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2009 | Buch

Subjektorientierung in der Arbeits- und Industriesoziologie

Theorien, Methoden und Instrumente zur Erfassung von Arbeit und Subjektivität

verfasst von: Bettina Langfeldt

Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften

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Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Problemstellung und Vorgehensweise
Der gegenwärtige Diskurs in der Arbeits- und Industriesoziologie ist von zwei Begriffen geprägt: der Entgrenzung und der Subjektivierung von Arbeit. Entgrenzung fungiert dabei als Chiffre für unterschiedlichste gesellschaftliche Wandlungstendenzen, die durch eine Aufweichung bestehender Strukturen gekennzeichnet sind. Darunter fallen mit Bezug auf den Erwerbsarbeitsbereich überwiegend arbeitsorganisatorische Veränderungen wie die Abflachung betrieblicher Hierarchien, die Auflösung starrer Berufsordnungen, die Deregulierung von Beschäftigungsformen, die Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort, die netzartige Verknüpfung von Organisationen mit ihrer Umwelt sowie die Aufhebung der Trennung von Erwerbsarbeit und Privatleben (vgl. Gottschall/Voß 2003; Voß/Weiß 2005b). Diese Entwicklung geht für die Subjekte meist mit einer Erweiterung von Autonomiefreiräumen bei gleichzeitigem Verlust handlungsleitender Vorgaben einher, weshalb Strukturbildung und Selbstorganisation zu zentralen Anforderungen moderner Erwerbsarbeit gerieren. Der Begriff der Subjektivierung von Arbeit wird häufig in Verbindung mit der Entgrenzungsthematik gebraucht. Er beschreibt die Integration von Subjektpotenzialen in den Arbeitsprozess, welche sowohl auf neue strukturelle Zwänge als auch gewandelte Erwartungen der Arbeitssubjekte an die Erwerbsarbeit zurückzuführen ist (vgl. Moldaschl/Voß 2002). Da die Industriesoziologie sich seit ihrem Bestehen als eine Disziplin mit zeitdiagnostischem Anspruch versteht und nicht zuletzt aus diesem Grund in erster Linie Rationalisierungsforschung betreibt (vgl. Beckenbach 1991), analysiert sie mehrheitlich die Auswirkungen arbeitskraftorientierter Rationalisierungsstrategien auf Arbeitsorganisation und Arbeitnehmerschaft. Sofern sie dabei eine Subjektperspektive einnimmt, fokussiert sie stärker die Handlungsebene als die Einstellungsebene.
Bettina Langfeldt
2. Subjektorientierung als Forschungsperspektive in der Industriesoziologie
In der philosophischen Tradition der Aufklärung tritt das Subjekt aus seiner (selbstverschuldeten) Unmündigkeit heraus, befreit sich von traditionalen, geistigen und politischen Fesseln, ersetzt normgesteuertes durch vernunftgesteuertes Handeln und ist aktiver Träger des Erkenntnisvermögens. Nicht selten liegt dem aufklärerischen Denken die anthropologische Annahme zugrunde, der Mensch strebe von Natur aus nach Selbstverwirklichung. Damit einher geht ein normativ aufgeladener Identitätsbegriff, der sich daraus ergibt, dass die Subjektwerdung zumeist als Suche begriffen wird, „an deren Zielpunkt das Subjekt eine Identität ge- und erfunden hat, die es zur Reflektion seiner historischen und gesellschaftlichen Position befähigt“ (Traue 2005: 60). Gemeinhin gelten berufliche Erfahrungen als identitätsrelevant (vgl. Baethge u. a. 1989), Einschätzungen darüber, inwieweit die Erwerbsarbeit ein soziales Feld repräsentiert, in dem Selbstfindung und Selbstverwirklichung möglich sind, unterliegen jedoch einem übergreifenden historischen Wandel des Menschenbildes. Die Arbeitspsychologie geht davon aus, dass Menschenbilder im Organisationsverständnis ihren Niederschlag finden. Ob Arbeit und Betrieb als technisches System, als soziales System oder als soziotechnisches System begriffen werden, wirkt sich wiederum auf die Gestaltungskonzepte von Arbeit aus und diese verändern ihrerseits Organisationsstrukturen und Bewertungskriterien von Arbeit (vgl. Ulich 1991).
Bettina Langfeldt
3. Arbeitsbegriff und Subjektorientierung ausgewählter Klassiker der Soziologie
Das soziologische Interesse an dem Thema Arbeit im Allgemeinen und betrieblich- industrieller Produktion im Besonderen reicht zurück bis in die Entstehungszeit des Faches selbst. Burisch formuliert den Zusammenhang sogar folgendermaßen: „Die Soziologie ist ein Produkt der industrialisierten Gesellschaft – und die Industrie ist ihr bevorzugter Gegenstand“ (Burisch 1973: 5). Die enge Verknüpfung der Soziologie mit „ihrer“ Gesellschaft wird augenscheinlich in der nationalen Prägung soziologischer Theorie und Methodologie sowie der inhaltlichen Forschungsinteressen, welche sich entlang einer länderspezifischen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft herausbilden (vgl. Schmidt 1980). Die meisten Begründer des Faches befassen sich jedoch ungeachtet ihrer nationalen Herkunft vor dem Hintergrund des technologischen und gesellschaftlichen Wandels zunächst in positiv-optimistischer, mit Fortschreiten der Industrialisierung in zunehmend kritischerer Weise mit der Ablösung vorindustrieller durch moderne Institutionen. Dabei repräsentieren die Arbeitsteilung und ihre sozialen Folgen, der durch Industriearbeit bedingte Entfremdungsprozess und die Klassengesellschaft als Konsequenz industrieller Sozialorganisation die populärsten industriesoziologischen Forschungsthemen im 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Bettina Langfeldt
4. Subjektorientierung und Arbeitseinstellungserhebung in der älteren westdeutschen Industriesoziologie
Der technologische Fortschritt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts evoziert in der allgemeinen Soziologie eine differenzierte Auseinandersetzung mit Technik und Technokratiekritik. Die Industriesoziologie bewegt sich dabei mit einer Debatte über die vermeintliche Degradierung der Erwerbsarbeit sowie über neue Qualifikationsanforderungen als mögliche Folgen der Mechanisierung industrieller Produktion im Strom dieser soziologischen Theoriebildung und beeinflusst sie gleichzeitig maßgeblich mit. Sie wendet sich darüber hinaus in der so genannten „Gründerphase“ sozialen Problemen zu, die sich aus der politischen und kulturellen Neuordnung der Bundesrepublik sowie dem wirtschaftlichen Wiederaufbau ergeben. Es herrscht eine offene Forschungsorientierung bei der Verknüpfung betrieblicher Arbeitswirklichkeit und politisch-sozialer Rahmenbedingungen vor, die zuweilen von einem gewissen Modernisierungs- und Humanisierungseifer geprägt erscheint (vgl. Beckenbach 1991: 44). Überwiegend ist die Profession dabei von einer an Marx anknüpfenden herrschaftssoziologischen Perspektive dominiert.
Bettina Langfeldt
5. Neuere Ansätze einer subjektorientierten Arbeits- und Industriesoziologie
Der Wandel der Industriegesellschaft hat speziell in den letzten zwei Jahrzehnten gewohnte Zuschreibungen und Grenzverläufe zwischen ArbeiterInnen und Angestellten aufbrechen lassen und in der Sozialstrukturforschung die These der allmählichen Auflösung von Klassen und Schichten prominent gemacht (vgl. Geißler 2002: 134 ff.; Weber-Menges 2004). Die Entstehung von Homogenisierungstendenzen auf der vertikalen Strukturebene und Diversifizierungstendenzen auf der horizontalen Strukturebene wird von einer Abkopplung subkultureller Lebensstile von äußeren Bedingungen begleitet. Innerhalb der Industriearbeit ist die Enttraditionalisierung Ende des 20. Jahrhunderts weit fortgeschritten. Der Anteil standardisierter direkter Fertigungstätigkeiten verringert sich, während parallel dazu außerhalb der direkten Produktionssphäre komplexere Aufgaben ohne strikte Trennung zwischen planenden, steuernden und ausführenden Elementen entstehen. Die Informatisierung – der vermehrte Einsatz von Informationstechnologien – avanciert in der Folge zum Leitbegriff der Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft (vgl. Boes 2005; Schmiede 1999). Arbeitsorganisatorisch wird dieser Prozess von einem partiellen Rückgang funktionaler und hierarchischer Arbeitsteilung begleitet, der zugleich die Aufweichung der traditionsreichen Abgrenzung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit nach sich zieht. Durch moderne Rationalisierungsstrategien, integrative Systeme, flexiblere Unternehmensstrukturen und indirekte Steuerung verfügen abhängig Beschäftigte heute über eine größere Ergebnisverantwortlichkeit, die mehr Abstimmungs- und Selbststeuerungsprozesse erfordert. Das Transformationsproblem wird im Zuge zunehmender Flexibilisierung und Subjektivierung von Arbeit häufig nicht mehr über im Vorfeld vertraglich vereinbarte Leistungsstandards gelöst, sondern in die Arbeitskraft selbst verlagert, die eigenverantwortlich zur Erreichung der getroffenen Zielvereinbarungen geeignete Arbeitsweisen auswählt und kontinuierlich optimiert. Die Zielvereinbarungspraxis erweist sich in den meisten Unternehmen jedoch als ein top-down-Prozess, der wesentlich weniger Kooperation und Diskursivität hervorbringt als gemeinhin angenommen wird (vgl. Kalkowski/ Mickler 2002). Zielvereinbarungen werden nach unten weitergereicht und die unterste Führungsebene sieht sich gezwungen, die Kennzahlen in konkrete Arbeitsleistung zu übersetzen. Spielräume ergeben sich am ehesten bei den „weichen“ Zielen wie der Verbesserung des Arbeitsumfeldes, während die strategischen Ziele meist unangetastet bleiben (vgl. Huchler u. a. 2007).
Bettina Langfeldt
6. Perspektiven für eine subjektorientierte und gendersensible (quantitative) Arbeitsforschung
Die bis zu diesem Punkt erfolgte systematische Analyse subjektorientierter empirischer Studien der Arbeits- und Industriesoziologie sowie die historische Einbettung derselben hat im Hinblick auf die Erhebung von Arbeitseinstellungen trotz quasi-metaanalytischer Vorgehensweise eine Vielfalt an theoretischen Konstrukten und daraus resultierenden Operationalisierungskonzepten ergeben. Die Disziplin scheint durch die enge Verknüpfung mit ihrem Forschungsgegenstand in Bezug auf die oft kritisierte kleinteilige empirische Forschung der letzten Jahrzehnte ein Spiegel faktischer Ausdifferenzierungsprozesse in der Erwerbsarbeit geworden zu sein (vgl. Kühl 2004; Maurer 2004). Mit dem gegenwärtigen Diskurs über die Entgrenzung und Subjektivierung als Leittendenz des Strukturwandels von Arbeit konstatiert sie nun jedoch einen Paradigmenwechsel und bemüht sich um die Erstellung eines einheitlichen theoretischen und methodischen Analyserahmens (vgl. Kapitel 5.3 und Kapitel 5.4). Inwieweit es sich bei Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit tatsächlich um radikale Brüche gegenüber der vorherigen sozialen Ordnung von Arbeit handelt, gilt dabei als offene Forschungsfrage (vgl. Gottschall 1999). Die noch ausstehende systematische Historisierung der Entgrenzungs- und Subjektivierungsdebatte würde voraussichtlich Qualitätsunterschiede aktueller Flexibilisierungsprozesse im Vergleich zu Flexibilitätserfordernissen früherer industrieller Phasen zum Vorschein bringen, nicht aber das Ergebnis, dass es sich bei allen Entgrenzungsphänomenen um gänzlich neuartige Erscheinungen handelt. Konkrete Antworten könnten jedoch mit der Umsetzung des nachfolgend dargelegten Forschungsprogramms einer subjektorientierten und gendersensiblen (quantitativen) Arbeitsforschung m. E. am ehesten gewonnen werden, weil das Forschungsprogramm die Verschränkung von Erwerbsarbeitsstrukturen, Arbeitseinstellungen und Geschlechterverhältnissen fokussiert und dabei eine genderkompetente und am Subjekt ausgerichtete Perspektive einnimmt.
Bettina Langfeldt
7. Schlussbetrachtung
Der langjährige Anspruch der Industriesoziologie, mit der Erforschung von Arbeit immer auch zeitdiagnostische Gesellschaftsanalyse betreiben zu wollen, ist ein sehr ambitionierter. Dem Anspruch geht die Grundannahme voraus, dass die politische und ökonomische Verfasstheit der Erwerbsarbeit strukturelle Folgen zeitigt, die über den Erwerbsarbeitsbereich hinausreichen (vgl. Pongratz 2005). Diese Prämisse sollte die industriesoziologische Forschung der Gegenwart im Rahmen ihrer Positionsbestimmung erneut auf Gültigkeit und Reichweite hin überprüfen. Die quasi-metaanalytische kritische Betrachtung industriesoziologischer Studien im Hinblick auf die Erhebung von Arbeitseinstellungen und von Arbeitshandeln zeigt, wie schwer sich der Anspruch zeitdiagnostischer Gesellschaftsanalyse in der Forschungspraxis realisieren lässt. Der explizit subjektorientierte Zweig der Disziplin beabsichtigt darüber hinaus, zwischen Mikro-, Meso- und Makroebene theoretische wie empirische Vermittlungskonzepte bereitzustellen und das Subjekt auf keiner der drei Analyseebenen aus dem Blick zu verlieren (vgl. Bolte 1993), was konzeptionell m. E. äußerst begrüßenswert ist, aber faktisch mit den bestehenden Forschungsansätzen nur selten gelingt.
Bettina Langfeldt
Backmatter
Metadaten
Titel
Subjektorientierung in der Arbeits- und Industriesoziologie
verfasst von
Bettina Langfeldt
Copyright-Jahr
2009
Verlag
VS Verlag für Sozialwissenschaften
Electronic ISBN
978-3-531-91654-5
Print ISBN
978-3-8350-7006-6
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-531-91654-5