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2008 | Buch

Sozialismus

verfasst von: Thomas Meyer

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Auszug
Wie alle Großbegriffe, die politische Ideen und integrierte politische Handlungskonzepte bezeichnen, ist auch der „Sozialismus“ spätestens seit der demokratischen Revolution Osteuropas 1989 weitgehend verblasst. Das gilt gleichermaßen für den akademischen Diskurs, die Interventionen der politischen Intellektuellen im öffentlichen Leben und die zentralen, mehrheitsfähigen Akteure der demokratischen Gesellschaften. Nur kleine strukturelle Minderheitsparteien, mittlerweile freilich eine politische Normalität in den Parlamenten fast aller europäischen Ländern, halten an dem Begriff und den Programmen, die ihm entsprechen könnten, fest. Ob der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ des venezolanischen Präsidenten Chavez mehr ist als eine kurzlebige politische Parole, ist offen. Auch wenn Sozialismus als gesamtgesellschaftliches Gestaltungskonzept keine Aussicht mehr zu haben scheint, für die handlungsorientierten politischen Diskurs in Betracht zu kommen, behauptet er sich auf diese Weise dennoch in einer neuen Art von Korrekturfunktion im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus. Das gelingt ihm weniger durch die Überzeugungskraft seiner wirtschaft- und sozialpolitischen Gestaltungsansprüche als durch die Erinnerung an das große historische Versprechen einer Gesellschaft der Freien und Gleichen ohne Ausbeutung und Klassenherrschaft, für das er historisch einstand.
Thomas Meyer
2. Der sozialistische Impuls
Auszug
In einem gewissen Sinne sind die praktischen und die theoretischen Impulse, die zur Herausbildung des modernen Sozialismus geführt haben, gleich ursprünglich. Die industrielle Revolution setzte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in den am weitesten fortgeschrittenen Wirtschaftsnationen Europas, erst in England, dann in Belgien und Frankreich, später in Deutschland ein. Mit der Einführung der Dampfmaschine, des Webstuhls und der mechanischen Spinnmaschine ermöglichte sie die rasche und rapide Ausweitung des traditionellen Manufakturwesens zu einem System immer größer werdender Werkstätten und Fabriken. In manchen europäischen Regionen, vor allem Frankreichs und Deutschlands, entstand ein Verlagswesen, das die Anwendung der neuen Technologien, vor allem Spinnmaschinen und Webstühle in Heimarbeit ermöglichte und organisierte.
Thomas Meyer
3. Der Sozialismus im 19. Jahrhundert
Auszug
In England und Frankreich, den industriell und politisch am weitesten vorangeschrittenen Ländern Europas, meldeten sich schon seit den 1820er und 30er Jahren Theoretiker in öffentlich wirkungsvoller Weise zu Wort, die einen sozialistischen Gegenentwurf zur frühkapitalistischen Wirtschaftsweise propagierten und in teils anspruchsvollen theoretischen Schriften begründeten. Zu ihnen gehörten neben anderen so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Robert Owen (1771–1858) in England, Henri de Saint-Simon (1760–1825) und Charles Fourier (1772–1837) in Frankreich und etwas später Wilhelm Weitling (1808–1871) in Deutschland. Es waren trotz der beträchtlichen Unterschiede in der Begründung, dem Denkstil und ihrem jeweiligen Gegenentwurf zu den bestehenden kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen vor allem drei Gemeinsamkeiten, die diesen politischen Philosophen in der Frühphase des europäischen Sozialismus später die gemeinsame Bezeichnung als „utopische“ Sozialisten einbrachte: Frühsozialismus
  • Offene Begründung des sozialistischen Anspruchs aus politischen und moralischen Normen, vor allem der Gleichheit und Solidarität.
  • Konstruktive Projektion neuer sozialistischer Organisationsmodelle für Wirtschaft und Gesellschaft, weitgehend abgelöst von politischen Massenbewegungen, die für deren Umsetzung politisch einstehen könnten.
  • Ausmalung der erstrebten neuen Gesellschaftsmodelle bis hin zu Nuancen des Arbeits- und Lebensalltags in phantasievollen Konstruktionen.
Thomas Meyer
4. Sozialismus im 20. Jahrhundert
Auszug
Grundlegend für die Klärung des wechselseitigen Selbstverständnisses von Kommunismus und demokratischem Sozialismus war die ursprüngliche Debatte über die „Diktatur des Proletariats“ in der Phase der Spaltung der Arbeiterbewegung. Diese Diskussion hatte drei Ebenen. Sie enthält einmal die Frage nach dem Gehalt des Begriffs der „Diktatur des Proletariats“ bei Karl Marx und Friedrich Engels selbst, auf die sich ja die Kontrahenten zu diesem Zeitpunkt gemeinsam beriefen. Sie bezieht sich zum anderen auf die Frage nach dem Wesen einer jeden Revolution, der Notwendigkeit und dem Ausmaß an unvermeidlicher Unterdrückung. Und die stellt drittens die Legitimationsgrundlagen bolschewistischer Herrschaft in Russland zur Debatte.
Thomas Meyer
5. Die Modernisierung des Sozialismus
Auszug
Seit den neunzehnhundertsiebziger Jahren wurde, zunächst vor allem in den USA, nachfolgend aber auch in europäischen Ländern, vor allem Großbritannien und Deutschland, mit beträchtlicher wissenschaftlicher und öffentlicher Resonanz der Anspruch formuliert, allein die neue geistigpolitische Strömung des Kommunitarismus könne angesichts des Scheiterns etatistischer politischer Strategien in den komplexen Gesellschaften der Gegenwart die Erbschaft des freiheitlichen Sozialismus antreten. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Philip Selznick wählte in diesem Sinne für seinen programmatischen Aufsatz zu diesem Thema den Titel: Vom Sozialismus zum Kommunitarismus. Gewollt oder ungewollt wurde dem Kommunitarismus in dieser ehrgeizigen Zuschreibung die Rolle einer Nachfolgetheorie für den Sozialismus zugemessen, durchaus verbunden mit dem Anspruch, er könne auf zeitgemäße Weise dessen große Verheißungen und Ansprüche beerben.
Thomas Meyer
6. Theorie und Praxis
Auszug
Im Rückblick auf die Geschichte des Verhältnisses von Theorie und Praxis des Sozialismus in der zweiten Hälfte des 19. und im 20. Jahrhundert zeichnen sich trotz der großen Komplexität und Dynamik ihrer widerspruchsvollen und wandelbaren Beziehungen zueinander einige Grundlinien ab.
Thomas Meyer
7. Ausblick
Auszug
Wie alle politischen Großbegriffe, die politische Ideen und integrierte gesamtgesellschaftliche Handlungskontexte bezeichnen, ist der „Sozialismus“ im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verblasst. Das lag im Wesentlichen am Zusammenwirken der zunehmenden Komplexität der gesellschaftlichen Handlungsbedingung, die Fundamentalalternativen die Basis raubte und den Bedingungen möglichen Wahlerfolgs in den demokratischen Ländern, die in die gleiche Richtung wirkten. Im Falle des „Sozialismus“ tat die demokratische Revolution Osteuropas 1989 ein Übriges. Der Begriff scheint seither in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit eher Verdacht zu wecken als Hoffnungen zu beflügeln, auch wenn die sozial-demokratische Substanz des traditionellen Programms des demokratischen Sozialismus sich als ungeschmälert aktuell erweist. Das gilt nicht allein für Europa, sondern mit geringen Ausnahmen überall in der Welt der Gegenwart.
Thomas Meyer
Backmatter
Metadaten
Titel
Sozialismus
verfasst von
Thomas Meyer
Copyright-Jahr
2008
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91013-0
Print ISBN
978-3-531-15445-9
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91013-0