulation und Verfolgung von Eigeninteressen, sei’s von Wählergruppen, Parteien oder Staatsapparaten (Bourdieu 2013).
 
24
Callon beispielsweise wird, wenn er statt über die Einbettung von Märkten wieder über ihre Entbettung reden will („disentangling“), sofort mit dem Vorwurf konfrontiert, er würde einfach nur die abstrakten Modelle der Ökonomen und das klassische Bild des homo oeconomicus re-installieren (Miller 2002).
 
25
Letztlich gilt dies für alle großen soziologischen Theorien, für jede auf ihre Weise. Es gilt natürlich für Parsons, aber auch für Parsons-Gegenspieler wie Goffman oder Berger/Luckmann: Der Goffman’schen Selbstdarstellungstheorie liegt das Problem des immer naheliegenden Misstrauens in unbekannte Gegenüber und die Notwendigkeit der Signalisierung von Vertrauenswürdigkeit zugrunde. Berger/Luckmann beginnen mit der anthropologischen Überforderung des Menschen angesichts unreduzierter Weltmöglichkeiten und der Notwendigkeit des Sich-Einspielens von Routinen und Erwartungen. Bourdieu will die subtilen Mechanismen der Reproduktion von Ordnung angesichts der immer gegebenen Möglichkeit des Ausbrechens aus symbolischen Zwängen und des Ablegens der zugrunde liegenden „illusio“ verstehen. Bei Luhmann ist die radikalste Formulierung die ab der „autopoietischen Wende“ verkündete radikale Verzeitlichung alles Sozialen, die Auflösung aller Bestände in die laufende Reproduktion von Elementen von Moment zu Moment.
 
26
Das ist ein sehr allgemeines theoriebautechnisches Problem: Irgendwo muss ein Ordnungsprinzip herkommen, woran Befunde geordnet werden können. Hier liegt eine operative Notwendigkeit, deren man durch reinen guten Willen und verbale Absichtserklärungen nicht Herr wird. Dasselbe Problem ist etwa zu beobachten am Funktionalismus und seiner asymmetrischer Gewichtung von Funktionen und Dysfunktionen. Funktionalisten betonen gern – um sich gegen den Vorwurf der unkritischen Affirmation des Bestehenden zu wehren –, sie würden nicht nur Funktionen, sondern ebenso Dysfunktionen untersuchen und könnten deshalb Kritik ebenso wie Rechtfertigung der bestehenden Ordnung liefern (Merton 1957; Luhmann 1970a, 1970b). Das geht aber in der Durchführung nicht auf. Denn nur Funktionen haben Ordnungswert, Dysfunktionen nicht. Man kann sich eine Gesellschaft entlang von Funktionen geordnet vorstellen, nicht aber entlang von Dysfunktionen; es würde keinen Sinn machen, von einer „dysfunktional differenzierten Gesellschaft“ zu sprechen.
 
27
Bei Luhmann geschieht dies typisch in einem Dreischritt aus Reduktion – Steigerung – Reduktion von Komplexität. So wird gesagt, dass die moderne Wissenschaft mit ihrer Explosion von Wahrheitsansprüchen ein eigenes Selektions- und Überkomplexitätsproblem erzeugt, ein Übermaß an Publikationen, das nicht allein durch Orientierung an „offiziellen“ Kriterien wie explanatorische Kraft, Einfachheit, Eleganz, Relevanz bewältigt werden kann, sondern informelle, nie voll sachlich gedeckte und nie ganz legitime Kriterien wie Prominenz oder Reputation als abkürzende Selektionshilfe nach oben bringt (Luhmann 1970c). Ebenso ist klar, dass das moderne Wirtschaftssystem mit seiner zeitlich-sozial-sachlichen Möglichkeitsexplosion einen Überschuss an Auswahlmöglichkeiten erzeugt, der nicht mehr auf „rationale“ Weise bewältigt werden kann, sondern allerlei Hilfs-, Ausweich- und Ablenkstrategien erfordert und zulässt, wie Personalisierungen, wohlplatzierte oder auch erratische Indifferenzen usw. (Luhmann 1970f: 209 f.). Für das Wirtschaftssystem ist dieser Punkt bei Luhmann allerdings nicht gut ausgearbeitet. Es könnte hier möglicherweise eine Parallele zum Doppelkreislauf im politischen System angesetzt werden – mit Doppelung in formale und informale, legitime und nicht-voll-legitime, darstellbare und nicht-darstellbare Strukturen, die in gegenläufigen Richtungen zusammenwirken (Luhmann 1994a; Luhmann 2010) –, wozu Luhmann ansetzt, was er aber nicht konsequent durchführt (Luhmann 1988a: 131 ff.).
 
Metadaten
Titel
Einleitung: Das Ghetto des Sozialen
verfasst von
Barbara Kuchler
Copyright-Jahr
2019
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-23104-0_1