Zusamenfassung
Vor dem Hintergrund der viel diskutierten Erosion tradierter, sozialer Organisationsprinzipien, die Akteuren in gesteigertem Maße Reflexionsprozesse nahelegt und Selbststeuerungsstrategien auferlegt, stellt der Beitrag die Frage, inwiefern dadurch Bildungsprozesse im Sinne der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen angestoßen werden bzw. inwiefern sich die Vielfalt identitätsbezogener Selbstentwürfe dazu eignet, Akteure in solche Subjektivierungsprozesse zu verstricken, die in der Lage sind, Bildungsprozesse ein- und anzuleiten. Reflexive Praktiken der Führung des Selbst werden in Annäherung an Foucaults Konzept der Subjektivierung bzw. dessen Fortführung in den Governmentality Studies gefasst und im Rahmen eines praxeologischen Konzepts der Aneignung von diskursiven Subjektfiguren diskutiert. Dabei mag ein Potenzial für Bildungsprozesse in der Aneignung und Aushandlung vielfältiger diskursiver Subjektfiguren auszumachen sein; zugleich sind jedoch dissoziative Aneignungen von Subjektfiguren zu berücksichtigen, die geeignet sind, habituell verankerte Selbst- und Weltverhältnisse durch Mythen des Selbst und ideologische Fantasien aufrecht zu erhalten. Abschließend werden potenzielle Arbeitsfelder, methodologisch-methodische Konsequenzen und Grenzen einer empirischen Bildungsforschung aufgezeigt, die sich den Relationen zwischen diskursiven Subjektfiguren, reflexiven Selbstentwürfen und habituellen Wissensstrukturen annimmt. Der Beitrag versteht sich als Moment einer Diskussion um methodologische Grundlagen der qualitativen Bildungsforschung, die empirische Studien anleiten, und will für Ambivalenzen und Paradoxien in Subjektivierungsprozessen sensibilisieren, die Bildungsprozesse eher hemmen denn fördern.
Abstract
Against the background of the much-debated erosion of traditional principles of social organization implying the increase of processes of reflexive self-regulation this contribution sets out to clarify the question how processes of Bildung (in terms of the transformation of a habitus and self- world-relations respectively) are involved in such social changes often labeled as postmodern. Reflexive practices of self-regulation are conceptualized regarding Foucaults concept of subjectivation and the development of his perspective in governmentality studies and discussed in the light of a praxeological sociology of knowledge concerning different aspects of the appropriation, negotiation and interpretation of discursive subject positions in this framework. The contribution especially highlights the form of a dissociative appropriation of subject positions in which identity-related self-concepts are altered but habitual rooted orientations are maintained and not influenced. Instead, there are to consider ideological fantasies and illusions preventing the subject from experiencing processes of Bildung. Eventually, methodogical-methodic benefits and barriers of an empirical educational research considering the relation between discursive subject positions, reflexive self-concepts and habitual orientations are discussed. The article wants to sensitize for ambivalences and paradoxes in processes of subjectivitation and thereby contributes to the methodological framework of the reconstruction of processes of Bildung trying to heighten its complexity.
Notes
In der Erziehungs- und Bildungswissenschaft wurde diese Form der regulierten Selbstregulierung bzw. kontrollierten Selbstkontrolle und die „Lenkung durch Individualisierung“ (Foucault 2007, S. 85) im Sinne der „‘Führung von Führungen‘“ (Foucault 1994, S. 255; vgl. 2007, S. 97) bereits erhellend im Zusammenhang mit dem Bildungsbegriff diskutiert und bislang vor allem im Kontext von Machtaspekten behandelt (vgl. bspw. Ricken und Rieger-Ladich 2004; Pongratz et al. 2004; Ricken 2006; Messerschmidt 2007; Lüders 2007; Thompson 2009). An dieser Stelle blende ich das Thema der Macht bewusst aus, um stattdessen unterschiedliche Subjektivierungsformen in ihrer Relation zu fassen.
Wobei allerdings Goffman (1975, S. 132) Begriff der „Ich-Identität“ m. E. passender wäre, da die persönliche Identität bei Goffman vor allem Identifikationsmarkierungen bezeichnet (wie einen Pass, vgl. ebd., S. 78). Hingegen ist „Ich-Identität zuallerst eine subjektive und reflexive Angelegenheit“ (ebd., S. 132).
Die Frage der subjektiven Realisierung dieses Widerspruchs ist allerdings ebenfalls eine empirische, insofern ist mit diesen Überlegungen keine Ontologisierung jenes Widerspruchs gemeint. Daher wäre auch möglich, zu untersuchen, inwiefern identitätsspezifischen Reflexionen von hegemonialen Subjektfiguren eine Kritik dieser eigen ist – wobei allerdings zu beachten ist, dass gerade kritische Selbstentwürfe handlungsleitend vor allem in einem legitimatorischen Sinne und also Bestandteil einer ideologischen Fantasie sein können.
Hier kann an die Narrationsanalyse nach Schütze (1983) angeknüpft werden, die jene Relation insofern kennt, als sie vorschlägt, Eigentheorien der Erzählenden über ihre Biografie etwa mit zuvor rekonstruierten Prozessstrukturen des Lebenslaufs zu vergleichen. Von der von Schütze (1983, S. 286) genannten „Schutzwand sekundärer Legitimationen“ ist es nicht weit zu den hier diskutierten ideologischen Fantasien, wenn man in Betracht zieht, dass jene Schutzwände systematisch aus Selbstentwürfen entlang diskursiven Subjektfiguren gebaut sein können.
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Geimer, A. Bildung als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen und die dissoziative Aneignung von diskursiven Subjektfiguren in posttraditionellen Gesellschaften. Z f Bildungsforsch 2, 229–242 (2012). https://doi.org/10.1007/s35834-012-0045-1
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Schlüsselwörter
- Subjektivierung
- Bildung
- Subjektfiguren
- Aneignung
- Selbst- und Weltverhältnisse
- Habitus
- Qualitative Bildungsforschung