Skip to main content

2007 | Buch

Bevölkerungswissenschaft im Werden

Die geistigen Grundlagen der deutschen Bevölkerungssoziologie

verfasst von: Patrick Henßler, Josef Schmid

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

insite
SUCHEN

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Einleitung
Patrick Henßler, Josef Schmid
1. Der sozialwissenschaftliche Bevölkerungsbegriff: Grundlagen und Vorgeschichte
Auszug
Was eine historisch gerichtete Bevölkerungswissenschaft unter Bevölkerung versteht und welche Breite ihr Bevölkerungsbegriff erreicht, wird klar, wenn man ihn dem amtsstatistischen Verständnis von Bevölkerung gegenüberstellt. Die Anzahl von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt auf einem exakt bezeichneten Gebiet ist einem Knochengerüst vergleichbar, das schon die Erscheinungsform wie Größe, Ausdehnung und Verteilung vorgibt, die lebendigen Weichteile um dieses Gerüst herum, die eigentlichen Lebensformen aber nicht preisgibt. Die Sozialwissenschaft schlüpft hier in die Rolle des Demiurgen, eines Schöpfers, der dem Lehm nun seine Seele einhaucht. Aus nüchternen und schier leblosen Bestandszahlen werden nun Lebens- und Sterbenszusammenhänge, Familiendasein, Generationenablöse, Wanderbewegungen und Flucht vor Hunger und Krieg. Der Blick in vergangene Epochen weckt eine geradezu archäologische Neugier, „wie es gewesen ist“, wie gehandelt, gelitten und gedacht wurde, und nährt den Wunsch, den Gang der Menschheit oder eines Volkes—als „Bevölkerung“—nachzuzeichnen. Aus der Bevölkerungsbewegung wird eine gesellschaftliche Dimension, eine Transversale, die nichts unberührt lässt und im Zusammenhang von Sozio-Ökonomie und Sozialgeschichte, von Geistes- und Theoriegeschichte ein bedeutendes Stück kultureller Evolution eines Raumes ergibt.
Patrick Henßler, Josef Schmid
2. Historismus und Sozialökonomik
Auszug
Die Ältere Historische Schule der Nationalökonomie mit den Protagonisten Wilhelm Roscher, Bruno Hildebrand und Karl Knies ist die erste große geistige Richtung des 19. Jahrhunderts, die für die Ausgestaltung des historischsoziologischen Bevölkerungsbegriffs prägend werden sollte. Ihr erster geistesgeschichtlicher Baustein ruht auf dem Historismus, der das Denken in Bewegungen vom Idealismus übernommen und in die gerade entstehenden Sozialwissenschaften hineingetragen hat. In diese große Bewegung lässt sich die spezifisch deutsche Nationalökonomie immer im Kampf um das eigene Selbstverständnis einordnen. Den Idealen des Historismus verpflichtet, kämpft sie gegen den Absolutismus der Theorie und für die Relativität der geschichtlichen Erscheinungen. Danach wird nicht nach Theorien mit zeitloser Geltung gesucht, sondern nach dem Zustandekommen einzelner Lebensformen. Wirtschaft ist keine Naturtatsache, sondern eine mit außerwirtschaftlichen (historischen, sozialen, politischen, nationalen) Faktoren verwobene “Kulturtatsache„ und nur induktiv, d.h. Einzelerscheinungen verbindend, zu verstehen. Der umfassende Vergleich der historischen Erscheinungen wird das grundlegende Instrument dieser Betrachtungsweise. Mit der Konzentration auf das “Volksleben„, ihrer immanenten Wirtschafts- und Sozialkritik war die historische Schule eine Gegenbewegung zum Systemdenken des klassischen ökonomischen Liberalismus, und damit —so urteilt Thomas Nipperdey—“ein völlig deutscher Gegenstand23.
Patrick Henßler, Josef Schmid
3. Kulturbewusstsein in den Sozialwissenschaften: Die neukantianische Wende um 1900
Auszug
Die Themenstellung und Texte der Protagonisten der “Älteren„ Nationalökonomen lassen zweierlei erkennen: einmal die Absicht, eine Wissenschaft in ihren ersten Beständen zu sammeln und ihr ein bestimmtes Gepräge, nämlich ein historisches zu geben. Zum anderen gelang dies recht unvollkommen. Durch die Tendenz, die Geschichts- und Kulturwissenschaften damit zu erweitern, schimmern immer noch Analogien und Beispiele aus einem kruden überkommenen Denken. Es begegnet einem in Form biologischer Schicksalsideen und als anthropologisch-psychologische Neigungen einer unwandelbaren Menschennatur.
Patrick Henßler, Josef Schmid
4. Historismus, Fortschritt und Soziale Frage: Die Jüngere Historische Schule der Nationalökonomie
Auszug
Gustav Schmoller (1838–1917) ist sehr wahrscheinlich der bedeutendste und einflussreichste deutsche Ökonom der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Begründer der Jüngeren Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, einer Schule, die er selbst als “ethisch-moralische„ bezeichnete, beschäftigt er sich mit dem Gesamtkomplex sozioökonomischer Fragestellungen Im Mittelpunkt seiner Arbeit steht jedoch stets die “sociale Frage„ in einer sich durch die fortschreitende Industrialisierung unaufhörlich wandelnden Gesellschaft.
Patrick Henßler, Josef Schmid
5. Von historischer Gegebenheit zur individuellen Option: Wege zur sozialwissenschaftlichen Bevölkerungslehre
Auszug
Am Anfang des 19. Jahrhunderts baute sich in Wien eine Österreichische Schule der Volkswirtschaftlehre auf, die den Wirtschaftshistorismus als erschöpft wahrnahm. Er hätte sich in bewusster Abwendung von westeuropäischer Theorie, also von verallgemeinernder Abstraktion, in einen Stillstand manövriert, vor dem die ganze Disziplin gerettet werden müsse. Der Wortführer Carl Menger (1840–1924) formulierte einen gegen Gustav Schmoller gerichteten Artikel, der nicht frei von höhnischen und persönlichen Anwürfen war: “Die Irrtümer des Historismus in der deutschen Nationalökonomie„ (1884).
Patrick Henßler, Josef Schmid
6. Sozialwissenschaften zwischen 1933 und 1945— im Spiegel des akademischen Werdegangs von Gerhard Mackenroth
Auszug
Im Folgenden soll nun die akademische Laufbahn des überragenden Konzeptors der deutschen Bevölkerungssoziologie, Gerhard Mackenroth (1903–1955), nachgezeichnet werden, denn dem liegt ein Bedürfnis und eine Notwendigkeit zugrunde. Ein Bedürfnis dahingehend, dass Mackenroths Weg einen wichtigen Bereich deutscher Wissenschaftsgeschichte erhellt, der mit den Abwegen des “Dritten Reiches„ nicht kontaminiert scheint, und sogar unter Zuhilfenahme der Trennung von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft eine methodische Abwehr aufbauen konnte; eine Notwendigkeit deshalb, weil hier ein enger Zusammenhang von Persönlichkeit, akademischer Laufbahn, von Gesellschaftsauffassung und von Forschungsergebnissen zu einer klar gegliederten Disziplin geführt haben. In diesem Bildungsweg verbinden sich akademische Karrierestufen der Jugend einmal mit dem nationalen “Volksgeist„ der Zeit zwischen den Kriegen, sodann mit den diktatorischen Gegebenheiten des nach 1933 errichteten “autoritären Volksstaats„, wie er sich selbst nannte. Gerade in sie fallen die Anfänge einer Professorenlaufbahn, die längerfristig immer von Kriegsdienst und zuletzt von Kriegsgefangenschaft unterbrochen wurde.
Patrick Henßler, Josef Schmid
7. Soziale Marktwirtschaft und Soziale Sicherheit-Bevölkerungssoziologie nach 1945
Auszug
Nach Kriegsende waren Bevölkerungswissenschaft und noch mehr Bevölkerungspolitik in der Bedeutung, die sie im “Dritten Reich„ innehatten und dort exekutiert wurden, unmöglich geworden. Doch das vorhin skizzierte “Schisma„ im deutschen Bevölkerungsbegriff, das Auseinanderfallen des Gegenstandes in eine sozialgeschichtliche Einheit auf der einen Seite und in einen erbbiologischen Volkskörper, an dem Zivilisationsschäden laufend behoben werden müssen, auf der anderen Seite, kam bald nach Kriegsende zum Vorschein. Es hat sich dahingehend bestätigt, dass die vom Wissenschaftsverständnis her unvereinbaren Bereiche sich wieder auf ihre Herkunftsdisziplinen zurückgezogen haben: der erbbiologische Bereich musste seine diskreditierte rassenpolitische Intention ablegen und wanderte zurück in Humangenetik, Anthropologie, in Medizin und Gesundheitswesen, oft ohne den Ort zu wechseln.530 Der sozialgeschichtliche Flügel war jedoch kleiner und hatte zudem mit dem plötzlichen Tod Mackenroths 1955 seinen Protagonisten verloren. So hat es bis in die 1970er Jahre gedauert, bis sich eine soziologische Sicht in der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft wieder melden und durchsetzen konnte.
Patrick Henßler, Josef Schmid
Backmatter
Metadaten
Titel
Bevölkerungswissenschaft im Werden
verfasst von
Patrick Henßler
Josef Schmid
Copyright-Jahr
2007
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-90291-3
Print ISBN
978-3-531-14793-2
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-90291-3