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2015 | Buch

Demokratie und Krise

Zum schwierigen Verhältnis von Theorie und Empirie

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Über dieses Buch

Es gibt kaum einen Begriff in den Politik- und Sozialwissenschaften, der so häufig benutzt wird wie der Begriff Krise. Krise des Sozialstaats, Krise der politischen Parteien, Krise des Parlaments, Eurokrise, Krise im Mittleren Osten, Krise der Diktaturen und schon immer auch: Krise der Demokratie. Steckt die Demokratie tatsächlich in der Krise, oder ist dieses verbreitete Urteil eine Erfindung von Theoretikern und Medien? Die Beiträge dieses Buchs untersuchen den gegenwärtigen Zustand der etablierten Demokratien auf der Grundlage eines gemeinsamen Demokratie- und Krisenverständnisses. Dem Leser wird aus drei theoretischen Perspektiven ein empirisch gehaltvoller Blick auf die zentralen Ebenen der Demokratie in der OECD-Welt geöffnet: der Partizipation, der Repräsentation und des Regierens. Die Krisenphänomene sind vielschichtig und variieren von Institution zu Institution, von Politikbereich zu Politikbereich und von Land zu Land. Von einer allgemeinen oder gar existenziellen Krise kann nicht die Rede sein. Dennoch gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Die Legitimationsachsen der Demokratie verschieben sich. Die Demokratie steht vor großen Herausforderungen.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
Die Herausforderungen der Demokratie
Zusammenfassung
Es gibt kaum einen Begriff in den Politik- und Sozialwissenschaften, der so häufig auftaucht wie das Wort Krise: Krise des Sozialstaates; Krise der politischen Parteien, des Parlaments; Performanz-, Herrschafts-, Struktur-, Rationalitäts-, Legitimations-, Integrations-, Motivationskrise; Eurokrise; Krise im Mittleren Osten; Krise der Diktaturen – und schon immer auch: Krise der Demokratie.
Wolfgang Merkel

Teil I Partizipation

Frontmatter
Krise der Demokratie?
Ansichten von Experten und Bürgern
Zusammenfassung
Auf die Frage nach der Demokratiekrise soll in diesem ersten Kapitel eine Antwort aus zwei Perspektiven gegeben werden: aus der Sichtweise der empirischen Demokratieforscher und aus jener der Bürger, also des demos selbst. Man kann dies die objektive (Experten) und die subjektive (Bürger) Beurteilung des Zustands der jeweiligen Demokratien nennen. Dabei werden zunächst sowohl der Expertenblick als auch die Einschätzung der Bürger aufs Ganze gerichtet. Die Frage lautet also: Steckt die Demokratie als real existierendes Gesamtsystem in der Krise, und können wir über die letzten Jahrzehnte hinweg einen Qualitätsverlust der entwickelten Demokratien beobachten, der auf eine schwelende Krise hindeutet? Nach dieser holistischen Perspektive wollen wir Teilansichten auf die Demokratie öffnen.
Wolfgang Merkel, Werner Krause
Politische Ungleichheit beim Wählen
Zusammenfassung
Dem Wählen wird nachgesagt, es sei die einfachste Form der politischen Beteiligung. In der Tat sind die Beteiligungsraten bei Wahlen höher als bei jeder anderen Form politischer Partizipation. Dies ist vor allem auf das geringe Ausmaß zurückzuführen, das Wählen in Bezug auf zeitliches Engagement, Information und Ressourcen verlangt. Die Massenmedien bereiten die notwendigen Informationen auf, der Gang zum Wahllokal lässt sich in aller Regel in aller Kürze erledigen. Dementsprechend ist die Wahlbeteiligung viel weniger sozial selektiv in Bezug auf sozioökonomische Ressourcen und sozialen Status. Im Vergleich zu anderen Beteiligungsformen gilt Wählen damit als einfach. Allerdings wird in der Forschungsliteratur auch darauf hingewiesen, dass das Wählen bei Weitem nicht so einfach sei, wie die oberflächliche Betrachtung nahelegt.
Bernhard Weßels
Verschwinden die programmatischen Alternativen?
Die Qualität von Wahlprogrammen in 21 OECD-Ländern seit 1950
Zusammenfassung
Politischen Parteien wird in allen modernen Demokratien eine zentrale Rolle bei der Aggregation und Artikulation von Wählerpräferenzen (Webb et al. 2002) und der Umsetzung der Wählerinteressen in politische Entscheidungen (Pierce 1999; Kitschelt 2000; Montero und Gunther 2002; Lawson und Poguntke 2004) zugesprochen. In dieser Delegationskette kommt den Wahlprogrammen der Parteien eine besondere Bedeutung zu. Nur wenn die Bürger programmatische Angebote vorfinden, die ihren unterschiedlichen politischen Präferenzen entsprechen, können ihre Interessen im Parlament repräsentiert und, bei gegebenen Mehrheiten, von Regierungen umgesetzt werden. Und nur wenn das programmatische Angebot klar formuliert und sichtbar ist, können die Bürger das ihren Präferenzen entsprechende Programm identifizieren. Das Gelingen des repräsentativen Prozesses setzt daher auf der Angebotsseite demokratischer Wahlen voraus, dass die Parteien klare programmatische Alternativen anbieten.
Andrea Volkens, Nicolas Merz
Mehr Partizipation – ein Heilmittel gegen die ‚Krise der Demokratie‘?
Zusammenfassung
In den letzten Jahren ist eine umfangreiche Literatur entstanden, die sich um eine Erklärung für die zunehmende politische Entfremdung und das schwindende Vertrauen in politische Institutionen in konsolidierten Demokratien bemüht (vgl. z. B. Norris 1999; Inglehart 2003; Dalton 2004; Dogan 2005; Newton 2006). In diesem Zusammenhang haben verschiedene Autoren eine lange Liste demokratischer „Krankheitssymptome“ (Schmitter 2010) zusammengetragen. Diese reichen von einer sinkenden Wahlbeteiligung, rückläufigen Mitgliederzahlen in Parteien und der abnehmenden Parteiidentifikation über größere Schwankungen der Wählerpräferenzen und Wahlergebnisse bis zu den daraus resultierenden Schwierigkeiten, Regierungsmehrheiten zu sichern, dem wachsenden Bedeutungsverlust des Parlaments und der zunehmenden Dezentralisierung von Regierungsgewalt.
Thamy Pogrebinschi

Teil II Repräsentation

Frontmatter
Ungleichheit in der politischen Repräsentation
Ist die Unterschicht schlechter repräsentiert?
Zusammenfassung
Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht ein zentrales Element von repräsentativen Demokratien: die Repräsentation der Bürger durch die Abgeordneten im Parlament. Sie ist in den modernen Demokratien der entscheidende Schlüssel, der es ermöglicht, das Grundprinzip der Demokratie, die Volkssouveränität, zu wahren ohne jeden Bürger tagtäglich in alle politischen Prozesse zu involvieren. Indem die Parlamentarier zu Repräsentanten des Volkes werden, werden ihre Entscheidungs- und ihre politische Gestaltungsmacht legitimiert. Mit freien und fairen Wahlen erteilen die Wähler den Abgeordneten den Auftrag, ihre Interessen zu repräsentieren (Powell 2000, S. 89ff.). Wiederkehrende Wahlen sichern die Responsivität der Abgeordneten. Denn nur durch regelmäßig stattfindende Wahlen können die Bürger Kontrolle über die Abgeordneten ausüben und diese ihren Präferenzen entsprechend auswählen.
Pola Lehmann, Sven Regel, Sara Schlote
Niedergang oder Wandel?
Parteitypen und die Krise der repräsentativen Demokratie
Zusammenfassung
Viele Parteien- und Demokratieforscherinnen beobachten seit Jahrzehnten besorgt den Niedergang politischer Parteien, gerade weil diese ein unverzichtbares Element repräsentativer Demokratie darstellen. Dabei wird auf diverse Indikatoren verwiesen, welche diesen Trend belegen: ein Rückgang der Stimmanteile von etablierten Parteien, ein Erstarken von Dritt- und Nischenparteien, eine zunehmende Relevanz anderer Akteure in Bereichen, die traditionell von Parteien abgedeckt werden, sowie schwindende Parteimitgliedschaften. Diese Entwicklungen werden oft als Ursachen für Missstände im demokratischen Prozess und der repräsentativen Demokratie an sich diskutiert. Derartige Kausalbehauptungen beruhen jedoch maßgeblich auf theoretischen Annahmen. Eine systematische empirische Untersuchung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Niedergang der Parteien und einer Schwächung (oder Krise) der Demokratie steht noch aus.
Heiko Giebler, Onawa Promise Lacewell, Sven Regel, Annika Werner
Parteien, hört Ihr die Signale?
Bevölkerungseinstellungen zur Ungleichheit und die Responsivität der Parteien
Zusammenfassung
Wahlen sind das institutionelle Zentrum demokratischer Systeme. Jede noch so minimalistische Demokratiedefinition kommt am Wahlvorgang nicht vorbei. Das gilt auch für die Demokratiedefinition mittlerer Reichweite, wie sie das Embedded-democracy-Konzept beinhaltet, das diesem Beitrag zugrunde liegt. Das Wahlregime hat eine Repräsentationsfunktion, soll Zurechenbarkeit und Verantwortlichkeit (accountability) produzieren und Responsivität sichern. Während die demokratische Zurechenbarkeit vor allem darin besteht, dass (Regierungs-) Parteien ihre Entscheidungen transparent machen und dadurch den Wählern die Möglichkeit geben, sie bei der nächsten Wahl mit dem Wahlzettel positiv oder negativ für ihre Handlungen zu sanktionieren, bezieht sich die Responsivität auf die Frage, inwieweit einzelne Parteien oder auch das Parteiensystem als Ganzes auf Bedürfnisse und Interessen der Wähler programmatisch und durch ihr (Regierungs-) Handeln eingehen (Kriesi 2013, S. 613).
Alexander Petring
‚Wählen ohne Wahl‘
Demokratie und die Staatsschuldenkrise in der Eurozone
Zusammenfassung
Die Regierungen in den sogenannten GIIPS-Staaten der Euro-Peripherie, das sind Griechenland, Irland, Italien, Portugal und Spanien, implementieren wirtschaftspolitische Austeritätsprogramme, die von einer Mehrheit der Bürger abgelehnt werden. Sie werden dafür an der Wahlurne abgestraft und abgewählt. Ein Regierungswechsel führt jedoch nicht zu einem Politikwechsel. Nach ihrem Amtsantritt setzen die einstigen Oppositionsparteien die gleichen bzw. sehr ähnlichen unpopulären Maßnahmen um, die den Sturz der vorherigen Regierung provozierten.
Sonia Alonso

Teil III Regieren

Frontmatter
Globalisierung und Demokratie
Führt Denationalisierung zu einem Verlust an Demokratiequalität?
Zusammenfassung
In der Debatte um eine Legitimationskrise etablierter Demokratien taucht auch der Faktor Globalisierung regelmäßig auf, meist im Zusammenhang mit einer kritischen Sicht auf die Internationalisierung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Die Vorstellung, dass Globalisierung eine ernst zu nehmende Bedrohung für die Demokratie darstellt, ist nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Öffentlichkeit verbreitet. Allerdings bleibt die Begründung dieser Bedrohung meist vage, und es scheint sich in vielen Fällen eher um einen gefühlten als um einen empirisch belegten Effekt zu handeln. Fest steht aber, dass in den postindustriellen westlichen Demokratien ein deutliches Unbehagen gegenüber Prozessen der Denationalisierung herrscht.
Lea Heyne
Kapitalismus und Demokratie
Kapitalismus ist nicht demokratisch und Demokratie nicht kapitalistisch
Zusammenfassung
Kapitalismus und Demokratie haben sich in den vergangenen zwei Jahrhunderten als die erfolgreichsten wirtschaftlichen und politischen Ordnungssysteme erwiesen. Der Kapitalismus hat sich seit dem Kollaps des sowjetischen Staatssozialismus nach 1989 und der Transformation der Volkswirtschaft Chinas weltweit durchgesetzt. Nur wenige Enklaven wie Nordkorea konnten sich mit barbarischen Mitteln dem kapitalistischen Siegeszug widersetzen. Der Markt als Koordinationsform und die Profitmaximierung als Motiv und Antrieb ökonomischen Handelns scheinen den Wettlauf der Wirtschaftssysteme gewonnen zu haben. Spricht man vom Kapitalismus im Singular, verhüllt dies allerdings die Unterschiede der „varieties of capitalism“ (Hall und Soskice 2001). Das staatskapitalistische System Chinas, der neoliberale Kapitalismus angelsächsischer Provenienz oder die wohlfahrtsstaatlichen Marktwirtschaften Skandinaviens unterscheiden sich erheblich, harmonieren oder disharmonieren in unterschiedlicher Weise mit demokratischen Regimen.
Jürgen Kocka, Wolfgang Merkel
Demokratische Gefahr für die Demokratie?
Die prekäre Balance von Sicherheit und Freiheit
Zusammenfassung
Die Balance von Freiheit und Sicherheit ist nicht erst seit den terroristischen Anschlägen von New York und Washington vom 11. September 2001 ein die Demokratie umtreibendes Thema. Vielmehr beschäftigt sie die politische Philosophie mindestens seit Anbeginn des kontraktualistischen Zeitalters, also seit mehr als 350 Jahren. Hatte Thomas Hobbes noch individuelle Freiheit weitgehend gegen die Sicherheitsversprechen des Leviathans eintauschen wollen, verstärkte sich mit den Schriften John Lockes, Montesquieus, Alexis de Tocquevilles, John Stuart Mills, James Madisons oder Benjamin Constants die Auffassung, dass nicht die Aufrechterhaltung von Freiheit, sondern ihre Einschränkung verschärften Begründungspflichten unterliegen müsse.
Aiko Wagner, Sascha Kneip
Warum missachten etablierte Demokratien das Recht auf körperliche Unversehrtheit?
Zusammenfassung
Im Oktober 2001 verabschiedete der US-Kongress den Uniting and Strengthening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism Act. Mit der Unterschrift des damaligen Präsidenten George W. Bush wurde er unter dem weniger sperrigen Akronym USA PATRIOT Act gesetzeswirksam. Er sah Maßnahmen vor, welche die amerikanischen Bundesbehörden im damals jüngst begonnenen ‚Krieg gegen den Terror‘ einsetzen sollten. Hierzu zählt beispielsweise eine richterliche Generalvollmacht des FBI zum Abhören jeglicher Kommunikation eines Terrorverdächtigen. Weniger bekannt, aber vielleicht noch bedeutsamer, ist die Resolution Authorization for Use of Military Force (AUMF) vom 14. September 2001.
Dag Tanneberg
Verfassungsgerichte in der Demokratie
Zwischen Krisenerzeugung und Krisenmanagement
Zusammenfassung
Verfassungsgerichte sind in den letzten Jahrzehnten zu mächtigen (Mit-)Spielern demokratischer Politik avanciert (s. u.a. Waltman und Holland 1988; Vallinder 1995; Stone Sweet 2000; Epstein et al. 2001; Guarnieri und Pederzoli 2002; Ginsburg 2003; Koopmans 2003; Sandler und Schoenbrod 2003; Epstein und Knight 2004; Scheppele 2005; Horowitz 2006; Romeu 2006). Betrachtet man den ‚Siegeszug‘ der Verfassungsgerichtsbarkeit in der zweiten Hälft e des 20. Jahrhunderts, so lässt sich diese Epoche nicht nur als ein Zeitalter der Demokratisierungsprozesse charakterisieren, sondern mindestens ebenso als eines der Konstitutionalisierung von Politik (Elster und Slagstad 1993; Henkin 1994; Bellamy 1996; Alexander 1998; Hilbink 2008).
Sascha Kneip
Regieren die Medien?
Zusammenfassung
Verursachen oder verschärfen die Massenmedien eine Krise der Demokratie? Die umfangreiche und mannigfaltige sogenannte Mediamalaise-Literatur geht davon aus, dass Medien in den westlichen Demokratien einen starken Einfluss auf Politik und Regierung ausüben und sie dadurch die Demokratie schwächen oder gar zerstören können. Medien – Presse, TV, Radio und Internet – sind in der modernen Gesellschaft mittlerweile allgegenwärtig und ihre negativen Folgen scheinen in jeden Bereich des politischen Systems vorzudringen. Manche argumentieren, dass die Medien nur einer von vielen Gründen für das Versagen und die Krise der Demokratie sind, doch andere gehen so weit zu behaupten, dass die Medien in Wirklichkeit bereits die Macht von Parlamenten und Regierungen an sich gerissen haben. Die Behauptung, Medien spielten eine bedeutende – und meist negative – Rolle in modernen Gesellschaft en, ist so verbreitet, dass sie mittlerweile zu einem unhinterfragten Gemeinplatz geworden ist.
Kenneth Newton, Nicolas Merz
Schluss: Ist die Krise der Demokratie eine Erfindung?
Zusammenfassung
Krisen können kein Dauerzustand sein. Das verlangt schon die begriffliche Logik. Diese gilt auch für die sogenannte latente Krise. Der analytische Gebrauch des Begriffs setzt zudem die Existenz eines Referenzmodells voraus. Dieses kann normativ-idealer Natur sein oder auf einen definierten Normalzustand rekurrieren. Mit Blick auf die Demokratie wurde bisweilen ein ‚goldenes‘ oder auch nur ein ‚normales‘ Zeitalter ausgemacht, in dem die reale Demokratie ihrem Anspruch nach angemessen funktionierte. Bei Colin Crouch (2004, S.7) lag der „democratic moment“ für die USA und Skandinavien kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, für Europa in den fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. In der deutschen Diskussion wird nicht selten auf die späten sechziger und frühen siebziger Jahre verwiesen.
Wolfgang Merkel
Backmatter
Metadaten
Titel
Demokratie und Krise
herausgegeben von
Wolfgang Merkel
Copyright-Jahr
2015
Electronic ISBN
978-3-658-05945-3
Print ISBN
978-3-658-05944-6
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-05945-3