Zusammenfassung
Der Beitrag beruht auf Ergebnissen einer Studie zur Rezeption von Filmen durch Jugendliche in der späten Adoleszenz (18–22 Jahre) und diskutiert eine der empirisch rekonstruierten Praktiken der Rezeption, jene einer produktiven Aneignung von Filmen, vor dem Hintergrund aktueller bildungstheoretischer Fragen zur Transformation habituell verankerter Orientierungen. Es ist die Besonderheit einer produktiven Aneignung, dass durch diesen habituell verankerten Modus der Zuwendung zu Filmen bzw. Medien – im Zuge einer spontanen mimetisch-ästhetischen Erfahrung – habituell verankerte Orientierungen modifiziert werden. Damit lassen sich im Kontext der Rezeptionsforschung Schwächen in der von Bourdieu angelegten Reproduktionsgesetzlichkeit des Habitus beseitigen, ohne die spezifische Logik der Praxis als Grundlage auch der Transformation eines Habitus zugunsten eines freien Selbstentwurfs in der Reflexion oder einer lokal situativ-interaktiven Bedeutungsaushandlung von Identitäten aufzugeben.
Abstract
This paper is based on empirical findings concerning juveniles' film reception in late adolescence (18–22 years old) and discusses one reconstructed reception practice amongst others—a productive appropriation—against the background of questions of actual educational theory regarding the transformation of habitual rooted orientations. It is special about the practice of productive appropriation that by means of this habitual rooted mode of reception in the course of a mimetic-aesthetic experience habitual rooted orientations are modified. Thereby, shortcomings of Bourdieu’s habitus theory caused by his strong focus on social reproduction can be solved in the context of media and audience studies. This is possible without denying a specific “sens pratique” in favour of the presupposition of an unbound identity design in self-reflection or the assumption of a local, interactive negotiation of identities.
Notes
Die dokumentarische Methode beruht auf den metatheoretischen Grundlagen der praxeologischen Wissenssoziologie und steht so in der Tradition der Wissenssoziologie nach Mannheim. Die Interpretationsverfahren der dokumentarischen Methode ermöglichen nicht nur einen Zugang zu reflexiven und theoretischen Wissensbeständen, sondern auch zu einem impliziten, handlungsleitenden Wissen (vgl. Bohnsack 2008, 2009).
Die Daten entstammen dem vorrangig quantitativ ausgerichteten DFG-Projekt „Kommunikatbildungsprozesse Jugendlicher zur Todesthematik und filmische Instruktionsmuster“ (Leitung: Dieter Lenzen, Yvonne Ehrenspeck, Achim Hackenberg), in dem ich von 2005–2007 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt war (zu den Ergebnissen: vgl. Geimer et al. 2007).
Eine solche Kontinuität zwischen alltäglicher und ästhetischer Erfahrung ist keineswegs lediglich auf Werke der ‚hohen‘ und in diesem Sinne legitimen und kanonisierten Kunst zu beziehen, wie zunächst anklingen mag. Anderenorts betont Dewey, dass die „Zweige der Kunst, denen der Durchschnittsmensch unserer Tage vitalstes Interesse entgegenbringt, […] von ihm nicht zur Kunst gezählt [werden]: Zum Beispiel Filme, moderne Tanzmusik, Comics“ (Dewey 1980, S. 12).
Bourdieu selbst hat auf Analogien der Sozialtheorie Deweys zu seinem Konzept des Habitus hingewiesen (vgl. Bourdieu u. Wacquant 1996, S. 155). Diese von ihm selbst identifizierten Parallelen dienen hier dazu, Bourdieus Habituskonzept um Aspekte einer spontanen Bildung (Nohl 2006) zu erweitern – keineswegs soll aber eine Identität der Theoriepositionen von Dewey und Bourdieu behauptet werden.
Auch die ggf. stattfindenden Transformationen des Habitus unterliegen allerdings einer gewissen sozialisationsgeschichtlichen Kontinuität und sind somit nicht mit einem ‚Umprogrammieren‘ oder einer ‚Gehirnwäsche‘ oder ‚psychotischen Krise‘ eines plötzlichen Selbstverlusts zu verwechseln.
Literatur
Ayaß, R., & Bergmann, J. (Hrsg.) (2006). Qualitative Methoden der Medienforschung. Reinbek: Rowohlt.
Baacke, D., Schäfer, H., & Vollbrecht, R. (1994). Treffpunkt Kino. Daten und Materialien zum Verhältnis von Jugend und Kino. Weinheim: Juventa.
Barker, M. (2006). I have seen the future and it's not here yet… Or, on being ambitious for audience research. The Communication Review, 9, 123–141.
Berger, P. L. (1983). Das Problem der mannigfaltigen Wirklichkeiten. Alfred Schütz und Robert Musil. In R. Grathoff & B. Waldenfels (Hrsg.), Sozialität und Intersubjektivität (S. 229–251). München: Fink.
Bohnsack, R. (2003). Dokumentarische Methode und sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 6, 550–570.
Bohnsack, R. (2007). Dokumentarische Methode und praxeologische Wissenssoziologie. In R. Schützeichel (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung (S. 180–190). Konstanz: UVK.
Bohnsack, R. (2008). Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden (7. Aufl.). Opladen: Barbara Budrich.
Bohnsack, R. (2009). Qualitative Bild- und Videointerpretation. Die dokumentarische Methode. Opladen: Barbara Budrich.
Bourdieu, P. (1992). Rede und Antwort. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Bourdieu, P. (1993). Sozialer Sinn: Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Bourdieu, P. (2001a). Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Bourdieu, P. (2001b). Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Bourdieu, P., & Passeron, J.-C. (1971). Illusion der Chancengleichheit. Untersuchung zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs. Stuttgart: Klett.
Bourdieu, P., & Wacquant, L. (1996). Die Ziele der reflexiven Soziologie. In P. Bourdieu & L. Wacquant (Hrsg.), Reflexive Anthropologie (S. 95–249). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Dewey, J. (1980/1934). Kunst als Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Ehrenspeck, Y. (1998). Die Versprechungen des Ästhetischen. Die Entstehung eines modernen Bildungsprojekts. Opladen: Leske + Budrich.
Ehrenspeck, Y. (2001). Stichwort: Ästhetik und Bildung. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 4, 5–21.
Ebrecht, J. (2004). Die Kreativität der Praxis. Überlegungen zum Wandel von Habitusformationen. In J. Ebrecht & F. Hillebrandt (Hrsg.), Bourdieus Theorie der Praxis. Erklärungskraft − Anwendung – Perspektiven (S. 225–241). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Foucault, M. (1990). Einleitung zu ‚Gebrauch der Lüste‘. In P. Engelmann (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart (S. 244–274). Stuttgart: Reclam.
Gebauer, G., & Wulf, C. (2003). Mimetische Weltzugänge. Soziales Handeln – Rituale und Spiele – ästhetische Produktionen. Stuttgart: Kohlhammer.
Geimer, A. (2009). Cultural practices of the reception and appropriation of films from the standpoint of a praxeological sociology of knowledge. In R. Bohnsack, N. Pfaff, & W. Weller (Hrsg.), Qualitative research and documentary method in educational science (S. 293–309). Opladen: Barbara Budrich.
Geimer, A. (2010). Filmrezeption und Filmaneignung. Eine qualitativ-rekonstruktive Studie über Praktiken der Rezeption bei Jugendlichen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Geimer, A., & Ehrenspeck, Y. (2010). Qualitative Filmanalyse. In B. Friebertshäuser, A. Langer & A. Prengel (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (3., vollst. überarb. Aufl., S. 589–598). Weinheim: Juventa.
Geimer, A., Lepa, S., Hackenberg, A., & Ehrenspeck, Y. (2007). THE OTHERS reconstructed – Eine qualitative Analyse erfahrungs- und entwicklungsbezogener Prädiktoren der unterschiedlichen Lesarten eines Postmortem-Spielfilms. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 10, 493–511.
Göttlich, U. (1997). Kontexte der Mediennutzung. Probleme einer handlungstheoretischen Modellierung der Medienrezeption. montage AV 6, 105–113.
Göttlich, U., & Winter, C. (1999). Wessen Cultural Studies? Zur Rezeption der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum. In R. Bromley, U. Göttlich & C. Winter (Hrsg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung (S. 25–39). Lüneburg: zu Klampen-Verl.
Hepp, A. (1999). Cultural Studies und Medienanalyse. Opladen: Westdt. Verl.
Hepp, A. (2008). Cultural Studies. In U. Sander, F. von Gross & K.-U. Hugger (Hrsg.), Handbuch Medienpädagogik (S. 142–148). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Jörissen, B., & Marotzki, W. (2009). Medienbildung. Eine Einführung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Keppler, A. (2006). Mediale Gegenwarten. Eine Theorie des Fernsehens am Beispiel der Darstellung von Gewalt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Koller, H.-C. (2007). Bildung als Entstehung neuen Wissens? Zur Genese des Neuen in transformatischen Bildungsprozessen. In H.-R. Müller & W. Stravoravdis (Hrsg.), Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft (S. 49–68). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Kracauer, S. (1985). Theorie des Films. Die Errettung der äußerlichen Wirklichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Liebau, E. (1992). Die Kultivierung des Alltags. Das pädagogische Interesse an Bildung, Kunst und Kultur. Weinheim: Juventa.
Mannheim, K. (1980). Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit (Konjunktives und kommunikatives Denken). In D. Kettler, V. Meja & N. Stehr (Hrsg.), Karl Mannheim. Strukturen des Denkens (S. 155–322). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Marotzki, W. (1990). Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie. Biographietheoretische Auslegung von Bildungsprozessen in hochkomplexen Gesellschaften. Weinheim: Deutscher Studienverlag.
Mead, G. H. (1982). Ästhetische Erfahrung [1926]. In D. Henrich & W. Iser (Hrsg.), Kunst als Erfahrung (S. 343–355). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Meder, N. (2002). Nicht informelles Lernen, sondern informelle Bildung ist das gesellschaftliche Problem. Spektrum Freizeit, 24, 8–17.
Meuser, M. (1999). Subjektive Perspektiven, habituelle Dispositionen und konjunktive Erfahrungen. Wissenssoziologie zwischen Schütz, Bourdieu und Mannheim. In R. Hitzler, J. Reichertz & N. Schröer (Hrsg.), Hermeneutische Wissenssoziologie. Standpunkte zur Theorie der Interpretationen (S. 121–146). Konstanz: UVK.
Michel, B. (2004). Das Habituskonzept zur Überwindung cartesianischer Engführungen in der Rezeptionsforschung. In U. Hasebrink, L. Mikos & E. Prommer (Hrsg.), Mediennutzung in konvergierenden Medienumgebungen (S. 41–66). München: R. Fischer.
Michel, B. (2005). Kommunikation vs. Konjunktion. Zwei Modi der Medienrezeption. In V. Gehrau, H. Bilandzic & J. Woelke (Hrsg.), Rezeptionsstrategien und Rezeptionsmodalitäten (S. 107–126). München: R. Fischer.
Michel, B. (2006). Bild und Habitus. Sinnbildungsprozesse bei der Rezeption von Fotografien. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Michel, B. (2010). Habitus und Lebensstil. In R. Vollbrecht & C. Wegener (Hrsg.), Handbuch Mediensozialisation (S. 75–84). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Mikos, L. (2006). Die Rezeption des Cultural Studies Approach im deutschsprachigen Raum. In A. Hepp & R. Winter (Hrsg.), Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse (3., überarb. und erw. Aufl., S. 177–192). Opladen: Westdt. Verl.
Mikos, L., & Wegener, C. (Hrsg.). (2005). Qualitative Medienforschung: Ein Handbuch. Konstanz: UVK.
Mollenhauer, K. (1996). Grundfragen ästhetischer Bildung: Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Weinheim: Juventa.
Musil, R. (2001). Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films. In B. Balázs (Hrsg.), Der sichtbare Mensch (S. 148–167). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Nohl, A.-M. (2006). Bildung und Spontaneität. Phasen biographischer Wandlungsprozesse in drei Lebensaltern Empirische Rekonstruktionen und pragmatistische Reflexionen. Opladen: Barbara Budrich.
Oevermann, U. (1996). Krise und Muße. Struktureigenschaften ästhetischer Erfahrung aus soziologischer Sicht. Vortrag am 19.6. in der Städel-Schule. http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2005/535/pdf/Krise-und-Musse-1996.pdf. Zugegriffen: 3. Feb. 2010.
Reckwitz, A. (2006). Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück.
Rieger-Ladich, M. (2005). Weder Determinismus, noch Fatalismus: Pierre Bourdieus Habitustheorie im Licht neuerer Arbeiten. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 3, 281–296.
Sartre, J.-P. (2003). Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Reinbek: Rowohlt.
Schäffer, B. (2003). „Ein Blick sagt mehr als 1000 Worte“. Zur generationsspezifischen Inszenierung pädagogischer Blickwechsel in Spielfilmen. In Y. Ehrenspeck & B. Schäffer (Hrsg.), Film- und Fotoanalyse in der Erziehungswissenschaft (S. 395–418). Opladen: Leske + Budrich.
Schrøder, K., Doriteer, K., Kline, S., & Murray, C. (2003). Researching Audiences. New York: Oxford Univ. Press.
Schütz, A., & Luckmann, T. (2003). Strukturen der Lebenswelt. Konstanz: UVK.
Wigger, L. (2006). Habitus und Bildung. Einige Überlegungen zum Zusammenhang von Habitusformationen und Bildungsprozessen. In B. Friebertshäuser, M. Rieder-Lagich & L. Wigger (Hrsg.), Reflexive Erziehungswissenschaft (S. 101–118). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Wigger, L. (2007). Bildung und Habitus? Zur bildungstheoretischen und habitustheoretischen Interpretation von Interviews. In H.-R. Müller & W. Stravoravdis (Hrsg.), Bildung im Horizont der Wissensgesellschaft (S. 171–192). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Winter, R. (2008). Widerständige Sozialität im postmodernen Alltagsleben. Das Projekt der Cultural Studies und die poststrukturalistische Diskussion. In T. Thomas (Hrsg.), Medienkultur und soziales Handeln (S. 299–315). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Wulf, C. (2005). Zur Genese des Sozialen. Mimesis. Performativität. Ritual. Bielefeld: transcript.
Zirfas, J. (2004). Kontemplation – Spiel – Phantasie. Ästhetische Erfahrungen in bildungstheoretischer Perspektive. In G. Mattenklott & C. Rora (Hrsg.), Ästhetische Erfahrungen in der Kindheit. Theoretische Grundlagen und empirische Forschung (S. 77–97). Weinheim: Juventa.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Geimer, A. Praktiken der produktiven Aneignung von Medien als Ressource spontaner Bildung. Z Erziehungswiss 13, 149–166 (2010). https://doi.org/10.1007/s11618-010-0108-9
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s11618-010-0108-9