Zusammenfassung
Ziel des Aufsatzes ist es, die Frage nach der Objektivität und Neutralität von Standards in der Medizin empirisch zu hinterfragen. Vor dem Hintergrund, dass medizinisches Wissen und medizinische Praxis gegenwärtig in zunehmendem Maße standardisiert und reguliert werden, wird auf der Basis einer von der Autorin durchgeführten qualitativen Studie in der Intensivmedizin untersucht, wie sich Standardisierungsprozesse im medizinischen Alltag tatsächlich auswirken. Hier zeigt sich, dass der Objektivität und Neutralität von Standards zum einen immanente (begriffliche und normative) Grenzen gesetzt sind. Zum anderen führt die komplexe Wechselwirkung medizinischer Standards mit anderen (betriebswirtschaftlichen und technischen) Standardisierungsprozessen im stationären Alltag zu nicht intendierten, teilweise paradoxen Effekten, die weitreichende Auswirkungen auf die Entscheidungsprozesse der Ärztinnen und Ärzte und damit die medizinische und pflegerische Versorgung haben.
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Notes
- 1.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Kapitel teilweise das generische Maskulinum verwendet. Dieses impliziert natürlich immer auch die weibliche Form. Sofern die Geschlechtszugehörigkeit von Bedeutung ist, wird selbstverständlich sprachlich differenziert.
- 2.
Nachzulesen auf den Internetseiten der Deutschen Forschungsgemeinschaft http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/5439141.
- 3.
Wissenschaftssoziologie (Sociology of Science) wird von mir als eine spezifische Ausrichtung der Wissenssoziologie praktiziert und fragt nach der Entstehung, der Verwendung und den Auswirkungen wissenschaftlichen Wissens (im Englischen wird diese Forschungsrichtung als ‚Sociology of Scientific Knowledge‘ bezeichnet). Sie begreift wissenschaftliches Wissen dabei nicht nur als Resultat wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse, sondern als beeinflusst durch und in Wechselwirkung stehend mit dem institutionellen und organisatorischen Kontext sowie gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen.
- 4.
Die Bedeutung von Erfahrungswissen bei der Anwendung von Technik zu untersuchen, ist eine Fragestellung, die in der Industrie- und Arbeitssoziologie seit den 1980er-Jahren häufig gestellt wurde, zumeist jedoch in anderen, d. h. nichtmedizinischen Bereichen, wie z. B. der hoch technisierten, industriellen Produktion (vgl. Böhle et al. 2001, 2002, 2003; Pfeiffer 2004).
- 5.
Dass die sinnliche Wahrnehmung des Arztes jedoch auch in der hochtechnisierten Medizin des 21. Jahrhunderts ihre Bedeutung besitzt, konnte ich im Rahmen meiner ethnografischen Studie alltäglich beobachten. Zum Beispiel, wenn die erfahrene Chefärztin bei der Visite die Kreislaufsituation eines Patienten zunächst dadurch überprüft, dass sie den Gesamteindruck wahrnimmt, dann fühlt, ob seine Knie warm oder kalt sind und erst danach in die ‚Kurve‘ schaut. Oder wenn der erfahrene Oberarzt einer Intensivstation, an der ‚Schnappatmung‘ (ruckartige Bewegung des Thorax) des sedierten und beatmeten Patienten erkennen kann, ob die ‚Lungen gut belüftet sind‘ (wie es im Jargon heißt) ohne zuvor die Messwerte für die Sauerstoffsättigung zu überprüfen.
- 6.
Auch die Norm selbst ist genormt! Nach DIN EN 45020 ist eine Norm: „Ein Dokument, das mit Konsens erstellt und von einer anerkannten Institution angenommen wurde. Das für die allgemeine und wiederkehrende Anwendung Regeln, Leitlinien oder Merkmale für Tätigkeiten oder deren Ergebnisse festlegt“ (http://www.14001news.de/Normung/body_normung.html). Vgl. dort auch Normung allgemein.
- 7.
Vgl. bspw. https://www.iso.org/home.html.
- 8.
Gleiches gilt z. B. für Urinkatheter, die mit den entsprechenden Auffangsystemen kompatibel sein müssen oder auch Beatmungsgeräte, die mit den unterschiedlichsten Belüftungsschläuchen zusammenpassen müssen. Kein technisches Verfahren, kein Gerät, kein System würde ohne zugrunde liegende Normen funktionieren.
- 9.
Je nach Theorietradition wird neben der Differenz zwischen „implizitem und explizitem Wissen“ (Michael Polanyi) auch unterschieden zwischen „knowing how“ und „knowing that“ (Gilbert Ryle), und zwischen „konjunktivem und kommunikativen Erkennen“ (Karl Mannheim) (vgl. Schützeichel 2012, S. 108).
- 10.
Diese Kontroverse gründet in der traditionellen Annahme westlicher Geistesgeschichte, dass es sich bei Wissen grundsätzlich um ein geistiges, heute würde man sagen, mentales oder kognitives Vermögen handele, das von körperlichen Empfindungen und Gefühlen abzugrenzen sei. Anhänger dieser Position würden ‚tacit knowledge‘ mit den hier beschrieben Merkmalen nicht als Wissen, sondern als praktisches Können bezeichnen. Tatsächlich grenzen sich unterschiedliche Zugänge in der Wissensforschung aufgrund dieser Kontroverse voneinander ab, wie bspw. die kognitive Psychologie und die erziehungswissenschaftliche Wissensforschung (vgl. Neuweg 2015 und Gruber und Ziegler 1996b).
- 11.
- 12.
Im deutschsprachigen Raum ist dieser politische Charakter von Standards bisher kaum untersucht worden. Anders hingegen in den englischsprachigen Science and Technology Studies (STS), wo die Problematik von Standardisierungsprozessen seit Langem erforscht wird (vgl. u. a. Berg und Toussaint 2003; Bowker und Star 1996, 2000; Heath und Luff 1996; Timmermanns und Berg 2003; Suchmann 1993). Eine Ausnahme im deutschsprachigen Raum bilden hier die Studien der österreichischen Wissenschafts- und Technikforscherin Ina Wagner, deren Arbeiten jedoch ebenfalls eher im Bereich der STS anzusiedeln sind (vgl. Wagner 1991), sowie die aus den 1980er-Jahren stammenden Untersuchungen des Berliner Wissenschafts- und Technikforschers Gerald Wagner (vgl. Rammert et al. 1998; Wagner 1998).
- 13.
Erhoben und bereitgestellt werden diese Analysen von der Cochrane Gesellschaft, einem weltweiten Netzwerk von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen sowie anderen Professionen aus Medizin und Gesundheitswesen (vgl. www.cochrane.org). Ihrem Selbstverständnis nach arbeitet die Cochrane Gesellschaft ohne kommerzielle Sponsorengelder und begreift sich daher als frei von industriellen und wirtschaftlichen Interessenskonflikten (vgl. Behrens 2003; Fischer und Bartens 1999; Vogd 2002, 2004).
- 14.
Die hierfür verwendete Software wird Patientendatenmanagementsystem (PDMS) genannt (vgl. Bencic et al. 2004). Um sowohl Patientendaten verwalten als auch Bestellungen in anderen Abteilungen aufgeben zu können, muss die Patientenakte mit allen anderen Programmen kompatibel sein, die im klinischen Management verwendet werden. Diese Programme werden als Krankenhausmanagementinformationssystem bezeichnet und bestehen zum einen aus klinischen Informationssystemen (wie Programmen zur Bestellung und Verwaltung, Programmen zur Personalplanung, OP-Software u. a.) und zum anderen aus Krankenhausverwaltungs-, Abrechnungs- und Leistungserfassungsprogrammen (der sog. ERP-Software, wie ‚SAP R/3‘, ‚Oracle‘ u. a.).
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Manzei, A. (2018). Sind Standards objektiv und neutral?. In: Klinke, S., Kadmon, M. (eds) Ärztliche Tätigkeit im 21. Jahrhundert - Profession oder Dienstleistung. Springer-Lehrbuch. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-56647-3_11
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