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2017 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Die Analyse der gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit und ihrer Pathologien: Die soziologische Integrationsforschung

verfasst von : Wolfgang Aschauer

Erschienen in: Das gesellschaftliche Unbehagen in der EU

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Da die Integrationsforschung einen sehr breiten und komplexen soziologischen Analysebereich darstellt, sollen in diesem Abschnitt die Ausführungen auf die wesentlichen Entwicklungslinien und die zentralen Theoretiker (primär aus dem Bereich der deutschsprachigen Soziologie) beschränkt bleiben. Der Startpunkt der Analyse wird bei den Gründervätern der Soziologie gesetzt. Auch die Liste der Gegenwartstheoretiker, die sich mit Integrationsfragen auseinandergesetzt haben, ist lang. Sie reicht von Richard Münch über Niklas Luhmann bis hin zu Jürgen Habermas, Pierre Bourdieu und Anthony Giddens. Aktuell erleben jene Ansätze eine Renaissance, die stärker auf Defizite der Sozialintegration hinweisen.

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Fußnoten
1
Diese radikalen Forderungen nach einer veränderten gesellschaftlichen Praxis haben die politische Instrumentalisierung der theoretischen Grundannahmen vereinfacht, und insbesondere seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gilt die marxistische Ideologie als gescheitert. Dennoch scheint Marx bis heute nicht in Vergessenheit geraten zu sein. Er wird in der Soziologiegeschichte mittlerweile übereinstimmend zu den Klassikern gezählt, und seine Theorie ist wesentlicher Bezugspunkt bei allen Hauptvertretern kritischer Gesellschaftstheorien (z. B. Horkheimer, Adorno, Habermas, Honneth) (vgl. Gertenbach und Rosa 2009, S. 183 ff.). Seine Erkenntnisse zur Funktionslogik der kapitalistischen Gesellschaft erscheinen im Zuge des aktuellen Diskurses zur Ökonomisierung des Sozialen (z. B. Bröckling 2000) aktueller denn je, und es zeigt sich in der soziologischen Theorie spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 eine deutliche Wiederbelebung kapitalismuskritischer Ansätze (z. B. Dörre et al. 2009). Dies betrifft nicht nur die Soziologie, die sich stets auch kritisch mit dem Kapitalismus auseinandergesetzt hat, sondern auch die Ökonomie, was sich beispielsweise am durchschlagenden Erfolg des monumentalen Werkes von Thomas Piketty (2014) zeigt.
 
2
Das Konzept der Verdinglichung wurde später von Lukács (1923) breiter aufgegriffen (siehe Abschn. 3.1.5).
 
3
In der Sowjetunion versuchte Lenin eine Diktatur des Proletariats zu errichten. Der Leninismus inspirierte die Arbeiterbewegung quer durch Europa bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Schließlich trugen die Ideen von Marx insgesamt zur Stärkung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegungen und zur Gründung sozialdemokratischer Parteien bei. Der Kommunismus in der Sowjetunion wurde jedoch unter Stalin zu einer totalitären Herrschaft ausgebaut, die mit den frühen Ideen von Marx wohl wenig gemein hatte.
 
4
Schließlich entschloss sich die Arbeiterklasse in der Zwischenkriegszeit nicht für eine Revolution des Gegebenen sondern für eine völlige Unterordnung unter die faschistischen Herrschaftsregime. Die dramatischen Entwicklungen des Antisemitismus und die Erfahrungen des Holocaust veranlassten schließlich die Kritische Theorie in ihrer Hochblüte zu pessimistischen Prognosen einer total ökonomisch und kulturell verwalteten Welt des Kapitalismus.
 
5
Seine nostalgischen Aussagen in Bezug auf die vormoderne Gemeinschaft wurden von den Nationalsozialisten fälschlicherweise als Ruf nach einer Herrenmoral bzw. als Sehnsucht nach einer völkischen Gemeinschaft interpretiert. Bis zu seinem Tod wehrte sich Tönnies entschieden gegen die Vereinnahmung seiner Thesen. Dies führte schließlich zum erzwungenen Rücktritt vom Vorsitz der Gesellschaft für Soziologie (1933), zum Verbot sämtlicher Lehr- und Forschungsaktivitäten und zur Kürzung seiner Pensionsbeträge. Tönnies sah sich somit am Ende seines Lebens in seiner kulturpessimistischen Sichtweise bestätigt (vgl. Korte 2011, S. 85 f.).
 
6
Insofern muss auch Durkheim, der als besonders starker Verfechter einer objektiven und neutralen Wissenschaft gilt, eine normative Ausrichtung seines Konzepts zugewiesen werden.
 
7
Mit der weberschen Konzeption der Wertsphären findet sich sogar eine Parallele zu Luhmanns Konzept der Autopoiesis, obwohl die beiden Theoretiker sehr unterschiedliche Zugänge verfolgen. So betont beispielsweise Schwinn mit seinem provokativen Aufsatz „Lässt sich Luhmann mit Weber retten?“, das die Wertsphären bei Weber eine sinnhafte Geschlossenheit aufweisen. Sie können jedoch nicht mit dem Konzept der Autopoiesis verknüpft werden, weil Wertsphären in Ordnungen übersetzt werden müssen und spätestens im Zuge der Institutionalisierung Austauschprozesse mit anderen Systemen erfolgen (vgl. Schwinn 2005, S. 431).
 
8
Im Unterschied zu Tönnies und Weber verortet sich Lukács jedoch selbst klar im Marxismus und distanziert sich von den beiden Gründervätern der deutschen Soziologie, die aus seiner Sicht die Dominanz der Wirtschaft für die konkrete Lebenspraxis zu sehr missachten, primär nach alternativen Erklärungen zu Marx streben und irrationalen Ideologien Vorschub leisten (vgl. Fitzi 2004, S. 26 f.).
 
9
Die Thesen von Adorno und Marcuse wurden schließlich auch vom Riesman (1958) aufgegriffen, der den Begriff der Außenleitung verwendet, um den Sozialcharakter der amerikanischen Gesellschaft zu beschreiben.
 
10
In Bezug auf das Konzept der „falschen Bedürfnisse“ haken die Kritiker ein. Denn gerade in der Analyse der Kulturindustrie agiert die Kritische Theorie der Nachkriegszeit eindeutig normativ und mit „bildungsbürgerlicher Arroganz“. Wie später Bourdieu (1987) eindrucksvoll herausstreicht, ist der individuelle Geschmack tatsächlich systematisch gesellschaftlich erzeugt und geleitet.
 
11
Somit erscheinen einzelne Aussagen von Marcuse wiederum erstaunlich aktuell: „Die bürgerliche Gesellschaft hat die Individuen befreit, aber als Personen, die sich selbst in Zucht halten sollten. Die Freiheit hing von Anfang an davon ab, dass der Genuss verpönt blieb.“ (Marcuse 1965, S. 83)
 
12
Dennoch geht aktuell mit der Renaissance kapitalismuskritischer Ansätze auch eine Wiederbelebung der ursprünglichen Ideen von Horkheimer und Adorno (i. d. Aufl. 1969) einher. Viele aktuelle Ansätze der Postmoderne (insbesondere Foucault und Bauman) scheinen der pessimistischen Haltung der Vertreter der ersten Generation der Kritischen Theorie doch deutlich näherzustehen als den in weiterer Folge behandelten Modernisierungstheorien von Giddens, Münch, Habermas oder Luhmann (vgl. Schroer 2000, S. 53).
 
13
Im Kontext aktueller gesellschaftlicher Transformationen stellt sich die Frage, ob anomische Stimmungslagen und Krisenwahrnehmungen nicht vom Ausnahme- zum Regelzustand geworden sind. Hartmut Rosa weist auf die technologische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und auf die Beschleunigung des Lebenstempos hin. Die Individuen befinden sich aufgrund der Wettbewerbslogik um begrenzte Ressourcen in einem ständigen Kampf, am Ball zu bleiben und im System weiter mitmischen zu können. Sie haben das Gefühl hin- und hergerissen zu werden zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Trends und Moden, und dennoch erscheinen Entwicklungen oberflächlich, ziellos und nicht zufriedenstellend. Rosa bezeichnet die aktuellen Entwicklungen als „rasenden Stillstand“, weil aus seiner Sicht parallel zur Beschleunigungslogik an der Oberfläche eine strukturelle und kulturelle Erstarrung zu beobachten ist (vgl. Rosa 2013, S. 53 ff.).
 
14
Mertons Anomietheorie ist beispielsweise mittlerweile als klassische Theorie abweichenden Verhaltens fixer Bestandteil in der Kriminalsoziologie (z. B. Bohle 1975, S. 199).
 
15
Die Nähe Mertons zur empirischen Sozialforschung kam auch durch die enge Zusammenarbeit mit Paul Lazarsfeld an der Columbia Universität zustande. Lazarsfeld als Begründer des Bureau of Applied Social Research und Merton als Theoretiker schienen sich optimal zu ergänzen. Mackert und Steinbicker (2013, S. 18) halten beispielsweise fest, dass über Merton und Lazarsfeld Theorie und empirische Forschung zueinander gefunden haben.
 
16
Im Konzept der Opportunitätsstruktur wird auch die Nähe zur Theorie von Bourdieu deutlich. Schließlich hält auch Bourdieu (1987) fest, dass die Sozialstruktur im Habitus verinnerlicht wird und die (kulturelle) Lebenspraxis durch den jeweiligen Status geprägt ist.
 
17
Seine Theorie, die auf eine Analyse der amerikanischen Gesellschaft abzielt, definiert das Credo vom Tellerwäscher zum Millionär, also Erfolg und Wohlstand als übergeordnete kulturelle Ziele. Mit zunehmender Pluralisierung der Werte und der Auffächerung der sozialen Lagen in horizontal unterschiedliche Lebensstile und Milieus scheint die Betrachtung gemeinsamer (kultureller) Ziele fragwürdig geworden zu sein.
 
18
Merton selbst hat Erweiterungsvorschläge, die auf Bezugsgruppentheorien Bezug nehmen (z. B. Cohen 1965) bzw. auf diverse Subkulturen verweisen (z. B. Cloward und Ohlin 1960), durchaus goutiert.
 
19
Zumindest in Bezug auf die Selbst- und Kollektivorientierung ist zu bezweifeln, ob der rechte Pol der Kollektivorientierung auf hoch individualisierte Gegenwartsgesellschaften (Heitmeyer 1997b) noch zutrifft.
 
20
Insofern führt Parsons die frühe Einsicht von Max Weber, dass Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung dynamische Prozesse darstellen und koexistieren könnten, sowie auch die späte Einsicht von Durkheim, dass sich die mechanische und organische Solidarität auch zeitgleich manifestieren kann, in seinem flexibleren und differenzierteren Modell konsequent fort.
 
21
Diese Theorie wurde später von Luhmann (1984) aufgegriffen, wobei dieser die Kommunikation innerhalb der Systeme hervorhebt, die somit über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien verläuft.
 
22
Weil in diesem Kapitel die nationalstaatliche Rahmung der Integrationstheorien im Vordergrund steht, wird in weiterer Folge vorrangig die Monografie „Globale Dynamik, lokale Lebenswelten“ (Münch 1998) rezipiert. Münch widmet dieses Werk nahezu exklusiv der Sozialintegration. Er thematisiert die Veränderung der Lebensverhältnisse im Angesicht der Globalisierung und analysiert vorrangig, wie „soziale Integration in der Verflechtung von globaler Dynamik und lokalen Lebenswelten erneuert werden kann“ (Münch 1998, S. 18). Münchs Positionen zur Europasoziologie (z. B. Münch 2008) und zur aktuellen Krise (z. B. Münch 2014) werden im Kontext des vierten Kapitels beleuchtet.
 
23
Innerhalb dieser progressiven Dekaden der Nachkriegszeit, verbunden mit hoher Beschäftigung und sozialer Sicherung, der hohen Legitimität des demokratischen Systems und geteilter Normen und Werte ist auch Parsons‘ Systemtheorie entstanden.
 
24
Es macht nach Münch zwar analytisch Sinn, sich mit den systeminhärenten Codes auseinanderzusetzen, empirisch ist es nach Münch jedoch unbestritten, dass Austausch zwischen Systemen besteht. Ähnlich wie Durkheim und Weber ist gerade das Feld der Berufsarbeit ein anschauliches Beispiel für eine Interpenetrationszone, weil ökonomische Anforderungen und Wertmaßstäbe in der Berufsethik kombiniert werden (vgl. Münch 1998, S. 107).
 
25
Münch behandelt in seiner bekannten Abhandlung zu den Elementen der Theorie der Integration moderner Gesellschaft folglich auch getrennt die ökonomische, politische, kulturelle, systemische und solidarische Integration (vgl. Münch 1998, S. 38–63).
 
26
Erst in späteren Werken versucht Luhmann aufgrund der zunehmenden Kritik mit seiner Konzeption der Zentrum-Peripherieachse und der Mehrfachexklusionen auch vertikale Ungleichheiten in sein Theoriegebäude zu integrieren (vgl. z. B. Farzin 2008, S. 202).
 
27
Begründet wurde die These durch die chilenischen Biologen Maturana und Varela (siehe Maturana und Varela 1982, S. 170–235).
 
28
Für die Wirtschaft ist das Medium Geld und der Steuerungscode die Bezahlung, für die Wissenschaft die Erkenntnisse mit dem Steuerungscode der Wahrheitssuche, für das Rechtsystem die Gesetze mit dem Steuerungscode der Gerechtigkeit u. v. m. (vgl. Reese-Schäfer 1996, S. 127).
 
29
Da Luhmanns Werk somit weder für die Arbeit eine zentrale Stellung einnimmt und auch nicht als entscheidend für die eigene theoretische Ausrichtung angesehen wird, wurden nur einzelne zentrale Eckpunkte der Theorie beschrieben.
 
30
Im Gegensatz zu Habermas gelingt es Giddens besser, die verbindenden Elemente zwischen Lebenswelt und System darzustellen, und im Vergleich zu Bourdieu fokussiert Giddens stärker auf die Wirkmächtigkeit des individuellen Handelns.
 
31
Die Konzeption der sozialen Welt nach Giddens (1984) verdeutlicht somit eine soziologische Tiefenerklärung, und es können durchaus Parallelen zur Handlungstheorie von Coleman (1991) und Esser (1993) festgestellt werden. Die Gesellschaft ist nämlich im Individuum verortet (Logik der Situation), der Einzelne reflektiert über die Situation und entscheidet sich für spezifische Handlungen (Logik der Selektion). Diese wirken wiederum auf die Gesellschaft zurück (Logik der Aggregation). Allerdings schlägt sich Giddens nicht auf die Seite der Rational-Choice-Theoretiker. Seine Position in Hinblick auf Fragen, wie umfassend und in welchem Bewusstseinsgrad das Handlungswissen ausgeprägt ist und inwieweit sich die Akteure über Handlungsfolgen im Klaren sind, bleibt relativ unbestimmt.
 
32
So zeigt sich in den Begrifflichkeiten (z. B. Verdinglichung) von Habermas stets eine Nähe zum Marxismus. Zudem befasst sich Habermas mit einschlägigen Mikrosoziologen und betont, dass diese (z. B. Mead) zu interaktionsfixiert während Makrosoziologen (z. B. Durkheim) zu gesellschaftsfixiert seien (vgl. Habermas 1981a, S. 90). An Parsons kritisiert Habermas, dass dieser die Widersprüche der Moderne, die Weber erkannt hat, zu wenig aufgegriffen habe.
 
33
Diese vier Ebenen werden hier herausgegriffen, weil Parsons diesen Subsystemen in dieser Reihenfolge die klassischen AGIL-Funktionen zugewiesen hat (vgl. Mouzelis 1997, S. 112).
 
34
Damit verliert die logisch konsistente Trennung der Sozial- und Systemintegration von Lockwood (1971), der auch in dieser Arbeit gefolgt wird, an Schärfe.
 
35
Dies ist nach Bourdieu die Ursache, warum soziale Ungleichheiten als naturgegeben hingenommen werden und sich gerade benachteiligte Individuen ihrem Schicksal ergeben. Man könnte Bourdieu an dieser Stelle – ähnlich wie in der Kritischen Theorie – einen Hang zum Strukturdeterminismus unterstellen. Das Habituskonzept bleibt nach Ansicht von Weiss (1999) auch relativ wage. Es bleibt offen, ob aus Sicht Bourdieus die Strukturen ausschließlich für die Ausformung des Habitus relevant sind, ob sich dieser sukzessive den Bedingungen des jeweiligen sozialen Feldes anpasst, oder ob eine wechselseitige Beziehung zwischen subjektivem Handeln und objektiver Struktur angenommen werden kann (vgl. Weiss 1999, S. 213).
 
36
Auf diese 800 Seiten starke Studie wird im Kontext des Forschungsfeldes der Prekarisierung (Abschn. 5.​1.​2) noch näher eingegangen.
 
37
Im Forschungsprogramm der Paradoxien finden sich zahlreiche weitere Beispiele, die für diese Arbeit höchst relevant sind. So spricht Honneth (2002) in seinem Beitrag zur organisierten Selbstverwirklichung davon, dass die individuelle Selbstverwirklichung zu einem institutionalisierten Erwartungsmuster geworden ist und somit die Autonomie der Subjekte wiederum bedroht. Zusätzlich spricht Sutterlüty (2011) von einem Paradox ethnischer Gleichheit. Die Norm der universalen Gleichberechtigung aller Menschen ist mittlerweile fest verankert und kann als gesellschaftlicher Fortschritt gedeutet werden. Sofern einzelne MigrantInnengruppen aufstiegsorientiert agieren oder politisch legitime Forderungen stellen wird diese Norm rasch in ihr Gegenteil verkehrt, weil sich die Einheimischen in ihrer gesellschaftlichen Positionierung angegriffen fühlen.
 
38
Das Desintegrationstheorem weist schließlich eine eindeutige Nähe zu Axel Honneths Anerkennungstheorie (z. B. 1992), zum Konzept der Postdemokratie (z. B. Crouch 2008) und zu Erklärungsansätzen des Kommunitarismus (z. B. Putnam 2000) auf, weil es gezielt auf Prekarisierungstendenzen (fehlende positionale Anerkennung) sowie auf Tendenzen der Demokratieentleerung (fehlende moralische Anerkennung) und Vereinzelung (fehlende emotionale Anerkennung) hinweist.
 
39
Nicht zuletzt deshalb stellt der Bielefelder Desintegrationsansatz eine wesentliche Grundlage der Arbeit dar, aktuelle ökonomische, politische und kulturelle Dynamiken der Destabilisierung präzise zu fassen und die daraus resultierenden Dimensionen des subjektiven Unbehagens zu verorten. Der Ansatz bildet für die Arbeit schließlich den Rahmen zur Operationalisierung objektiver Restriktionen der Lebensqualität und subjektiver Dimensionen gesellschaftlichen Unbehagens (siehe Kap. 6).
 
40
Die drei Ebenen sind quasi analog zu dieser Arbeit zu betrachten, die ökonomische, politisch-gesellschaftliche und kulturelle Verwerfungen und Ordnungsbrüche im Kontext von Dimensionen des Unbehagens betrachtet.
 
41
Die Anerkennungstheorie von Honneth (1992, 2003) repräsentiert hier eine innovative Sichtweise, die Verschränkungen zwischen sozialer Einbindung und gesellschaftlicher Anerkennung in einem breiten Rahmen neu zu denken.
 
42
So schreibt Dubiel (1997, S. 426 f.) selbst: „Ich habe mich in polemischer Absetzung von den Kommunitaristen für die These stark gemacht, dass deren Auffassung über die konsensuelle Integrationsweise auf den Kopf gestellt werden muss.“
 
43
Die Entwicklungen im Zuge der arabischen Revolution könnten – in einer soziologischen Betrachtung – anschaulich mit diesem konflikttheoretischen Modell von Dubiel beschrieben werden. Die Machtergreifung des Militärs in Ägypten hat das Land vorübergehend an den Rand eines Bürgerkriegs geführt. Seitens des Militärs wurde schließlich ein „Waffenstillstand“ autoritär durchgesetzt und eine neue Rechtsordnung (unter dem Deckmantel einer freien Abstimmung der Bevölkerung) festgeschrieben. Die beiden polarisierenden Lager sprechen sich gegenseitig Legitimität ab. Während Mohammed Mursi von den Muslimbrüdern lange Zeit weiterhin als legitimer Präsident galt, wurden diese von der Militärregierung nun als „terroristische Gruppe“ eingestuft. Das Beispiel soll zeigen, dass der Weg zur Demokratie stets ein langer und steiniger ist.
 
44
Auf Rational-Choice-Modelle wurde in dieser Arbeit nicht näher eingegangen, weil diese in der Regel nur eine sehr spezifische Betrachtung der Sozialintegration vornehmen und nur geringfügig auf Integrationsprobleme auf der Makroebene eingehen.
 
45
Zwangsläufig stellt die Zeitleiste der soziologischen Integrationstheorien deshalb eine drastische Verkürzung und Vereinfachung dar und stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Eine umfangreiche Diskussion von Integrationstheorien in der deutschsprachigen und internationalen Forschungslandschaft würde eine Art „Lebenswerk“ darstellen und mehrere Bände füllen.
 
46
Es gibt in der Soziologie zwar mittlerweile weitgehend Konsens, wer zu den Klassikern der Soziologie gehört. Am ehesten können in dieser Abbildung Parsons und Merton als „Klassiker der zweiten Generation“ eingeordnet werden. Bei Habermas ist die Theorie kommunikativen Handelns sicherlich ein Klassiker, jedoch handelt es sich durch die Brisanz, die Habermas‘ Thesen wieder gewinnen (vgl. Aschauer 2015) wohl eher um eine Theorie, die noch nicht als „historisch“ eingestuft werden sollte.
 
Metadaten
Titel
Die Analyse der gesellschaftlichen Funktionsfähigkeit und ihrer Pathologien: Die soziologische Integrationsforschung
verfasst von
Wolfgang Aschauer
Copyright-Jahr
2017
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-10882-3_3